Thomas Käsbohrer

 

Am Berg.

 

Bergretter über ihre dramatischsten Stunden.

 

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Bibliothek der Extreme, Band 6

„Wir sind Retter: Nicht Richter.“

 

Vorwort

 

Dieses Buch entstand im Herbst 2018 in vielen Einzelgesprächen mit Bergwachtlerinnen und Bergwachtlern, die ich an ihren Wohnorten zwischen Bad Reichenhall an der österreichischen Grenze und Sonthofen im Allgäu um ein Gespräch gebeten hatte. Ihre erste Reaktion auf meine Bitte war stets dieselbe. „Ich hab nix zu erzählen. Ich hab ja nix Besonderes erlebt“, sagten sie. Es brauchte nie mehr als eine halbe Stunde, bis klar war: Fast alles an ihren Erlebnissen ist besonders. Und an ihren Leben auch.

Auf den ersten Blick sind sie Menschen wie Du und ich. Lehrer, Schreiner, Maurer, Bodenleger, Schäfer. Eine Ärztin. Eine Almerin. Ein Amtsrichter. Die Jüngste 24. Der Älteste 85. Begannen sie zu erzählen, was sie erlebt hatten und in jeder Woche erleben, kamen ungewöhnliche Grenzgänger beiderlei Geschlechts im Dienst am Anderen zum Vorschein. Menschen, einerseits in ihrer Heimat tief verwurzelt. Und andererseits von dem lebensfeindlichen Raum der Berge vor ihrer Haustür gleichermaßen fasziniert wie sie getrieben sind von der Idee, anderen zu helfen.

Die Auseinandersetzung mit der Natur, dem Fels und dem eigenen Können zieht diese Grenzgänger ebenso magisch an wie der Augenblick des Glücksgefühls, einen Vermissten oder Verunglückten zu finden und lebend in einen am Steilhang klebenden Hubschrauber zu heben.

Was immer es war: Ihr Wesen oder ihr Grenzgängertum hat sie bewogen, Risiken auf sich zu nehmen. Anders als es heute oft verbreitet ist, sind sie sich des Risikos bewusst, das sie eingehen, wenn sie ihrer Leidenschaft folgen.

Erzählte ich davon, dass ich zwar in Oberbayern aufgewachsen, aber eher Segler und nicht Bergsteiger bin, der sich die letzten Jahre auf langen Soloreisen segelnd übers Meer bewegt hat, sahen sie mich häufig mit schreckgeweiteten Augen an.

„Im Wasser? Um Himmels willen. Da kann ich mich ja nirgends mehr festhalten“, sagten die, die an den Abgründen links und rechts des schmalen Jubiläumsgrats mal eben in vier Stunden ohne Halt entlang eilen, als sei das nichts anderes als ein Gang über die Stufen des Treppenhauses.

Bohrte ich in den Gesprächen nach, warum sie nicht öfter Unmut äußerten über die häufig durch eigenes Verschulden am Berg in Not Geratenen, bekam ich oft dieselbe Antwort: „Wir sind Retter. Nicht Richter.“ Nicht mehr. Nicht weniger. Simple fünf Worte reichen, um sich das Mitgefühl für jeden Verunglückten zu bewahren. Und nicht in jenes altkluge Blaffen und vorschnelle Urteil zu verfallen, das einem die an sich wertvollen Sozialen Medien heute oft verleidet.

Wollte ich wissen, was sie für ihre Einsatz bekämen, lautete die Antwort: „Nichts“. Wer heute an einem Sonntagnachmittag als Bergwachtler mit 20 Kilo auf dem Rücken zu einem Verunglückten aufsteigt, hat seine Berg- oder Skistiefel samt Ski und Rucksack aus der eigenen Tasche bezahlt. Nur die blau-rote Einsatzjacke kann meist aus Spenden an die Bereitschaft bezahlt werden. Und er erhält für sein Risiko keinen Cent. Nicht selten steht er dann einem Hilfesuchenden gegenüber, der davon keine Ahnung hat, und der meint, es bestünde ein Recht auf Rettung.

Nicht zuletzt deshalb haben wir vom Verlag millemari. uns entschlossen, auf einen Teil des Erlöses aus dem Verkauf dieses Buches zu verzichten und den Bergrettern zur Verfügung zu stellen.

Dieses Buch erzählt von Bergretterinnen und Bergrettern. Aber auch von Unfallopfern. Ihre Namen und Herkunftsorte, soweit sie bekannt sind, wurden geändert. Es wurde keineswegs in der Absicht geschrieben, dem Leser im Blick auf die Bergunfälle einen Schuldigen zu präsentieren. Oder etwa, um ihm ein vorschnelles „Wie-konnte-der-bloß!“ zu entlocken. Auch geht es nicht um Voyeurismus mit möglichst vielen, möglichst gruseligen Details. Dieses Buch ist dem Credo der Bergwacht „Wir sind Retter. Nicht Richter“ zutiefst verpflichtet.

Es kommt darauf an, zu begreifen, dass Unfallsituationen von Menschen wie Du und ich verursacht werden. Sie können jedem von uns jederzeit widerfahren. In die Berge zu gehen, ist immer mit Wagnis verbunden. Das zeigen nicht zuletzt die Eigenunfälle der Bergwachtler, von denen sie hier freimütig erzählen.

Bei meinen Darstellungen folgte ich in den Details strikt den Schilderungen der Retter, so wie sie die Vorgänge erlebten und im Gespräch schilderten. Der Bericht eines Beteiligten ist immer subjektiv. Und manches an den Darstellungen mag von den Tatsachen etwas abweichen, wie Augenzeugen oder Betroffene am ein oder anderen Detail vielleicht bemerken werden.

Doch immer war für mich der Bericht der Retter, wie sie die Situation erlebten, die Richtschnur für meine Rekonstruktion dessen, „wie es gewesen sein könnte“. Dort, wo ich in die Person eines Unfallopfers schlüpfte (wie etwa in der Einstiegsgeschichte), erlaubte ich mir etwas größere erzählerische Freiheit, mit der ich die Emotionen eines Verunglückten schilderte. Doch für mich war das subjektive, teils emotionale Erleben der Bergretter und Bergretterinnen, der Wunsch nach der Rekonstruktion der dramatischen Vorgänge die Motivation, die zum Entstehen dieses Buches führte.

 

Der vorliegende Band verdankt seine Entstehung der Mitarbeit vieler. Ohne die tatkräftige Mithilfe von Roland Ampenberger und Lisi Frühholz von der Bergwacht Bayern wäre dieses Buch niemals entstanden. Ebensowenig ohne die bemerkenswerte Offenheit und das Vertrauen, das mir die Frauen und Männer der Bergwacht allesamt schenkten, indem sie mir freimütig ihre sehr persönlichen Erlebnisse und Empfindungen für dieses Buch anvertrauten.

Dr. Andreas Meyer von VERLAGSCONSULT in München danke ich für viele Gespräche und Einsichten, was Leser angeht, Benita Clegg-Littler, Marion Selinger, Alexandra Maurer für viele Anregungen beim Lesen der ersten Rohfassungen.

Wie immer schulde ich größten Dank Susanne Guidera für die Klugheit, Beharrlichkeit und Leidenschaftlichkeit, mit der sie im 20sten Jahr unserer Zusammenarbeit dieses Projekt mit entwickelte, kritisch begleitete und umsetzte. Meiner Frau Katrin für ihre Ermunterung. Und die Freiheit, sechs Monate im Jahr meiner Leidenschaft auf dem Meer zu folgen und nicht für sie da zu sein. Und selbst wenn ich da bin, dann doch nie ganz da zu sein, sondern zu oft in Gedanken an Texten feilend den Geschichten anderer im Raum zu lauschen.

 

Die Bergwacht rückte im Jahr 2018 zu rund 8000 Einsätzen aus. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass nicht ein Bergretter in den Alpen verunglückt. Dieses Buch schrieb ich für die Männer und Frauen der Bergwacht, die hier ihre Geschichten erzählen. Und für diejenigen, die sie mir nicht erzählen konnten. Aus welchen Gründen auch immer.

 

Iffeldorf vor den Bergen,

im Herbst und Winter 2018/2019

 

Thomas Käsbohrer

 

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Es ist Frühsommer. Für einen ambitionierten
Bergwanderer soll es mit Steigeisen über das Höllental
bei Garmisch-Partenkirchen zum Höllentalferner gehen.
Als der Münchner auf einem Schneefeld
einen falschen Schritt macht,
geht es für ihn von einem Moment auf den anderen
um Leben oder Tod in einer Gletscherspalte.

 

Anton Vogg Senior / Anton Vogg Junior

Zugspitze. Der Mann aus dem Eis.

 

Ein paar Tage nach Sonnwend herrscht in diesem durchwachsenen Frühsommer endlich ein wenig Sonnenschein. In München freut sich der 37-jährige Hermann H. (Name von der Redaktion geändert) seit Tagen auf den Höllentalferner. Er ist leidenschaftlicher Bergsteiger. Den Kollegen im Büro schwärmt er von der geplanten Tour im Hochsommer in den Westalpen vor. Und dass er sich dafür ein paar neue Steigeisen gekauft hat, die er vielleicht am Wochenende ausprobieren will. An diesem Sonntagvormittag packt er seinen Rucksack, es soll ja keine große Tour werden. Nicht ganz rauf bis zur Zugspitze. Nur den Weg bis zum Gletscher. Nur mal dort probieren, ob er die richtigen Eisen gekauft hat.

Viel braucht er nicht, am Abend will er ja wieder zurück sein. Einen Anorak. Ein paar Müsliriegel. Etwas Wasser. Eispickel, Eisbeil oder Seil braucht er nicht.

Hermann H. freut sich. Auf den Ausflug nach Grainau. Auf den Berg. Auf den Gletscher.

 

Sonntag, 24. Juni. Höllentalferner.

 

Auf dem Höllentalferner ist das Wetter herrlich. Klare Sicht bis ins Tal, fast wolkenlos. Es hat die letzten Tag geschneit oben. Das Geröll, das im Sommer sonst offen auf dem Gletscher zwischen den Spalten liegt, ist leicht überzuckert vom Neuschnee der letzten Tage. Der Schnee des langen Winters hat sich auf der sonnenabgewandten Seite der Zugspitze auf der einen Kilometer langen Eiszunge des Höllentalferner ein letztes Refugium geschaffen. Hermann H. schnallt sich die Steigeisen an, als er den Gletscher auf 2570 Meter erreicht. Er ist allein hier draußen, seit längerer Zeit hat er keinen Bergsteiger mehr gesehen. Kein Laut dringt durch die magische Stille.

Zaghaft macht er seine ersten Schritte auf dem Eis. Er ist überrascht, wie gut die Steigeisen durch den pudrigen Schnee hindurch Halt finden. Es geht leichter, als er sich das vorgestellt hat. Er macht ein paar Sprünge, begeistert, Donnerwetter, wie die Eisen ins Eis beißen. Er wandert ein Stück den Gletscher nach oben, der steil ansteigt. Geröllbrocken liegen im Neuschnee auf dem Eis, er ist achtsam dort, wo die Felswände etwas vorspringen und die Gletscherzunge verengen, dort sind meist die Spalten.

Er folgt dem Pfad weiter nach oben, sein Schritt ist sicher. Mutig geworden, verlässt er den Weg nach oben, wo unberührt ein Schneefeld liegt. Es ist weit am Nachmittag. Ein paar Meter steigt er auf, schaut vielleicht kurz nach oben. Als er den nächsten Schritt macht, trifft sein Eisen unter dem Schnee auf – nichts mehr... Er tritt ins Leere. Sein schwerer Schuh mit dem Steigeisen bricht durch die zarte Schneedecke. Er verliert das Gleichgewicht und rutscht durch den scheinbar festen Boden wie durch hauchdünnes Eis nach unten. Er fällt, haltlos zwischen zwei enger werdenden Eiswänden, soviel sieht er vielleicht noch.

Eine Ewigkeit dauert sein Fall, so kommt es ihm wohl vor, dann schlägt er unten überraschend weich auf einem Schneehaufen auf. Als er die Situation begreift, beginnt er, sich langsam zu bewegen. Seine Glieder sind heil. Bis auf ein paar Kratzer ist er unverletzt. Der Rücken tut ihm etwas weh, doch nichts ist gebrochen. Er steht auf und schaut sich um. Er ist auf einem etwa zwei Meter breiten Balkon zwischen den Wänden aufgeschlagen. Links und rechts daneben fällt die Spalte jäh weiter nach unten ab. Vor sich und hinter sich hat er Wände aus blankem Eis, fast kann er sich mit den Armen nach links und rechts abstützen. Vor ihm und in seinem Rücken läuft die Spalte weiter. Über sich, in knapp zehn Metern Höhe, befindet sich eine geschlossene Schneedecke. Durch das kleine Loch, das er beim Sturz durch die Schneedecke gerissen hat, sieht er ein Stück des strahlend blauen Himmels über ihm leuchten, als wäre nichts geschehen. Doch plötzlich fühlt er: Der blaue Himmel ist unerreichbar weit weg. Noch weiter weg, als er für ihn jemals war.

 

Montag, 25. Juni, München.

 

Am späten Vormittag wundern sich die Kollegen, warum Hermann H. nicht zur Arbeit erschienen ist. Das sieht ihm gar nicht ähnlich, einfach nicht zur Arbeit zu kommen, ohne sich abzumelden. Auf dem Handy antwortet er nicht. Aber einer von ihnen erinnert sich, dass Hermann H. doch nach Grainau wollte, hinauf auf den Höllentalferner, mit den neuen Steigeisen. Als ihr Kollege acht Stunden späten immer noch nicht erreichbar ist, verständigen sie am Nachmittag die Polizei.

 

Montag, 25. Juni. Grainau.

 

Für Toni Vogg Senior war es kein ruhiger Sonntag gewesen in der Bergwachtstation Grainau. In der Abenddämmerung kommt ein Alarm, zwei Männer müssen sie wegen Erschöpfung vom Jubiläumsgrat abbergen, zwei Stunden ist der Helikopter aus Landsberg im Einsatz. Für Toni Vogg nichts Neues. Er ist 48, er hat eine Firma für Elektroinstallation in Grainau, es ist sein freies Wochenende, das wieder einmal für die ehrenamtliche Arbeit in der Bergwacht draufgeht. Aber Toni Vogg weiß, warum er in der Bergwacht ist. Er war 16, als ihm beim Klettern oben an der Riffelscharte ein Griff ausbrach und er 40 Meter in die Tiefe stürzte. Das war 1975. Handys waren noch nicht erfunden und die Luftrettung per Helikopter gerade erst im Aufbau. Sein Freund musste ihn liegen lassen, musste eilends absteigen und Hilfe holen. Es dauerte Stunden, bis die Retter aus dem Tal zum Schwerletzten aufgestiegen waren, und ihn als schmerzendes Bündel Meter für Meter hinunter ins Tal trugen. Drei Wochen lag er im Koma. Als er nach vier Monaten auf eigenen Beinen das Krankenhaus verlassen konnte, beschloss er, sich in seiner Heimatgemeinde Grainau der Bergwacht anzuschließen. Aus Dankbarkeit, dass Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, bloß um seines zu retten.

Auch seine beiden Söhne Christoph und Toni sind bei der Bergwacht Grainau. Der Toni ist in diesem Juni 2007 gerade 17 Jahre alt und trotzdem voll dabei. „Vogg I“ und „II“ nennt man die beiden Tonis bei der Bergwacht lapidar, um Vater und Sohn auseinanderzuhalten, wenn sie wie so oft gemeinsam auf einen Einsatz gehen.

Es ist 17:30 Uhr, als an diesem Montag im Juni der Alarm reinkommt. „Vermisste Person am Höllentalferner“, lautet die Nachricht auf den Funkmeldeempfängern bei vier Bergwachtmännern in Grainau. Und bei Vater und Sohn Vogg. Eine Viertelstunde später machen sich die sechs auf den Weg zur Seilbahn und fahren hinauf zum Gipfel der Zugspitze. Vom schönen Wetter des Sonntagnachmittags ist so gar nichts geblieben, als sie den Berg hinaufschauen. Es herrscht dichter Nebel. Wolken jagen Schauer körnigen Eises um die Gondel der Seilbahn.

Während der Fahrt überlegen die Männer, wo sie überhaupt mit der Suche beginnen sollen. Das Suchgebiet ist eigentlich zu groß. Und keiner weiß, wo der Vermisste sich befinden könnte. Wäre er abgestürzt, da sind sie sich sicher, dann hätte man das dank des schönen Wetters bemerkt. Irgendjemand hätte irgendwas gesehen. Weil derartige Hinweise fehlen, gehen die Bergwachtmänner davon aus, dass der Vermisste am Höllentalferner in eine Spalte gestürzt ist.

Eile ist geboten. Das Unglück liegt 24 Stunden zurück. In zwei Stunden wird es dunkel. Wetter und Sicht sind miserabel. So miserabel, dass der SAR-Hubschrauber, der die Nordostseite der Zugspitze absuchen soll, nach einer halben Stunde die Suche abbricht und nach Landsberg zurückfliegt. Kurz nach 19:00 Uhr erreichen die Männer den oberen Rand des Gletschers. Regen. Graupel. Sicht um die drei Meter. Dichter Nebel dämpft das Geräusch ihrer Schritte und ihre Rufe, während sie sich auf dem rutschigen, steil abfallenden Gletscher langsam abwärts bewegen.

Alle paar Augenblicke bleiben sie stehen. Lauschen angestrengt in die Stille. Aber nichts regt sich. Bis in die anbrechende Nacht suchen die sechs Männer den Gletscher ab. Als Blitze in der Dämmerung den Gipfel über ihnen grell erleuchten und der Regen in Schnee übergeht, beschließen die sechs, ihre Suche zu unterbrechen. Und ins Tal zurückzukehren. Um 22:50 Uhr erreichen sie die Höllental-Angertalhütte. Um 24:00 Uhr sind sie wieder im Tal. Sie ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie keine 30 Meter an Hermann H. vorbeigewandert sind.

 

Montagabend. Höllentalferner. Die Nacht im Eis.

 

Hermann H. ist fassungslos, wie er den 10-Meter-Sturz in die Spalte unversehrt überstanden hat. Aber die Freude verfliegt jäh, er muss hier irgendwie raus und ruft um Hilfe, so laut er kann. Doch der Schnee über ihm dämpft jeden seiner Schreie, so als hätte er in ein Kissen gerufen. Vielleicht tut ihm das Schreien gut, doch auf jeden Schrei folgt die Stille. Und die ist um so unerträglicher. Dumpfe Stille von oben. Dumpfe Stille zwischen den kalten Wänden.

Er greift zum Handy. Aber das Display zeigt ihm nur ein lakonisches „Kein Netz“. Das bleibt auch so, als er eine Nummer wählt. Er ist zu weit oben, er steckt zu tief im Eis, als dass er hier Empfang haben könnte. Nach einigen Versuchen stellt er das Handy aus, um den Akku zu schonen. Ein Foto von dem Loch über sich macht er noch, das wird ihm eh niemand glauben. Die Enge. Das kleine Loch, durch das er gefallen ist wie in ein anderes Leben, mit dem tiefen Blau am Sonntagnachmittag oben drüber. Vielleicht denkt er auch daran, dass irgendwann jemand dieses Handy finden könnte. Mit der Aufnahme. Dann wüssten sie, was mit ihm passiert ist. Er steckt das Handy wieder ein und machte sich an die Arbeit. Wozu hat er denn Steigeisen? Auch wenn ihm Eisbeil und Pickel fehlen: Vielleicht kann er sich ja zwischen den sachte tropfenden Wänden so abstemmen, dass er irgendwie nach oben kommt. Er versucht es. Ein Mal. Drei Mal. Sieben Mal. Am Anfang geht es leicht, jedes Mal schafft er es ein kleines Stück nach oben. Aber da, wo sich über ihm die senkrechte Eiswand leicht ausbeult, verliert er den dürftigen Halt und kippt langsam nach hinten.

Den Versuch, die glatten Wände zu erklimmen, gibt er nach einer halben Stunde auf. Lieber die Kräfte schonen. Wenn er sich jetzt verausgabt, wird er schneller ermüden. Er weiß: Sein Feind ist der Schlaf. Wenn er in der Nacht zwischen den Eiswänden einschliefe, dann wäre das sein sicheres Ende. Im Schlaf würde sein Körper, ohne dass er es bemerkte, kälter und kälter werden. Die Unterkühlung seines Körpers würde ihr Werk tun. Er würde nichts merken. Er würde einfach nur schlafen.

Noch bevor die Dunkelheit hereinbricht, hat er den Inhalt seines Rucksacks inspiziert. Viel ist es nicht. Eine Handvoll Müsliriegel. Nur noch wenig zu trinken im Gefäß. Ein Pullover. Eine Mütze. Viel mehr ist es nicht. Er hat seinen Rucksack auf dem Schneehaufen ausgebreitet und sich daraus einen Sitz gebaut, soweit das in seiner Eiskammer möglich ist.

Er verbietet sich das Einschlafen. Immer wieder steht er auf. Tritt auf der Stelle. Schlägt mit den Armen um sich. Stampft in seinem zwei Meter langen Verließ auf der Stelle, um sich zu wärmen. Und wieder steht er auf. Gegen Morgen nickt er ein erstes Mal kurz ein. Auf die Zunge beißen, darauf herumkauen, bis es schmerzt ... Alle Tricks, die er kennt von langen nächtlichen Autofahrten.

Doch nichts hilft gegen den Schlaf. Er gibt ihm einfach nach. Nach zehn Minuten schreckt er mit einem Schrei hoch, es ist, als hätte er sich selber geweckt. Er hatte geträumt, doch um ihn war nur die Stille. Und die eisigen Wände. Voller Panik streckt er seine kalt gewordenen Glieder, er zwingt sich – zum wievielten Mal? – auf der Stelle zu treten, in der Dunkelheit Rumpfbeugen, Gymnastik zu machen, um Blut in seine Glieder zu bekommen.

Quälend langsam kommt der Morgen oder das, was Hermann H. durch das schmale Loch wahrnimmt. Der blaue Himmel weicht über den Tag einem Grau, das am Nachmittag in Finsternis übergeht. Das Loch ist nur noch ein grauer Schemen, durch das der Wind vereinzelte Regentropfen treibt. Davon merkt er freilich nichts, nur dass Tropfen die Eiswände herunterrinnen. Lange muss er die Hand aufhalten, sehr lange, bis sich wenige Tropfen Gletscherwasser in seiner Hand sammeln, die er gierig aufleckt. Er sieht nichts. Er hört nichts.

Noch quälender die Frage: Ob ihn überhaupt jemand vermisst? Ob irgendjemand nach ihm sucht? Klar, er hat einem Kollegen vor dem Wochenende kurz von seinem bevorstehenden Ausflug erzählt. Aber reicht das?

Er bereitet sich darauf vor, die zweite Nacht in der Spalte zu verbringen, eine zweite Nacht seinen Kampf aufzunehmen gegen das Einschlafen und die Kälte. Noch hat er Kraft. Er hört die Retter nicht, die am Abend nur etwa 30 Meter entfernt durch den Nebel an seinem Loch vorbeiziehen. Alle paar Meter stehenbleiben. Und rufen. Der Nebel und die Schneedecke über ihm schlucken jedes Geräusch.

 

Dienstag, 26. Juni, 7:00 Uhr. Grainau

 

Am Morgen des zweiten Tages hat sich das Wetter weiter verschlechtert. Die Wolken hängen tief, vom Gipfel ist nichts zu sehen, es regnet in einem fort seit der Nacht und in den Tag hinein. In der Einsatzzentrale der Bergwacht am Fuß des Berges treffen sich die Grainauer Bergwacht-Leute, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Bei dem Wetter macht eine Rettungsaktion wenig Sinn. Natürlich könnten sie hinauffahren, ein zweites Mal vom Gipfel der Zugspitze zum Gletscher hinuntersteigen. Ein zweites Mal würden sie bei der geringen Sicht nicht das Geringste entdecken, wie blind durch den Nebel stolpern.

Die Chancen, einen Verunglückten zu entdecken, sind bei diesen Bedingungen gering. Wenn der Mann noch lebt und nicht schwerverletzt da oben liegt. Nein. Warten. Und auf Wetterbesserung hoffen.

Am späten Vormittag lässt der Regen nach, starker Wind jagt die Wolkendecke auseinander. Die Polizei startet mit ihrem Helikopter eine Rettungsaktion und fliegt trotz heftiger Böen hinauf, sobald sich ein Wolkenloch oben zeigt. Sie wollen systematisch die 1000 Meter lange und 700 Meter breite Gletscherzunge auch bei schlechter Sicht absuchen. Nach einer Spur des Vermissten. Als sich nach vier Stunden das Wetter erneut verschlechtert, bricht die Hubschrauberbesatzung ihre Suche für diesen Tag ab. Sie kehrt ins Tal zurück. Vielleicht morgen noch einmal. Alle Beteiligten wissen: Ihnen läuft die Zeit davon.

 

Dienstag, 26. Juni. Der dritte Tag im Eis.

 

In der Spalte ist die zweite Nacht für Hermann H. noch schrecklicher als die erste. Die Kälte zwischen den Eiswänden. Die Feuchtigkeit. Die Müdigkeit. Der Wunsch seines Körpers, endlich einzuschlafen, der ungeheuren Müdigkeit endlich nachzugeben. Das kurze Einnicken und das gleich darauf folgende panikartige Aufwachen. Wieder und wieder macht er Gymnastik in der Dunkelheit, um sich wachzuhalten, um nur ja die Wärme in seinem Körper zu halten. Der Hunger nagt in seinem Bauch.

Am Morgen tropft es von oben wie aus einer undichten Regenrinne. Der Regen scheint nun dichter zu fallen, wenigstens verdursten wird er hier drin nicht. Er hält die Hand auf, es dauert, bis sich eine Handvoll Eiswasser darin gesammelt hat, er schlürft es hastig. Und träumt von einem heißen Tee. Gegen Mittag wird es heller über dem Loch, für einen kurzen Moment zeigt sich sogar ein winziges Stück blauer Himmel. Plötzlich hört er den Hubschrauber, der über dem Gletscher kreist. Hört aufgeregt, wie der Hubschrauber mal näher kommt. Sich wieder entfernt. Dann wieder näher kommt.

Er schreit aus Leibeskräften, er springt in die Höhe auf seinem schmalen Schneebrett, als könnte er durch seine Sprünge in der engen Spalte auf sich aufmerksam machen. Doch er weiß, er ist verborgen in seinem eisigen Schrank, zu dem niemand den Schlüssel besitzt. Sie wüssten ja nicht mal, wo genau sie nach ihm suchen sollten.

Als der Hubschrauber sich am Nachmittag entfernt und sein Knattern nicht wiederkehrt, ergreift ihn Verzweiflung. Er weiß, dies war seine Chance gewesen. Vielleicht seine letzte. Er weiß, eine dritte Nacht wird er zwischen den Eiswänden nicht durchstehen. Diesmal würde er nicht mehr kämpfen. Er würde nachgeben. Und wenn es soweit war, einfach tief und fest schlafen.

 

Dienstag, 26. Juni. Grainau am späten Nachmittag.

 

Als der Hubschrauber meldet, seine Suche ohne Ergebnis abzubrechen, ist das für die Bergretter ein Tiefschlag. Zwei Tage ist der Mann nun vermisst. Zwei Tage mit miserablen Bedingungen.

Nur einem lässt das keine Ruhe. Anton Vogg, der Vater. Vogg I. Er ist zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt, er hat es als Zwanzigjähriger am eigenen Leib erfahren: „Wenn keiner kommt, bist Du weg vom Fenster.“ Es ist das einzige, was er sicher weiß. Sonst weiß er nichts. Er ist sich nur sicher in seinem Gefühl: „Der Mann muss da oben irgendwo sein. Irgendwo auf dem Gletscher. Das gibt’s nicht, dass er weg ist. Bei der intensiven Suche hätte man ihn längst woanders entdeckt.“

Anton Vogg bleibt hartnäckig. Trommelt, kaum dass Feierabend ist, wieder die anderen zusammen. Fordert erneut den Hubschrauber der SAR aus Landsberg an, der um 17:17 Uhr in Grainau eintrifft. Acht Männer steigen ein, der Hubschrauber wird sie nach oben bringen, das Wetter ist halbwegs gut. Diesmal wollen sie die Suche anders angehen: In vier Zweierteams wollen sie sich aufteilen, sich den Gletscher systematisch vornehmen. Je zwei Teams in jeder Ecke unten am Gletscher. Zwei Teams sollen ab der Mitte aufwärts suchen.

Die acht konzentrieren ihre Suche zunächst auf die bekannten Spalten am Höllentalferner. Jeder von ihnen kennt die Zonen, wo die Spannung des Eises den Gletscher reissen lässt. Aber sie wissen auch, dass der Gletscher beständig sein Antlitz verändert, sie längst nicht jede einzelne Spalte kennen können. Systematisch steigen die vier Teams unabhängig voneinander nach oben, sie rufen, sie schreien. Eineinhalb Stunden steigen sie den Gletscher langsam aufwärts. Nichts. Kurz vor 19:00 Uhr vernimmt einer, der mit seinem Kollegen die obere rechte Kante des Gletschers absucht, ein schwaches Rufen. Es dringt aus einem schmalen Loch in der geschlossenen Schneedecke. Als sie vorsichtig nähertreten, entdecken sie die Spalte. Und den Mann dort unten. In Windeseile versuchen sie, ihn von da unten heraufzuholen. Er ist schwach, kann sich aber selber noch ins Seil einhängen, das die beiden Retter zu ihm hinunterlassen. Als die übrigen Kollegen zum Unglücksort aufgestiegen sind, ist der Mann schon aus der Spalte befreit.

Hermann H. spricht nicht viel, als sie ihn sofort in eine wärmende Rettungsdecke wickeln und in einen Luftrettungsbergesack legen. Er ist nicht nur mit seinen Kräften am Ende, als ihn die Männer im Bergesack am Tau des Hubschraubers befestigen. Langsam wird der Verletzte nach oben gewinscht, wo er ins Innere des Helikopters geholt wird.

Als sich wenige Augenblicke später über ihnen die Tür des Hubschraubers schließt und er abdreht, Richtung Tal, um Hermann H. in die Klinik zu fliegen, stehen die Männer einen Moment lang noch zusammen. Auf einem Foto sieht man ihre Gesichter. Eben noch angespannt, sind sie jetzt gelöst. Einer raucht. Und schaut den Steilhang hinunter, glücklich, dass es gut ausgegangen ist, und sie den Vermissten gegen alle Wahrscheinlichkeit lebend bergen konnten. Ihren Gesichtern sieht man an, wie stolz sie sind in diesem einen Moment, bevor sie gleich ihr Material sortieren, ihre Rucksäcke packen. Und auf den Hubschrauber warten, der auch sie in der Dämmerung vom Höllentalferner nach unten bringen wird.

Es ist ein sonniger Oktobernachmittag, doch kühl im Bergwachthaus am Fuß der Zugspitze, in dem Vater und Sohn Vogg abwechselnd diese Geschichte erzählen, die jetzt elf Jahre zurückliegt und die sie trotzdem nicht vergessen haben. Und über die Gegenwart nachdenken. „Fast jedes Jahr kommt es zu Spalten-Unfällen. Aber noch höher ist die Zahl der ‚Beinahestürze‘ und der Personen, die sich selber wieder befreien können“, sinniert der junge Bergwachtler. „Die Ursache für Stürze ist oft etwas ganz Banales in einem Moment, in dem man sich sicher glaubt: Etwa das Hantieren an den Schuhen, dort wo der Übergang vom Eis zum Felsen ist.“

Ob sie bei der engen Zusammenarbeit in kleinen Teams nicht öfter in leidige Vater-Sohn-Diskussionen gerieten? Da lachen die beiden. Nein, das käme nicht oft vor. Ihr Geheimnis sei, die Stärken des anderen gut zu kennen: „Mein Vater ist besser in der Organisation. Er behält stets den Überblick, wenn er einen Einsatz koordiniert.“ „Dafür bist du schneller bei einem Verletzten, als ich oft schauen kann. Du bist der geborene Rettungssanitäter von uns beiden. Das wichtigste ist: Jeder im Team muss seine Stärken ausspielen. Erst wenn jeder die Chance hat, das zu tun, was er am besten kann, wächst das ganze Team.“

Beide sind sie verheiratet. Was ihre Frauen über einen Einsatz wie den am Höllentalferner dächten? Wie sie denn mit ihrer Sorge um die Männer bei einem Einsatz umgingen?

Da müssen die beiden einen Moment überlegen. Sie sind in unterschiedlichen Lebenssituationen. Bei Anton Vogg Senior sind die Kinder aus dem Haus, die Firma läuft. „Mir war die Bergwacht immer wichtig. Das Helfen. Meine Frau hat das immer verstanden und akzeptiert. Sie ist viele Touren mitgegangen, sie kennt das.“

Anton Vogg Junior ist noch keine 30. Er hat eine Familie gegründet, hat einen drei Jahre alten Sohn und eine einjährige Tochter. „Meine Frau geht zwar in die Berge“, sagt er, „sie unternimmt aber keine Kletter- und Hochtouren. Dass der Christoph und ich uns engagieren, ist für sie in Ordnung.“

Er macht eine Pause. Denkt nach, als fiele ihm schwer zu sagen, was er jetzt sagt: „Nur manchmal, wenn ich morgens um zwei raus muss, wenn wir die ganze Nacht bei schlechtem Wetter am Berg unterwegs sind und Bergsteiger retten, die sich überschätzt haben, falsch ausgerüstet sind, sich nicht vernünftig über die Tour oder Verhältnisse informiert haben, und hinterher erzähle, dass wir jemanden aus der Wand geholt haben, dann schaut mich meine Frau an: ‚Spinnt’s ihr eigentlich?‘, sagt sie dann, ‚Warum musst du in der Nacht rauf auf den Berg, nur weil sich einer überschätzt oder verlaufen hat, der es hätte wissen können?‘“ Aber warum er morgen Früh wieder gehen würde, das weiß Anton Vogg Junior an diesem Oktobertag. Genauso wie sein Vater.

 

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Martina Bauer ist ein Kind der Berge. Am wohlsten ist ihr, wenn sie unterwegs ist. Auch dann, wenn es bedeutet,
im strömenden Regen einen Verunglückten zu bergen,
der hilflos auf Rettung wartet. Doch ihre schwerste
Prüfung kommt völlig überraschend.

 

Martina Bauer

Kampenwand. Rettung im Regen.

 

Wer Martina Bauer auf ihrem Hof bei Sachrang zum ersten Mal begegnet, dem ist es, als säße er Heidi gegenüber. Der echten Heidi, der, die das Vorbild abgab für eines der erfolgreichsten Kinderbücher und unzählige Verfilmungen. „Ich war immer viel draußen“, erzählt die wettergebräunte Martina Bauer, wenn man sie nach ihrer Kindheit fragt. „Ich war viel mit anderen Kindern beim Lager-Bauen, Indianer-Spielen. Ich hab viel gelesen. Nur gelernt hab’ ich nicht so gern, Schule machte keinen Spaß, ich war ein bisschen faul.“

Vielleicht hatte sie damals auch schon anderes im Sinn als das Leben aus Schulbüchern kennenzulernen. Ihr Vater und ihr Onkel waren bei der Bergwacht. Und die gehörte zum väterlichen Hof dazu wie der Apfelbaum zum Bauerngarten, vor dem wir an der Hauswand sitzen. Sie wusste, was es bedeutet. Kannte die vielen Einsätze, die die Männer auf dem Hof im Sommer und Winter einfach von der Landwirtschaft weg in die Berge führten. Und wusste: Wenn der Vater im Sommer mal Urlaub vom Hof machte, dann war es ein Urlaub droben auf der Bergwachthütte.

„Als kleines Kind erzählte ich allen, ich gehe mal zur Bergwacht!“, sagt Martina Bauer. Aber so einfach war das nicht, damals, mit der Bergwacht und den Frauen. Noch bis weit in die 90er-Jahre waren weibliche Mitglieder nicht zugelassen. „Ich war 12, als eine junge Murnauerin vor Gericht zog und sich 1992 die Mitgliedschaft in der dortigen Bergwacht erkämpfte. Kaum war das Urteil raus, bin ich zur hiesigen Bereitschaft marschiert. Aber ob Mann, ob Frau: Man kann erst mit 16 aufgenommen werden, als Anwärter, daran hatte auch das Gerichtsurteil nichts geändert. Vier Jahre später hatte ich mit 16 meinen Realschulabschluss. Gleich am Freitag nach meiner letzten Prüfung, da bin ich dann zur Bereitschaft Sachrang, um mich zu bewerben.“

Was ihre Eltern denn dazu gesagt hätten? Martina Bauer grinst spitzbübisch: „Meinem Vater war das gar nicht recht. Er zeigte mir Bilder von Einsätzen. Und von Bergtoten. ‚Magst du das wirklich sehen?‘, fragte er. Aber ich war mir ganz sicher. Ich will zur Bergwacht. Gleich bei der ersten Übung, an der ich als Anwärterin teilnahm, habe ich das schwere Stahlseil hinauf geschleppt. Ich wollte mich selber testen: ‚Wie weit bist du eigentlich bereit zu gehen als Frau, wenn du das wirklich willst?‘ Ich habe mich damals bewusst nicht zurückgenommen oder geschont. Bevor du aufgenommen wurdest, schauen sich Mitglieder einer Bereitschaft dich schon genauer an. Bei mir gab’s tatsächlich ein paar Ältere, die sich nicht vorstellen konnten, dass Frauen das kräftemäßig und konditionell durchhalten. Doch die, die damals skeptisch waren, sind heute meine größten Befürworter.“

Wir sitzen vor dem Haus. Es ist ein Tag im Herbst. Regenwolken ziehen von Westen über die Berge heran. Aber Martina Bauer zieht es nicht ins Haus. „Lassen Sie uns hier vor dem Haus auf der Bank sitzen. Ich will soviel wie möglich draußen sein.“ Der Himmel wird dunkler, während sie ihre Geschichte erzählt.

„Es war im August 2011, ein schwüler Nachmittag. Wie jeden Sommer war ich als Almerin auf der Steinling-Alm am Fuß der Kampenwand. Seit 14 Jahren gehe ich jedes Jahr für den Sommer da rauf, um von Ende Mai bis Ende September auf der Alm zu arbeiten. Zu Fuß ist es eine Stunde hinunter nach Aschau, der Berggasthof ist gleich daneben, da läuft ja auch der Panoramaweg. Ich war gerade im Gasthof, als unser Polizist, der Jupp, mit dem Polizeiauto vorfuhr. Er wolle nur mal nach dem Rechten schauen, Wanderer hätten vom Gipfelkreuz aus Hilferufe unterhalb der Kampenwand gehört, aber nichts Auffälliges entdecken können. Während der Jupp noch erzählte, hab ich schon überlegt, was ich mitnehme. Ich dachte mir, ich geh lieber mal nachsehen. Alarm war noch keiner – ich packte trotzdem Rucksack, Funkgerät und Piepser und machte mich auf den Weg. Die Steinling-Alm liegt auf 1450 Metern. Von da aus geht es steigartig weiter bis zum Gipfelkreuz auf 1669 Metern, man muss trittsicher sein und konditionell fit. Das Wetter war nicht gut, noch hielt es gerade so, aber für den Spätnachmittag waren Gewitter für den südlichen Chiemsee vorhergesagt.

Allerdings wollte ich nicht hinauf zum Gipfel, sondern gleich auf die Südseite der Kampenwand. Wenn der Hilferuf von oben gehört worden war, konnte er nur von dort, irgendwo unterhalb des Gipfelkreuzes gekommen sein. Ich hatte fast den Grat erreicht, da ging auch schon mein Piepser los und meldete „Hilferufe unterhalb der Kampenwand“. Ich folgte weiter dem Maximiliansweg, dem Weitwanderweg vom Bodensee zum Königssee, das Handynetz ist da oben schwierig. Als ich den Grat erreicht hatte, entdeckte ich den Verunglückten auch schon. Halb unter dem Latschengebüsch lag ein etwa 65-jähriger Mann. Er war allein unterwegs gewesen, am Stahlseil ausgerutscht, sechs Meter in die Tiefe gestürzt und dann noch ein Stück weiter gerutscht, bis die Latschen seinen Fall gebremst hatten. Es sah nach einer schweren Verletzung aus, wahrscheinlich Oberschenkel- und Schulterbruch. Der Mann konnte sich nicht mehr bewegen, ans Aufstehen war überhaupt nicht zu denken. Nur schwach um Hilfe hatte er noch rufen können.

Ich hatte ihn eben entdeckt – es war jetzt nicht mehr zu übersehen, dass es Gewitter geben würde. Von Westen her überzog der Himmel sich schwarz. Über Funk gab ich die Position des Verletzten durch und machte mich an die Erstversorgung. Körpercheck. Die Schulter und der Oberschenkel waren tatsächlich gebrochen, das sah ich schnell. Während ich dem Mann gut zuredete, kümmerte ich mich um Schürf- und Platzwunden, und darum, dass er besser liegt.

Ich war noch keine zehn Minuten beim Verunglückten, als erste dicke Tropfen vom nun vollends düsteren Himmel herunterprasselten. Das machte die Bergung schwierig: Ein Hubschraubereinsatz käme wegen des einsetzenden Starkregens nicht infrage.

Ich wartete auf die Helfer, die jetzt schon durch den Regen auf dem Weg zu uns sein mussten. So gut es ging, hatte ich den Verunglückten verarztet, ihn mit meinem Anorak und Wärmefolie zugedeckt. Notdürftig einen einfachen Regenschutz gebaut. Als die anderen eintrafen, hoben wir das Unfallopfer in eine Gebirgstrage, bei derart schweren Verletzungen ist das häufig ein schmerzhafter Moment.

Mittlerweile schüttete es, was herunterfallen konnte. Nie im Leben war ich so schnell so durchnässt, das Wasser lief am Kragen oben rein und füllte im Nu die Bergstiefel unten. Die Augusthitze war weg, es hatte merklich abgekühlt. Wir waren zu acht und brauchten eineinhalb Stunden durch den dichten Regen, bis wir den Verunglückten in der Gebirgstrage die 200 Höhenmeter den Steig hinunter bis zur Steinling-Alm geschoben, gezerrt, gehoben hatten, wo dann auch das Bergwachtauto auf uns wartete und ihn zum Rettungswagen ins Tal brachte.

Im Nachhinein denke ich mir heute, dass der Verunglückte ungeheures Glück hatte. Wären seine schwachen Rufe nicht am Gipfel gehört worden, hätten die Leute nicht den Jupp alarmiert, wäre es fraglich gewesen, wie der Verletzte die Nacht überstanden hätte. Die schweren Verletzungen. Der heftige Regen. Der Temperatursturz. Als ich ihn fand, lag er auf seinem Rucksack, nur mit T-Shirt und Hose bekleidet. Er war nicht mehr in der Lage, sich selbst umzuziehen oder sich zu schützen. Auskühlung wäre unvermeidlich die Folge gewesen. Wer weiß, wie das ausgegangen wäre.“

Als sie ihre Erzählung beendet hat, schaut Martina Bauer hinaus in den Garten, wo erste Böen die Blätter von den Bäumen reißen. Sie denkt nach. „Männer und Frauen ticken anders. Von der Herangehensweise bei einem Einsatz. Frauen sind irgendwie emotionaler beim Einsatz dabei. Männer gehen rationaler ran. Das muss aber kein Nachteil sein. Ich empfinde genau diese Verbindung als eine der Stärken der Bergwacht.“ Ob sie dafür ein Beispiel nennen könne?

„Im Sommer bin ich auf der Steinling-Alm und im Winter hauptamtlich bei der Skiwacht auf der Zugspitze. Letzten Winter hatte ich einen Verletzten auf der Piste, der sich bei einem Sturz die Finger gebrochen hatte. Etwas ganz Alltägliches. Zwei Finger der rechten Hand. Keine große Sache eigentlich. Und nichts, was nicht wieder heilen würde. Während ich ihn versorgte und mit ihm redete, stellte sich heraus, dass der Mann Berufsmusiker in der Philharmonie war. Solist. Er wusste, dass der alltägliche Unfall möglicherweise seine berufliche Karriere zerstört hatte.

Das eine bei der Bergwacht ist, dass man einen Knoten perfekt beherrscht. Das andere ist, dass man bei aller Routine auch über den Tellerrand schauen können muss.“

Als der Gewitterregen fällt, sitzt Martina Bauer immer noch draußen vor dem Bauernhaus. „Aber manchmal reicht selbst die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen, nicht aus.“ Sie wird ernst. „Vor Jahren raste hier in der Gegend ein Auto in einen Bagger. Ein Toter. Zwei Schwerverletzte. Dem Fahrer ist am wenigsten passiert. Ich kannte das Auto, ich wusste, wer in dem Auto gesessen hatte. Ich ahnte nur nicht, dass der tödlich Verunglückte der Freund meiner Schwester gewesen war. ‚Sagst du es deiner Schwester?‘, fragte mich die Feuerwehr. Mir war ganz schlecht. Da habe ich beschlossen, es soll mir nicht mehr so dreckig gehen, wie es mir damals ging. Du kennst das ganze Auto voller Leute. Dann zur Schwester fahren, ihr das sagen. Ich war überfordert, Du bist auf sowas nicht vorbereitet. ‚Wie kann man das besser hinkriegen?’, fragte ich mich.

Ich habe dann beschlossen, eine Ausbildung beim Kriseninterventionsdienst der Bergwacht, kurz ‚KID-Berg’ zu machen. Sie kümmern sich um Angehörige und Helfer in belastenden Situationen. Ich habe da Vieles gelernt. Vor allem einem Angehörigen gegenüber nicht eine halbe Stunde um den heißen Brei zu reden. Sondern schlechte Nachrichten kurz und bündig zu überbringen. ‚Schlimme Dinge‘ immer zuerst. Und ohne Umschweife.“

Dann nimmt sie ihre Sachen und geht ins Haus, in dem sie mit ihrem Großvater lebt. Als wäre sie auch in dieser gelebten Beziehung die Heidi, wie man sie aus den Romanen kennt.

 

 

Für die meisten Menschen sind die Berge eine herrliche Landschaft. Für Nik Burger sind sie wie ein Buch, das die Geschichten seiner Zeit bei der Bergwacht festhält.

Manche davon begleiten ihn für immer. – Wie die Stunden, die er in der Schrofenwand verbrachte.

 

Nik Burger

Am Staufen.
Allein mit dem Tod.

 

Nik Burger ist ein großgewachsener Kerl, dem man seine 62 Jahre nicht ansieht. Nur wenn man in seine Augen sieht, merkt man, was Nik Burger schon alles gesehen hat im Leben.

Was die Bergwacht angeht, sei er ein Spätberufener, sagt er. Die Berge und das Klettern waren immer seins, aufgewachsen in Bad Reichenhall. Aber irgendwann kam das Jurastudium in der Ferne, die berufliche Tätigkeit im Ministerium in München und später als Staatsanwalt und Richter in Traunstein. Und Familie, eins, zwei, drei Kinder. Hatte er am Wochenende Zeit für sich, ging‘s hinauf in die Berge und hinein in die Wände.

„Als meine Frau mich kennenlernte, bereitete ich mich auf eine Andenexpedition vor. Sie wusste: Ich war Bergsteiger. Ich bin Bergsteiger. Ich würde immer Bergsteiger bleiben, aus Leidenschaft.“

Für eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Bergrettung war neben Beruf, Familie, Kindern und ambitionierten Berg- und Klettertouren wenig Platz. „Ich war bereits über 40, als ein Nachbar mich überredete, in die Bergwacht einzutreten: ‚Wir könnten dich gut gebrauchen …‘ Leicht war das anfangs nicht. Man läuft zuerst ja nur mit, das kostet Zeit, die man nicht hat. Erst recht die vielen Verpflichtungen. Und dann auch noch zahlreiche Prüfungen, obwohl man bereits schwierige und schwierigste Touren auf der Welt machte. Meine Frau, selbst Bergsteigerin, war wenig begeistert, mit drei Kindern im schulpflichtigen Alter. Ich hab‘ dann mit meinem Kletterpartner Michi, ebenfalls dreifacher Familienvater, eine Bergwacht-Jugendgruppe gegründet, mit unseren Kindern. Also Ausbildung Jugendlicher im Bergsteigen und Klettern, um Kinder und Bergwacht wenigstens etwas unter einen Hut zu bringen.

Es war ein Sonntag, ein friedvoller, harmonischer Tag, Mitte Juli. Ich war nicht im Dienstplan eingeteilt. Prima Wetter, erst zum frühen Abend sollten von Westen her Gewitter aufziehen. Ich war in den Bergen unterwegs und gerade zu Hause angekommen. Den Funkmeldeempfänger hatte ich am Mann. Gewohnheit und auch Pflicht. Als die Meldung reinkam, an der Südseite des Staufens, dem Reichenhaller Hausberg, sei ein Mann abgestürzt, 100 Meter tief nach Lagemeldung, und schwerverletzt, sein Sohn sei zu ihm in das abweisende Gelände runter, wusste ich: schwieriges Gelände, schwierige Rettung, schwere Verletzungen, es eilt sehr! Ich kenne den Berg wie meine Westentasche …