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Über dieses Buch:

Gefangen in einer Hölle aus Feuer ... Seit Tagen schon kämpft Anna Pigeon gemeinsam mit einem Brandschutztrupp gegen die verheerenden Flammen im kalifornischen Volcanic Nationalpark. Als die Gruppe schließlich zum Rückzug gezwungen wird, macht sie eine schreckliche Entdeckung: zwei Tote – die jedoch nicht das Opfer von Flammen wurden. Ist hier ein Mörder am Werk, der grausamer wütet als alles, was die Wildnis bereithält? Ist er vielleicht sogar einer von ihnen? Für Anna beginnt ein atemloser Wettlauf gegen den Tod ...

Packend und rasant – der vierte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post

»Eine verblüffende, brandheiße Story.« Detroit Free Press

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, »Die Spur der Katze«, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

Bei dotbooks erscheinen in der Anna-Pigeon-Reihe außerdem:

Die Spur der Katze

Einer zuviel an Bord

Zeugen aus Stein

Paradies in Gefahr

Blutköder

Wolfsspuren

Die Website der Autorin: www.nevadabarr.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.de/NevadaBarrFans

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eBook-Neuausgabe Februar 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 1996 by Nevada Barr

Die englische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel Firestorm bei Putnam Adult, New York.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1999 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Published by Arrangement with Nevada Barr Paxton.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Engel Ching und Irmantas Arnaukas

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-414-0

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Nevada Barr

Feuersturm

Anna Pigeon ermittelt

Aus dem Englischen von Christine Strüh und Adelheid Zöfel

dotbooks.

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Lesetipps

Für Brodie, in Dankbarkeit für seine unerschütterliche Freundlichkeit und seine endlose Geduld – Qualitäten, die ich selbst nicht besitze, aber zutiefst bewundere.

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Dave Langley, Rick Gale und Steve Zachary.

Kapitel 1

Wenn sie Fußfetischistin gewesen wäre, hätte Anna Pigeon sich glücklich schätzen können. Auf ihrem Schoß befand sich nämlich ein Prachtexemplar des Pedis giganticus. Er gehörte einem gewissen Howard Black Elk. Momentan war allerdings mehr Verbandsmaterial als Haut sichtbar.

»Wenn man am Hang arbeitet, geht das Zeug immer ab«, erklärte Mr. Black Elk zwischen großen Schlucken Limo. »Die von den anderen hängen schon mittags in Fetzen runter. Aber Sie haben echt ein Händchen dafür.«

Anna war sehr stolz auf die Haltbarkeit ihrer Blasenverbände, so absurd sich das auch anhörte. Cäsars Heer war vielleicht tatsächlich auf dem Bauch vorwärts gekrochen, aber Löschmannschaften brauchten ihre Füße. Seit zehn Tagen kämpften sie gegen ›Jackknife‹, wie man den jüngsten kalifornischen Waldbrand nannte, und der Kampf schien sie ziemlich aufzureiben. Die Schlange vor dem Krankenzelt war sozusagen Annas Barometer, und das schlug deutlich aus. Sho-Rap, die Löschmannschaft der Shoshone und Arapaho aus Montana, litt noch mehr als die anderen. Vielleicht weil die Männer so groß waren. Trotz der vorschriftsmäßigen Schutzstiefel setzte ihnen die Schwerkraft besonders heftig zu.

Vorsichtig zog Anna das zerfetzte Verbandsmaterial von Mr. Black Elks Fuß und untersuchte die Wunde. Black Elk war zwar Arapaho-Indianer, gehörte aber nicht zu den Sho-Raps, sondern zur Südwest-Gruppe aus San Juan. »Sie haben die Blasen aufgestochen«, stellte sie vorwurfsvoll fest.

»Ich will, daß das Zeug rauskommt.«

»Bloß nicht! Dann entzünden sie sich.« Sie sah dem Mann ins Gesicht, um festzustellen, ob er die Warnung kapiert hatte. »Versprechen Sie, daß Sie in Zukunft die Finger davon lassen?«

»Na klar.«

Anna glaubte ihm nicht. Sie reinigte Fußballen und Ferse mit Wasserstoffperoxid. Als Black Elk zusammenzuckte, meinte sie: »Geschieht Ihnen ganz recht.«

In einem Feuercamp herrschte immer eine Art gespannter Euphorie – eine Mischung aus Normandie, Tripolis, John Wayne und High Noon. Anna genoß das, wie alle anderen auch. Ein Soldatenleben – zumal in einem Krieg, in dem die Wahrscheinlichkeit zu sterben sehr gering und die Schlacht rasch vorbei war – vermittelte einem die Illusion, wichtig zu sein, ohne die Last der Verantwortung zu tragen. Man mußte nur bereit sein, körperlich hart zu arbeiten und auf dem harten Boden zu schlafen. Anna fand es mehr als angenehm, eine Weile keine Entscheidungen treffen zu müssen.

Sorgfältig begann sie mit drei Schichten aus Gel, Kompresse und Schutzfolie Mr. Elks Fuß zu verbinden. Die übrigen der San Juan Plateau Crew kamen einer nach dem anderen von der Essensschlange herüber und stellten sich an, um sich verarzten zu lassen.

Die ›San Juans‹ waren eine gemischte Gruppe von Brandbekämpfern des Forest Service, des Bureau of Land Management und des National Park Service. Drei von ihnen arbeiteten wie Anna im Mesa Verde National Park. Als bekannt wurde, daß man zusätzliche Rettungssanitäter benötigte, hatte Anna sich gemeldet. Die Sanitäter versorgten die Feuerwehrleute in den sogenannten Spike Camps. Erbarmungslos fraß Jackknife eine schwarze Schneise durch die Caribou Wilderness und den Lassen Volcanic National Park in Nordkalifornien, und das Basislager, in dem sämtliche Versorgungsgüter lagerten und wo sich das Hauptquartier befand, brauchte dringend medizinisches Notfallpersonal möglichst nah an der Feuerfront. Der Ausdruck Spike Camp war zwar offiziell abgeschafft, aber die Brandbekämpfer benutzten ihn immer noch für die kleinen ausgelagerten Camps, die jetzt wie Pilze aus dem Boden schossen.

»Wer Blasen hat, soll schon mal den Verband abnehmen und die Füße mit Peroxid saubermachen«, sagte Anna zu den Wartenden. »Ich glaube, Stephen hat noch 'ne Flasche in Reserve.«

»Aber geht bitte sparsam damit um«, mahnte Stephen Lindstrom, Annas Kollege. »Wir kriegen erst morgen nachmittag Nachschub.«

Lindstrom kam vom Forest Service in Reno, Nevada. Als Anna und drei Löschtrupps in das Spike Camp neunzehn Meilen entfernt vom Basislager geschickt worden waren, hatte sie darum gebeten, mit Stephen zusammenarbeiten zu dürfen, und diesen Wunsch hatte man ihr erfüllt. Stephen war einer der besten Sanitäter, die Anna kannte.

»Soll ich dir nicht was zu essen holen, ehe diese Freßsäcke alles aufgemampft haben?«

Anna blickte auf. Die vertraute Stimme mit dem gedehnten Memphis-Akzent gehörte zu Jennifer Short, einer Rangerin aus Mesa Verde. Sie lehnte an einer Lambertkiefer neben dem improvisierten Behandlungszelt, das Anna und Stephen aus einer Regenplane und zwölf Klappstühlen zusammengeschustert hatten.

Seit sieben Jahren war Jennifer im Einsatz gegen Jackknife, einen Tag weniger als Anna, und sie trug immer noch Makeup. Bewundernswert. Wenn jemand selbst unter verschärften Bedingungen seinen Prinzipien treu blieb, verdiente er (oder sie) in jedem Fall Respekt, fand Anna. Die rußigen Fingerabdrücke um Jennifers Nase und die Schweißspuren, die das staubige Rouge durchzogen, verstärkten nur den Effekt: zerschunden, aber ungebrochen.

»Danke«, sagte Anna. »Stephen, willst du auch was?« Etwas verspätet fügte sie hinzu: »Würde es dir etwas ausmachen, für Stephen auch was mitzubringen, Jennifer?«

»Ich würd' sterben, wenn er nein sagt«, grinste Jennifer und zwinkerte ihr zu.

Im fliegenden Wechsel zwischen Kauen und Blasenpflege verzehrte Anna innerhalb einer Stunde ihr Abendessen und versorgte dreizehn Füße. Schließlich kniete sie vor dem vierzehnten und letzten Fuß und schnürte den ramponierten, maßgefertigten Schutzstiefel auf. »Es hilft, wenn Sie die Stiefel schon vorher ausziehen, das spart Zeit«, sagte sie freundlich.

»Aber mir tun doch gar nicht die Füße weh.«

Anna ging in die Hocke und betrachtete das Gesicht, das zu den Stiefeln gehörte. »San Juan Crew, Truppführer, stimmt's?«

»John LeFleur.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Seine spachtelförmigen Finger erinnerten Anna an die Zehen der Frösche im Regenwald des Amazonas, die sie schon in mehreren PBS-Sondersendungen über den Bildschirm hatte hüpfen sehen. Mühsam erhob sie sich. Kälte, Übermüdung und das harte Schlaflager forderten allmählich ihren Tribut. Du wirst alt, schimpfte sie sich. Früher einmal hatte viel Arbeit sie eher abgehärtet; jetzt wurde sie nur müde. Sie ergriff LeFleurs Pranke und drückte sie, fest, aber nicht machohaft.

Seine Unterlippe war stark geschwollen und sah ziemlich übel aus. Schorf bedeckte die Stellen, wo die Haut aufgesprungen war. »Tut es weh?« fragte sie und erwischte sich dabei, daß sie fast hinzugefügt hätte: »Ich kann gar nicht hinschauen.« Dämlicher Spruch! Zumal LeFleur abgesehen von seiner entstellten Lippe einen recht angenehmen Anblick bot. Um die fünfundvierzig, dichtes braunes Haar, tiefe Falten von der Nase zum Mund, blaue Augen unter buschigen Brauen.

»Bin gegen eine Tür gerannt«, erklärte er und berührte dabei vorsichtig die Wunde. »Ich brauch bloß 'ne Kaltkompresse.«

Als Anna mit dem gewünschten Utensil aus dem Zelt zurückkam, zündete sich LeFleur gerade eine filterlose Pall Mall an.

»Kriegen Sie beim Feuer nicht genug Rauch ab?« Anna knetete die Kompresse, damit die chemischen Bestandteile sich mischten und ihre kühlende Wirkung entfalteten.

»Ich bin ein altes Feuerroß«, erklärte LeFleur gelassen. »Ein bißchen Rauch in der Nase, und schon fang ich an zu scharren und zu schnauben. Das hier ist mein siebenunddreißigster Einsatz. Der achte in Kalifornien.«

Anna war beeindruckt. »Na, da müssen Sie aber ganz schön alt sein«, sagte sie.

»Ich halte immer noch länger durch als die meisten«, entgegnete LeFleur, nahm die Kompresse und drückte sie sich an die Lippe.

»Sie müssen ziemlich lange gesucht haben, um hier oben eine Tür zu finden«, bemerkte Anna.

Plötzlich blitzten seine Augen, und seine Stimme klang wütend. »Wenn das noch mal vorkommt, laß ich den Kerl wegen Brandstiftung einlochen.«

Anna sagte nichts; ein Spike Camp war eine kleine Welt für sich, da machte man sich lieber keine Feinde. Sie wollte keine schlafenden Hunde wecken, ihretwegen konnten sie ruhig weiterdösen oder sich ins Tal verkrümeln.

Da keine neuen Pilger in ihrem Zeltplanen-Lourdes eingetroffen waren, setzte sich Anna neben LeFleur, der hingebungsvoll seine Zigarette rauchte. Aus dem Innern des Zelts hörte man Stephen den unvermeidlichen Müll des Tages wegräumen. Gleich würde sie reingehen und ihm helfen, aber im Moment tat es sehr gut, einfach nur so dazusitzen.

Der Himmel wurde dunkel, und mit dem Licht verflüchtigte sich auch die Hitze. Anna rollte die Ärmel herunter und schlang die Arme um sich. Das Camp lag an einem Hang inmitten mehrerer anderer Berge, die sich wellenförmig in alle Richtungen erstreckten. Im Westen und Südwesten stieg zwischen den Bäumen Rauch auf, und in der Dämmerung sah man immer wieder ein orangerotes Flackern.

Ein grellroter Sonnenuntergang überzog leuchtend den Himmel, und die letzten Lichtstrahlen drangen durch die dichten Rauchschwaden, die den Gipfel des Lassen Peak verhüllten. In der Nähe des Horizonts verdunkelte die Rauchglocke die Sonne, weiter oben mischte sich der Qualm mit dem letzten Sonnenlicht, so daß es aussah, als brenne auch der Himmel.

Anna steckte fröstelnd die Hände in die Taschen. »Der Weltuntergang sieht verflucht hübsch aus, finde ich«, stellte sie fest.

LeFleur drückte die Zigarette an seiner Schuhsohle aus und zerkrümelte den Rest Tabak und das Papier. »Da drüben waren wir heute.« Er deutete hinüber zu einem brennenden Hang auf der anderen Seite eines engen Tals. »Wir haben eine Schneise zu dem Felsvorsprung geschlagen und zu den Schutzstreifen der Bulldozer aufgeschlossen.«

Der Hang, auf den er zeigte, wies eine mindestens vierzigprozentige Steigung auf und war mit dichtem Gestrüpp bewachsen.

»Ziemlich fiese Kletterei«, sagte Anna.

»Und erst recht mit 'ner Kettensäge auf den Schultern.« LeFleur zündete sich die nächste Pall Mall an und dachte weiter über den vergangenen Tag nach. »Bald bin ich raus aus dem Spiel. Vielleicht kriege ich einen Bürojob. Zeit, die Knochenarbeit den Kids zu überlassen.«

Da er mehr mit sich selbst als mit ihr zu reden schien, fühlte Anna sich berechtigt, das Thema zu wechseln. »Wenn wir schon von Kids sprechen – wie macht sich Jennifer?« Jackknife war Jennifers erster Waldbrand. Ihre Schutzstiefel waren nagelneu. Seit Anna in Mesa Verde mit der hübschen jungen Frau aus den Südstaaten zusammengearbeitet hatte, war sie ihr irgendwie ans Herz gewachsen.

»Die Feuerfront ist nichts für Frauen.«

»Hat sie Mist gebaut?«

»Nein.«

»Was dann?«

LeFleur lachte. »Darauf antworte ich lieber nicht. Sie wissen, was ich meine.«

Anna wußte es, und am liebsten hätte sie LeFleur gekniffen. Sie hatte selbst ihre Zeit an der Feuerlinie absolviert und ihr war klar, daß es da kein Pardon gab. Bei den letzten drei Bränden war sie als Sanitäterin oder als Sicherheitsbeamtin dabei gewesen. Oder – wie jetzt bei Jackknife – als beides. Diese Arbeit ging weniger in die Knochen, war aber eine größere Herausforderung – zwar nicht physisch, aber intellektuell.

»Jennifer hat ihre Sache ganz gut gemacht«, sagte LeFleur schließlich.

»Sie brauchen es für mich nicht schönzureden«, entgegnete Anna trocken.

LeFleur lachte. »Sie ist in Ordnung. Zuverlässig. Hat Blasen an beiden Händen und beklagt sich nie, außer darüber, daß ihr Hintern in den NoMex-Sachen zu fett aussieht«, erklärte er. Mit NoMex waren die weit geschnittenen, feuerabweisenden Hosen gemeint, die alle Brandbekämpfer tragen mußten.

»Ein Wolf im Pelz einer Femme fatale«, faßte Anna zusammen. Dann fügte sie etwas unvermittelt an: »Sind Sie verheiratet?«

»Soll das ein Antrag sein?«

Insgeheim hätte Anna sich ohrfeigen können. Sie war versucht zu versichern, daß sie die Information nicht für sich selbst brauche, aber ihr war klar, daß jetzt sowieso alles, was sie zu ihrer Verteidigung vorbrachte, albern klingen würde. »Nein, nur so.« Dabei beließ sie es und beobachtete, wie sich das Abendrot immer dunkler färbte und langsam die Nacht hereinbrach. Des Rauches wegen wurde es schneller dunkler als sonst. Orangene Funkenwirbel stiegen in drei Himmelsrichtungen an den Berghängen auf – kleine Hinweise auf das Ausmaß des Feuers vor Sonnenuntergang.

Der Einbruch der Dunkelheit schien das ständige Brummen der Flugzeuge und das Surren der Helikopter zu dämpfen, die auf den Landeplatz unterhalb des Lagers zurückkehrten. Die Waschbären, Hirsche, Eulen, Kojoten und Pumas waren seit acht Tagen verstummt. In der Anfangsphase hatte Jackknife sich durch zwei Opfer einen Namen gemacht. Die Opfer waren ein junger Mann, der beim Pinson Lake gecampt hatte, und sein Hund. Boulevardblätter hatten einen Haufen Geld mit Fotos der verkohlten Überreste des Köters gemacht, während in der Wildnis Tausende von Kreaturen starben, ohne daß ihnen jemand eine Träne nachweinte.

Auch Anna trauerte jetzt nicht um sie. Kleine Kadaver, die das Feuer hinterließ – Eichhörnchen, Rehkitze, Kaninchen – berührten sie nicht so, wie mancher vielleicht angenommen hätte, denn die Waldbrände geben der Erde auch viele notwendige Dinge zurück.

Ein eisiger Wind kam auf. Das Feuer hatte fünfzehntausend Hektar erstklassigen Baumbestands in seiner Gewalt. Bäche trockneten aus, Vögel flohen, die Brut starb im Nest, Qualm hing hundert Meilen weit in den Tälern, und trotzdem fror Anna. Sie knöpfte den obersten Hemdknopf zu und schlug den Kragen hoch. Bald würde sie hineingehen und ihre Jacke holen müssen, aber sie hatte noch keine Lust, sich vom Fleck zu rühren. Hier, in der Gesellschaft von Klappstühlen und Regenplanen fühlte sie sich zu Hause. Isoliert wie es war, eine Insel im Flammenmeer, verbreitete das Zeltdorf eine heimelige Atmosphäre.

Um eine zentrale Lichtung gruppierten sich drei Zelte, jedes sechs Meter lang und viereinhalb breit, deren weiße Leinwand das schwindende Abendlicht reflektierte. In einem davon war die Lohnbuchhaltung untergebracht, wo Gefahrenzuschläge, Überstunden und Gehälter registriert wurden. Die LeFleurs der Welt kämpften vielleicht auch aus Idealismus gegen das Feuer, aber die meisten Feuerwehrleute verdienten sich damit ihren Lebensunterhalt.

Im zweiten Zelt hauste die Mannschaft aus San Juan, das dritte teilten Anna und Stephen mit den medizinischen Utensilien. Östlich von den Hauptzelten – und hoffentlich blies der Wind nie aus dieser Richtung – stand eine Reihe chemischer Toiletten. Wenn es ums Klo ging, war Anna für Reinlichkeit, und insgeheim vermutete sie, daß die Shoshonen nur deshalb von den eindringenden Soldaten der Weißen besiegt worden waren, weil sie so verdammt schlecht zielen konnten.

Zwischen den Zelten und den Toiletten befand sich die Messe: Zweimal pro Tag wurde vom Basislager Essen angekarrt. Direkt dahinter stand ein langer Tisch mit Waschbecken und Seife zur täglichen Reinigung. Zwanzigliterkanister aus Plastik stapelten sich auf der anderen Seite des Tisches zu einer durchsichtigen Wand. Becken und Tisch waren vom allgegenwärtigen Ruß überzogen, der auch Haare, Nägel, Haut und Klamotten sämtlicher Bewohner des Spike Camps bedeckte.

Im Basislager gab es Duschwagen mit eigenen Generatoren für heißes Wasser, das den Brandmannschaften wenigstens ein bißchen Erleichterung von dem ewigen Dreck verschaffte. Im Spike Camp blieb alles, was sich im Waschbecken nicht entfernen ließ, eben erst mal dran. Brandbekämpfer mit langen Haaren – in diesem Lager eindeutig die Mehrheit mit zwanzig Männern von Sho-Rap und vier Frauen, unter ihnen Anna – trugen sie zurückgebunden oder zu Zöpfen geflochten. Nach einer Stunde an der Feuerlinie bekamen ganz normale Haare die Konsistenz von Zuckerwatte.

Inzwischen hatte LeFleur seine zweite Pall Mail zu Ende geraucht. Jetzt war es richtig dunkel. LeFleur gab Anna die Kühlkompresse zurück. »Für mich wird's Zeit zum Schlafengehen.«

»Vorsicht bei Türen!« rief Anna ihm nach.

Gelächter aus dem Zelt lockte sie schließlich doch ins Zeltinnere. Jennifer und Stephen kämpften mit einer äußerst unkooperativen Coleman-Laterne. Lachend, aber wenig erfolgreich diskutierten sie darüber, wie oft man pumpen müsse, damit in der Brennstoffkammer der richtige Druck entstand.

Als Anna hereinkam, erwachte die Lampe gerade rauschend zum Leben, und mit der Abendstille war vorläufig Schluß. Aber das grelle Licht war eine Notwendigkeit, denn die nächsten Stunden verbrachten Anna und Stephen damit, Wunden zu verbinden, Schmerzmittel, Pflasterspray, Nasenspray, Handlotion auszuteilen und – falls jemand Wert darauf legte – auch Mitgefühl.

Gegen Mitternacht schlüpften sie in ihre Schlafsäcke, die – welch ein Luxus! – auf Armeepritschen lagen. In nicht mal ganz fünf Stunden mußten sie wieder auf den Beinen sein, um von neuem Füße für die Feuerfront zu verarzten.

In weichen Betten und klimatisierten Räumen hatte Anna oft Schlafschwierigkeiten, im Camp jedoch ließen die Alpträume sie meistens ungeschoren. Während der kurzen Ruhepausen beanspruchte die Erschöpfung Körper und Seele ganz für sich.

In der Enge ihres offiziellen gelben Schlafsacks streifte sie die Unterwäsche ab: weiße Baumwolle, die auch bei hohen Temperaturen nicht an der Haut festklebte. Selbst wenn die Wälder des Westens brannten, Annas Unterwäsche jedenfalls würde nicht in Flammen aufgehen.

»Ich hab' Informationen über LeFleurs Lippe gekriegt«, sagte Stephen, als Anna ihre jungfräulichen Hüllen auf den Boden fallen ließ. Lindstrom tratschte furchtbar gern. Eine seiner vielen liebenswerten Eigenschaften, fand Anna.

»Erzähl doch.«

»Hmmmm«, brummte er gedehnt. Anna mußte lachen. »Also, Jennifer hat gesagt ...«

»Warte«, unterbrach Anna schnell. »Muß ich aufgrund meiner verantwortungsvollen Position als Sicherheitsbeamtin und Sanitäterin möglicherweise Schritte einleiten, nachdem ich deine Geschichte gehört habe? Falls ja, erzähl mir lieber nichts.«

»Jennifer hat gesagt«, fuhr Stephen fort, »daß John in einen Streit verwickelt war, bei dem es zu Handgreiflichkeiten gekommen ist. Ich wäre für mein Leben gern dabeigewesen« – er seufzte tief – »ich liebe Schlägereien über alles. Der andere Knabe war einer vom Bureau of Land Management. Leonard Nims. Er ist auf John losgegangen, und mit dem zweiten Schlag hat er ihn erwischt.«

Anna erinnerte sich nur vage an Nims. Er war Supervisor im BLM in Farmington, New Mexico, Gehaltsklasse GS-7. Mit seinen früh ergrauten Haaren und dem schwarzen Schnauzbart war er eine auffallende Erscheinung, und sein muskulöser Körper strafte sein Alter Lügen – vermutlich war er Ende vierzig. Hätte er seinen Napoleon-Komplex überwinden können, wäre Nims ein attraktiver Mann gewesen, und mit seinen einsachtundsechzig hatte er ihn eigentlich auch nicht nötig. Aber weil er sich ständig angegriffen fühlte, wirkte er kleiner, als er war.

»Jennifer hat erzählt, Joseph ist dazwischen gegangen«, fuhr Stephen fort. Joseph Hayhurst war ein Mescalero-Apache, geboren und aufgewachsen in den kalifornischen Hügeln, Studium in Berkeley, ein Spätzünder, was seine indianischen Wurzeln betraf. Das Nebeneinander der Kulturen hatte ihn zu einer faszinierenden Kombination aus New-Age-Künstler und indianischem Bürgerrechtskämpfer gemacht. Er trug die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie die meisten Shoshonen und Arapahos, aber vorn waren sie kurz geschnitten, so daß sie sich um sein Gesicht kräuselten – wie es viele weiße Künstler heimlich mit dem Lockenstab ihrer Freundin zu erreichen versuchten.

»Jennifer erzählte, daß er gedroht hat, beiden eine Abreibung zu verpassen, wenn das noch mal passiert. Na ja, so ungefähr in dem Ton: ›Hört auf damit, ihr Dreckskerle, sonst ...«‹

»Sonst ...?« Anna war zu müde, um seine kleinen Abschweifungen zu genießen, so unterhaltsam sie die ansonsten auch fand.

»Nichts weiter. Er hat nur gesagt, sie sollen aufhören, weil er nicht seinen Job verlieren will, bevor er seinen letzten Winterurlaub abbezahlt hat.«

Joseph war Gruppenleiter bei den San Juans. Ein Trupp bestand aus zwanzig Brandbekämpfern, aufgeteilt in zwei Gruppen. Der Truppführer war für alle zwanzig verantwortlich, der Gruppenleiter für acht bis zehn. Wenn es Ärger gab, wurde nicht nur der Unruhestifter nach Hause geschickt, sondern alle zwanzig Mitglieder der Truppe.

»Worum ging es denn bei dem Streit?« fragte Anna.

»Unten in Farmington arbeitet John für Nims. Jetzt aber ist er Nims' Chef, und Nims muß tun, was er sagt. Vermutlich klappt das nicht so recht. Jennifer meint, daß die beiden sich von Anfang an nicht grün waren. Nims ist der nächste Anwärter für den Posten als Truppführer, also lernt LeFleur praktisch seinen eigenen Nachfolger an. Das BLM hat für Nims eben höhere Pläne, vermute ich. Übrigens, hat es etwa zwischen dir und LeFleur da draußen im Zwielicht gefunkt?«

Anna pfiff ein paar Takte aus dem Musical Fiddler on the Roof, genaugenommen aus dem Song The Matchmaker. »Feuerleute hassen Funken«, murmelte sie.

»Weißt du eigentlich, warum Smokey the Bear nie Kinder gekriegt hat?« fragte Stephen.

»Ja, weil er seine Frau jedesmal, wenn sie heiß war, mit 'ner Schippe gehauen hat.«

»Alter Witz«, entschuldigte er sich.

»Alte Witze sind die besten«, beruhigte sie ihn.

»Gute Nacht.«

»Ist schon wieder verdammt spät geworden, verdammt noch mal.«

»Zum Kuckuck heißt das!«

In diesem Moment streifte helles Scheinwerferlicht die Zeltwand, und gleich darauf hörte man das Brummen eines Dieselmotors.

»Uuups«, grunzte Stephen.

»Ich seh mal nach.« Es war, als hätte in einem unpassenden Moment jemand an der Tür geklingelt.

Die Truckfahrerin, Polly oder Sally – Anna konnte sich den Namen einfach nicht merken – gehörte zu den vielen Leuten aus der Gegend, die angeheuert worden waren, um bei der Versorgung einer plötzlich in der Wildnis entstandenen Tausendseelensiedlung zu helfen. Die junge Frau, eine kleine, rundliche Person, schien Anna zu meiden, ob aus persönlichen Gründen oder aus Zufall, war nicht klar.

»Es ist zu spät, ich muß hierbleiben«, verteidigte sie sich, als hätte sie jemand angegriffen, und hüpfte aus der Kabine des Trucks. In vier der sechs Nächte, die das Spike Camp nun existierte, hatte sie eine Möglichkeit gefunden, hier zu übernachten. Anna vermutete, daß sie einen Freund besuchte.

»Klingt vernünftig«, erwiderte sie freundlich und wartete, welche Erklärung sie diesmal für die lange Reise aufgetischt bekommen würde.

»Ich hab' hier was für Sie oder John Soundso, den Truppführer.« Sie beugte sich ins Führerhaus, und ihr Gesicht verschwand hinter einem Vorhang dichter brauner Haare. Nach kurzem Geraschel tauchte sie mit einem Zettel wieder auf, den sie Anna überreichte. Billiges, aber verführerisches Parfüm stieg Anna in die Nase.

»Danke ... Sally«, sagte sie auf gut Glück.

»Paula.«

Diese Runde hatte Anna verloren. »Paula. Klar. Entschuldigung. Hab' wohl zuviel Qualm abgekriegt ...«

Da Paula offenbar darauf brannte, wegzukommen, ließ Anna ihre Entschuldigungen versiegen. »Wenn Sie möchten, können Sie Ihr Zelt hinter dem Medizinzelt aufbauen«, schlug sie vor. »Da ist es ziemlich flach.«

»Nein, ich hab' schon einen Platz.« Paula lud sich ihr Zelt auf die Arme und machte sich auf den Weg zu den Bäumen hinter den Klos, wo die Sho-Raps lagerten.

Im Schein ihrer Taschenlampe entfaltete Anna den Zettel und las: »Die Leiche des Mannes, den man verbrannt beim Pinson Lake an der Grenze zum Lassen Volcanic National Park gefunden hat, wurde als Joshua Short identifiziert, Bruder der Saison-Rangerin Jennifer Short aus Mesa Verde, Colorado, die zur Zeit der San Juan Plateau Crew zugeordnet ist.«

»Mein Gott!« Anna drehte das Blatt um, in der Hoffnung, dort nähere Informationen zu finden, aber die Rückseite war immer noch so leer wie vor zwei Sekunden. Jennifers Bruder. Anna dachte an ihre Schwester, an Molly, wie schrecklich es wäre, sie zu verlieren. Sorgfältig faltete sie den Zettel wieder zusammen und steckte ihn in die Hemdtasche. Diese Mitteilung konnte man doch nicht einfach so weitergeben, und eigentlich sah die Achtlosigkeit, mit der sie ausgehändigt worden war, den Leuten vom Informationsdienst auch gar nicht ähnlich. Einer Eingebung folgend, leuchtete sie mit der Taschenlampe in Paulas Truck. Im Lichtstrahl fand sie, was sie suchte: einen blauen Umschlag mit der Aufschrift ›Vertraulich‹, adressiert an sie und LeFleur, aufgerissen und hastig weggeworfen. Das verliebte Herzchen war ein naseweises kleines Biest.

Anna knipste die Taschenlampe aus, lauschte einen Moment der Stille und atmete den angenehmen Geruch des Kiefernrauchs ein. Die Todesnachricht lastete schwer wie Blei auf ihr. Ganz langsam, um das Unausweichliche aufzuschieben, ging sie auf das Zelt der San Juan Crew zu.

Die Eingangsklappe war zur Seite geschlagen, damit frische Luft hereinkam, sonst war alles stockdunkel. Im September waren die Nächte in den Cascades empfindlich kalt, und morgens lag meist Rauhreif auf dem Boden. Anna blickte auf die Reihe regloser Gestalten. Einige Weltklasseschnarcher sägten um die Wette, aber keiner war wach. Zwischen den Schlafsäcken lag ein Haufen gelber Firepacks – ein Alptraum von Netzgewebe und Plastikschnallen, um die zahllosen Gegenstände zusammenzuhalten, die zur Ausrüstung gehörten: Schutzzelt, Wasser, Signalleuchten, Handschuhe, Helm, Schutzbrille, Schutzjacke und Ohrenstöpsel.

In der Nähe des Eingangs ruhte LeFleur auf dem Rücken, einen Arm über die Augen gelegt. Neben ihm entdeckte Anna Joseph Hayhurst, zusammengerollt, die Hände unter der Wange wie ein Unschuldslamm. An den grauen Haaren erkannte sie Nims, sein Gesicht war zur anderen Seite gewandt. Irgendwo zwischen den schlafenden Männern mußte auch Jennifer liegen, von der Dunkelheit verborgen.

Nach ein paar Minuten schlich sich Anna leise davon. Morgen war früh genug, um Jennifer die Nachricht zu überbringen. Vielleicht war dies für lange Zeit ihre letzte ruhige Nacht.

Kapitel 2

»Zeit zum Aufstehen!«

Die Stimme drang durch warme, tiefe Dunkelheit und war höchst unwillkommen. Anna verkroch sich noch tiefer in ihren Schlafsack.

»Wir vermissen deine strahlenden Augen und dein liebenswertes Lächeln.« Dieselbe Stimme, zuckersüß, aber dennoch höchst hassenswert.

»Hau ab«, brummte sie.

»Aber, aber ...« Ein heftiges Schütteln holte Anna endgültig aus dem Schlaf. Stephen saß auf der Pritsche neben ihrer und schnürte sich die Stiefel zu.

»Es ist noch dunkel«, beklagte sich Anna.

»Und kalt. Der Luxus nimmt kein Ende. Du hast zehn Sekunden, um dich präsentabel zu machen, dann zünde ich die Laterne an und kümmere mich nicht um dein Schamgefühl.«

»Mein Sohn wäre jetzt ungefähr in deinem Alter, wenn ich ihn nicht gleich nach der Geburt ertränkt hätte.«

Stephen lachte. Als Anna in ihre Unterhose schlüpfte, hörte sie schon, wie er an der Lampe herumfummelte. Eiskalte Luft drang in den warmen Schlafsack, während sie ihre morgendlichen Verrenkungen vollführte.

Als sie endlich ihr gelbes NoMex T-Shirt anhatte und einigermaßen präsentabel war, zog sie den Reißverschluß am Schlafsack auf. Wie eisiges Wasser traf die Kälte ihre Beine. Im Schein einer Taschenlampe sah sie zu, wie Lindstrom weiter mit der Coleman-Laterne kämpfte. Er war sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, einsfünfundachtzig groß, mit regelmäßigen Gesichtszügen und hellbraunen Haaren, die so dicht waren, daß sie abstanden wie ein Pelz. Anna wurde durch ihn oft an die Jungs erinnert, die sie auf der High School immer ignoriert hatten. Seine schmalen, feingliedrigen Hände paßten nicht zu seinem Körperbau. Die Hände eines Flötisten. Oder eines Gynäkologen. Ein- oder zweimal hatte Anna eine Spur von Bosheit an ihm entdeckt, aber das machte ihn nur um so interessanter.

Er musterte sie prüfend. »Anna?«

»Ich bin wach. Drängel mich nicht.« Ein Bein nach dem anderen streifte sie die olivfarbene Hose über, wie alle anderen auch.

Lediglich die Leute, die das Essen servierten, waren früher auf den Beinen als die Sanitäter, und Anna segnete sie im Namen von Pele, der Feuergöttin, und einem halben Dutzend anderer Gottheiten, während sie sich ihre erste Tasse Kaffee einschenkte. Auf halbem Weg zum Sanitätszelt hatte das Koffein den noch vorhandenen Nebel weggefegt, und Anna erinnerte sich wieder an ihre unangenehmen Pflichten. Jennifer Shorts Bruder war tot.

Beim Gedanken an den Tod erschien wie immer ein verschwommenes Bild von Zachary vor ihrem inneren Auge: ein schlanker, dunkler Mann, für alle Ewigkeit neunundzwanzig, braune Augen, die sie über der elektrischen Kerze in einem Brew and Burger in Manhattan anstrahlten. »Wenn du mich fragst, ob ich dich heiraten will, sag ich ja«, hatte Anna gesagt, und er hatte sie gefragt.

So viele Jahre war Zach jetzt schon tot, daß sie eigentlich aufhören sollte, sie zu zählen. Es hatte andere Männer gegeben, Männer, mit denen sie die Tage verbrachte, Männer für nachts, aber einer hatte die Einsamkeit gelindert. Doch, einer vielleicht, korrigierte sie sich: Frederick Stanton, ein ziemlich ungewöhnlicher FBI-Agent, mit dem sie bei zwei Mordfällen zusammengearbeitet hatte. Einmal, als sie Ranger auf der Isle Royale im Lake Superior gewesen war, und dann vor ein paar Monaten im Mesa Verde National Park. Ein Abendessen, ein Spaziergang durch die indianischen Ruinen, ein Kuß, der sie daran erinnerte, daß sogar Tiere paarweise liebten, und dann hatte er auch schon wieder im Flugzeug zurück nach Chicago gesessen.

Gerade als sie sich danach metaphorisch die Ärmel hochgekrempelt und ihre Gefühle in einem dicken Aktenordner mit der Aufschrift ›Schiffe, die in der Nacht vorüberziehn‹ verstaut hatte, war ein Brief eingetroffen. Kein Liebesbrief, sonst hätten gleich sämtliche Alarmglocken geläutet. Männer, die sich in Frauen verliebten, die sie kaum kannten, waren anfällig für andere kurzlebige Hirngespinste. Nein, Fredericks Brief war lustig. Lachen war eine ebenso wichtige Form der Kommunikation wie Berührung, das Zwerchfell eine sträflich unterschätzte erogene Zone.

Anna faßte an ihre Hemdtasche, als trüge sie Stantons Brief über dem Herzen. Der Zettel mit der Todesnachricht war noch da, einer der positiven Nebeneffekte, wenn man immer das gleiche anzog. Das glatte Papier brachte sie zurück in die Gegenwart, und sie machte im Kopf klar Schiff für das, was vor ihr lag.

Unterdessen war das Spike Camp erwacht. Verschlafene Feuerwehrleute schwirrten aus den Zelten wie Bienen aus dem Stock. Taschenlampenlicht reflektierte auf zitronengelben NoMex T-Shirts, schwere Schutzstiefel scharrten über die ramponierte Erde.

Eine Frau, die zwischen den drei Männern um sie herum in ihrem weißen T-Shirt so klein wirkte wie ein Reiher inmitten einer Kuhherde, kam aus dem Wald hinter den Toiletten. Paula. Einer der Männer war Howard Black Elk. Die beiden anderen kannte Anna nicht.

»Warten Sie!« rief Anna. Die junge Frau sah sich erschrocken um; ihre drei Leibwächter wirkten etwas unentschlossen, vermutlich weil in ihren Köpfen der Impuls, Paula gegen einen imaginären Angriff zu verteidigen, mit ihrem natürlichen Fluchttrieb kämpfte. Letzterer siegte, und Paula war allein, als Anna zu ihr gelangte.

Ganz selten gab es Leute, die auf jede Autoritätsperson ängstlich reagierten, aber vier davon auf einem Fleck zu treffen, war statistisch unwahrscheinlich. Anna nahm sich vor, ein bißchen hinter Paula herzuspionieren, wenn sie mal nichts Wichtigeres zu tun hatte.

»Bitte warten Sie mit der Rückfahrt noch etwas«, sagte Anna. »Ich hab' vielleicht einen Fahrgast für Sie.«

Bei Paulas sichtlicher Erleichterung flammte in Anna erneut Argwohn auf, eine Art Berufskrankheit. Manchmal hatte sie das Gefühl, eine Katze in einer Welt voller Vögel zu sein, von denen allerdings einige größer und gemeiner waren als sie. Kleine verstohlene Gesten lösten in ihr Alarm aus, aber sie war nie ganz sicher, ob sie Jäger oder Gejagte war. »Ich sag Ihnen in etwa einer halben Stunde Bescheid.«

Jennifer Short stand in der Frühstücksschlange. Aus gesundheitlichen Erwägungen verschob Anna das Überbringen der Nachricht noch mal um eine Viertelstunde. Danach waren alle Verzögerungsstrategien erschöpft, und sie bat Jennifer und ihren Truppführer LeFleur, mit ihr hinter das Sanitätszelt unter eine der großen Jeffrey-Kiefern zu kommen.

Im Osten löschte die Sonne das Glimmen der Brandherde mit ihrem weit stärkeren Feuer. Grellrotes Licht, durch Qualm gefiltert, ergoß sich über das Camp.

»Ich habe schlechte Nachrichten«, begann Anna und gab Jennifer den Zettel. Wie in Zeitlupe veränderte sich Jennifers Gesicht. Ihr Mund öffnete sich leicht, während sie las, ihre Lippen begannen zu zittern wie bei einem Kind, Tränen liefen ihr über die Wangen. Einen kurzen Moment blickte sie Anna hilfesuchend an, aber Anna konnte ihr nicht helfen.

»Jennifers Bruder ist gestorben«, erklärte Anna LeFleur. Der Truppführer streckte eine schwielige Hand aus, zog sie aber zurück, bevor er Jennifer damit berührte. Er warf Anna einen wütenden Blick zu, als würde er sie für diese schlechte Botschaft verantwortlich machen.

Nach einem Augenblick des Schweigens sagte er, ohne Jennifer oder Anna anzusehen: »Sie wollen sicher aufhören. Gehen Sie nach Hause. Anna kümmert sich um alles.« Dann entfernte er sich fluchtartig.

Aber Jennifer ließ ihn nicht so einfach gehen. »Ich will nicht nach Hause.«

LeFleur sah über die Schulter zurück.

»Er ist in diesem Feuer gestorben, im Jackknife, da steht es. Deshalb muß ich hierbleiben und helfen, es zu bekämpfen.« Jennifer setzte ein entschlossenes Gesicht auf und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.

»Aber das bringt nichts«, entgegnete LeFleur. »Wir können Sie nicht gebrauchen, wenn Sie mit dem Kopf woanders sind. Gehen Sie lieber heim.«

Natürlich hatte er recht, aber Anna hätte ihn trotzdem am liebsten geohrfeigt.

»Mit meinem Kopf ist alles in bester Ordnung«, fauchte Jennifer. Einen Moment lang verscheuchte der Ärger die Trauer, und Anna nahm ihre Ohrfeige zurück. LeFleurs unorthodoxe Therapie konnte zumindest einen Kurzzeiterfolg verbuchen.

Der Truppführer starrte Jennifer an, und sie starrte zurück. Immer noch rannen ihr Tränen übers Gesicht, aber alles Weiche, Zittrige war verschwunden.

LeFleur zündete sich eine Pall Mall an und schnippte das Streichholz auf den kahlen Boden beim Sanitätszelt. Truppführer hatten fast absolute Macht über die zwanzig Brandbekämpfer in ihrer Obhut. Wie an der Front mußte es auch an der Feuerlinie jemanden geben, der bestimmte, wo es langging. Nach langem Abwägen von Gott weiß welchen Faktoren sagte er schließlich: »Wenn Anna das mit den Vorgesetzten regelt, können Sie meinetwegen bei der San Juan Crew bleiben.«

»Zieh nachher ruhig mit den anderen los«, sagte Anna. »Ich laß mich von jemandem runterfahren und sehe, was ich tun kann.«

Jennifer nickte. »Entschuldigt mich«, flüsterte sie, wandte sich ab und ließ Anna und LeFleur unter der Kiefer stehen. Die beiden blickten ihr nach, wie sie aufrecht davonging, den Rücken gerade, die Schultern gestrafft.

»Frauen an der Feuerfront«, sagte LeFleur wegwerfend, drückte seine Zigarette an der Schuhsohle aus und zerkrümelte den Stummel.

»Tote Brüder sind kein geschlechtsspezifisches Risiko«, gab Anna milde zu bedenken. LeFleur blieb ihr eine Antwort schuldig.

»Zeit, die Leute zusammenzutrommeln«, sagte er nur.

Anna kehrte zum Sanitätszelt zurück, um Lindstrom bei der Morgenvisite zu helfen.

Die Schlange vor dem Zelt wurde mit jedem Tag länger. Körper, Nervenkostüm und Seelenzustand wurden von der harten Arbeit und den primitiven Lebensbedingungen inzwischen arg strapaziert. Immer häufiger kam es zu Unfällen, Schnittverletzungen oder Prellungen; Erkältungen verbreiteten sich epidemieartig.

Lindstrom blickte erfreut auf, als Anna ins Zelt trat. »War ganz schön einsam ohne dich«, bemerkte er etwas spitz. »Howard Black Elk jammert furchtbar rum. Sagt, keiner kriegt seine Füße so hin wie du. Ich glaube, das ist ein Fall von wahrer Liebe.«

»Ich kümmere mich um ihn«, entgegnete Anna nur. In der Mitte des Zelts stand ein langer Klapptisch mit zwei flachen Kisten, in denen sorgfältig geordnet ihr Handwerkszeug lag: Scheren, Mull, Kompressen, Blasenpflaster, Schienen, Salben, Dreieckstücher, Pinzetten, Antihistamine. Der Inhalt einer Hausapotheke, aber in Großformat. Unter dem Tisch lagen Stützgeräte, Beinschienen und Halskrausen.

Anna kramte in einer Kiste herum und holte die Sachen für Black Elks Füße heraus.

»Was war das heute morgen für eine Verschwörung?« wollte Lindstrom wissen. »Dieses ganze Getuschel? Sag mir jetzt bloß nicht, meine geliebte Jennifer kriegt ein Baby von LeFleur, diesem Barbaren. Das könnte ich nicht ertragen.«

Anna lachte, und das tat richtig, gut. »Nein. Es gibt echt schlechte Nachrichten. Erinnerst du dich an die verbrannte Leiche, die man beim Pinson Lake gefunden hat?«

»Der Junge mit dem Hund?«

»Ja. Man hat ihn identifiziert.«

»Schnauzer? Pudel?«

»Es war Jennifers Bruder. Hat sie natürlich ziemlich getroffen. Ich wußte nicht mal, daß sie einen Bruder hat, aber so furchtbar lange kenne ich sie ja auch noch nicht. Bei der Antwort auf die Frage, was ein Junge aus Memphis in den Bergen von Kalifornien zu suchen hat, müßte ich aber genauso raten wie du.«

»Joshua wohnt hier. Wohnte hier, sollte ich wohl sagen.«

Anna stutzte, nicht nur wegen der unerwarteten Antwort, sondern weil Stephens ansonsten so lebendige Stimme auf einmal tonlos und bedrückt klang.

»Du hast ihn gekannt?«

»Ja.« Er nickte. »Er hat als freier Mitarbeiter beim Forest Service in Reno unser neues Computersystem ausgearbeitet. Wir ...«

»Seid ihr bald fertig mit eurem Plauderstündchen?« Die leicht nasale, derbe Stimme schob sich regelrecht zwischen Anna und Lindstrom. Aus dem Augenwinkel konnte Anna sehen, daß sich Leonard Nims direkt vor dem Zelteingang aufgepflanzt hatte, der einzige Störenfried in der Schlange. Ungeduldig klopfte er eine Filterzigarette aus einer Schachtel mit der Aufschrift Harley Davidson.

Anna ignorierte ihn. »Wart ihr gute Freunde?« fragte sie Stephen.

»Ja, gute Freunde.«

»Wirklich beschissen mit diesen Frauen«, zischte Nims gerade so laut, daß Anna ihn hören konnte. »Als nächstes werden wahrscheinlich Schwule eingestellt. Frag nichts, sag nichts, laßt mich bloß in Ruhe mit dem Scheiß. Wenn die Damen mich jetzt bitte entschuldigen würden.« Damit drängelte er sich ins Zelt und fing an, in den Kisten herumzuwühlen. »Es wär wirklich schön, wenn man hier verarztet würde, ehe man verblutet.«

Weder Tageslicht noch Wärme waren bis jetzt ins Zelt gedrungen, aber im grellen Licht der Coleman-Laterne entdeckte Anna zwei Schrammen in seinem Gesicht, von der Schläfe über die Wange. Kratzer von einem Baumast vermutlich. Vom tieferen der beiden tröpfelte Blut in die Bartstoppeln.

Lindstrom ergriff Nims' Hand, um weiteres Gewühle im Verbandsmaterial zu verhindern. Nims, der ein ganzes Stück kleiner war, kriegte rote Flecken im Gesicht, und seine Augen glitzerten.

Guter Kandidat für einen Herzinfarkt, dachte Anna.

»Das reicht«, sagte Lindstrom ruhig und drückte Nims eine kleine Tube Neosporin in die Hand.

Wortlos nahm Anna ihm die Salbe wieder ab und gab ihm statt dessen eine Alkoholtupfer und ein Fläschchen Jod.

»Die Salbe hätte auch geholfen«, sagte Lindstrom, als Nims verschwunden war.

»Aber Jod verursacht mehr Schmerzen.«

Stephen lachte. »Wenn ich groß bin, möchte ich werden wie du, Anna.«

Sie wartete eine Sekunde, ob er noch einmal auf Joshua zurückkommen würde. Als er nicht damit anfing, machte sich Anna wieder an die Arbeit. Eigentlich hatten sie ja auch keine Zeit.

Als der letzte versorgt war, hatte die Sonne die Rauchbarriere überwunden und schien hell aufs Lager herab, so daß die Morgenkühle allmählich verschwand. Anna hielt das Gesicht ins Licht und fühlte sich schon wesentlich frischer. »Ich fahre nachher runter«, sagte sie, während Stephen den Müll wegräumte. »Mach doch bitte eine Liste mit den Sachen, die wir brauchen. Ich komme gleich noch mal vorbei, sobald ich meine Mitfahrgelegenheit organisiert habe.«

»Fährst du mit Polly Wolly Doodle all the day?«

»Falls sie mir noch nicht durch die Lappen gegangen ist.«

»Gut möglich. Mir ist aufgefallen, daß unser Camp viel von seiner Anziehungskraft auf unsere Heldin verliert, wenn die Männer weg sind.«

Ein stämmiger Mann mit schütterem Haar und einem Bauch, der ihm über den Gürtel hing, lud stapelweise Kartons mit kaltem Lunch aus einem Truck und stellte sie vor die Hecktür, wo die Einsatztruppe sich nachher selbst bedienen konnte. Neil Page – Anna erinnerte sich dunkel an seinen Namen, wahrscheinlich von irgendeiner Liste. Page war für das leibliche Wohl des Camps zuständig. Da er selbst aus der Gegend stammte, hatte er lokale Firmen empfohlen und überwachte die Fahrer, die Lebensmittel vom Basislager lieferten.

Anna lehnte sich an den Kotflügel und wartete, bis der Mann ihren Gruß grunzend erwiderte, auf dem Arm die nächste Lunchladung. »Haben Sie Paula gesehen?« fragte sie.

»Die klaut wahrscheinlich gerade die Brieftaschen aus den Zelten.« Er holte tief Luft und spuckte einen Schwung Tabaksaft über die Hecktür. »Habgieriges kleines Luder.«

Anna schwieg.

»Als ich sie das letztemal gesehen habe, war sie am Schwätzen mit ...« Der Stapel geriet ins Wanken, rutschte Page aus den Armen, und die Lunchpackungen landeten auf dem festgestampften Lehmboden. Um zu beweisen, wie nett sie war, hob Anna die Kartons für ihn auf.

»Mit wem?«

»Weiß der Teufel«, knurrte er, als wäre Anna ihm zu nahe getreten. »Sie standen drüben bei ihrem Truck. Erledigen Sie Ihre Schnüffelei doch selbst.«

»Danke«, sagte Anna trocken.

»Gern geschehen.«

Anna fand Paula ausgestreckt im Liegestuhl hinten auf der Ladefläche des Trucks, die Hosenbeine aufgerollt, so hoch es nur ging, das Hemd unter der Brust zusammengebunden, so daß man ihren Bauchnabel sah. Es war noch zu früh, um braun zu werden, und Anna bezweifelte sowieso, daß dies der Zweck der Übung war. Die schrägen Strahlen der Morgensonne, rötlich wie geschmolzene Lava, tauchten das Mädchen in ein besonders schmeichelhaftes Licht, sehr zur Freude der vorüberziehenden Männer.

»Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen.« Anna lehnte sich an den Truck und sah zu, wie das Ausstellungsstück zum Leben erwachte.

»Tja«, antwortete Paula nur, rollte die Hosenbeine nach unten und fummelte an dem Knoten in ihrem Hemd herum. »Ich hab' heute 'ne Menge zu erledigen.«

»Ich auch. Außerdem brauche ich jemanden, der mich runterfährt, sobald ich von Stephen eine Liste gekriegt habe. Dauert nur fünf Minuten.« Sie ließ Paula allein, damit sie sich fertig anziehen konnte.

Seit Anna vor einer Woche zum Dienst eingeteilt worden war, hatte sie das Spike Camp nicht mehr verlassen, und die Fahrt den Berg hinunter kam ihr vor wie Urlaub. Sie genoß es, die Welt durch das Fenster an sich vorüberziehen zu sehen: Die endlosen Bäume, das gleichförmige Grün der Nadelhölzer, das Rot der Manzanita-Büsche und das Gold der Erde, die Flechten und Kiefernnadeln mit Sonnenflecken gesprenkelt – alles in einem sonderbaren, rauchgefilterten Licht, als würde man durch getöntes Glas blicken oder die unheilvollen Prophezeiungen eines alten Wahrsagers vor sich sehen.

Und sie freute sich auch auf eine heiße Dusche. Während sie die Berge hinter sich ließen und die Staubwolke immer länger wurde, konnte sie fast schon fühlen, wie das Wasser ihr den Dreck und den Ruß aus den Haaren spülte, die juckende Kopfhaut massierte, den ganzen Schmierfilm des Camps einfach wegwusch.

Nicht mal Paula störte sie, obwohl sie ununterbrochen plapperte, während sie den unebenen Holzabfuhrweg hinunterholperten. Seit Paula Boggins gemerkt hatte, daß Anna sie nicht beißen wollte, kannte sie keine Hemmungen mehr. Eine Weile hörte Anna ihr zu und erfuhr dabei mehr als genug darüber, was Paula bei ihrem kurzen Aufenthalt auf dem Planeten Erde alles kaufen wollte. Schließlich schaltete sie auf Durchzug. Glücklicherweise gehörte Miss Boggins nicht zu den Menschen, die Antworten erwarten, Anna konnte die Worte also mit dem Motorengebrumm über sich hinwegrauschen lassen.