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Cover

Impressum

Fuck, Marry or Kill?

Dem Sonnenaufgang entgegen

Marie Franz

Einen Cappuccino, wie immer?

Marina Kryuchkova

Verliebt ,verlobt, ver(f)logen!

Jeniella Vera

Bis dass der Tod uns verkuppelt

Jennifer Böhm

Die Ode vom Glücklichsein

Tobias Kuczera

Im Rahmen

Juliet May

Aus Krakau nach Leipzig

Rosa Lia

Timeline – Das Spiel ihres Lebens

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Schwarze Witwe

Sandra Wiedemann

Tansania

Katrin Laskowski

Die Autoren

Impressum

Fuck, Marry or Kill?

Es braucht nur eine Zehntelsekunde, um einen Menschen einzuschätzen. Wie heißt es so schön, für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Lass uns ein Spiel spielen: Wir setzen uns in ein Café und beobachten die Menschen, die zufällig an uns vorbeigehen. Und wir geben beide unsere spontane Einschätzung ab, ob wir in dieser Person einen Lover sehen («Fuck»), einen Lebenspartner («Marry») oder jemanden, den wir am liebsten töten würden («Kill»). Könnte spannend werden …

Und noch spannender wäre es, wenn wir erfahren würden, welche Lebensgeschichte tatsächlich hinter diesem Menschen steckt. Warum ist jemand so geworden, wie er ist? Und wie konnten wir uns nur so sehr täuschen? «Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose» – auch Du hast Vorurteile, dagegen können wir uns gar nicht wehren. Ab etwa drei Jahren teilen Kinder andere Menschen in Kategorien ein, zum Beispiel Junge/Mädchen, Erwachsener/Kind, Fremder/Bekannter. Unser Gehirn muss vereinfachen, sonst kommen wir mit der Informationsmenge nicht klar.

Bei spontanen Urteilen über andere Menschen sollten wir also vorsichtig sein, denn diese Urteile sind immer Vorurteile: Ashok Sridharan aus Indien … ist Jurist und heute Oberbürgermeister von Bonn, die blonde Chantal aus Ostdeutschland … hat ihr Abitur mit 1,3 abgeschlossen und plant schon ihre Doktorarbeit.

«Die Spontan-Entscheider waren zufriedener mit ihrer Wahl»

Vorurteile verzerren Deine Wahrnehmung, dagegen ist Spontanität bei Entscheidungen («Welche Alternative nehme ich?») eine extrem wertvolle Hilfe: In einem Experiment von Timothy Wilson und Jonathan Schooler (1991) sollten Versuchspersonen Poster beurteilen. Ein van Gogh war beispielsweise dabei, ein Seerosenbild von Monet und Cartoons. Die Personen der ersten Gruppe sollten ganz spontan einfach das Bild auswählen, das ihnen am besten gefiel. Die Personen der zweiten Gruppe sollten eine Liste anfertigen mit Argumenten, die für und gegen ein Bild sprechen, und so nach reiflicher Überlegung das ihrer Meinung nach beste Bild auswählen. Das jeweils gewählte Poster wurde den Versuchspersonen anschließend geschenkt. Einige Wochen später wurden die Versuchspersonen kontaktiert. Die Frage war, wie zufrieden sie mit ihrer damaligen Entscheidung heute seien und ob sie das geschenkte Poster bei sich zu Hause an die Wand gehängt hätten. Ergebnis: Die Spontan-Entscheider waren zufriedener mit ihrer Wahl als diejenigen, die gründlich über ihre Entscheidung nachdenken konnten, und bei den Spontan-Entscheidern hingen die Poster auch tatsächlich an der Wand, bei den anderen nicht.

Hab den Mut, Deiner inneren Stimme zu vertrauen!
Und wenn Du keinen Kontakt (mehr) zu Deinem Bauchgefühl hast, dann trainiere Deine Intuition, mit den folgenden Übungen:

Wie spät ist es?

Wie spät ist es (ohne auf die Uhr zu schauen)? Das Zeitgefühl zu trainieren, ist eine Grundübung zur Verbesserung Deiner Intuition. Frage Dich mehrmals täglich, wie spät es gerade ist, schätze spontan, intuitiv, aus dem Bauch heraus die Zeit und vergleiche dann mit der Realität.

Lerne (oder höre zumindest) Jazz!

Beim Jazz gibt es ja keine Noten, sondern man spielt ganz spontan, aus dem Gefühl heraus das Instrument. Jazz-Meister auf YouTube zu beobachten, wie sie vollkommen im Moment aufgehen, hat schon was. Noch intensiver ist es, wenn Du selbst mal «einfach drauflosspielst». Der Effekt ist, bei sich selbst anzukommen, spontan zu sein und «einfach zu machen».

Wettervorhersage

Gib morgens eine Prognose ab, wie das Wetter wohl heute werden wird. Landwirte können das erstaunlich gut, weil sie viel mehr im Einklang mit der Natur leben und so ein Gespür für die Wetterlage entwickelt haben.

Situative Sportarten

Ein Fußballspiel kann man nicht planen! Das macht ja gerade den Reiz aus, dass man eben vorher NICHT weiß, wie es ausgehen wird. Gleichzeitig ist eine situative Sportart ein prima Training für Deine Intuition. Nimm teil an situativen Sportarten: Fußball, Handball, Basketball, Volleyball, Tennis, Windsurfen, Wellenreiten, Squash, Badminton, Tischtennis, Fechten, Paintball, Taekwondo, Judo usw.

Tanze Tango!

Eine Sportart, die speziell das Improvisieren schult, ist der Tango, genauer der Tango Argentino. Also nicht der Standardtanz Tango aus dem Welttanzprogramm. Sondern die ursprüngliche Form des Tangos. Denn beim Tango Argentino geht es darum, ein Gefühl für die Stimmung der Musik zu entwickeln und diese Stimmung durch die Bewegung tänzerisch auszudrücken. Ganz spontan, intuitiv, aus dem Bauch heraus. Im Unterschied zum einfachen Für-sich-alleine-Tanzen hast Du beim Tango eben noch einen Tanzpartner/eine Tanzpartnerin. Das kommt der Alltagsrealität viel näher als ein Solo-Tanz. Du lernst, die Stimmung der Musik wahrzunehmen und diese auf Euch als zwei Individuen zu übertragen, so dass Ihr «eins werdet», völlig im Moment aufgeht und in den Flow kommt. Wie konkret, welche Schritte Du genau machst, wird nicht im Voraus geplant! Es passiert einfach. Lass Dich auf den Moment ein, hab keine Angst vor Fehlern und tanze einfach!

Seit 2009 gehört der Tango zum Weltkulturerbe der Menschheit! Als ehemaliger Tanzsportler kann ich Dir nur raten, wirklich mal einen Tango-Argentino-Kurs zu besuchen. Wenn es eine Liste gibt «Dinge, die Du erlebt haben solltest, bevor Du stirbst» – für mich zählt der Tango Argentino definitiv dazu.

«Es passiert einfach. Lass Dich auf den Moment ein, hab keine Angst vor Fehlern und tanze einfach!»

Für die Generation 40 plus noch ein Hinweis: Wie oft warst Du eigentlich als Jugendlicher und in Deinen Zwanzigern an den Wochenenden tanzen? Tanzen im Sinne von «sich spontan auf der Tanzfläche zu Musik bewegen, ohne Deine konkreten Bewegungen vorher geplant zu haben». Wenn wir mal realistisch rechnen: freitags von 23 Uhr bis 1 Uhr und am Samstag von 0 Uhr bis 2 Uhr (vermutlich war es mehr, mittwochs ging doch meistens auch noch etwas, aber der Punkt wird auch so bereits klar), dann hattest Du damals mindestens vier Stunden Intuitionstraining pro Woche! Und das über Jahre! Und wie sieht Dein Leben heute aus? Bist Du gefangen in Terminkorsetts, externen Zielvorgaben und durchgeplanten Aktivitäten? Dann hol Dir Deine Spontanität zurück, es müssen ja keine vier, fünf, sechs Stunden pro Woche wie damals sein: Ein-, zweimal im Monat tanzen gehen ist ein guter Anfang!

Dialoge ergänzen

Schau Dir die Tagesschau oder einen Film ohne Ton an und ergänze die Dialoge spontan, aus dem Bauch heraus! Das ist eine Übung, die Spaß macht und ohne großen Aufwand sofort durchgeführt werden kann, zum Beispiel auf YouTube eine Szene aus einem Tatort ohne Ton anschauen und die Dialoge ergänzen. Spule dann zurück und hör Dir an, was tatsächlich gesprochen wurde. Konntest Du die Stimmung der Szene gut in Worte fassen?

Ping-Pong-Sätze

Du sagst das erste Wort, Dein Gesprächspartner sagt das zweite Wort, Du das dritte Wort, Dein Gesprächspartner das vierte Wort und so weiter. Ziel ist es, sinnvolle Sätze zu bilden.

Tintenklecksbilder deuten

Eine meiner Lieblingsübungen, weil sie so viele positive Nebeneffekte hat, ist: Tintenklecksbilder zu deuten. Was könnte das sein? Interpretiere ganz spontan, was Du in einem Tintenklecksbild siehst. Zur Erklärung: Diese Klappfalttechnik bewirkt, dass rechte und linke Seite symmetrisch sind. Es gibt also eine gewisse Struktur bei einem Tintenklecksbild. Diese Struktur ist jedoch nicht sofort ersichtlich. Ein Tintenklecksbild ist erstmal verwirrend, chaotisch, bedeutungslos. Aber je länger Du auf ein Tintenklecksbild schaust, umso mehr entdeckt Dein Gehirn diese Strukturen. Dein Gehirn wird in einen «Aha-Zustand» versetzt und in so einem Zustand gelingt es Dir viel leichter, kreativ zu sein und spontan neue Einfälle zu haben.

Loslassen

Planung gibt ein Gefühl der Sicherheit, ein Gefühl der Kontrolle. Wenn man jedoch genau hinschaut und die Realität ernst nimmt, dann ist das nur eine vermeintliche Sicherheit. Gerade in unserer komplexen und dynamischen Welt gibt es immer Überraschungen, mit denen keiner gerechnet hat. Das Erfolgsgeheimnis liegt darin, das Unerwartete nicht als «Störung» zu sehen, sondern als kreativen Impulsgeber wertzuschätzen, vielleicht sogar aktiv zu suchen («Geh auf eine Abenteuerreise»)! Du wirst nicht nur mit intensiveren Erlebnissen belohnt, sondern nur so wird es auch Innovation und Wachstum geben!

«Die folgenden Kurzgeschichten inspirieren, Deiner eigenen Spontanität wieder mehr Beachtung zu schenken, sie vielleicht sogar aktiv zu fördern und die unerwarteten Erlebnisse viel mehr zu genießen!»

Viel Spaß beim Lesen wünscht Dir

Michael Draksal

Herausgeber der Edition Schreibrausch

www.Edition-Schreibrausch.de

«Sei spontan, jetzt!»

Paul Watzlawick

Dem Sonnenaufgang entgegen

von Marie Franz

Es schüttet mittlerweile in Strömen, darum ist sie froh, dass sie jetzt im Trockenen sitzt. Auf dem Beifahrersitz. Die Autobahn ist ziemlich leer heute, trotzdem fahren sie recht gemütlich ausnahmslos auf der rechten Spur. Ein Gespräch will nicht so richtig in Gang kommen. Für einen Radiosender ist der, den sie hören, ziemlich gut. Luise lässt sich von der Musik einlullen, hängt ihren Gedanken nach und fängt an, sich schläfrig zu fühlen.

«Ich muss jetzt bald hier raus», sagt die Frau neben ihr plötzlich, fast entschuldigend, «willst du mit abfahren oder soll ich dich an der nächsten Tankstelle rauslassen?»

«Lieber Tankstelle, danke!», antwortet Luise und ist insgeheim enttäuscht, dass die Fahrt nur so kurz war und dass der Regen gerade eher stärker wird als weniger.

Sie erinnert sich, wie geborgen sie sich als Kind auf der Rückbank des Autos gefühlt hat, wenn die Stimmen ihrer Eltern vorne zum Hintergrundgeräusch wurden und sie nach draußen schaute. Das Grün der vorbeirauschenden Landschaft hatte schon immer eine meditative Wirkung auf Luise gehabt und oft ließ das Motorengeräusch und das sanfte Vibrieren des Autos sie langsam wegdämmern. An was sie sich auch erinnert: Wie sie manchmal unsanft geweckt wurde, weil die Stimmen ihrer Eltern plötzlich lauter wurden. Wie sie versucht hatte zu verstehen, worüber sie diesmal wieder stritten, wie sie die Worte zwar verstehen konnte, aber beim besten Willen den Zusammenhang nicht. Wie ihr Vater in solchen Momenten erhitzt aufs Gas getreten war, während ihre Mutter ihn hysterisch anflehte, doch bitte bitte langsamer zu fahren. In diesen Situationen saß dann plötzlich ihre Schwester neben ihr. Sie hatte lange, rote Locken, allerdings war sie unsichtbar und saß auf einem Kindersitz, der auch unsichtbar war. Aber das tat nichts zur Sache, weil Luise sich dank ihr weniger allein fühlte. Wenn ihre Schwester lachte, wippte jede einzelne ihrer roten Locken und schien mitzulachen.

«So, hier kommt gleich 'ne Aral!», die Frau, deren Namen sie nicht kennt, fährt jetzt langsamer und blinkt. Wenig später winkt Luise ihr zum Abschied zu und kann sich schon in diesem Moment nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Nur an ihren Geruch, der jetzt auch an ihrer Kleidung hängt. Eine unverwechselbare und seltsam betörende Mischung aus kaltem Zigarettenrauch und zartem Rosenwasser.

Die Tankstelle ist leider genauso leer wie die Autobahn. Luise friert ein bisschen und kauft sich einen großen schwarzen Kaffee und eine Tüte Studentenfutter. Beides zusammen kostet fast genauso viel wie das günstigste Busticket nach Hamburg gekostet hätte. Aber schließlich fährt sie nicht per Anhalter quer durch Deutschland, weil sie kein Geld hat, sondern weil sie dieses Lebensgefühl liebt. Eigentlich. Luise kramt ein Pappschild aus ihrer Tasche, auf dem verschnörkelt und umgeben von vereinzelten, etwas trostlos wirkenden Sternen, zwei Buchstaben prangen: HH.

Plötzlich biegt ein smaragdgrüner Oldtimer um die Ecke. Hinter der Frontscheibe grinsen stolz zwei Herren mittleren Alters, einer mit dunklen Haaren, der andere blond. Der Ausdruck in ihren Gesichtern gleicht dem eines Einjährigen, der zum ersten Mal sein Bobbycar spazieren fährt.

«Na Schnecke, hat dein hübscher Hintern schonmal auf der Rückbank eines Chevrolets gesessen?» Der Kaffee schmeckt plötzlich sehr bitter.

«Bis jetzt noch nicht!» Luise ärgert sich, dass sie in diesem Moment nicht schlagfertig kontert.

«Na komm schon, steig ein!» Der Dunkelhaarige auf dem Beifahrersitz klingt jetzt väterlich und versöhnlich, ihr reservierter Gesichtsausdruck war wohl nicht zu übersehen. Der Blonde tankt, bezahlt und geht zurück ins Auto. Luise klettert auf die Rückbank und klammert sich an den Rucksack auf ihrem Schoß, obwohl sie ihn auch entspannt neben sich abstellen könnte. Sie fühlt sich nicht wirklich unwohl mit den beiden, ist aber jetzt schon genervt. Zusammen mit dem Gefühl von Dankbarkeit und Ausgeliefertsein ergibt das eine seltsame Mischung.

Diesmal fährt das Auto ausschließlich auf der linken Spur und ihr ist ein bisschen mulmig zumute.

«Wir fahren eine Rallye», erklärt der Blonde breit grinsend und dreht die Musik etwas leiser, damit er nicht ganz so laut schreien muss. Irgendwie erinnert sein Gesicht sie an Kermit, den Frosch.

«Aber die anderen dürften wir schon längst abgehängt haben!», sie lachen beide laut los, Luise lacht aus Höflichkeit kurz mit.

«Und du willst nach Hamburg?»

«Ja genau, mein Freund wohnt da, wir führen eine Fernbeziehung.» Das Wort «Fernbeziehung» reicht als Stichwort, um die beiden Männer die nächsten 20 Minuten über ebendiese fachsimpeln zu lassen. Haben sie alles schon durch. Beide. Und die in den abwechselnden Monologen erwähnten Frauen gehören nicht zuletzt der Entfernung wegen der Vergangenheit an.

«Das hält nicht lange», prophezeien sie ihr. «Einer von euch muss umziehen.»

Luise versucht unauffällig einen Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige zu erhaschen. Sie würde gerne darum bitten, dass der Typ etwas langsamer fährt, traut sich aber nicht. Es läuft Elektro und es regnet jetzt noch stärker. Alles zusammen macht sie so nervös, dass ihr schlecht wird. Zu allem Übel öffnen sich die beiden jetzt auch noch zwei Bierdosen und stoßen mit breitem Grinsen an. Der Blonde wirft ihr unaufgefordert auch eine zu, die noch auf der Rückbank liegen wird, wenn Luise längst ausgestiegen ist.

«Die Pendelei geht ganz schön ins Geld, oder? Bist du deswegen per Anhalter unterwegs?» Luise überlegt kurz, ob sie der Einfachheit halber einfach «ja» sagen soll, entscheidet sich dann aber für die Wahrheit.

«Nicht direkt», erklärt sie. «Ich würde mal sagen, das gesparte Geld ist ein angenehmer Nebeneffekt. Mit dem Trampen angefangen habe ich während meiner Studienzeit, als ich tatsächlich sehr wenig Kohle hatte. Mittlerweile verdiene ich aber ziemlich gut.»

«Und warum fährst du dann nicht mit dem Zug?» Der Mann auf dem Fahrersitz klingt jetzt fast beleidigt, so, als hätte er einer bettelnden Roma-Frau fünf Euro gegeben und sie dann dabei beobachtet, wie sie diese in ihr von Geldscheinen überquellendes Portmonee steckt.

«Damit ich Typen wie euch kennenlerne!» Luise genießt belustigt die kurze Stille, in der die beiden überlegen, ob sie gerade aufs Korn genommen werden oder ob sie sich geschmeichelt fühlen sollen.

«Jetzt im Ernst: Ich liebe die Art der Begegnungen, die ich nur mache, wenn ich trampe. Die Menschen, bei denen ich mitfahre, erzählen mir oft ihr halbes Leben und vor allem all die Dinge, die sie sonst niemandem erzählen. Einfach, weil sie wissen, dass sie mich wahrscheinlich nie wiedersehen werden. Diese Gespräche sind oft sehr besonders und manchmal sogar richtig magisch. Und ich liebe die Ungewissheit, wenn ich morgens das Haus verlasse und nicht genau weiß, wann ich abends ankommen werde und ob ich an dem Tag überhaupt noch ankomme. Ich liebe das Gefühl, dem Leben zu vertrauen und bestätigt zu bekommen, dass ich keine Angst zu haben brauche. Dass alles in meinem Sinne geschieht. Das ist Lebendigkeit für mich. Mein Ritual, um mich unabhängig zu fühlen und immer wieder zu merken, wie viele tolle Menschen es da draußen gibt. Es fühlt sich großartig an, sich auf diese Weise verletzbar zu machen und dabei in dem Wissen zu sein, dass einem geholfen wird, wenn man darum bittet. Dass auch völlig Fremde einfach nur Freunde sind, die man noch nicht getroffen hat. Und wenn ich an meinem Ziel ankomme, dann fühle ich mich total beschwingt und glücklich. Das ist nach einer Zugfahrt nicht dasselbe.»

«Beim nächsten Mal trampe ich auch, das klingt einfach zu gut.» Fahrer und Beifahrer prusten laut los und Luise bereut, nicht doch einfach mit «ja» geantwortet zu haben.

Sie drehen die Musik wieder lauter und der Chevrolet rauscht im Affenzahn weiter auf der linken Spur der Autobahn. Bierdosen werden geöffnet, die Köpfe der Herren nicken im Takt der schlechten Beats. Plötzlich knallt es laut und das Auto gerät ins Schleudern. Luise presst ihren Rucksack so fest sie kann an sich, so, als könnte der ihr Sicherheit geben. Sie konzentriert ihre ganze Gedankenkraft darauf, den Wagen sicher zum Stehen zu bekommen, und fühlt sich gleichzeitig machtlos. Die beiden Männer fluchen laut und schalten die Musik ab. Glücklicherweise sind nach wie vor kaum Autos unterwegs und sie können nach einigen Schrecksekunden auf dem Standstreifen anhalten. Ein Vorderreifen ist geplatzt. Luise steigt erleichtert aus, setzt ihre Kapuze auf und verabschiedet sich schnell. Die Männer sind zu beschäftigt damit, das Warndreieck und ihre ADAC-Mitgliedskarte zu suchen und über die Ursache des geplatzten Reifens zu diskutieren. Sie werden erst später verwirrt bemerken, dass Luise schon längst nicht mehr da ist.

Sie läuft so nah an der Leitplanke entlang wie möglich, in Fahrtrichtung. Außerhalb der Leitplanke ist das Gras gerade zu hoch, um dort zu laufen, wo es sicherer wäre. Ihr Gesicht hält sie nach oben. Die Regentropfen vermischen sich mit dem Angstschweiß von eben und verschaffen ihr eine willkommene Abkühlung. Kurz fragt sie sich, ob der Nervenkitzel des Trampens in Anbetracht ihres Alters und Kontostandes denn wirklich noch sein muss. Aber – in genau diesem Moment fühlt sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Erleichterung darüber, dass eben alles so glimpflich ausgegangen ist, breitet sich in ihr aus und plötzlich bricht der Himmel auf und sie muss kurz die Augen schließen, weil die Sonne sie völlig unerwartet blendet. «That's it», denkt sie und fühlt sich unerwartet großartig.

Ohne ernsthaft damit zu rechnen, dass sie gleich wieder aufgesammelt wird, hält sie im Laufen ihren Daumen raus. Sie weiß, wie schwer es ist, mitten auf der Autobahn ein Auto zum Anhalten zu bewegen. Dafür ist die Geschwindigkeit zu hoch und aus gutem Grund ist es nur in wirklichen Notfällen erlaubt, auf dem Standstreifen anzuhalten. Luise läuft einfach weiter und stellt fest, dass sie fast froh darüber ist, heute später als erwartet in Hamburg anzukommen. Ihr Handy vibriert. Auf dem Bildschirm leuchtet der Name «Elmar», aber anstatt Vorfreude verspürt sie nur leichte Genervtheit. Er hasst es, wenn er sie nicht erreichen kann, und wahrscheinlich sorgt er sich, weil sie sich heute noch gar nicht gemeldet hat. Luise argumentiert immer, dass es ihr gutes Recht sei, nicht an ihr Handy zu gehen, sondern zurückzurufen, wenn es sich für sie passend anfühlt. Alles andere würde nicht ihrer Definition von Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit entsprechen. Aber wenn sie ehrlich zu sich selber ist, ist das nicht der einzige Grund, warum sie sich nicht über den Namen ihres Freundes auf ihrem Display freut.

Irgendwie war ihr letztes Treffen vor gut zwei Wochen ziemlich deprimierend. Sie hatten abwechselnd gegessen und gestritten, teilweise auch beides gleichzeitig. All das, was sie vor nun fast schon vier Jahren, am Anfang ihrer Beziehung, so aufregend anders am anderen gefunden hatten, fing mittlerweile an, sie zu nerven. Elmar war eher bodenständig, hatte das Herz am rechten Fleck und sein Leben unter Kontrolle. Er brauchte nicht viel, um zufrieden zu sein, eigentlich sogar nur eines: Sicherheit. Und vielleicht noch einen Internetzugang, um sich mit der Welt verbunden zu fühlen, während er seinen Feierabend auf der Couch verbrachte und gute amerikanische Serien anschaute.

Luise dagegen liebte es zu reisen, die Nacht zum Tag zu machen und ihr Leben nach und nach ihren hohen Ansprüchen entsprechend zu formen. Dabei nahm sie Risiken gerne in Kauf und auch wenn sie manchmal unsanft auf dem Boden der Tatsachen landete, so war sie doch von dem Wunsch besessen, jeden Tag etwas Neues zu lernen und die kurze Zeit, die ihr auf diesem Planeten vergönnt war, nach allen Regeln der Kunst auszukosten.

Manchmal allerdings fühlte sie sich gehetzt von ihren eigenen Ansprüchen. Bei Elmar hatte sie sich damals irgendwie «angekommen» gefühlt und an sich war es ja auch ganz gemütlich und ziemlich unterhaltsam, die absurden und anstrengenden bis gefährlichen Leben von Serienfiguren auf dem Bildschirm mitzuverfolgen, anstatt sich ständig atemlos als Hauptfigur der eigenen Reality-Show zu fühlen. Elmar hingegen hatte sich zu Beginn nicht zuletzt wegen ihrer Abenteuerlust zu ihr hingezogen gefühlt, mittlerweile war der Zauber der Anfangszeit aber irgendwie verpufft und er fand sie des Öfteren unangebracht kompliziert und rastlos.

«Warum können wir es uns heute Abend nicht einfach zu Hause gemütlich machen und Netflix gucken?», hatte er sie während ihres letztes Besuchs genervt gefragt.