Hermann Schladt (Hrsg.)

 

Die Zukunft der Frauen

 

Anthologie zum Wettbewerb

„Frauen schreiben Science Fiction‟

des vss-verlag

 

 

 

Das Ergebnis

 

Hier sind die Top-Ten des Schreibwettberbs „Frauen schreiben Science-Fiction‟

 

1. Sabine Reyher - Arker 1

 

2. Mara Laue  - Sternenkind

 

3. Inken Weiand - Der Programmfehler

 

4. Tanja Schwarz-Krapp - Initium

 

5. Martina Bethe-Hartwig - Elien

 

6. Sophia Weller - Reise ohne Ziel

 

7. Sarah Drews - Technik hat ihren Preis

 

8. Veronika Eitze - Glück

 

9. R. West - Kommt ein Gott in eine Bar

 

10. Raven E. Dietzel - Roboter und Zombies

 

 

Darüber hinaus wurden noch folgende Stories in die Anthologie aufgenommen:

 

Christina Wuttke - Kommunikation mal anders

 

Eva Von Kalm - Eiswelt

 

Sarah Peters - Jenseits des Horizonts

 

Sigrid Hecker - Planet M 77

 

Kaia Rose - Elyseum

 

Heidi Gensheimer - Der letzte Countdown

 

Martina Schneider - Für andere vielleicht

 

Anke Elsner – Planeternwechsler

 

Als Herausgeber beglückwünsche ich – auch im Namen aller Jury-Mitglieder – die Top-Platzierten aud die „Ausgewählten‟ zu ihrem Erfolg.

 

Auch an die Autorinnen, die diesmal nicht berücksichtigt werden konnten, ein herzliches Dankeschön für die Teilnahme, verbunden mit der Aufforderung weiter zu schreiben. Meist waren es Kleinigkeiten, die eine Aufnahme in die Anthologie verhinderten. Einen richtigen „Ausrutscher nach unten‟ hat es in diesem Wettbewerb nicht gegeben.

 

Hermann Schladt

 

vss-verlag

Raven E. Dietzel - Roboter und Zombies

 

Ich war einer der wenigen Menschen, die Deus Galle nach seiner Verhaftung zu Gesicht bekamen.

Sie wissen schon: Galle! Der Mann, der die Anschläge auf die leitenden Lobbyisten verübte. Es war der Galle, der uns alle monatelang den Atem anhalten ließ, weil die Stadtmilitärs ihn einfach nicht zu fassen bekamen. Der Jugendgangs dazu anstiftete, kritische Graffitis zu hinterlassen und die Klimaanlagen von Tagungsstätten zu sabotieren. Der Galle, dessen man letztendlich in einer furiosen, hollywoodreifen Verfolgungsjagd durch die Straßen der Stadt habhaft wurde. Er war der Vorzeigeterrorist Nummer eins. Der Galle.

Dies ging mir so durch den Kopf, als ich ihn auf der Bahre erkannte, die ich von einem Ende des Institutes zum anderen schob.

Ich tat das, weil ich zu der Zeit in der Gerichtsmedizin arbeitete - ich half ich in der Abteilung testibus post fatum novissimum aus, also in der Abteilung, die regelmäßig die Voreiligkeit des Durchschnittspolizisten wieder ausbügelte.

In diesem Fall äußerte sich die Voreiligkeit in blutigen Kratern, drei klafften in der Brust, zwei weitere entstellten Galles ohnehin nicht schöne Visage. Offensichtlich hatte jemand fünf nervöse Zucken im Zeigefinger gehabt – und so Arbeit für Professor Gastode und seinen gegenwärtigen Gehilfen geschaffen.

Die meisten hatten nicht die Nerven, lange in diesem Job zu bleiben. Tote waren ja durchaus zu verkraften; es ließ sich ohnehin nicht vermeiden, ein, zwei Mal im Monat einen toten Habenichts aus der Einfahrt zu räumen. Doch der Job in Professor Gastodes Abteilung war etwas anderes. Er hatte das Potenzial für schlaflose Nächte, Herzleiden, Nervenzusammenbrüche und Bewusstseinsspaltung. Aber er wurde gut bezahlt und das war der Grund, warum ich ihn durchhielt – ich war in meinem Leben einfach schon zu vielen ekelerregenden und schlecht bezahlten Tätigkeiten nachgegangen. Und beispielsweise hatte mit vierzehn Jahren die Arbeit im Kraftwerk mir schlimmere Albträume beschert. Damals hatte ich eine ganze Woche Zitteranfälle, nachdem ich unter den Leichen, die ich in den Brennofen schaufelte, den Bettler erkannte, der eine Weile hartnäckig in der Garage meines Wohnblockes gehaust hatte. Doch das Leben in dieser Welt härtete ab.  

„Du trödelst.“, beklagte sich Professor Gastode, als ich die Rollbahre durch die Flügeltür schob.

„Wissen Sie, wer das hier ist?“, erkundigte ich mich.

Der Professor warf einen flüchtigen Blick auf das zerklüftete Gesicht. Er hob die Schultern.

„Es ist Deus Galle.“, klärte ich auf, während ich die Bahre an gewohnter Stelle parkte. „Sie wissen schon, Galle, der Mann, der die Anschläge…“

Gastode brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Arbeite, Max.“ Dann ging er nach nebenan in seine kleine Bürokabine.

Während ich den Überwurf von Galle entfernte, dachte ich über Professor Gastode nach. Ich mochte ihn. Er war mein Boss, aber immer freundlich, wenn auch so distanziert und professionell es eben ging, wenn man mit mir arbeitete. Er war vom Wesen her so geradlinig wie ein Laserstrahl und so pünktlich wie eine Atomuhr, und beides zusammen gab ihm den Sinn von Humor ein, den nur ein Rechenschieber teilte – doch abgesehen davon war er ein angenehmer Zeitgenosse.

Ich füllte einen Eimer mit Lauge, stellte das Radio an und machte mich gutgelaunt daran, den Leichnam zu säubern. Sobald die Krater vom Blut befreit waren, sahen sie schon weniger plakativ aus. Die Kugeln in der Brust holte ich mit ein wenig Fingerspitzengefühl heraus. Wer auch immer die zwei ins Gesicht gefeuert hatte, hatte Galle keinen Gefallen getan. Eine hatte nur die Schläfe geschrammt, aber die zweite war direkt rein gegangen. Ich hasste das Rumgestocher!

Dann nahm ich Rasierer und Pinzette und machte mich daran, alle Haare vom Körper zu entfernen. Irgendwann zwischendurch klopfte Professor Gastode gegen die Scheibe, ich sollte zurücktreten. Zehn Minuten brauchten die Sensoren über der Bahre um jene Messungen durchzunehmen, die nicht möglich waren, solange ich im Weg stand. Ich zog mir derweil einen Schokoladenriegel aus dem Automaten, setzte mich auf die benachbarte, freie Bahre und sah den surrenden Apparaturen zu, die ihre Daten direkt an den Professor im Büro weiterleiteten – und ich meine direkt.

Als ich weiterarbeitete, musste ich ihm noch einmal meine Aufmerksamkeit zuwenden. Er klopfte und tippte dann mit dem Finger auf seine rechte Wange. Also nahm ich die Zange, schob die Kiefer des Toten auseinander und brach die zwei Backenzähne mit Metallplomben heraus.

Als alles Metall und alle Haare entfernt und die fünf Löcher gestopft waren, gesellte sich der Professor wieder zu mir und stellte das Radio ab.

Er legte sich das zerbeulte Gesicht zu Recht und gab mir eine Spritzphiole in die Hand. „Wir müssen die nachgebesserten Stellen nachher einfärben.“, sagte er, während ich den Inhalt in den Stirnkrater abdrückte. „Bei Verhaftungen nimmt nie einer Rücksicht auf den Auftritt vor Gericht.“

„Wir rackern uns ab und das Ergebnis ist nur für wenige Wochen.“, beschwerte ich mich. Ich zählte die verschiedenen Verbrechen auf, die Galle begangen hatte. „Alles gegen hohe Tiere.“, fügte ich nachdrücklich hinzu. „Die Konsequenz ist klar.“

„Das einzige Urteil, dass diesen Mann nach derzeitiger Gesetzeslage erwartet“, stimmte der Professor mir zu „ist die Exekution.“ Er plauderte teilnahmslos, seine eigentliche Aufmerksamkeit lag woanders. Er hielt den leeren Blick ununterbrochen auf das Loch in Galles totem Gesicht gerichtet. Ich beobachtete, wie sich um die Wundränder allmählich eine durchsichtige Flüssigkeit sammelte – scheinbar von Zauberhand, aber ich wusste, dass dies nur der Professor in Aktion war. Er hatte eine Staffel anorganischer Mikroroboter angeleitet, Galles zerfetztes Gehirn zu rekonstruieren, die zog er jetzt zurück. „Ich bin fertig.“, erklärte er schließlich und richtete sich auf.

Ich waltete meines Amtes und zog die Trägerflüssigkeit wieder in die Spritze. „Seit einem Jahrzehnt kennen wir das lang gesuchte Geheimnis des Lebens.“, brüskierte ich mich nebenbei. „Auf wen wenden wir es an? Auf Wirtschaftsmagnate und Schwerverbrecher – wobei sich die Frage nach dem Unterschied stellt.“

Natürlich wusste ich so gut wie jeder andere, dass alles was man sagte aufgezeichnet und an einen zentralen Computer weitergeleitet wurde. Allerdings war meine eben getroffene Äußerung für ein Basisprogramm kaum verdächtig, einfach weil die Vokabel Schwerverbrecher in diesen Räumen öfter fiel. Es gab keinen Grund, die fragliche Äußerung an einen Sachbearbeiter weiterzuleiten und selbst wenn mit so niedriger Priorität, dass ich schon lang und auch lang genug tot wäre, wenn sie geahndet werden könnte.

„Arbeit, Max.“, mahnte der Professor.  „Die Zeit drängt.“ Er hatte Recht: Es war nicht selten, dass wir mehrere Anläufe brauchten, und die sollten wir heute noch unterbringen können.

Ich löste die Bremsen der Bahre und folgte Gastode zum roten Raum. Gemeinsam hievten wir Galles Körper auf das Fließband, das ihn ins Innere transportierte. In der Schleuse wurde er antibakteriell behandelt, dann tauchte er hinter dem Sichtfenster wieder auf. Genau in der Mitte des roten Raums kam er zum Stillstand.

Professor Gastode erstarrte und bekam seinen WiFi-Blick, und ich beobachtete, wie hinter der Scheibe eine mir inzwischen wohl bekannte Prozedur in Gang geriet: Rote Fliesen schoben sich zur Seite und aus den Öffnungen reckten sich gläserne Spinnenbeine dem Toten entgegen, streckten ihre unterschiedlichen Werkzeuge aus und verharrten dann ganz plötzlich wartend.

Auffordernd sah sich Professor Gastode zu mir um. Ich seufzte und machte mich auf den Weg.

Der führte auch mich durch eine Schleuse, in der ich nackt mit juckendem Desinfektionsmittel eingenebelt wurde. Danach schlüpfte ich in einen weißen Overall, setzte Schutzbrille und Mundschutz auf und betrat den roten Raum.

Wenn ich ihn Abends schrubbte, war er so weiß, wie jeder andere Raum im Institut, doch in Standby leuchteten die eckigen roten Lampen unter der Decke ihr bedrückendes Licht, das auf längere Zeit ungemein aggressiv machte. Einmal hatte ich über vier Stunden hier drin verbracht und noch zwei Tage später das Bedürfnis gehabt, Jeden anzuschreien. Heute wollte ich schneller wieder raus sein.

Mit einigermaßen geübten Griffen nahm ich die verschiedenen Anschlüsse der mechanischen Arme und führte sie ihrem Bestimmungsort zu. Insgesamt zweiunddreißig Nadeln stach in Adern und saugte das tote Blut an, dessen Gerinnung durch Chemikalien rückgängig gemacht wurde – kein Plan welche, ich spritzte sie nur. Eine lange Elektrode stach ich auf der linken Brustseite tief ein, danach klebte ich über hundert kleine Elektroden penibel an. Außerdem schmierte ich die glatt rasierte Glatze mit Gel ein und stülpte den komplexen Helm darüber, der sich mit vielen kleinen metallenen Greifern selbst festzog. Ich führte einen Schlauch durch die Luftröhre bis in die geflickten Lungen, schob einen ringartigen Stopfen in den Mund und klebte die Elektrodenmaske auf das Gesicht. Ganz zum Schluss klebte ich mir selbst eine punktförmige Elektrode auf die Stirn. Niemand hatte mir je erklärt, wozu es die brauchte, das war Betriebsgeheimnis. Aber ohne funktionierte der Trick wohl nicht.

Um mich herum startete ein nervöses Summen. Ich trat zwei Schritte nach hinten und blickte zum Fenster, das von dieser Seite aus spiegelte. Er zeigte einen Haufen Technik, eine Leiche und eine bis zur Unkenntlichkeit verhüllte, unvermeidlich rote Gestalt, die wohl ich war. Jetzt präsentierte sie einen Daumen nach oben zu dem von hier aus unsichtbaren Professor Gastode. Die Mechanik setzte sich in Bewegung und ich wich bis zur Wand zurück.

Was dann folgte, lässt sich schwer in Worte fassen. Der Professor hatte mir mal erklärt, dass die Farbe Rot dem Gehirn Platz für Projektionen schuf. Wohl deshalb hatte ich das Gefühl, die Geräusche und Bilder stammten aus meinem eigenen Kopf. Es waren Bilder, Filme und Tonaufnahmen aus Deus Galles Leben – die Behörden stellten uns das Material. Ich sah Galles Frau Lydia und hörte verschiedene Dinge, die sie sagte, manche davon recht intim. Ich sah seine Brüder, seinen besten Freund und seine Tochter Zora. Sie war ein gewöhnliches Mädchen, vielleicht sechzehn, und ganz nach Mentalität ihres Vaters weder operiert noch genmanipuliert. Ein recht wilder, rotbrauner Haarschopf wucherte um ihr kantiges Gesicht. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich, es sei meine Tochter, so wie sie mit mir sprach. All das war sehr verwirrend.

Dann wurden die Dinge schneller, zu schnell, um ihnen noch zu folgen. Sie steigerten sich zu einer verwirrenden Lautstärke, einer schmerzhaften Lichtflut, die sich in meinen Kopf brannte.

Ich besann mich rechtzeitig, meine Augen zu schließen, denn die Brille half nur unzureichend gegen den folgenden Lichtimpuls. Noch durch meine Augenlieder nahm ich den Sekundenbruchteil unbefleckter Weißheit ganz deutlich wahr. In den kommenden Nächten würde ich mehrmals von dieser gleißenden Helligkeit aus dem Schlaf gerissen werden – ich kannte das.

Dann fiel alles zurück in seine normalen Werte. Ich schlug meine Augen auf, ignorierte die tanzenden schwarzen Flecken, und eilte zur Mitte des Raumes, wo Galle an dem Helm auf seinem Kopf zerrte. Die kleinen Beine, die sich ringsum in der Haut seines Kopfes festkrallten, weigerten sich zu weichen und es flossen bereits kleine Rinnsale des eben aufgefrischten Blutes über die schwammige Haut des nicht mehr all zu Toten.

Zwei Handgriffen von mir, und die Krallen zogen sich zurück, und somit auch die feinen Nadeln, die ich durch Galles Schädeldecke gebohrt wusste. Ganz ohne jede Betäubung tat das sicher weh – aber wie wollte man einen Toten schon betäuben?

Ich beeilte mich, die übrigen Anschlüsse zu entfernen, bevor Galle sie mit grober Motorik und rasend vor Schmerz herausreißen konnte. Noch immer stand ich hinter ihm und außerhalb seines Blickfeldes.  

Als ich die Maske von Galles Gesicht zog und damit auch den langen Schlauch aus seiner Luftröhre und den Stopfen aus seinem Mund, wirbelte er in erstaunlicher Vitalität herum, erblickte mich, und schrie, nein brüllte los, in der Lautstärke eines Presslufthammers.

Ich war schon knapp eine Stunde hier drin. Meine Nerven waren angegriffen, von der penetranten Beleuchtung, der kleinschrittigen Arbeit und einer Stimulierungen, die Tote aufwecken konnten, deshalb sollte man meine Reaktion nicht so streng sehen: Ich scheuerte dem Typen, der meinen armen Gehörsinn so überforderte, links und rechts welche. Danach war Ruhe.

Galle starrte mich wie ein Wahnsinniger an; wobei Augen, die zwei Tage lang nur das Innere eines Eisfaches nicht gesehen haben, nicht sonderlich gut funktionierten.

„Hallo, Herr Galle.“, sagte ich mit bestrebt beruhigender Stimme. Er zuckte zusammen, sah aber aus, als wolle er sich bemühen, zuzuhören. Ich musste ihm das anrechnen, wusste ich ja genauso wenig, wie es um seine Ohren beschaffen war. Das würden erst noch die Tests zeigen.

„Verstehen Sie mich?“, fragte ich.

Er stierte mich mit verdrehten Augen an, dann öffnete er den Mund. Ich wartete, ob noch etwas passieren würde, doch mehr kam nicht. Mit offenem Mund und Silberblick blieb er sitzen.

Ich erinnerte mich an eine Leiche, die versucht hatte, mich umzubringen, während ich sie von den Elektroden befreite. Sie war so hartnäckig gewesen, dass mir damals nichts anderes übrig blieb, als sie mit dem Luftschlauch zu erwürgen. Wir mussten die ganze Apparatur warten und die Reanimation noch einmal durchführen – dagegen war Galle ein durchaus annehmbares Ergebnis.

Ich griff nach den Schnappbändern, die einer der Teleskoparme vom Professor gesteuert mir inzwischen darbot. Galle blickte erschrocken drein, wehrte sich aber nicht, als die automatischen Banden sich um ihn schlossen und seine Arme an seine Brust und seine Beine zusammen fesselten. Ich legte ihn wieder auf dem Platz nieder, den er bis eben noch stillschweigend hingenommen hatte und er und ich kehrten beide auf den Wegen zurück nach draußen, auf denen wir hereingekommen waren.

Als ich wieder in meinen Alltagskleidern und mit dem vertraut weißen Arbeitskittel in die gewöhnlichen Räumlichkeiten des Institutes trat, war Professor Gastode schon dabei, mit Taschenlampe und Klopfhammer die Reflexe des ehemals Toten zu überprüfen. Er tat das mit schweigenden Teilnahmslosigkeit, an die man sich bei ihm erst gewöhnen musste. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn schnell für kalt und maschinell. Wenn man sich die Zeit nahm, ihn kennenzulernen, stellte man fest, dass er kalt und maschinell war – und das war seine beste Entschuldigung.

Professor Gastode hatte Galle die Fesseln bereits abgenommen. Die Bänder aus Polyethylen hatten sich zurückgezogen, sie lagen als kleine fünfeckige Gegenstände auf der Bahre. Galle selbst schien sich gefangen zu haben. Er erblickte mich und erwiderte mein beruhigendes Lächeln mit einem Ausdruck, der seinen wiederbelebten Gesichtsmuskeln zuzuschreiben war, und den ich wohlwollend als Erwiderung meiner Mimik deutete.

„Mein Name ist Max, Herr Galle. Und das ist Professor Gastode.“, stellte ich uns vor. „Wenn Sie mich verstehen können, nicken Sie nach Möglichkeit.“

Es verging eine kleine Weile, bis meine Worte Zugang zu Galles Gehirn gefunden hatten. Er machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, dann bemüht noch zweimal.

„Hervorragend!“ Es war wirklich hervorragend. Von einem Menschen, der knapp drei Tage tot gewesen war, konnte man nunmal keinen philosophischen Diskurs oder Kalligraphie erwarten. Gehirn und Muskeln mussten erst wieder in Übung kommen. Außerdem durfte man nicht vergessen, dass in Galles Kopf eine Kugel gefeuert worden war.

Ich leierte den üblichen Fragenkatalog hinunter, wobei ich jedes Mal wenigstens eine halbe Minute auf das vertikale oder horizontale Zucken von Galles breitem Kinn warten musste.

„Wissen Sie, wer Sie sind?“

Ja.

„Erinnern Sie sich daran, was passiert ist?“

Ja.

„Können Sie Ihre Finger bewegen?“

Er versuchte es. Schließlich gelang es.

„Auch einzeln?“

Das ging nicht.

„Hören Sie normal?“

Nein.

„Haben Sie Schmerzen?“

Ja. Es war ein sehr eindeutiges Ja.

„Hätten Sie gerne etwas dagegen?“

Ja.

Ich bereitete eine Spritze vor, während ich weiter fragte.

„Erinnern Sie sich noch an den Anfang unseres Gespräches?“

Ja.

Das war gut, denn häufig blieb das Kurzzeitgedächtnis auf der Strecke, wenn wir jemanden wieder belebten.

„Können Sie einen Ton von sich geben?“

Er brachte ein jämmerliches Krächzen voran. Das mochte nicht sonderlich viel erscheinen, doch immerhin zeigte es, dass die Grundlage gegeben war.

„Damit sind Sie prinzipiell in der Lage zu sprechen.“, erklärte ich ihm.

Nachdem alle Funktionen grob überprüft waren schickten wir Galle in die Schwarze Kiste, einen Computer, den der Professor gemäß den Ergebnissen meiner Befragung kalibrierte, um die vorhandenen Fähigkeiten mit speziellen Stimulierungen auszuarbeiten. Ich wusste nicht genau, wie das funktionierte, hatte mir aber von der einen oder anderen Ex-Leiche sagen lassen, dass auch dieser Vorgang alles andere als angenehm war – mindestens trug man eine außerordentliche Migräne davon.

Durch ein kleines Sichtfenster in der Wand der etwa acht Kubikmeter großen Box beobachtete ich den so bekannten Verbrecher. Er saß eingesunken in einen tiefen Sessel, blickte stur und hilflos auf den Bildschirm, ertrug widerwillig all die Messpunkte, die auf seinen Körper geklebt waren und sabberte. Wenn er schnell lernte, würde er etwa eine Stunde so verbringen, danach wäre er prinzipiell wieder ein normaler Mensch. Natürlich würden ein paar Schäden in der Feinmotorik bleiben, der Artikulation, den Sinneswahrnehmungen... Doch was war das schon für ein Preis, wenn man dafür lebte? Wobei das in Galles Fall natürlich ein bisschen höhnisch klang.

Irgendwann wurde ich der verbeulter Visage müde und machte mich davon, um Mittag zu essen. Ich zog ein Reis-Curry-Gericht aus einem der Automaten im Flur und hockte mich auf die Treppe während ich aß. Unser Institut lag im Keller eines Altbaus. Es hatte die selben Räumlichkeiten inne, die vor Jahren von einer klassischen Gerichtsmedizin des letzten Jahrhunderts belegt waren. Heutzutage war Pathologie zur Kriminalaufklärung natürlich überflüssig – in einer Welt, in der jeder Zentimeter überwacht wird, gibt es keine Toten mit unbekannter Todesursache. Die Gerichtsmedizin lieferte längst keine Daten mehr fürs Gericht, sie lieferte nur noch Zeugen.

Es gab hier im Flur noch immer das uralte Schild, das die Pathologie auswies. Anstatt es durch ein modernes zu ersetzen, hatte man es mit der neuen Bezeichnung überklebt. Die Abteilung für testibus post fatum novissimum, kurz TFN. Da stand es schwarz auf weiß – beziehungsweise gelb auf dunkelgrün. Wahrscheinlich sollte die Farbgebung hoffnungsfroh sein, doch ich fand sie deprimierend.

Professor Gastode kam die Treppe herunter und riss mich aus meinen Gedanken.

„Sprechen Sie Latein?“, wollte ich wissen.

„Ich habe eine Datenbank dazu.“, antwortete er. „Sprechen tut es schon lange niemand mehr.“ Nach dem großen Sturz der Religionen konnte man sich diesbezüglich nicht einmal mehr auf die katholische Kirche berufen.

„Warum verwenden wir Menschen eine Sprache, die seit über tausend Jahren tot ist?“, fragte ich und stand auf.

„Vielleicht hoffen sie darauf, die irgendwann wieder zu beleben.“, vermutete mein Boss und deutete auf den dunkelgrünen Kleber auf der alten Plastiktafel. Ich war erstaunt. Für Gastodes Verhältnisse war das ein ziemlich witziger Ausspruch.  

Im Vorbeigehen warf ich den Rest der gelb pampigen Masse, in einen Mülleimer und ging mit dem Professor zurück ins Institut.

Ein diskretes Piepen wartete auf uns. Ein wenig erstaunt begaben wir uns zur schwarzen Kiste, auf der ein kleines Display die vollständige Absolvierung des Programms anzeigte. Galle hatte innerhalb einer halben Stunde gelernt, wofür andere mehr als das doppelte der Zeit brauchten.

Ich spähte durch die Scheibe ins Innere und erwartete, einen ungeduldigen Mann zu erblicken, der sich die schmerzenden Schläfen rieb. Stattdessen war die Kiste leer, nur Sensoren hingen lose herunter. Ich wandte mich dem Professor zu, um ihm mitzuteilen, dass unser Vogel ausgeflogen war. „Aber er ist zweifelsohne noch im Institut.“, fügte ich beruhigend hinzu. „Ich habe ja die ganze Zeit gegenüber der Tür gesessen.“

Also machten wir uns auf die Suche nach dem flüchtigen Untoten.

Dabei darf man sich uns nicht wie naiv herumirrende Charaktere aus einem alten Horrorfilm vorstellen, die durch das leere Gemäuer laufen, Dinge wie Ist da jemand? oder Hallo?! von sich gebend, damit der Gesuchte auch ja Zeit hatte sich zu verstecken, und von denen schließlich einer aus einer dunklen Ecke von dem wahnsinnigen Mörder angefallen wurde. Bei uns gab es keine dunklen Ecken und außerdem waren wir auf solche Fälle vorbereitet. Galle, der nun wirklich ein Mörder war und über dessen Geisteszustand wir vor folgenden Untersuchungen nicht urteilen konnten, konnte sich hier unten nicht verstecken, außer er kroch in eines der Gefrierfächer. Indessen hatten wir längst die Ausgangstür per Computer verriegelt und Professor Gastode öffnete einen speziellen Schrank, zu dem ich keinen alleinigen Zugriff hatte. Wir bewaffneten uns beide und machten uns dann daran, die Räume systematisch abzusuchen.

Das Institut war nicht groß. Nachdem wir den Raum mit der Technik, wie der schwarzen Kiste und dem Zugang zum roten Raum, hinter uns gelassen und die Kühlabteilung überprüft hatten, blieb nur noch die Wahl zwischen Professor Gastodes Büro und der Toilette. Die Zuständigkeiten für die beiden Räume lagen auf er Hand.

Mit einer Hand die Waffe umfasst, schob ich mit er anderen die Toilettentür auf.

Galle war hier. Er stand vorm Waschbecken, stützte sich rechts und links vom Spiegel ab, den er mit seiner Nasenspitze beinahe berührte. Um seine Schultern lag das Tuch, auf dem sein toter Körper auf der Bahre gelegen hatte.

„Da sind Sie ja.“, sagte ich und er schrak zusammen. Dann drehte er sich zu mir um, motorisch sichtlich befähigter als vorhin noch.

„Sie sind das.“, sagte er mit irgendwie knarrender Stimme und noch relativ ungeübt. Er schien selbst darüber erstaunt, sich sprechen zu hören, aber er machte weiter. „Was ist das für eine seltsame Station hier? Bin ich im Gefängnis?“

„Nein. Sie sind in der TFN.“

„Eine neuartige Klinik?“, wollte er wissen. Böse funkelte er mich an. „Haben Sie Tests an mir durchgeführt? Ich habe keine anderen Patienten gesehen. Nur Geräte.“

Ich sagte ihm, wofür TFN die Abkürzung war und wollte es ihm übersetzen, doch er kam mir zuvor.

„Zeugen ab Zeitpunkt des…“ Er stockte. „Oh.“, sagte er dann. Sein Blick blieb an der Waffe hängen, die ich noch immer in den Händen hielt. „Ich erinnere mich, dass man auf mich geschossen hat.“, sagte er. „Ich erinnere mich an den Schmerz als…“ Wieder stockte er, strich sich über die Brust und über die Delle auf seiner Stirn. „Ich dachte, ich sei im Krankenhaus.“

„So groß ist der Unterschied nicht. Sie befinden sich in der Gerichtsmedizin.“, erklärte ich. „Unsere Aufgabe ist es, Sie wiederherzustellen, damit man ihnen den Prozess machen kann. Im Krankenhaus wäre nichts anderes passiert.“

Professor Gastode trat hinter mich, er musste wohl die Stimmen gehört haben. Er spähte an mir vorbei.

„Nichts anderes…?“, rief Galle aus. Von einer Sekunde auf die andere brauste er auf. „Ich war tot! Sie haben mich wieder belebt! Ich bin…“ Er stockte und fand dann das Wort, das er suchte. „Ich bin ein Zombie!“

Gastode trat neben mich in den Türrahmen, der somit komplett ausgefüllt wurde. „Der Begriff ist nicht nur veraltet, sondern auch all zu negativ konnotiert.“, bemerkte er. „Außerdem ist er genau genommen falsch. Ein Zombie ist eine Person, die dem Willen einer anderen Person unterworfen ist – was ein Roboter unter Androiden ist, ist der Zombie unter Menschen. Sie sind jedoch für sich selbst denkend, also sind Sie kein Zombie. Sie waren lediglich klinisch tot und wurden ebenso klinisch wieder belebt. Wenn Sie eine Bezeichnung benötigen, nennen Sie sich einen Contributus.“

„Hören Sie mit Ihrem lächerlichen Latein auf!“, brüllte Galle.

Ich wollte dem zuvorkommen, dass er auf uns losging, und hob mahnen die Waffe. „Regen Sie sich nicht auf!“, bat ich. „Wir können für Ihre Situation weniger als Sie selbst.“

„Kann man ein Zombie einfach wieder umlegen?“, wollte Galle wutschnaubend wissen. Als ich nickte, zog er die Stirn kraus – offensichtlich wurde ihm bewusst, welches Urteil ihn erwartete. Auf einmal breitete er die Arme aus. „Knallen Sie mich ab. Wir wissen alle, dass es auf das Gleiche hinausläuft. Erübrigen Sie mir die müßigen Tage vor Gericht.“

„Sie verstehen nicht richtig.“, wand Professor Gastode ein. „Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Sie vor Gericht erscheinen.“

Und ich fügte hinzu: „Ersparen Sie mir und sich, die Prozedur noch einmal durchzumachen.“

„Sie würden mich wieder… wiederbeleben?“, vergewisserte Galle sich.

„Sie werden auf zwei Beinen vor Gericht stehen“, versprach ich ihm bitter. „Und dabei ist egal, ob mit fünf oder acht gestopften Löchern.“

Während er einen Moment sehr still war, achte Galle wahrscheinlich an die Empfindungen, die das Erwachen im roten Raum mit sich brachte. Vielleicht überlegte er auch, ob es den Ungehorsam wert war, noch einmal das Sterben zu ertragen. Ich sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf.

Schließlich seufzte er gebrochen und ließ die Schultern hängen. „Nicht einmal mit dem Tod entkommt man diesem System.“

Ich bedeutete ihm, uns zu folgen. „Nicht, wenn man dem System noch etwas schuldig ist.“, erklärte ich, während wir gingen.

„Zum Kotzen, dieses System!“, stieß Galle laut aus.

„Auf diese Weise sammeln Sie keine Sympathien, Herr Galle.“, gab Gastode zu bedenken. „Es scheint ohnehin nicht, als ob Sie viele haben, aber die sollten Sie nicht auch noch verspielen, wenn Sie vor Gericht die Chance auf eine Chance haben wollen.“

Galle erwiderte den Blick meines Bosses, der ihm mit all seiner sachlichen Nüchternheit galt. Natürlich wusste auch Galle gut um die Permanentüberwachung, wahrscheinlich sogar besser. Er schien einen Moment nachzudenken. Schließlich sagte er, im Tonfall tiefster Überzeugung: „Das gegenwärtige System gehört in die Luft gesprengt. Irgendwann stehen die, die dafür verantwortlich sind an der Wand! Und es gibt kaum einen, der dann nicht abdrücken will!“

Ich machte eine schlichtende Bewegung. „Sie haben jedenfalls keine Gelegenheit mehr, jemanden an die Wand zu stellen.“, sagte ich.

„Was macht Sie da so sicher?“, entgegnete Galle. „Wenn Sie doch so genau wissen, wo ich herkomme und wo ich hingehe, warum haben Sie keine Angst, dass ich Ihnen die Pistole aus den Händen reiße und Sie erschieße?“

Gastode war derjenige, der Galles Szenario zunichte machte. „Aus zwei Gründen werden Sie uns nicht erschießen, Herr Galle.“, sagte er in seinem nüchternen Tonfall. „Wer die karge Berichterstattung über Sie auch nur ansatzweise gedeutet hat, weiß, dass Sie in all Ihren Aktionen nur hochrangigen Wirtschaftlern geschadet oder sie getötet haben. Manche habe ich danach kennen gelernt.“ Er machte eine erklärend umschweifende Bewegung zu den lebensschenkenden Apparaturen. „Warum sollten Sie welt- und wirtschaftlich unwichtige Personen wie Max und mich töten wollen?“

„Das ist Ihre Sicherheit?“, lachte Galle und es klang beinahe höhnisch. „Ich hoffe, ihr zweiter Grund ist besser!“

„In der Tat ist der zweite die größere Sicherheit und weniger spekulativ.“

„Lassen Sie schon hören!“, forderte Galle und klang jetzt wirklich neugierig.

Aber der Professor schüttelte den Kopf. „Den erführen Sie erst, wenn Sie es darauf ankommen ließen. Aber lassen Sie sich außerdem sagen, dass ich das Erschossenwerden nicht fürchte.“

„Weil Sie wiederbelebt werden können?“ Galle blickte drein, als wolle er ausspucken.

Doch Gastode schüttelte ruhig den Kopf. „Mich zu Fürchten liegt nicht in meinem Wesen.“

Wir waren inzwischen im Büro des Professors angekommen. Es war der einzige Raum im Institut, der wenigstens der Bestuhlung her den Titel gemütlich verdiente – ein Luxus, der an meinen Chef hundertprozentig verschwendet war, und nur die Hierarchie demonstrierte.

Der Professor ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und bedeutete Galle in seiner provisorischen Toga, sich ebenfalls zu setzen. Er öffnete per Fernbefehl die Eingangstür wieder und legte seine Waffe auf den Schreibtisch. An mich gewandt sagte er im Ton höchster Gleichgültigkeit: „Du kümmerst dich um alles.“ Es war noch nicht mal ein Befehl, sondern eine Feststellung.

Ich kannte meine Aufgaben als Gastodes Gehilfe in und auswendig. Nachdem eine Reanimation erfolgreich gelungen war gab es stets eine Reihe an Sachen, die gemacht werden musste. Ich legte meine Waffe ebenfalls ab und machte mich auf den Weg.

Ich hatte mir in der Zeit hier einen guten Blick für Konfektionsgrößen angewöhnt und holte aus dem Arsenal Kleidung für Galle, außerdem zog ich aus dem Automaten Essen und Trinken. Sein auferstander Körper würde in absehbarer Zeit seine Energiereserven aufgebraucht haben und dann würde er einen Kreislaufzusammenbruch bekommen, wie ihn niemand erlebte, der nie tot gewesen war. Selbst die hart dosierten Aufbau- und Vitaminpräparate, die ich holte, halfen lediglich zur Milderung

Außerdem nahm ich eine Kiste mit Brillen und Hörgeräte mit, denn beides würde Galle brauchen.

Ich erinnerte mich an eine Anweisung, die mir Professor Gastode heute gemacht hatte und besorgte auch die Kosmetik, um die geflickten Stelle in Galles Stirn zu kaschieren. Noch sah man überall das grüne Gewebeband und die Naht  an der Schläfe.

Zum Schluss erledigte ich das Wichtigste von allem: Den Kaffee für den Professor. Eine Regel, wo immer man jobbte: Das erste Fachwissen, dass man sich aneignen musste, war, wer wie seinen Kaffee trank. Dabei war es in Gastodes Fall gar kein Kaffee – jeder Mensch hätte von dem öligen Zeug gebrochen. Gastode bezog es aus einer speziellen Maschine und benötigte es alle sechs Stunden, die er aktiv war.  

Beladen kam ich zurück in Gastodes Büro. Ich erblickte die Szenerie und erschrak tatsächlich so sehr, dass ich mir das Schmierzeug über die Hand schüttete.

„Gut, das Frischfleisch ist zurück.“, sagte Galle und bedeutete mir, mich zu meinem Boss hinter den Schreibtisch zu begeben. In Anbetracht der Tatsache, dass der Verbrecher beide Waffen in den Händen hielt, kam ich der Aufforderung nach. „Ich hatte schon Sorge, er würde irgendeine Sicherheitsvorkehrung treffen, aber scheinbar hat er ja nur Kaffee geholt.“

Ich legte den Kram auf dem Schreibtisch ab und warf Gastode einen Blick zu. Er hielt es noch nicht einmal für nötig, die Hände hochzuheben und trug eine Miene voller Seelenruhe zur Schau.

„Ich muss jetzt gehen, denn Angesichts der Überwachung bleibt wohl nicht viel Zeit.“, erklärte Galle. „Deshalb: Professor, ziehen Sie Ihre Kleider aus!“

Ich sah zu Galle, der unentwegt unsere Gesichter beobachtete, und dem von mir angeschleppten Haufen keine Beachtung schenkte. Dann sah ich noch einmal Gastode an. Sollte ich Galle nicht sagen, dass da Kleider waren? Aber der Professor warf mir einen Blick zu, der mir bedeutete, ich solle abwarten.

Zu Galle sagte er: „Ich werde meine Kleider anbehalten.“

„Machen Sie schon!“, drängte Galle und hob die Waffe nachdrücklich, doch Gastode rührte sich nicht.

Kurz musterte Galle meine Statur. Meine Kleider würde er gar nicht anbekommen, er war viel kräftiger gebaut. „Los, Alter!“, fuhr er meinen Boss an. „Sonst muss ich Sie wirklich erschießen!“

„Ihr Körper ist in einem jämmerlichen Zustand.“, erwiderte Gastode ruhig. „Sie kommen auch angezogen nicht weit.“

„Ich komme weit genug, um zu verschwinden!“

Vermutlich glaubte er das wirklich, denn dank der kräftigen Schmerzmittel fühlte er sich wohl recht gut. Ich wusste aber, wenn er von seinem Körper jetzt auch nur zwei Minuten schnelles Laufen forderte, würde der Zusammenbruch sofort folgen.

„Ihre letzte Chance, Professor!“, rief Galle hektisch. „Ziehen Sie sich aus!“

Gastode schüttelte den Kopf. Entschlossen hob Galle die Pistole in seiner rechten Faust und drückte ab.

So wie er zielte, war es möglich, dass es nur ein Warnschuss sein sollte. Ob oder ob nicht war jedoch einerlei, als er zusammensackte.

„Manchmal halte ich Sie für durch und durch grausamen, Professor!“, stieß ich aus und stützte mich mit den Fäusten auf der Schreibtischfläche ab.

„Ich bin das Geschöpf einiger grausamer Leute, Max.“, erwiderte Gastode und nahm den Kaffee vom Schreibtisch um davon zu trinken. „Aber ich selbst bin ich nicht grausam, denn das ist eine menschlich labile Eigenschaft. Ich folge lediglich Handlungsmaximen logischer Berechnungen.“

„Es wäre nicht nötig gewesen, dass er abdrückt!“ Ich spähte auf Galle herab, der mit verdrehten Augen auf dem Boden lag und die Waffe auch bewusstlos noch umklammert hielt. „Sie haben ihn provoziert, bis er musste! Und vorher haben Sie ihm die Situation in die Hände gespielt, dass er die Waffen in die Finger bekommt!“

„Mit dem letzten Punkt begehst du eine Unterstellung, denn du warst nicht anwesend.“, sagte Gastode. „Allerdings hat mich interessiert, ob er wirklich versuchen würde, uns zu töten.“ Er stand auf. „Jetzt hilf mir, ihn menschenwürdig aussehen zu lassen. So auf der Erde und nur mit dem Tuch bedeckt widerspricht er jeder ethischen Moralvorstellung.“

Für einen Menschen, der sich nicht mit neuster Waffentechnik auskennt, müsste man kurz erklären, was Professor Gastodes unausgesprochene zweite Sicherheit war: In unserem Institut war es keine Seltenheit, dass Kriminelle und Gewalttäter ein zweites Mal das Licht der Welt erblickten. Aus diesem Grund gab es natürlich einen gewissen Sicherheitsstandart. Dieser beinhaltete den Waffenschrank, in dem jede Waffe ein im Computer registriertes und neuster Technik entsprechendes Modell war. Der Abzug war kein mechanischer Hebel, wie ihn veraltete Modelle hatten, sondern ein Sensor. Per Fingerabdruck wurde erfasst, wer der Schütze war und wenn für den keine Berechtigung vorlag, löste sich anstatt der Kugel ein Stromschlag aus, der am Griff übertragen wurde.

Galle, der zwar mit Waffen vertraut war, aber seine stets illegal beschafft und ebenso illegal verwendet hatte, kannte diese neue Technik noch anscheinend nicht. Sein kleines Scharmützel war von Anfang an dazu verurteilt gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten loszugehen.

Inzwischen hatten wir ihn zu zweit in die schlichte Kleidung gesteckt, die unser Lager zu bieten hatte, und ihn in einen der beiden Polsterstühle gesetzt. Gastode nahm auf sehr autoritärer Weise im anderen Platz und ich brachte die Waffen weg.

Als ich wiederkam, war Galle wieder bei Bewusstsein. Mit Unschuldsmiene erklärte mein Boss ihm, was passiert war.

„Sie haben darauf gezählt, dass ich abdrücke!“, fluchte Galle und rieb sich die tränenden Augen.

„Was hätten Sie an meiner Stelle getan?“, rhetorisierte Professor Gastode und schob einen Teil der Dinge, die ich geholt hatte, über den Tisch. „Essen und trinken Sie.“, forderte er dann.

Galle tat es, wenn auch widerwillig. Er schien seinem tot gewesenen Magen nicht zu trauen und er fluchte, als er das Fehlen seiner Backenzähne bemerkte.

Ich brachte die Verpackung von Galles Mahlzeit zum Abfall und entsorgte Gastodes Kaffeebecher in den Sondermüll. Der Professor war inzwischen dazu übergegangen, Galle einen kleinen Sehtest zu zeigen und ihm eine Brille anzupassen. Er gab ihm auch ein Hörgerät und Make-up um die grüne Stelle auf seiner Stirn einfärben.

„Hält die Farbe?“, wollte der Verbrecher kritisch wissen.

„Sie müssen alle paar Tage nachbessern.“, erklärte ich ihm und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Der Mann, der sich dort mit Glatze und ohne Augenbrauen, brilletragend im Handspiegel betrachtete, dem man ansah, das das Alter und der Tod ihm zu schaffen machten, konnte unmöglich der gleiche sein, der mit Phantombildern und Massenfahndung über Monate gesucht worden war. Mit seiner schwammigen, aufgedunsenen Haut, seinem Kiefer, der sich vor und zurückschob, während er mit der Zunge die fehlenden Zähne betastete und den Händen, die im Nachklang des Stromschlages zitterten, mit seinen gesprungenen Lippen und seinem mutlosen Blick konnte er nicht der sein, der so viele junge Leute zu verzweifeltem Ungehorsam animiert hatte. Deus Galle war ein zeitloser, gefährlich charismatischer Schwerverbrecher, der mit seinem langen, schwarzsilbernen Zopf an Zeiten erinnerte, als es noch Subkulturen gab und der nicht davor zurückschreckte, zum äußersten Mittel zu greifen um die Welt in die Richtung zu verbessern, die er für die bessere hielt. Aber Deus Galle war tot, man hatte ihn erschossen. Und ich selbst war derjenige, der ihm den langen Zopf abgeschnitten hatte.

Wir warteten geduldig auf die Männer, die Galle abholten um ihn ins kontinentale Gefängnis zu bringen. Die Militärs hatten unbeschränkten Zugang zu allen Einrichtungen, also auch zu unserer.

Galle wehrte sich nicht, als die Männer, deren Gesichter hinter verspiegelten Visieren verborgen waren, ihm Handschellen anlegten und ihn mitnahmen. Die Falle, die Gastode ihm gestellt hatte und in die er einfach so getappt war; der Stromschlag, der ihn niedergestreckt hatte, hatte ihn endgültig gebrochen. Eigentlich benötigte man nicht mehr der Exekution, die ihm bevorstand, um ihn zu bestrafen. Ohne es zu wollen, waren Professor Gastode und ich diejenigen, die den Widerständler Deus Galle hingerichtet hatten.

Ich sah den dunklen Uniformen nach, die Galle die Treppe nach oben eskortierten. Dann machte ich die Institutstür zu und kehrte in das Büro des Professors zurück.

„Wir haben heute nichts mehr zu tun?“, fragte ich.

Er sah nicht von dem Formular auf, das er für die Akten über die Reanimation des heutigen Tages ausfüllte. „Du kannst nach Hause, Max.“

Ich dachte an Zombies. Personen, die dem Willen anderer Personen hörig waren. Ich drehte mich um und wollte gehen.

„Max?“, hielt mein Boss mich zurück.

„Bitte?“

„Die Aufnahmen, die wir zur Wiederbelebung verwendet haben, sind schon älter.“, teilte Gastode mir mit. Sein Tonfall hatte etwas plakativ Nebensächliches. „Seine Tochter ist ungefähr im selben Alter wie du.“

„Zora?“

„Sie ist auf dem falschen Weg, genau wie ihr Vater.

Ohne weitere Erklärung schob mir der Professor ein gefaltetes Blatt Papier zu. Ich nahm ihn und überlegte, ob ich ihn öffnen sollte.

Gastode sah auf.„Meinst du, du würdest sie erkennen, wenn du sie siehst?“ Er schenkte mir einen seiner sehr eindeutigen mehrdeutigen Blicke und ich wusste, was ich zu tun hatte. Jeder kannte Stellen, an denen die Maschen des Überwachungsnetzes sehr weit waren. Jeder wusste, wie er kurzzeitig hindurchschlüpfen konnte.

„Du hast jetzt Feierabend, Max.“, sagte er sehr eindringlich. „Nutz die Zeit gut.“

„Mach ich.“, versprach ich.“

„Du weißt…“, sagte Professor Gastode, der einen Humor wie ein Rechenschieber und ein Gehirn wie ein Hochleistungscomputer hatte. „Ich folge lediglich der logischsten Handlungsmaxime.“

Ich verabschiedete mich.

Vielleicht sollte man erwähnen, dass sein Gehirn ein Hochleistungscomputer war.

 

Ich war einer der wenigen Menschen, die Deus Galle nach seiner Hinrichtung zu Gesicht bekam. Ich stand vor seiner Leiche, die Struktur des Seils hatte sich blau in die Haut des Halses geprägt. Im roten Licht sah die Makulatur schwarz aus.

Dann zeigte ich einen Daumen nach oben zu der verspiegelten Glasscheibe, hinter der ich jemanden wusste, der die Instabilität des herrschenden Systems berechnet hatte und es in seiner Willkür in etwa so verabscheute, wie es der Tote auf dem Fliesband getan hatte. In seiner Gesellschaft befand sich eine junge Frau, mit kurz geschorenem, rot-braunen Haar, kantigem Gesicht und verbittertem Blick, die mit ihrem Laptop die Permanentüberwachung sehr gekonnt zum Narren hielt.

Ich trat ein paar Schritte nach hinten und seufzte. Wer sah schon denselben Film gerne zweimal?

Um mich herum steigerte sich Licht und Ton in ein furioses Inferno. Ich schloss die Augen.

Nein. Wir schafften viel, aber keine Zombies.

 

*****

 

Raven E. Dietzel, 1995 in Detmold geboren, schreibt seit sie denken kann. Sie studiert in Bielefeld, zunächst Philosophie und Germanistik, seit dem Bachelorabschluss im Masterstudiengang Linguistik.

Die junge lippische Autorin schreibt mit Liebe zur Sprache und dem Wunsch zur Aussage Lyrik und Belletristik – veröffentlicht ist von den vielfältigen Werken bisher nur ein überschaubarer Bruchteil.
Die ersten Aufnahmen in Anthologien fanden 2013 während ihrer Zeit am Oberstufenkolleg Bielefeld statt, seitdem folgten diverse Veröffentlichungen in den Anthologien verschiedener Verlage in den Gattungen Lyrik, Kurzgeschichte, Erzählung und Prosa sowie einiger Illustrationen, vorwiegend in den Genres Coming of Age und Science Fiction. 2013 gewann sie den 3. Preis im Jugendliteraturwettbewerb NRW des wort & kunst e.V. Bergisch Gladbach. Seit 2014 ist sie Mitglied im regionalen Schreibzirkel LipPen, mit und ohne den sie regelmäßige öffentliche Lesungen hält, häufig begleitet mit eigenem Gitarrenspiel. Seit 2018 stellt sie zwei Gedichten auf dem literarischen Wanderweg Lage-Hörste.

Im Zentrum von REDs Werken steht der individualisierte Mensch in seiner Abspaltung von der Gesellschaft. Sie schreibt aus der Lebensrealität einer jungen Frau heraus und mit dem fachlichen Hintergrund einer Geisteswissenschaftlerin - politisch, emotional, philosophisch. Inwieweit diese Aufzählung nicht erschöpfend ist, davon macht man sich am Besten selbst ein Bild.

Sarah Peters - Jenseits des Horizonts

 

Obwohl man sagte, dass der Sprung durch ein Dimensionstor nicht zu bemerken war, spürte Cassidy jedes Mal etwas. Das Auseinanderspalten und Wiederzusammenfügen der Atome fühlte sich an wie eine Dusche mit warmem Wasser – so angenehm, dass man es bedauerte, wenn sie vorbei war.

Das, was auf der anderen Seite des Portals zu finden war, konnte durchaus als das Gegenteil von „angenehm“ angesehen werden. Eine gewaltige, käferähnliche Gestalt stopfte Felsen, Wüstenpflanzen und das eine oder andere Tier in sein Maul. Der Schlund des Weltenfressers glich einem Wirbelsturm, der die Materie aus den Dingen saugte, die er verschlang.

Cassidy lächelte. Das Problem würde innerhalb weniger Minuten gelöst werden.

Der Weltenfresser bemerkte nicht, dass neben Cassidy weitere Wesen durch die Brücke zwischen den Dimensionen traten. Eleven machte ihre Kanone bereit, sobald sie auf festem Boden stand. Zorx, der blaue Hüne aus der Nachbardimension, ignorierte Elevens Kampfbereitschaft und half dem veralteten Medi-Droiden mit der Nummer 747 sicher auf der anderen Seite des Portals zu landen. Den Schluss machte Macius, der Portalwächter im Team. Nachdem er das Portal geschlossen hatte, stellte er sich zu seiner Truppe.

„Gehen wir wie üblich vor?“, fragte Eleven und hob die Protonenkanone auf ihre Schulter. Es war erstaunlich, wie so ein junges Mädchen so viel Kraft haben konnte.

„Ja“, antwortete Cassidy. „Solange das Viech frisst, haben wir genug Zeit, es zu liquidieren.

Jeder geht auf seine Position. Auf mein Zeichen greifen wir an.“

Die Mitglieder Cassidys Einheit nickten, dann schwärmten sie aus.

Alle waren so sehr mit ihrer festgelegten Aufgabe beschäftigt, dass keiner bemerkte, wie der Medi-Droid auf dem sandigen Untergrund ins Trudeln geriet, schwankte und umkippte. Ein ohrenbetäubender Alarm setzte ein. In der Ferne hielt Zorx sich die Hörlöcher zu.

Cassidy rollte mit den Augen. Sie hatte vergessen, dass Modell 747 mit einem Warner ausgestattet war, der losging, wenn es gefallen war. Diese störende Funktion hatte sich glücklicherweise nicht durchgesetzt.

Macius sprintete zurück und stellte den Droid wieder auf die Beine. Der Alarm mochte abgeschaltet worden sein, das änderte aber nichts an der Tatsache, dass der Weltenfresser auf die Besucher aus einer anderen Welt aufmerksam geworden war.

„Keine Sorge, ich erledige das!“ Eleven lief nach vorne, die Protonenkanone glühte in einem strahlenden Türkis.

Bevor sie den Schuss abgeben konnte, packte Cassidy sie am Kragen und zog sie zurück. Sie musste schnell handeln, bevor Eleven mit ihrem Protonenstrahl wieder mehr Schaden als Nutzen anrichtete. „Pass lieber auf Zorx auf!“ Sie deutete auf den Hudron, der damit beschäftigt war, diverse Lebensformen in Sicherheit zu lotsen.

Der Weltenfresser stapfte auf Cassidy und Macius zu. Während der Junge vor Angst erstarrt auf sein Zeichen wartete, war die Kommandantin die Ruhe selbst. Auch in Plan B hatte sie größtmögliches Vertrauen.