image

NEW YORK TIMES UND USA TODAY BESTSELLER AUTORIN

AURORA ROSE REYNOLDS

UNDERGROUND KINGS
KAI

image

Contemporary Romance

Aus dem Amerikanischen von Lizzi Pierce-Parker

image

UNDERGROUND KINGS: KAI

image

Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2015 unter dem
Titel Obligation: Underground Kings von Aurora Rose Reynolds
veröffentlicht.

© 2019 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria

Covergestaltung: © Sturmmöwen
Titelabbildung: ©
Korrektorat: Melanie Reichert

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903130-94-4
ISBN-EPUB: 978-3-903130-95-1

www.romance-edition.com

Inhalt

Myla

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

EPILOG

DANKSAGUNG

DIE AUTORIN

Myla

First Moments

»Alle suchen bereits nach dir.«

Ich streiche das Haar aus meinem Gesicht und beobachte einen Jungen, den ich nie zuvor gesehen habe, wie er in mein Baumhaus klettert. »Wer bist du?«, frage ich ihn, als er sich mir gegenübersetzt.

»Kai.« Lächelnd sieht er sich um. Er wirkt anders als die anderen Kids, die ich kenne. Sein Haar ist lang und seine Haut um einiges dunkler als meine. »Warum versteckst du dich?«

Ich zucke mit den Schultern und sehe weg. Daddy hat vorhin herumgebrüllt. Er war so wütend, dass er ganz rot wurde. Als Mommy zu weinen begann, brüllte er nur noch lauter. Ich hörte, wie Mommy zu Daddy sagte, dass er mich wegschicken solle.

Ich will nicht weg. Ich versuche, alles richtig zu machen, doch manchmal vergesse ich, zuzuhören.

»Warum weinst du?«

Ich sehe hoch und wische mir über das Gesicht. »Ich habe Angst«, flüstere ich und reibe über meine Nase.

»Komm schon. Ich beschütze dich«, sagt er und streckt mir seine Hand entgegen.

In diesem Moment ruft Mommy erneut meinen Namen. Ich schaue Kais Hand an, schiebe Mister Bär unter meinem Arm zurecht und lege schließlich meine Hand in seine, um nach unten zu klettern.

»Myla!«, ruft Mommy und rennt auf mich zu. Ich erkenne, dass sie schon wieder geweint hat. »Wo warst du?« Sie packt mich an den Schultern und schüttelt mich durch.

»Es war meine Schuld. Ich habe sie gefragt, ob sie mir das Baumhaus zeigen kann«, erklärt Kai.

Mommy hört auf, mich zu schütteln, und sieht zu ihm. »Das hättest du nicht tun sollen. Du wusstest, dass wir nach ihr gesucht haben«, sagt sie aufgebracht.

»Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht«, erwidert Kai leise, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und blickt zu Boden.

Ich sehe zurück zu Mommy. Sie schüttelt den Kopf, ehe sie mich wieder an der Hand packt und mit sich zieht. Als ich einen letzten Blick über meine Schulter zu Kai werfe, erkenne ich, dass er lächelt – was auch mich zum Lächeln bringt.

PROLOG

Myla

»Zeit, ins Bett zu gehen, Zvyozdochka«, sagt Papa, als er in mein Zimmer kommt.

Ich renne auf mein Bett zu und springe hinein, was alle meine Stofftiere zu Boden fliegen lässt. Flugs stehe ich auf, springe noch einmal hoch und lasse mich auf den Rücken fallen, was Papa zum Lachen bringt.

»Deine Mama hat mit dir über das Rumspringen auf dem Bett gesprochen, Zvyozdochka

Ich weiß, dass es Mama nicht gefällt, wenn ich hier herumhüpfe, aber es bringt Papa immer wieder zum Lachen. »Wirst du mir ein Lied vorsingen?«, frage ich, als er auf mich zukommt.

»Hast du deine Zähne geputzt?«

»Da«, antworte ich auf Russisch, was ihn ebenfalls belustigt.

»Hast du dir auch dein Gesicht gewaschen?«

»Da«, wiederhole ich kichernd.

»Hast du deine stinkenden Füße gewaschen?«, fragt er und hebt meine Füße zu sich hoch.

»Nyet.« Ich kichere noch mehr und wackle dabei mit den Zehen.

»Ah, Zvyozdochka, was soll ich bloß mit dir machen?«, fragt er und nennt mich seinen kleinen Stern, während er mich kitzelt.

In dem Versuch, ihm zu entkommen, rolle ich mich lachend hin und her. Sobald er aufhört, mich zu kitzeln, und ich aufhöre, zu lachen, hebt er mich hoch, zieht die Decke weg und legt mich wieder hin.

»Wirst du mir nun ein Lied vorsingen?«, frage ich erneut und klemme mir Mister Bär unters Kinn, als ich auch schon spüre, wie meine Augen zufallen.

»Da.« Papa küsst mich auf die Stirn und setzt sich neben mich auf die Matratze. Er streicht über meine Augenlider, bis sie sich vollständig geschlossen haben, und beginnt, leise zu singen. »Zvyozdochka, Zvyozdochka, du strahlst heller als die Sonne. Zvyozdochka, Zvyozdochka, nichts ist so wie du. Zvyozdochka, Zvyozdochka, für mich bist du etwas ganz Besonderes. Zvyozdochka, Zvyozdochka, ich werde dich immer über alles lieben, du bist mein Stern, der mich von fern leitet und wieder nach Hause führt.«

Dann schlafe ich ein.

»Du weißt, wo du sie hinbringst«, erklärt Papa Philip, während er mich nach draußen trägt.

Ich klammere mich fester an Papa.

Mama rannte aufgebracht aus Papas Büro, nachdem sie mich vorhin geweckt und mir gesagt hatte, dass ich mich anziehen solle. Dann übergab sie mich an ihn.

»Ich will aber nicht weg«, heule ich, strample mit den Beinen und schlinge die Arme noch fester um Papas Nacken, als er mich an Philip zu übergeben versucht.

Ich will nicht weg. Ich will bei ihm und Mama bleiben.

»Zvyozdochka, du musst nun ein großes Mädchen sein und mit Philip gehen.«

»Ich werde nie wieder unartig sein!« Ich schluchze und schreie auf, als er meine Hände von seinem Nacken nimmt.

Philip packt mich an den Hüften und zieht mich von Papa weg.

»Du bist unser größter Schatz«, sagt mein Papa, als er die Wagentür für Philip öffnet, der sich auf die Rückbank der Limousine setzt und mich auf seinem Schoß platziert.

»Ich liebe dich, Papa!« Ich heule und sehe, dass auch mein Papa weint, ehe er mir den Rücken zukehrt.

»Pah idiom!«, sagt Philip und die Limousine setzt sich in Bewegung.

Ich drehe mich in Philips Armen herum und beobachte durch das hintere Fenster, wie Papa schwungvoll die Haustür öffnet. Mama steht im Flur. Papa hebt sie hoch und ich höre sie meinen Namen rufen, als sich die Tür auch schon wieder schließt.

1. KAPITEL

Myla

My Husband

Ich fühle Sonnenstrahlen auf meinen geschlossenen Augenlidern und etwas Scharfes, das auf mein Gesicht trifft. Ich versuche, dem Schmerz auszuweichen, und wimmere auf, als etwas über meine Wange kratzt. Als ich die Stelle berühre, spüre ich Feuchtigkeit. Ich schlage die Augen auf. Da ist Blut an meinen Fingern. Ich drehe meine Hand um und sehe einen auffälligen Ring, der auf meinem Ringfinger steckt.

»Großartig«, flüstere ich, schließe die Lider erneut und lasse den Kopf nach hinten fallen.

Als ich mich vorhin schlafen legte, betete ich, dass der Ring und der Mann, der ihn mir angesteckt hatte, nichts als ein böser Traum wären. So viel Glück habe ich wohl nicht. Ich drehe mich um und nehme einen zittrigen Atemzug, mir wünschend, ich könne meine Augen noch ein paar Sekunden länger geschlossen halten und weiterschlafen, bis alles wieder zur Normalität zurückgefunden hat.

»Zeit, aufzustehen.«

Ich drehe den Kopf und begegne dem Blick meines kürzlich angetrauten Ehemannes durch die geöffnete Tür des Schlafzimmers. Er wirkt wie ein alter hawaiianischer Krieger. Sein langes, gewelltes Haar ist mit einem Lederband in seinem Nacken zusammengebunden. Sein wie aus Stein gemeißeltes Kinn lässt seine vollen Lippen und die langen Wimpern sehr männlich erscheinen.

Für gewöhnlich fühle ich mich nicht klein, aber neben ihm fühle ich mich winzig. Er muss mindestens zwei Meter groß sein. Seine Schultern sind so breit, dass es mich nicht wundern würde, müsste er sich bei den meisten Türstöcken seitlich drehen, um hindurchzupassen.

»Wenn wir keinen Termin mit meinem Anwalt hätten, hätte ich dich schlafen lassen«, sagt er und reißt mich aus meiner geistigen Bestandsaufnahme.

Wofür ich wirklich dankbar sein sollte, ist die Tatsache, dass er vom ersten Moment an, als er mich gerettet hat, sehr freundlich und überraschend sanft mit mir umgegangen ist.

»Ich bin gleich so weit«, sage ich leise und beginne, mich aufzurichten. Schmerz jagt durch meine Seite und zwingt mich, scharf einzuatmen.

»Du sagtest, du seist nicht verletzt«, knurrt er.

Ich werde am Rand des Bettes in eine sitzende Position gehievt. Dabei bin ich so sehr darauf konzentriert, Luft in meine Lunge zu bringen, dass ich nicht mal mitbekomme, wie nah er mir ist, bis ich seine Hand auf meiner nackten Schulter spüre. »Es geht mir gut«, murmle ich, bemüht, durch den Schmerz und die Gefühle, die sich in meinem Bauch tummeln, hindurchzuatmen.

»Du brauchst einen Arzt.«

»Brauche ich nicht«, erwidere ich und hebe den Kopf, um seinem Blick zu begegnen.

»Myla.« Seine Augen wirken sanft, als er meinen Namen ausspricht. Er hebt seine Hand, was mich dazu bringt, zusammenzuzucken. Sofort verkrampft sich sein Kiefer.

»Entschuldige«, sage ich und stehe auf.

»Wir müssen darüber reden, was vorgefallen ist«, meint er und lässt die Hand in seinen Schoß fallen.

»Wie lang habe ich Zeit, um mich fertig zu machen?«, frage ich und gehe auf das Badezimmer zu.

»Dreißig Minuten«, gibt er zurück, als ich mich ihm wieder zuwende.

Als sich unsere Blicke treffen, sehe ich Verärgerung in seinem aufblitzen.

Er erhebt sich. »Wir werden reden«, bestimmt er, geht aus dem Raum und schließt ohne ein weiteres Wort die Tür hinter sich.

Ich starre die Tür einen Moment an, dann begebe ich mich ins Badezimmer, stütze die Hände auf der Anrichte ab und betrachte mich im Spiegel. Beobachte, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. »Du bist stark, Myla. Du kannst das«, flüstere ich mir zu und nehme einen zittrigen Atemzug, ehe ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritze.

Als ich mich erneut betrachte, sind die Tränen weggewaschen und auch alle Spuren davon sind fort. Ich nehme ein Handtuch aus einem der Einbauschränke und vergrabe mein Gesicht darin, während ein Schluchzer meine Kehle nach oben wandert.

Meine Seele fühlt sich an, als hätte sie sich verdunkelt. Nicht nur wegen dem, was ich mit ansehen musste, sondern vor allem wegen dem, was ich getan habe. Ich habe keinen Schimmer, wie ich darüber hinwegkommen soll, dass Menschen vor meinen Augen gestorben sind – in dem Wissen, schuld an ihrem Tod zu sein.

Ich wische mein Gesicht mit dem Handtuch ab, schiebe die Glastür der Dusche auf und stelle das Wasser an. Sobald es warm genug ist, ziehe ich mich vorsichtig aus und trete unter den Strahl. Am liebsten würde ich mich auf den Boden setzen und heulen, aber im Moment ist das keine Option.

Ich mache meine Haare nass, dann sehe ich mich um und finde ein Regal voll mit kleinen Flaschen und verschiedenen Duschgelen. Rasch gehe ich die Produkte durch, bis ich eins für Frauen finde. Ich gebe etwas davon auf meine Handfläche und schäume es auf. Ich habe keine Ahnung, ob es sich hier um Kais Badezimmer handelt, aber wenn dem so ist, will ich nichts von seinem Zeug benutzen und auch noch den ganzen Tag nach ihm riechen.

Wenig später verlasse ich die Dusche und trockne mich ab, bevor ich meine Klamotten vom Boden aufsammle. Als ich das Bad verlasse, betrachte ich das Schlafzimmer zum ersten Mal, seit ich letzte Nacht hier angekommen bin. Der Raum ist riesig, mit großen Glastüren, durch die man das Meer betrachten kann. Ich gehe auf die Türen zu und sehe hinaus auf das Wasser.

In Seattle lebe ich in einer wunderschönen Zweizimmer-Eigentumswohnung. Ich habe mein Apartment wegen des Meerblicks gewählt, aber die Aussicht ist nicht mit dieser hier vergleichbar. Dünen versperren mir die Sicht und das Wasser ist so dunkel, es wirkt fast schwarz. Das Meer hier hingegen ist so tiefblau, so etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Das Blau wirkt wie der Himmel an einem kristallklaren Tag.

Mein Blick wandert von dem wundervollen Ausblick zurück zu dem gigantischen Bett, das mit reinweißen Laken bedeckt ist. Es wirkt noch größer als das kalifornische Kingsize-Bett, das einer meiner Freunde besitzt; dabei wäre das schon perfekt für einen Mann von Kais Größe. Auf jeder Seite des Betts befindet sich ein Tischchen mit je einer Lampe, die beide aussehen, als wären sie aus einem Stück Treibholz gemacht. Die Lampen passen zu dem Kleiderständer, der sich ebenfalls in dem Raum befindet. Er hat unterschiedlich lange Enden, an denen man etwas aufhängen kann.

Ich mache keine Bilder oder etwas anderes aus, das darauf schließen ließe, wessen Zimmer das hier sein könnte. Ich schüttle den Kopf über meine Gedanken und betrachte meine Klamotten, die ich anhatte. Automatisch kräuselt sich meine Nase. Letzte Nacht war ich dermaßen erledigt, dass ich sofort darin eingeschlafen bin. Allerdings habe ich nicht das Bedürfnis, sie heute noch einmal zu tragen. Ich gehe zu der Anrichte, ziehe die oberste Schublade auf und finde Männerboxershorts darin. Ich nehme mir eine und ziehe sie unter meinem Handtuch an. In der nächsten Schublade finde ich Socken, in die ich schlüpfe, bevor ich weitersuche, bis ich endlich ein Shirt entdecke, das ich vorsichtig überstreife, ohne die Prellungen an meiner Seite zu berühren.

Sobald ich angezogen bin, bringe ich die Handtücher ins Bad zurück und hänge sie dort auf. Ich finde eine Tube Zahnpasta und benutze meinen Finger als Bürste, um mich zumindest etwas für das Treffen mit Kais Anwalt frisch zu machen.

Gestern, als wir heirateten, unterschrieb ich keinen Ehevertrag, obwohl der Kerl, der bei Kai war, darauf bestanden hat. Ich verstand nicht wirklich, warum die zwei so sehr darauf beharrten – bis wir verheiratet waren und am Flughafen ankamen. Ich ging davon aus, dass wir einen einfachen Flug buchen würden, und war schockiert, als wir zu einer privaten Maschine gebracht wurden. Noch überraschter war ich, als der Name, der auf dem Flieger stand, der meines Ehemannes war. Ich hatte mich wieder etwas im Griff, als wir in Hawaii landeten, allerdings auch nur, bis ich den Bentley sah, der uns abgeholt und zu diesem Anwesen hier gebracht hat. Ich bin schon immer von Leuten umgeben gewesen, die Geld besitzen, aber noch nie in dem Ausmaß, wie es bei Kai anscheinend der Fall ist.

Ich gehe auf die Tür zu und fahre mir mit den Fingern durch das nasse Haar, ehe ich den Knauf drehe und durch einen kleinen Spalt nach draußen spähe. Meine Augen brauchen ein paar Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit in der Halle gewöhnt haben, dann treffe ich auf den Blick aus einem Paar dunkler Augen, die von noch dunkleren Wimpern umrahmt werden.

»Myla«, sagt der Mann.

Ich blinzle zweimal und nehme seinen Anblick in mich auf. Sein Haar ist dunkelbraun, seine Nase äußerst männlich und seine Hautfarbe sieht der von Kai sehr ähnlich. Mein Blick fällt auf seinen Mund. Er wirkt amüsiert, was mich dazu veranlasst, meine Augen zusammenzukneifen, bevor ich wieder zu ihm hochsehe. »Wer bist du?«, frage ich, schiebe die Tür ganz auf und verschränke schließlich die Arme vor meiner Brust.

Er betrachtet meine Haltung, dabei wird seine Erheiterung immer größer. »Aye.«

»Was?« Ich ziehe die Stirn kraus, als er leise auflacht.

»Mein Name ist Aye.«

»So, wie wenn ein Pirat Ja sagt?«, hake ich nach und schicke ein Knurren hinterher, als er sich vor lauter Lachen bereits den Bauch halten muss. »Was ist so lustig?«

Es dauert einen Moment, doch schließlich kriegt er sich wieder ein und richtet sich zu seiner vollen Größe auf. »Mein Name ist Aye, doch meine Freunde nennen mich Daddy. Wie wäre es, wenn du das auch machst?«, fragt er und hält mir seine Hand entgegen.

»Ich sage sicherlich nicht Daddy zu dir.« Ich ziehe die Brauen zusammen und beobachte, wie er seine Lippen verzieht.

»Du musst nicht Daddy sagen.« Er grinst, was mich an einen kleinen Jungen erinnert. »Du kannst mich auch einfach Aye nennen.«

Die Falte auf meiner Stirn vertieft sich. »Sagen die Leute wirklich Daddy zu dir?« Ich kneife die Augen zusammen, fordere ihn heraus, die Wahrheit zu sagen.

»Klar.« Er greift nach meinem Oberarm, um mich an sich zu ziehen und die Tür hinter mir zu schließen. Dann legt er seinen Arm um meine Schultern und führt mich den Flur hinunter.

»Was machst du da?«, frage ich und winde mich aus seiner halben Umarmung.

Er sieht nachdenklich den Flur entlang. »Kai hat dir nicht gesagt, dass ich für deine Sicherheit verantwortlich bin?«, will er wissen und ich verneine. »Pika und ich werden das übernehmen, allerdings ist er gerade nicht hier, also bin ich im Moment verantwortlich.«

»Ich dachte, ich wäre nun sicher?« Ich schlinge die Arme um mich.

»Das bist du.« Er betrachtet mich eindringlich. »Niemand wird dir etwas antun.«

»Kannst du mich einfach zu Kai bringen?«, fragte ich sanft mit dieser Unruhe im Magen. Obwohl ich Kai nicht kenne, ist er im Moment die einzige Person, der ich wirklich vertraue.

»Aber natürlich«, erwidert er leise, nimmt meine Hand und führt mich den Gang hinunter. Als dieser breiter wird, stehen wir im dritten Stock. Ein gläsernes Geländer gibt die Sicht auf eine riesige Holztreppe frei, die nach unten führt; und noch weiter hinab bis zum Strand. Ich habe noch nie etwas so Wunderschönes gesehen. Das Meer ist einige Meter entfernt und doch wirkt es, als würde es mit dem Strand und dem Haus verschmelzen.

»Es muss ganz schön was kosten, dieses Anwesen zu erhalten«, murmle ich und betrachte den vielen Sand, der sich an das Gebäude schmiegt.

Ich höre Aye leise lachen. Sanft zieht er mich zu sich und führt mich über eine Balustrade – hinunter in eine weitere kleine Halle und von dort aus in ein großes Esszimmer, wo Kai und ein fremder Mann über einem Haufen Papiere gebeugt zusammensitzen. Sobald wir den Raum betreten, wenden sich uns die beiden zu. Kais Blick gleitet von meinen feuchten Haaren zu meinen in Socken steckenden Füßen, ehe er mir eine Hand entgegenhält und leicht sein Kinn hebt. Ich will nicht zu ihm gehen, aber etwas in seinem Blick sagt mir, dass ich es tun soll. Ich nehme seine Hand und komme nicht mal zum Blinzeln, da zieht er mich bereits auf seinen Schoß.

»Makamae«, flüstert er mir zu und haucht einen Kuss auf meine Ohrmuschel.

Mein Magen verknotet sich und ich drücke die Nägel in meine Handinnenfläche, bevor ich ihn ansehe. Als sich unsere Blicke treffen, versuche ich, im Stillen zu verstehen, was er mit mir anstellt.

»Du hast ein paar Klamotten gefunden«, sagt er leise und fährt mit den Fingern den Saum meiner Shorts entlang.

»Ich hoffe, das macht dir nichts aus«, murmle ich, greife nach seiner Hand und stoppe sie.

»Ich würde meiner Frau nie etwas abschlagen«, meint er, ohne meinen Blick loszulassen.

Ich kämpfe dagegen an, wegzusehen, mich nicht zu verstecken.

Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, war ich nicht sicher, ob ich ihm freiwillig jemals wieder begegnen möchte, und dennoch war er mein Retter. Obwohl er mir versichert hat, mir nichts zu tun, fühle ich noch immer diesen Drang in mir, von ihm und dieser Energie, die ihn umgibt, wegzukommen.

»Fühlst du dich besser, nachdem du geduscht hast?« Er betrachtet mein Gesicht und lässt seinen Finger über die Unterseite meines Kinns wandern.

»Ja«, murmle ich. Der Knoten in meinem Magen löst sich und ein anderes Gefühl erwacht.

»Gut.« Er lehnt sich nach vorn und streicht mit den Lippen leicht über meine.

Automatisch lege ich die Hand auf seine Brust und spüre die Wärme seiner Haut sowie seinen Herzschlag durch den Stoff seines Shirts. Als er sich zurücklehnt, sucht er für wenige Sekunden erneut nach meinem Blick. Sobald der Kontakt durchbrochen ist, nehme ich einen Atemzug und schenke dem zweiten Mann, der uns gegenüber am Tisch sitzt, meine Aufmerksamkeit.

»Myla, ich möchte dir gern Detective Nero Wolfe vorstellen. Nero, das ist meine Frau Myla Kauwe.« Kai drückt meinen Schenkel.

»Nett, dich kennenzulernen, Myla.« Der Detective lächelt, was ein Grübchen auf seiner linken Wange offenbart und von seinem dunklen Hauttyp noch unterstrichen wird. Der Blick aus dunkelbraunen Augen wandert zwischen Kai und mir hin und her. Dann lacht er, was seine längeren, zerzausten, aschblonden Haare über seinen Hemdkragen streifen lässt. Hätte er keinen Anzug getragen, hätte ich geschworen, er wäre Surfer, aber sicherlich kein Detective.

»Ich freue mich ebenfalls«, gebe ich zurück, fühle mich allerdings leicht unwohl unter seiner Musterung. Mir war klar, dass ich irgendwann mit der Polizei über den Vorfall sprechen muss, aber ich habe gehofft, noch ein paar Tage Zeit zu haben, um das alles zu verarbeiten.

»Kai hat mir schon das meiste erzählt. Ich habe trotzdem noch ein paar Fragen an dich. Ist das in Ordnung?«, will er sanft wissen. »Auch, dass ich dich duze?«

Ich ringe mit mir, Kai anzusehen und ihn auf diese Weise um Erlaubnis zu bitten. Ich bin auf das hier nicht vorbereitet und fühle mich wie in den Mittelpunkt gezerrt. »Klar.« Ich nicke, erhebe mich von Kais Schoß und setze mich auf einen eigenen Stuhl. Ich muss mich daran erinnern, dass das alles hier nur eine Lüge ist. Wir sind verheiratet, aber nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Notwendigkeit heraus. Ich darf nicht zulassen, dass meine persönlichen Schwächen diese Situation beeinflussen. So sehr es mir missfällt, es zuzugeben, aber Kai hat einen enormen Einfluss auf mich.

»Nun, lass uns anfangen«, sagt Nero und schiebt ein paar Papiere auf dem Tisch zurecht. »Ich weiß, dass du und Kai gestern in Vegas geheiratet habt, aber kannst du mir schildern, was am Tag zuvor vorgefallen ist?«

Ich schlinge beide Arme um mich und werfe einen Blick zur Tür, durch die ich zu gern fliehen würde. Dort steht Aye. Er nickt und schenkt mir ein kleines Lächeln. Im nächsten Moment fühle ich, wie eine raue Hand meinen Schenkel drückt. Kai streicht mit der Handfläche über meine Haut.

Ich wende mich Nero zu, ohne Kai zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. »Was wollen Sie wissen?«

»Beginne ganz am Anfang.« Er lächelt freundlich und greift nach einem Stift.

Erneut nicke ich, ziehe die Beine unter den Stuhl und versuche, meine Gedanken zu ordnen. »Ich besitze eine Bäckerei in Seattle. Raining Sprinkles.« Ich schlucke, als ich mich daran erinnere, dass meine Bäckerei nun nur noch Asche und Staub ist.

»Lass dir Zeit«, sagt Nero ermutigend.

»Wie bereits gesagt, führe ich eine Bäckerei und wie jeden Sonntag war nur ich da, um sie zu öffnen. Meinen Mädels habe ich immer frei gegeben, da ohnehin nicht so viel los war. Der Tag hat wie immer begonnen. Ich war um fünf da, setzte Kaffee auf und kümmerte mich bis kurz vor sechs um einige organisatorische Sachen. Um Punkt sechs ging ich in die Küche und schob ein paar Muffins in den Ofen, danach bestückte ich draußen die Vitrine. Um acht habe ich wie immer den Laden geöffnet. Kurz darauf kam bereits mein erster Kunde.« Ich halte inne und nehme einen Atemzug, dabei schlinge ich die Arme noch etwas fester um mich. »Der restliche Tag war unspektakulär. Es fiel nichts Außergewöhnliches vor. Da ich allein war, war ich die ganze Zeit über beschäftigt, aber das habe ich erwartet. Gegen halb drei ging ich nach hinten, um eine Ladung Geschirr in den Geschirrspüler zu räumen. Als ich wieder nach vorn kam, fiel mir auf, dass der Mann, der an jenem Tag als Erstes den Laden betreten hatte, noch immer dort am Tisch saß.« Ich schließe die Augen und öffne sie langsam wieder. »Ich bin zu ihm gegangen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Dann habe ich ihm gesagt, dass wir um drei Uhr schließen würden. Gegen drei war er plötzlich verschwunden. Ich habe mich um ein paar Kunden gekümmert, die darauf gewartet haben, dass ich ihre Sachen einpacken würde. Ich begleitete die Letzten zur Tür und drehte das Geschlossen-Schild um, als ein Fremder auf mich zurannte und rief, er habe sein Telefon auf der Toilette liegen gelassen.«

Ich werfe den beiden Männern einen Blick zu und fahre fort. »Ein seltsames Gefühl überkam mich, also stand ich eine Weile einfach nur da, während er durch die geschlossene Tür spähte, als würde er sein Telefon suchen. Dann schob er die Tür plötzlich auf und ich stolperte zurück. Zuerst dachte ich, es würde sich um einen Kunden handeln, der heute hier war, doch in dem Moment wurde mir schlagartig klar, dass dieser Mann mein Bruder Thad war.« Meine Kehle verengt sich, mir wird übel und ich spüre einen Schauder über meinen Rücken huschen.

»Ist alles okay?«, fragt Nero.

Ich atme tief ein. »Alles gut«, erwidere ich leise, stelle die Füße auf den Boden und weiche Kais Berührung aus. »Als mir bewusst wurde, um wen es sich handelte, wurde ich wieder klar im Kopf. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich mit achtzehn von zu Hause ausgezogen bin. Er kam in den Laden und ließ ein paar andere Männer hinein«, erzähle ich und spüre Kais Hand, die er auf meinen unteren Rücken legt, um mein Shirt ein klein wenig anzuheben. Seine Finger gleiten über meine Haut und ich frage mich, ob er mir so mitteilen möchte, dass es Dinge gibt, über die ich nicht reden soll.

»Was ist als Nächstes passiert?«, fragt Nero sanft.

Ich lehne mich leicht gegen Kais Hand, der kurz innehält, mich dann aber weiter streichelt. »Er drängte mich nach hinten in den Laden und erklärte mir, dass er einigen Männern Geld schulde, das ich ihm geben solle. Ich kann nicht sagen, ob er auf Drogen war, aber er wirkte ziemlich ängstlich. Ich erklärte ihm, dass ich so viel Geld nicht hätte, während er mich auf einen Stuhl setzte und fesselte.«

»Und dann?«

»Keine Ahnung«, erwidere ich schwach. »Ich wurde am Kopf getroffen und als ich wieder aufwachte, trug mich Kai gerade aus dem brennenden Gebäude.« Ich sehe zu Kai. Auch wenn ich niemals bereit sein werde, jedes Detail über den Vorfall zu erzählen – Kais Rettung ist keine Lüge. Für seinen Einsatz werde ich ihm ewig dankbar sein.

»Dann seid ihr nach Vegas gefahren und habt geheiratet?«

Ich reiße den Blick von Kai los und sehe zu Nero. »Ja. Nun, wir haben geplant, zu heiraten«, lüge ich.

Kais Hand auf meinem Rücken hält inne. Wir haben nie im Einzelnen darüber gesprochen, was wir sagen werden, wenn jemand fragt, also versuche ich, etwas Glaubwürdiges zu erfinden. »Nach den Dingen, die vorgefallen sind, habe ich erst begriffen, wie kurz das Leben sein kann. Ich habe Kai gesagt, dass ich keinen Tag mehr ohne ihn sein will und in unserer Beziehung einen Schritt weitergehen möchte. Also haben wir in Vegas angehalten und geheiratet«, erkläre ich.

Nero betrachtet mein Gesicht, dann blickt er auf das Klemmbrett vor ihm, auf dem er zu schreiben beginnt.

Ich beiße mir auf die Lippe. Ich fühle mich, als hätte ich etwas Falsches getan. Keine Ahnung, was ich sonst hätte sagen sollen. Ich denke ein – Ich traf ihn gestern zum ersten Mal und heiratete ihn, weil er meinte, mich nur so beschützen zu können – würde sich ziemlich verrückt anhören.

»Und ansonsten kannst du dich an nichts erinnern?«, fragt er und sieht mich wieder an.

Ich schüttle den Kopf und ziehe die Beine unter meinen Hintern. »Nein, nichts«, gebe ich zurück und presse die Lippen zusammen.

»Kannst du mir etwas über deinen Bruder erzählen?«

Mein Körper spannt sich an und ich kann fühlen, wie all das Blut mein Gesicht verlässt. »Da gibt es nichts zu erzählen«, flüstere ich und hasse mich dafür, immer so schwach zu sein, wenn ihn jemand zur Sprache bringt.

»Geht es dir gut?« Nero studiert meine Mimik.

»Ja. Nur müde.« Ich setze mich auf, stütze die Ellenbogen auf den Tisch und streiche mir das Haar aus dem Gesicht, als plötzlich Erinnerungsfetzen durch meinen Kopf jagen.

Als ich von meinen Eltern weggebracht und mir später gesagt wurde, sie seien tot. Als ich bei Modesto und Ida Akskvo und deren beiden Söhnen Thad und Royce einzog. Sie erklärten mir, dass ich niemals jemandem erzählen dürfe, wo ich herkam, denn das könne meinen Tod bedeuten.

Darauf folgen viele glückliche Erinnerungen aus dem Leben mit meiner neuen Familie. An die Arbeit mit meinem Dad in der Modesto’s Bäckerei. An die Shoppingausflüge mit meiner Mom Ida oder die Momente, wenn ich mit meinem Bruder Royce abhing.

Als ich sechzehn Jahre alt wurde, änderte sich alles. Thad begann, sich nachts in mein Zimmer zu schleichen, und zeigte mir, dass die Hölle auf Erden tatsächlich existierte.

Die Erinnerungen an die Dinge, die er mir antat, die er mir genommen hat, bringen mich zum Würgen. Ich stehe auf und renne aus dem Esszimmer. Ich habe keine Ahnung, wo ich hinmuss, und beginne, Türen auf dem Flur zu öffnen und wieder zu schließen, bis ich eine gefunden habe, die in ein Badezimmer führt. Ich fummle am Schloss herum, bis es einrastet, und taste gleichzeitig die Wand nach einem Lichtschalter ab, den ich betätige. Als das Licht den Raum erhellt, stehe ich meinem eigenen Spiegelbild gegenüber. Mein Gesicht ist fahl, mein blondes Haar wirkt strähnig und meine Lippen sind dunkler als üblich. Eine neue Welle der Übelkeit trifft mich und ich hechte auf die Toilette zu. Es dauert einige Minuten, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Als ich es geschafft habe, fällt mir auf, dass jemand so hart gegen die Tür hämmert, dass die Bilder an den Wänden zittern.

»Ich trete sie ein«, brüllt Kai von der anderen Seite aus.

Ich will ihm sagen, dass ich ihm öffne, als die Tür bereits aufkracht und gegen die Wand dahinter schlägt. Holz zersplittert und fliegt überall herum. Kai betritt den Raum. Unsere Blicke treffen sich und ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen, als er auf mich zukommt.

»Ich werde dich raustragen, damit du dir keinen Splitter eintrittst«, sagt er sanft und hebt mich hoch. »Aye, sag Detective Nero, dass wir den Termin verschieben werden. Meine Frau fühlt sich nicht wohl«, ordnet er an und trägt mich in den Raum, in dem ich heute Morgen aufgewacht bin. Vorsichtig legt er mich auf dem Bett ab. »Lass mich dir einen Waschlappen holen.« Damit verschwindet er im Bad.

Ich höre, wie er das Wasser aufdreht. Einen Moment später kommt er bereits zurück. »Du musst mir sagen, was in der Bäckerei passiert ist, bevor ich dort aufgetaucht bin.« Er setzt sich auf das Bett und reicht mir das nasse Tuch, das ich ihm abnehme. Dabei versuche ich, das Zittern meines Körpers unter Kontrolle zu bekommen.

Was geschah, spielt sich plötzlich wie ein alter Film in meinem Kopf ab.

»Myla, ich habe dich vermisst«, sagt Thad, schlingt einen Arm um meine Taille und schiebt mich zwei Schritte zurück. Er beugt sich zu mir, sein Gesicht zu meinem Nacken, und plötzlich fühle ich seine Zunge, die meine Haut berührt. Alles in mir versteinert und ich hasse mich dafür, nicht zu schreien, nicht zu kämpfen, doch all die Jahre war mein Körper immer nur in Angst erstarrt.

»Was machst du hier?«, wispere ich, als zwei weitere Männer hereinkommen. Mein Magen fällt ins Bodenlose, als ich beobachte, wie einer der Kerle die Tür zumacht und abschließt.

»Es ist dein Geburtstag«, sagt er und beginnt, mich in den hinteren Teil des Ladens zu schieben.

Ich schreie auf und will mich losmachen, doch er grinst nur boshaft und beginnt zu lachen. Seine Finger graben sich so fest in meine Haut, dass ich davon blaue Flecken bekommen werde. »Bitte, lass mich los.« Ich will erneut von ihm wegkommen, aber sein Griff wird nur noch fester. Er zerrt mich nach hinten und setzt mich auf einen Stuhl.

»Halt die Klappe«, ordnet er an und richtet dabei einen Finger auf mein Gesicht. Dann sieht er zu einem der Männer hinüber, die uns gefolgt sind. »Fahr zu ihr und hol alle ihre Sachen. Wir treffen uns später wieder hier«, sagt er und wirft dem Mann meine Handtasche zu.

»Verstanden«, erwidert dieser, holt die Schlüssel aus meiner Tasche und verlässt den Raum.

»Was geht hier vor sich? Warum bist du gekommen?«, flüstere ich.

Thad wendet sich mir zu. Er legt seine Hand um mein Kinn, seinen Daumen und Mittelfinger jeweils auf eine Seite, und drückt sie zusammen. »Ich hole dich nach Hause, wo du mich heiraten wirst. Mom wird so glücklich sein.« Er lächelt.

Ein Klumpen steckt in meiner Kehle, macht es mir schwer, zu atmen. »Was redest du da?«, bringe ich schließlich hervor.

»Oh, Prinzessin, da gibt es so viel, wovon du nichts weißt.« Er stemmt die Hände links und rechts von mir auf den Stuhllehnen ab und bedrängt mich mit seinem Körper. »Aber mach dir keine Sorgen. Wir haben genug Zeit, alles zu besprechen.« Er leckt über meinen Nacken, was meinen Magen in Aufruhr versetzt.

Als er sich zurückzieht, werfe ich dem Mann am anderen Ende des Raums einen Blick zu. Es ist der Kerl, der den ganzen Tag in meinem Laden saß. Etwas blitzt in seinen Augen auf, doch er wendet sich ab, noch bevor ich erkennen kann, was das zu bedeuten hat.

»Wir haben einen stressigen Tag vor uns«, sagt Thad.

Ich sehe mich um, versuche, mir einen Fluchtplan zurechtzulegen.

»Myla? Myla.«

Mir wird klar, dass ich zittere. Ich fixiere Kais Gesicht über mir und rutsche auf dem Bett nach oben, bis ich mir den Kopf am Bettgestell anschlage.

»Hey, vorsichtig«, sagt er.

Ich reibe über meinen Scheitel. »Sorry.«

»Entschuldige dich nicht.« Er sieht durch das Fenster hinaus. »Willst du darüber reden, was vorgefallen ist?«

Ich schüttle den Kopf, als mir bewusst wird, dass Kai noch immer hinausschaut. »Nein.« Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. »Es tut mir leid, dem Detective gesagt zu

haben, dass wir uns daten. Er hat mich kalt erwischt und ich war aufgeregt. Ich weiß nicht, was ich sonst hätte sagen können. Vielleicht hätten wir darüber reden sollen. Ich meine, ich weiß nicht mal, ob du eine Freundin hast.« Ich schlage die Lider auf und begegne seinem Blick. Kleine Lachfältchen haben sich um seine Augen gebildet und ein Lächeln auf seinen Lippen. »Hast du eine Freundin?«, frage ich und beobachte, wie sein Lächeln breiter wird.

»Du redest ziemlich viel«, erwidert er.

»Nun, hast du eine?«, frage ich gefährlich leise. Ich habe darüber bisher keine Sekunde nachgedacht. Doch etwas an dem Gedanken, dass er ein anderes Mädchen haben könnte, erzeugt ein ähnliches Gefühl wie Übelkeit.

»Nein.«

»Gut.« Ich nicke und sein Lächeln wird noch eine Spur breiter. »Ich meine gut, weil ich mich ziemlich schlecht fühlen würde, würdest du jemanden daten, aber eine andere heiraten.«

»Myla, das weiß ich.« Er reibt über mein Knie und ein Kribbeln erfüllt meinen Bauch.

»Wie schlecht war ich beim Beantworten von Neros Fragen?«, will ich wissen, setze mich auf und entgehe so seiner Berührung.

»Das hast du gut gemacht. Wir haben über den Vorfall gesprochen, bevor du zu uns gekommen bist. Er versteht, dass du alles noch verarbeiten musst.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und lege die Arme um mich. Dann schaue ich durch das Fenster nach draußen. »Nun, wie geht es weiter?«

»Wie es weitergeht?«, wiederholt er und ich sehe ihn wieder an.

»Ja. Was tun wir? Du hast gemeint, wir müssen mit deinem Anwalt sprechen.«

»Du tust gar nichts. Ich habe den Termin mit dem Anwalt verschoben, als Nero aufgetaucht ist, und nun habe ich ein paar Dinge zu erledigen. Wenn die Götter auf meiner Seite sind, wird sich bald alles von selbst regeln und wir können zur Normalität zurückfinden«, sagt er sanft.

Ich bedeute ihm meine Zustimmung, auch wenn meine Normalität bereits lang zuvor verloren ging.

2. KAPITEL

Myla

I know you

Ich höre Kai aufbrüllen und werfe einen Blick über meine Schulter zum Haus zurück. Dabei schiebe ich mir die Sonnenbrille auf den Kopf und lege meinen Kindle auf dem kleinen Tisch neben meiner Sonnenliege ab.

»Bleib hier«, sagt Aye und marschiert auf das Haus zu.

Als die Stimmen lauter werden, erhebe ich mich und gehe ebenfalls nach drinnen. Leise laufe ich durch die Halle und linse um die Ecke, wo ich den Mann erkenne, der Thad Zugang zur Bäckerei verschafft hat. Er steht allein in der Küche, sein Körper gegen die Wand gepresst, den Kopf leicht nach hinten geneigt, als würde er jeden Moment einen Faustschlag erwarten.

Mein Magen zieht sich zusammen, doch ich dränge das Gefühl zurück. Ich renne über den Flur auf das Badezimmer zu, wo ich nach etwas suche, das ich als Waffe verwenden kann. Es ist kein Bad im eigentlichen Sinn, darin befindet sich nur ein Waschbecken auf einem Sockel; Schubladen gibt es keine und auch keine Schränke. Ich will bereits aufgeben, als die Abflussglocke meine Aufmerksamkeit erregt. Ich hebe sie hoch und spüre das Gewicht in meiner Hand. Sie ist schwer und aus Holz, mit einer großen roten Saugglocke am Ende des Stiels. Damit gehe ich zurück über den Flur und warte ein wenig, bevor ich die Küche betrete.

Der Kerl ist nicht mehr da. Nun steht Aye neben der Anrichte. Ich will auf ihn zugehen, da sehe ich wieder den Mann, der sich an Aye heranschleicht. Ohne nachzudenken, hole ich aus und schlage ihm das Ding in meiner Hand hart auf den Kopf. Die Saugglocke löst sich beim Aufprall und springt über den Küchenboden, während sich der Kerl zusammenkrümmt.

»Wa…« Aye sieht auf den Mann nieder, den ich ausgeknockt habe, dann reißt er die Augen auf und blickt zu mir. »Warum hast du das gemacht?« Er nimmt mir den Holzstab aus der Hand.

»Er ist auf dich zugeschlichen«, erkläre ich, packe die Hände des Mannes und ziehe sie ihm, wie ich es in meinem Selbstverteidigungskurs gelernt habe, auf den Rücken, sodass er sich nicht mehr bewegen kann. »Hast du Handschellen oder etwas Ähnliches?«, frage ich Aye von meiner hockenden Position aus.

»Wir werden Pika nicht fesseln«, murmelt er und sieht mich an, als wüsste er nicht, was er von mir halten soll.

Verständnis blitzt plötzlich in seinen Augen auf.

Pika lässt ein Stöhnen hören. Ich nehme Aye den Schlägel weg, um erneut auf den Mann am Boden einzuschlagen, doch ich werde sofort wieder entwaffnet.

»Myla?«

Als ich meinen Namen aus Kais Mund höre, richte ich meine Aufmerksamkeit auf den Eingang der Küche. Sein Blick wandert über meinen Körper, der nur in einem Bikini steckt, und eine Gänsehaut breitet sich überall auf mir aus. Sobald er bei meinen Füßen ankommt, dort, wo der Kerl liegt, reißt Kai die Augen auf. »Was geht hier vor sich?« Er kommt auf mich zu.

Mein Magen macht einen Satz, als mich sein Duft umhüllt. Er riecht nach etwas Würzigem, nach Kokos und der heißen Sonne. Jedes Mal, wenn er mir nah kommt, muss ich mir Mühe geben, mich nicht an ihn zu lehnen. »Das hier ist der Kerl, der Thad Zugang zu meiner Bäckerei verschafft hat. Der Kerl, der meinte, er habe sein Telefon liegen gelassen«, erkläre ich.

Sein Blick wird sanft, und er zieht sein Hemd aus, bis er nichts mehr trägt, außer seiner schwarzen Hose und seinen Schuhen. Ich beobachte, wie sich seine Bauchmuskeln bewegen. Dann legt er mir das Hemd um die Schultern. Ich lehne mich leicht zurück und stecke die Arme in die Hemdsärmel. Dabei halte ich für einen Moment den Atem an, um Kais Duft so lang wie möglich in meiner Lunge zu behalten.

»Dieser Mann gehört zu meinen Leuten«, sagt er, bückt sich und dreht ihn um.

»Er war in meiner Bäckerei. Er … er ist der Grund, weswegen Thad Zutritt bekommen hat«, wiederhole ich stammelnd und sehe, wie der Kerl seinen Blick auf mich richtet.

»Ich habe ihn bei den Männern, die für Thad arbeiten, eingeschleust«, erklärt Kai und hilft Pika, sich aufzusetzen.

»Wie meinst du das?« Ich schaue zuerst den verletzten Mann, dann Kai an.

»Warum kommst du nicht mit mir mit?«, schlägt Aye vor und nimmt meine Hand.

»Nein.« Ich schüttle ihn ab und verschränke die Arme vor meiner Brust. »Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?« Ich funkle Kai an.

»Dafür gab es keinen Grund«, erwidert er und sieht mich an, als wäre die Frage an sich schon verrückt.

»Keinen Grund?« Ich kann es nicht glauben. Seine Dreistigkeit ist kaum zu überbieten.

»Er hat nur seinen Job gemacht«, springt Aye ein.

Ich wende mich ihm zu. Sofort reißt Aye die Hände hoch, als wolle er sich schützen.

»Es tut mir leid«, sagt Pika.

»Es tut dir leid? Leid, dass du anderen Männern Zutritt zu meiner Bäckerei verschafft hast? Oder tut es dir leid, zugesehen zu haben, wie Thad mir in die Rippen trat, während ich bereits auf dem Boden lag und darum bettelte, er möge aufhören? Oder doch eher, dass du meine Bäckerei in Brand gesteckt hast? Bitte erklär mir doch, welcher Teil dir leidtut!«, rufe ich und atme so tief ein, dass sich meine Brust in einem schweren Atemzug hebt.

»Alles davon«, flüstert er, unsicher, ob er mich oder Kai ansehen soll.

»Danke. Jetzt, wo ich weiß, dass dir das alles leidtut, fühle ich mich sehr viel besser«, sage ich, schiebe mich an den drei Männern vorbei und marschiere über den Flur hinunter in das Wohnzimmer.

Ich muss den Kopf freibekommen. Ich kann nicht behaupten, darüber hinweg zu sein, was vorgefallen ist, aber seit ich hier bin, empfand ich es als simpel, so zu tun, als wäre ich in Sicherheit. Als ich diesen Mann gesehen habe, wurde mir erst bewusst, wie sehr ich es zuließ, die Mauern um mich herum aufzumachen. Etwas, das ich nicht wieder geschehen lassen werde.

Ich verlasse das Haus und gehe hinunter zum Meer, bis die ersten Wellen über meine Füße streichen.

»Wenn er dir hätte helfen können, hätte er es getan.« Ich höre Kais Stimme und sehe über meine Schulter hinweg, wie er auf mich zukommt. Er trägt ein frisches Hemd. »Er hätte es getan, Myla. Allerdings konnte er nicht riskieren, dass die Männer herausfinden, dass er für mich arbeitet.«

Ich fühle einen Kloß im Hals und betrachte wieder das Meer, nicht bereit, seine Worte zu akzeptieren. »Er hat zugesehen.« Ich nehme einen tiefen Atemzug; lasse zu, dass die salzige Meerluft meinen Geist klärt. »Er hat zugesehen und nichts getan«, wiederhole ich leise und schlinge die Arme um mich, während das Geräusch der Wellen, die auf die Küste treffen, meine Worte verschluckt.

»Ich kenne ihn, seit ich siebzehn bin.« Kai kommt näher, als ich es erwartet hätte, und überrascht mich, als er einen Arm um meine Schultern legt. »Wenn er es hätte verhindern können, hätte er es getan.«