Ines Geipel

Umkämpfte Zone

Mein Bruder, der Osten und der Hass

Klett-Cotta

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Klett-Cotta

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© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Postkarte aus den 60er-Jahren: Dresden, Weißer Hirsch

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98380-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11518-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kristalle

Es liegt Schnee, endlos viel, und ständig kommt neuer dazu. Ich stehe am Fenster und schaue in den Himmel. Wie die Flocken in die Dämmerung stürzen. Wie eine von ihnen taumelt, sich verheddert, mit einer anderen verschmilzt. Wie sie zusammen ein eigenes Muster bilden. Mein kleiner Bruder reißt die Tür auf: Noch eine halbe Stunde, dann hört es auf zu schneien, dann ist es kalt genug, dann geht es los.

Ich sehe Robby, wie er vor mir steht, eingemummelt wie ein Eskimo, rechts der Eimer mit kaltem Wasser, links sein Schlitten. Er ist sechs, ich bin zwölf. Es sind Winterferien. Es ist Februar 1973. Wir warten auf die Kälte. Darauf, die lange Treppe runterzubrettern, die Straße hoch, die Piste vereisen, die Schanze ausbessern, unsere Schlitten verketteln. Platz da, wir kommen! Das hier ist unser Terrain. Zwanzigerstraße, Weißer Hirsch, Dresden.

Später zerrt Robby seinen Schal vom Hals, hält ihn mir hin. Er schwitzt. Er ist glücklich. Wir hasten ein ums andere Mal die Straße hoch. Er schiebt wortlos seine Hand in meine. Vor unseren Mündern Dampf. Das fahle Licht der Straßenlaternen, die eisig klare Nacht, der glitzernde Schnee, das Knirschen unserer Schritte.

Vor allem aber seine kleine, warme Hand.

In Zeitlupe

Da sein. Seine rechte Hand. Viel mehr ist es nicht, was mein Bruder noch bewegen kann. Es ist der 7. Dezember 2017. Ich sitze an seinem Bett. Palliativstation, St. Joseph-Stift, Dresden. Robby hat ein Glioblastom, 4. Stufe. Der Herrndorf-Tumor, sagt er zur Begrüßung. Im April die erste Operation, über den Sommer das Rezidiv, Ende November die zweite, ein Blutgerinnsel im Kopf, vor drei Tagen der Schlaganfall. Sieht nicht gerade rosig aus, meint er. Null Chance. Schön, dass du da bist.

Ein Nachmittag. Und Robby, der sich erinnern will. Sechs Stunden lang. Ist das viel? Ich meine, ist das viel Zeit? Er greift nach meiner Hand, zieht sie zu sich, legt sie auf seine Brust. Sie soll da liegen bleiben.

Siehst du mich?, fragt er leise.

Ja, wieso?

Weil ich dich doppelt sehe. Der Tumor. Das Ding drückt mir die Augen weg. Du, ich muss dir was sagen.

Ich suche in seinem Gesicht: die große Narbe an der rechten Schläfe, die erschöpfte Haut, seine Lippen. Wie da zwischen oben und unten immerzu Worte rausfallen. Schnelle, langsame, leise, stockende. Ich verstehe nichts. Als wäre ich von einem Riesentier überrannt worden, als hätte mir jemand einen Eispickel ins Hirn gerammt. Robby, was ist das hier? Was ist passiert? Warum hast du mich nicht gerufen? Warum so spät? Warum erst –? Es gäbe so viel zu fragen. Ich frage nichts, starre nur auf seinen Mund. Auf die Wörter, die da rauskommen. Wie Silberfische, denke ich. Die abtauchen, wegflutschen, die wegwollen, ins Dunkle.

Wir waren Popper, erzählt er und schaut aus dem Fenster. Weißt du, was das ist?

Fürchte, nein.

Ich war achtzehn und hatte einen weißen Anzug an. Habe ich mir extra schneidern lassen. Echt cool. Damit sind wir über die Dörfer, auf die Discos, Mädels aufreißen. Die Kumpels und ich.

Was ist ein Popper?

Kein Blueser.

Das heißt, keine Jesuslatschen.

Genau. Keine langen Haare, kein Siff, keine Peace-Zeichen, sondern rasierte Nacken, Föhnfrisuren, blonde Strähnen, na, die ganz extravaganten Sachen halt und unsere Musik.

Was für Musik?

The Cure, Prince, Michael Jackson.

Prince, Mitte der achtziger Jahre im Osten?

Klar, was denkst du denn?

Und was macht ein Popper?

Rumstehen, Musik hören, Spaß haben.

Robby zittert leicht. Vielleicht hat er Fieber. Es muss einen Fehler gegeben haben, denke ich. Irgendwas ist hier schiefgelaufen, kann nicht richtig sein, stimmt nicht. Aber gleich kommt ja jemand, der das korrigiert. Entschuldigung, muss der sagen, ist nichts weiter, eine Art Datenflash, falsch verkabelt, das haben wir gleich. Ich schaue zur Tür. Niemand da. Was ist das hier? Wer hat sich das ausgedacht? Was macht mein Bruder in diesem Bett? Wird schon, beruhigt er mich und drückt meine Hand, als sei sie eine Plastikente. Dazu die vielen Weihnachtskugeln um ihn herum, die Sterne, die Herzchen, die lange Lichterkette hinter seinem Kopf.

Heimat das alles, Oberlausitz, nickt er. Das mit den Herrnhutern kennst du?

Du, ich kann nicht, geht grad nicht.

Also, das mit den Herrnhutern geht so: Die Eltern sind in der Welt unterwegs, die Kinder bleiben zurück und leben im Internat. Das Licht soll denen zu Hause sagen: Wir kommen und holen euch. Noch ein bisschen, und alles wird gut.

War Mutter da?

Weiß nicht. Hast du Himbeeren dabei?

Himbeeren?

Ja, frische. Die sind gut gegen den Krebs.

Wie leise dieser Nachmittag ist. Wie leicht die Welt gestern noch war. Wie naiv, ahnungslos, vollkommen normal. Ich lege meinen Kopf auf Robbys Brust. Er soll da liegen bleiben, ruhig, lange, bis die Welt wieder ihre Bahn hat, bis alles wieder in Ordnung ist.

Geht das so?, frage ich.

Ja, ist gut.

Hast du Schmerzen?

Nein, nichts. In mir ist mehr Chemie, als ich Blut habe.

Hunger?

Gibt gleich was. Du, sag mal.

Ja.

Und wenn die Reise in die andere Richtung geht? Es wird ziemlich schrecklich werden.

Ja.

Ich habe Angst.

Ja.

Angst, dass ich das Bewusstsein verliere. Wirst du da sein?

Ich bin da, und ich bleibe da.

Mein Kopf legt sich auf die Stelle zurück, wo noch die alte Ordnung ist. Solange er auf Robbys Brust liegt, kann nichts passieren hier. Denke ich das? Aber warum fühlt es sich dann so an? Der Eispickel im Kopf drückt, schiebt, will weiter. Was hat er vor? Draußen wird es dunkel. Als wäre der Nachmittag eine Zeitkapsel: schwebend, weit weg von allem. Nur wir beide. Nur Bruder und Schwester. Nur Robby und ich. Aber was soll das hier? Dass vieles vorstellbar war, nur das nicht, denke ich. Dass hier zu sein vollkommen unwirklich ist, irreal. Und wie ist es für ihn? Gibt es den einen Augenblick, in dem man weiß? In dem man den Mut hat, sich zu sagen, dass die Reise begonnen hat, in die andere Richtung zu gehen? Geschieht das an einem bestimmten Tag, in einer Stunde, in einem Moment? Und dann, was ist dann?

Kontinentaldrift. Wie klein die Wörter auf einmal sind. Als wollten sie sich zurückziehen, klein machen, einrollen, ein bisschen wie Schnippgummis. Um uns herum keine Stimmen, keine Schritte, kein Türenschlagen.

Weißt du noch?, fragt Robby in die Stille hinein.

Was?

Als du mich angerufen hast, damit wir uns auf dem Dresdner Hauptbahnhof treffen. Komm morgen zum Nachtzug nach Budapest, Gleis 10, hast du gesagt und gleich wieder aufgelegt. Der nächste Tag war der 31. August 1989. Das Datum weiß ich. Das habe ich immer parat. Wir standen auf dem Bahnsteig. Du hast fast nichts geredet. Du wolltest weg.

Ich musste.

Du wolltest weg, und ich dachte: Wieso kann sie das? Wieso muss ausgerechnet sie in den Westen? Dahin, wo es uns nicht mehr geben wird?

Ich musste.

Du hast mir deinen Wohnungsschlüssel in die Hand gelegt. Der Schaffner drängelte.

Die Abteiltür knallte. Du standst da, allein auf dem Bahnsteig, und hast nicht gewunken. Kein bisschen. Mach es gut, Schwester, hast du gesagt. Und bist dann auf dem Mofa dem Zug hinterher, durch die Nacht. So hast du es jedenfalls erzählt.

Bis zur Grenze, bis Bad Schandau. Ich konnte nicht anders.

Robby schaut zur Decke. Wir schweigen. Nach einer Weile sagt er: Hier liegt man wie im Auge des Taifun.

Wie meinst du das?

Den ganzen Sommer über habe ich Fotos digitalisiert. Unsere Kindheit, der Weiße Hirsch, die Zinkbadewannen, der Luisenhof. Jede Nacht setze ich mich hier in Gedanken in den Zug und fahre in eine andere Zeit. Das Studium, die Reisen, die Familie, die Kinder.

Er hat Tausende Bilder im Kopf, denke ich. Er ist nochmal alles durchgegangen. Er hat Abschied genommen.

Willst du gar nicht wissen, was ich auf den Fotos entdeckt habe?, insistiert er. Wir grinsen uns an. Zeit also für Robbys Lieblingsgeschichten. Mein Bruder hat ein Faible für Loser, genau genommen für sich als Loser. Es ist sein bevorzugtes Sujet. Wie er und die Freunde kurz nach dem Mauerfall von Dresden aus mit dem Rad nach Schottland sind, er sich gleich am ersten Tag in einem heftigen Gewitter unter der Autobahnbrücke wiederfand, die anderen ihn allein ließen, der Ausweis weg war und ihm nichts anderes übrigblieb, als zurückzuradeln. Wie er während der Armeezeit nach Hause kam, auf den Weißen Hirsch, und kein Zuhause mehr hatte. Nur ein Zettel an der Tür. Er solle zur Großmutter. Da stünde ein Sofa. Wie ihn in der ersten Nacht auf dem Sofa Hunderte Motten umschwirrten und er am nächsten Morgen Hals über Kopf in eine besetzte Wohnung in der Dresdner Neustadt floh.

Geschichten, die ich kenne. Bilder, die andere Bilder überdecken. Robby lacht kurz auf. Seine Augäpfel treten hervor. Die rechte Hand fängt an zu rudern, als versuche sie, seinen Basedow-Blick zu erklären. Wie gern ich hören würde, was er einen Sommer lang auf den Fotos gesehen hat. Aber mein Bruder ist Experte im Sprechen mit Bildern. Direkt ist nichts für ihn. Die Bälle oben halten, sonst steckt man fest. Warum sagt er das so oft?

Du musst die Bälle oben halten, meint Robby wie aus dem Off, sonst steckst du in der Falle.

Wie?

Schon gut, winkt er ab, später vielleicht. Massier mal die Hand hier. Ist meine Nazihand.

Was?

Red nicht, massier.

Richtig so?

Nee, stärker. Blödes Gefühl, wenn sich der Körper nach und nach abschaltet.

Ich schlucke. Als Kind konnte ich das, Tränen wegatmen. Nach unten auf den Boden starren und obenrum so tun, als sei ich woanders. Ging ganz gut eigentlich. Aber hier?

Du, die Sache mit den Motten, sage ich.

Hm.

Wie war das eigentlich genau?

Du weißt doch, wie es war. Erzähl lieber was Schönes.

Auf der Fensterscheibe Regentropfen. Feine Rinnsale, die sich im Nichts verlieren. Was Schönes, verlangt Robby. Wer, wenn nicht er, hätte ein Recht darauf? Er zieht seine rechte Hand zurück und hält sie gestreckt nach oben.

Was machst du da?

Ich muss los.

Wohin denn?

Lass mich. Ich muss los, ich muss in den Krieg.

Unterschiede. Die Hand meines Bruders fällt hart auf die Decke zurück. Sein Blick wandert zum Fenster. Erneut der Eispickel, der Druck in meinem Kopf, das Gefühl wegzurutschen. Wohin? In die Welt vor dem Verlust? Dahin, wo alles bevorsteht? Sagt man sich das? Und was sagt man sich dann? Mein Bruder hat mich geholt, als er wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Als er sich sicher war, dass wir nichts mehr klären können. Der Satz fühlt sich richtig an, aber er ist ohne Bedeutung. Er löst sich auf, noch bevor er da gewesen ist.

Denk nicht darüber nach, sagt Robby regungslos. Bringt nichts, bringt niemandem etwas.

Seine Hand greift ins Leere. Er schwitzt. An seinen Augen Rinnsale. Langsame, sanfte Fäden. Der Atem rasselt. Im Hintergrund piepst monoton ein Gerät. Wieso ist er nur so schnell?, frage ich mich. Woher weiß er immer schon?

Kommst mir bisschen wie belämmert vor, wie in Zeitlupe, meint er und mustert mich aus dem Augenwinkel.

Ist nicht so einfach hier.

Frag mich mal.

Warum haben wir uns so lange nicht gesehen?, entgegne ich.

Wie lange?

Fünf Jahre.

Weiß nicht.

Das mit den Motten, sagt er, und es soll beiläufig klingen, kann ich kurz machen. Ist eigentlich ganz einfach: Es war am Anfang meiner Armeezeit, Ende Oktober 1985. Der erste Heimaturlaub. Ich war aufgeregt, denn ich hatte eine Woche vor der Einberufung Emma kennengelernt.

Die Brasilianerin mit den wüsten Locken?

Ja, die. Ich stand also an einem Freitagabend in voller Montur bei den Eltern auf dem Weißen Hirsch vor der Tür, klingelte, aber niemand da. Mein Schlüssel passte nicht. Auf dem Klingelschild fehlte unser Name. Immerhin wohnte ich auch da. Dann erst nahm ich den Zettel wahr, der an der Tür klebte. Auf ihm in Vaters Handschrift, ich solle zur Großmutter. Erklärt wurde nichts. Ich fuhr in die Stadt und fand mich auf dem Mottensofa wieder. Emma sah ich nicht. Den Rest kennst du. Mehr war nicht.

Was nicht stimmt. Er weiß es, ich weiß es. Aber frage ich jetzt weiter, würde ich ins Bruderland eindringen. Das will ich nicht. Es geht nicht. Es ist nicht der Moment. Es war nie der Moment, hallt etwas in mir nach. Ein Satz, dem andere folgen müssten, um ins Labyrinth der Nichtmomente einzuführen. Aber was würde das bringen? Wer will da jetzt hin? Richtig ist, dass Robby eine andere Geschichte im Kopf haben will als ich. Was erstmal nichts Besonderes ist. Nur sind unsere Geschichten eben nicht einfach Versionen, sondern wirklich verschieden. Immerhin so verschieden, dass sich der Unterschied nicht einfach ignorieren lässt. Der Eispickel in meinem Kopf hat seinen Betrieb wieder aufgenommen. Offenbar hat er vor, bis zur anderen Seite durchzustoßen. Mein Hirn fühlt sich aufgespießt an und eisig, als wäre es aus Metall. Der Druck nimmt in einem fort zu. Aber keine Angst, ich werde die Geschichte, die mein Bruder nicht erzählt, die er nicht erzählen kann, die er ausblendet, wider besseres Wissen, bei mir behalten. Es ist eine Geschichte, die von einer Flucht handelt, der Flucht unserer Eltern aus ihrem früheren Leben. Einem Leben, in dem sich Vater, wie seine 800-Seiten-Akte Auskunft gibt, ab 1973 von der Staatssicherheit zu einem, wie es im Fachjargon heißt, Terroragenten ausbilden ließ. Er absolvierte eine Kampfausbildung, lernte an der Stechpuppe, wie man Menschen Knockout schlägt, und fuhr unter acht verschiedenen Namen nicht einfach als Stasi-Informant, sondern als Spezialagent zwölf Jahre lang ins sogenannte Feindesland, in den Westen.

Ende 1984 war es mit Vaters Partisanentum schlagartig vorbei. Der Geheimdienst hatte keine Verwendung mehr für ihn. In meiner Version der Geschichte würde Robby Ende Oktober 1985 also vor der Tür der Eltern stehen. Er würde für das Treffen mit der Liebsten seine Militärklamotten gegen seinen weißen Popper-Anzug eintauschen wollen. Aber er kam nicht rein. Die Eltern hatten ihn ausgesetzt. Mein Bruder fand für die beiden nicht statt, er wurde vergessen. Wieso? Kurz zuvor hatte es ein letztes Treffen des Vaters mit den Stasileuten gegeben, das laut seiner Akte zweieinhalb Stunden dauerte und nur zwei Punkte beinhaltete: Er wurde entpflichtet und erhielt eine Art Abfindung. Es war ein sogenannter Wohnungstausch, bei dem die Mietwohnung auf dem Weißen Hirsch, unsere Kindheitswohnung, gegen ein Haus samt Grundstück in der Sächsischen Schweiz eingetauscht wurde. Aus welchen Gründen auch immer hatte es bei diesem Deal sehr schnell zugehen müssen, sodass der Umzug der Eltern eher einer Nacht- und Nebelaktion gleichkam. Es blieb nicht mal Zeit, den eigenen Sohn über sein neues Zuhause zu informieren, geschweige denn darüber, was der Vater zwölf Jahre lang tatsächlich gelebt hatte.

Tastendes. Robby stöhnt leicht auf. Er ist unruhig. Wir sehen uns an, wie wir uns nie mehr ansehen werden. Von der Mottengeschichte in meinem Kopf kann er nichts mitbekommen haben.

Schreibst du darüber?, fragt er.

Nein. Keine Familie. Ich will nicht. Es ist alles gesagt, was zu sagen war und ich für richtig gehalten habe. Ich bin durch damit.

Stimmt nicht.

Was fehlt?

Vieles. Ich vor allem.

Eine tastende Pause, in der Robbys I-Phone klingelt. Es bleibt auf der Bettdecke liegen. Wir sagen nichts. Mein Bruder reibt sich am Hals.

Was war noch mal?, fragt er.

Nein, Robby, deine Geschichte gehört dir. Die musst du selber erzählen.

Siehst doch, was los ist. Dafür ist keine Zeit mehr.

Bitte nicht, es geht nicht. Ich kann nicht.

Kleiner Admiral

Bilderloses. Hinter dem Körper die Idee. Nur welche? Vier Tage nach unserem Nachmittag auf der Palliativstation wird Robby ein intravenöses Portsystem gelegt. Demnächst ist nichts mehr mit Schlucken, erklärt er am Telefon. Einen Tag später kommt er nach Hause. Die Ärzte raten dringend ab, aber er besteht darauf. So oft es geht, sitze ich an seinem Bett. Es gibt nichts Unbestimmtes mehr. Die Vorboten sind deutlich. Aber er ist das Vertraute. Und er ist da. Wie beides zugleich anwesend sein kann, denke ich: Das, was immer da war, und das, was gleich für immer fort ist. Mein Bruder liegt im Wohnzimmer. In seinem Blick der Weihnachtsbaum, dahinter der Balkon, der Regen am Fenster, die kahlen Bäume auf der Straße. Rechts von seinem Bett das große Bücherregal.

Meist schläft er, dämmert, fällt ins Koma. Es ist der 12. Dezember, der 14. Dezember, der 17. Dezember. Nachmittage, an denen die Stille nur dazu da ist, sich selbst zu befragen. Über Stunden kein Zeichen von ihm. Nur sein einsamer Körper, das Zimmer, der Eispickel in meinem Kopf, der ausnahmsweise mal aufgehört hat zu tackern. Irgendwann wacht Robby auf, blinzelt mich an, fragt mit trockenem Mund: Hast du Himbeeren dabei? – Fünf Schalen, handverlesen aus dem KaDeWe. Von ihm keine Reaktion. Er kann sie nicht mehr essen. Er kann gar nichts mehr essen.

Ich hab kaum noch Bilder in mir, sagt er. Sondern? – Weiß nicht. Irgendwie viel Weiß. Ein großes Nichts. Das plötzliche Bedürfnis, ihn zu bergen, ihn wegzutragen, ihn an einen Ort zu bringen, wo alles gut sein soll für ihn. Das plötzliche Bedürfnis, ein Foto zu machen, meinen Bruder festzuhalten, mich gegen die Dimension des Augenblicks zu wehren. Wie kann es sein, dass jede Pore von uns gegen etwas ist und es trotzdem geschieht? Es wird nichts mehr, sagt Robby. Der Eispickel meldet sich zurück. Darf ich?, frage ich und ziehe mein I-Phone aus der Tasche. Er sieht mich lange und bestimmt an.

Von dir hab ich noch Die helle Kammer, sagt er.

Ja.

War am Ende doch gut, dass du in den Westen bist. Hatte ich endlich deine Bücher und das, was von dir dageblieben ist. Roland Barthes und die verlorene Mutter. Diese Sachen eben.

Die helle Kammer. Das Buch, das ich am Ende des Studiums immer in meiner Parka-Tasche hatte. Heute weiß ich nichts mehr davon, nur, dass es in ihm auf arkane Weise leuchtete, dass es unentwegt um Aura, Magie, Licht und solche Dinge ging und dass Barthes keinen Trost suchte. Er wollte keinen. Die Mutter sollte der Fixstern bleiben, nichts durfte mit ihr vergleichbar sein. Barthes schaute unentwegt Fotos an. Das Imaginäre scannte jedes Detail. In seinem Inneren aber existierte keine Zeit.

Robby ist weggedämmert. Ich nehme seine Hand, versuche zu sprechen, ihn anzusprechen. Vielleicht hört er mich ja. Anfangen, mit irgendwas, leise, nur so. Mit den brennenden Laubhaufen im Kindheitsgarten, dem missglückten Eiersuchen an Ostern, dem Geruch der Esskastanien in der Pfanne. Ich gebe mir Mühe, Bilder zu finden, auf denen wir zusammen sind, die uns beide ausmachen. Es sind Bilder, bei denen es weniger um Erinnerungen geht, als vielmehr darum, Sätze zu finden, die anknüpfen, die etwas herstellen, die das angespannte Warten aufeinander aussetzen, das womöglich nur ich empfinde.

Wegmarken. Robby stirbt am 6. Januar 2018. Genau einen Monat hatten wir, um voneinander Abschied zu nehmen. Dreißig Tage. Nicht mehr und nicht weniger. Solange er in seinem Zimmer in Dresden lag, wusste ich, was zu tun war. Ich stieg ins Auto und fuhr zu ihm. Manchmal lag auf den Bäumen an der Autobahn Schnee, manchmal sah ich in den grauen Winterhimmel, manchmal regnete es, manchmal war Stau. Einmal hörte ich im Autoradio ein Feature über die Wüste und wie man sich in ihr zu orientieren habe. Man solle Beduinen fragen, hieß es, und lernen, die Zeichen zu lesen. Besondere Wegmarken etwa, Wasserstellen, Kamelskelette, verdorrte Baumstämme. Auch Autowracks oder alte Reifen könnten Auskunft über den richtigen Weg geben. In den vergangenen vier Wochen sah ich kein einziges Zeichen, ich hatte auch keine Ahnung, wo ich mich befand. Trotzdem kam ich da an, wo ich hinmusste, bei meinem Bruder.

Der 6. Januar 2018 ist ein Nieseltag. Mild, trübe, schlierig. Ich fahre nach Dresden, um mich von meinem Bruder zu verabschieden. Er liegt in seinem Bett und sieht schön aus. Jung, erlöst, fast körperlos. Seine Lippen sind geöffnet, als hätte er zum Abschied noch etwas fragen wollen. In den Wochen an seinem Krankenbett war es mir so vorgekommen, als hätte die Zeit die Richtung verloren. Ich saß nur da und schaute in sein Gesicht. Manchmal redete ich ein bisschen. Irgendwann öffnete er die Augen und sagte: Als Kind hatte ich es immer mit den Ohren. Oder: Unsere Schiffe kommen nicht mehr voran. Oder: Federn, ich will Federn. Oder: Im Stasihaus regnet es immerzu rein. Ich dachte an ein Orchester, das im Graben hockt, sich aber nicht mehr dazu aufraffen kann zu spielen. Nur hie und da ein Ton, eine verkleckerte Phrase, ein paar lose Enden. Dabei hatte ich nie das Gefühl, dass Robbys Sätze ohne Zusammenhang waren. Ich glaubte sogar, das Muster zu erkennen. Aber es war sein Schlussakkord. Sollte er nicht offen bleiben?

Verdrängte Sehnsucht. Wenn ich von meinen Dresden-Besuchen nachts wieder zu Hause landete, setzte ich mich an den Computer und googelte. Gab es wirklich nichts, was ihn retten konnte? Das Glioblastom ist der häufigste bösartige hirneigene Tumor. Das Glioblastom geht von der weißen Substanz aus. Ein Glioblastom wird wegen seiner Form auch Schmetterlingstumor genannt. Das Wachstum von Glioblastomen ist diffus infiltrierend. Das Glioblastom ist durch seine inhomogene und vielfältige Erscheinung gekennzeichnet. Ein Gliobastom verdoppelt alle 50 Tage seine Größe. Das Glioblastom ist äußerst schwierig zu behandeln. Das mediane Überleben bei einem Glioblastom liegt bei 14,6 Monaten. Die endgültige Heilung eines Glioblastoms ist bislang nicht möglich.

Bösartig, inhomogen, diffus, infiltrierend, äußerst schwierig. Das Einzige, was mein Kopf behielt, war das Wort Schmetterling. Ich sah Robby und mich in unserem Kindheitsgarten. Mein Bruder kam direkt aus der Biologiestunde und musste entsprechend was loswerden. Er zeigte mir die Eier, die an der alten Schlehe klebten, die Raupen und ihre Puppenruhe, dann die dicken Admirale, die gierig auf den Disteln hockten. Auf dem Boden saß ein soeben Geschlüpfter, der ganz zerzaust vor sich hinzitterte. Wir retten ihn, rief Robby und klatschte in die Hände. Ich rannte los, holte eine Schüssel Zuckerwasser und tröpfelte ihm ein bisschen was vor die Nase. Der kleine Admiral sortierte bedächtig seine Flugmaschine, tupfte seine Rüssel ins Wasser, brauchte eine Weile, flatterte auf und landete einfach bei den anderen.

Der Schmetterling im Kopf meines Bruders hatte nur neun Monate. Ich sitze an seinem Bett und gehe in Gedanken die letzten vier Wochen durch: Wie etwas in mir stoisch darauf bestand, dass das, was mit Robby war, so ausgehen würde wie bei dem kleinen Admiral. Die Ärzte konnten gar nicht anders, als das Detail zu finden, das ihn rettete. Das Unfassbare fand nicht statt. Es durfte nicht, es konnte nicht sein, es musste verhindert werden. Was ist das eigentlich?, frage ich mich. Eine Art Irrsinn? Schockstarre? Der Versuch, der Ohnmacht zu entkommen? Komplette Verleugnung? Die Angst entspricht verdrängter Sehnsucht, sagt Sigmund Freud, aber sie ist nicht dasselbe. Die Verdrängung steht auch für etwas. Wofür?

Robbys Hände sind kalt. Wie tot man immer gleich ist, wenn man tot ist. Ich zähle die Tage zurück und nenne den letzten Monat Ausnahmezustand. Und wie heißt die Zeit jetzt? Wie nennt man die Ausnahme, die zur Regel wird, weil sie es werden muss? Ich stehe auf und trete ans große Fenster, durch das mein Bruder in den letzten Wochen seinen letzten Adventshimmel gesehen hat. Der Weihnachtsbaum ist weggeräumt, an dem der Schmuck unserer Kindheit hing. Als ob sich in diesem Zimmer etwas konserviert hat, denke ich. In dieser seltsamen Anhäufung von Dingen, an denen so viele alte Gefühle kleben. Ich nehme den kleinen Mohr in die Hand, den Räuchermann aus frühesten Tagen. Ein Überbleibsel vom Advent. Dass es ihn überhaupt noch gibt, wundere ich mich. Vielleicht liegt ja in diesem Sammelsurium Robbys Wunsch, etwas zusammenzuhalten, eine Art Vergewisserung, der Stempel einer Zeit, die längst preisgegeben, von nun an nur noch sich selbst gehört.

Unverbrüchliches. Wie vertraut mir sein Körper ist. Wie mein eigener. Hinter dem Körper die Idee. Aber was soll ich hier verstehen, was nicht ohnedies da war? Jeder müsste durch seinen Tod alleinzig werden, schreibt Canetti. Wir sind also zweimal da, einzig im Leben und einzig im Tod. Doppelt alleinzig. Was nicht gerade leicht zu verkraften ist, wie ich finde. Mir fällt der Moment wieder ein, als Robby zum ersten Mal dem Tod begegnete. Er war vielleicht fünf. Es war Winter. Wir waren allein in der Wohnung, hatten uns etwas zu essen gemacht und saßen am Küchentisch. Auf einmal sah mich mein Bruder mit riesigen Augen an, sprang auf, riss nacheinander alle Türen auf, machte in jedem Zimmer das Licht an, rannte atemlos durch die Räume. Er rannte und rannte, bis er wieder vor mir stand und rief: Wer ist das, der Tod? Kommt er, um mich zu holen? Wo muss ich hin, wenn er vor mir steht? Besuchst du mich dann? Wie sein kleiner Körper zitterte, wie groß seine Angst war, wie er durch nichts zu beruhigen war.

Wie ihn loslassen jetzt? Warum? Was soll nur werden ohne dich? Schwester Rosa aus dem Brückenteam stellt sich an Robbys Kopfende, fragt, ob ich einen Kaffee will. Er atmet, sage ich und zeige auf seinen Brustkorb. Er bewegt sich. Ich sehe es doch. Er lebt. Dass er tot ist, muss ein Irrtum sein. Und sowieso ist alles falsch hier. Sie nickt milde und erklärt, er habe immer geatmet, und deshalb atme er erstmal weiter. Eine optische Täuschung, die sich erst nach ein paar Stunden gebe. Wie brutal und zivil zugleich der Tod ist, denke ich. Er lässt Robby weiteratmen, bis es jeder um ihn herum kapiert haben darf. Der Himmel vor dem Fenster, der Herrnhuter, der einfach weiterleuchtet, sein letzter Waschlappen, der kleine Mohr. Vielleicht ist der Tod ja eine Welle. Erst stirbt mein Bruder in seinem Bett, dann sein Zimmer, später das Große und Ganze auf der Straße.

Ich betrachte sein Gesicht. Tritt jetzt etwas zutage, das vorher nicht da gewesen ist? Etwas Verstecktes, Eingekerbtes? Ich sehe nichts. Alles glatt, fast ebenmäßig. Als hätte die Chemie auch seine Jahre verbrannt. Wie jung er ist. Also stirbt man einfach so, wie die Forschung weiß, und das Ganze ist nichts anderes als Zufall, die blanke Willkür. Oder gab es doch ein Momentum, das die Krise in Robbys Kopf ausgelöst hat? Wo wäre ihr Anfang? Direkte Zusammenhänge bestehen nie, sagt Ingeborg Bachmann. Also gibt es indirekte. Ich sehe den kleinen Admiral vor mir, wie er in unserem Garten seine vereierten Runden dreht, wie er sich vom Distelfeld loszueisen versucht, wie er es grad mal so bis zur ersten Lilie schafft, um wieder zurückzustürzen, nach Hause. Die Farben, die Stille, das Licht des Augenblicks sehe ich und meinen Bruder, blond, sanft, sehr zart.

Neue Szene. Die Sache mit dem Admiral gehörte uns. Das Ding mit dem Zuckerwasser gehörte uns. Dass Robby herausfand, warum der Falter Schatten mied, gehörte uns. Dass Großmutter uns erzählte, wieso die spontanen Flieger für Seele stehen und dass sie den Toten dabei helfen, mit den Lebenden zu reden, gehörte uns. Mein Bruder hatte keine Lust auf Seele. Er wollte das Schattensystem der Schmetterlinge knacken und rannte wie wild dem kleinen Admiral hinterher. Später sind wir die Treppen hoch, und er bekam seine Panik. In meinem Kopf waren die Schmetterlinge all die Jahre über das eine, der Anfall meines Bruders das andere. Sie gehörten nicht zusammen, sie hatten nichts miteinander zu tun.

Nun, an seinem Bett, schieben sich die beiden Szenen ineinander und werden zu einer. Die Szene ist neu, und sie geht so: Robby will mir unbedingt zeigen, wo der kleine Admiral am Abend schlafen geht. Wir rennen nach Hause. Wir haben Hunger. Wir setzen uns an den Küchentisch. Wir fangen an, über alles Mögliche zu reden. Ich erzähle, dass Großvater gestern gestorben ist. Otto, der Vater unserer Mutter. Es gibt keinen ersten Augenblick. Wieso bin ich mir dann so sicher, dass das hier der Anfang ist?

Dienst der Altväter

Phantasmen. Großvater, der in seinem ausgedienten Samtsessel im Wohnzimmer den Nachkrieg verdöste. Seine Pantoffeln, die graue Strickjacke, seine Hände auf der Lehne, die Hornbrille, das verschlossene Gesicht. Er war da und nicht da. Ein wortloser, eingerutschter Mann mit chronischen Magengeschwüren. Otto Grunert, Jahrgang 1905, in Meuselwitz geboren, das damals zu Sachsen gehörte. Welliges Auenland, Braunkohlewälder, jede Menge Industrie: Brikettfabriken, Eisengießereien, Stahlbau, Werkzeugmaschinen. Eine Stadt der Kesselwärter, Heizer, der Sackkarren und Biertrinker. Im Winter viel Nebel mit Schwefelgeschmack, im Sommer die zu Seen gewordenen, abgesoffenen Tagebaue, in denen man weit rausschwimmen konnte. Meuselwitz als das Phantasma der »farblosen Verwüstung«, wie Wolfgang Hilbig später schrieb, der die Stadt nie wirklich loswurde.

Otto Grunert aber verließ Meuselwitz, ging nach der Abwicklung seines insolventen Speditionsgeschäfts nach Dresden und lernte dort die gleichaltrige Elisabeth Horn aus einer verblichenen Tuchmacherdynastie kennen. Sie heirateten 1929. Neun Monate später kam das erste von acht Kindern. Ab 1932 stieg Großvater in deutschen Verwaltungsbehörden auf, zuerst im Sächsischen Finanzministerium, später im Ministerium des Innern. Eine Karriere, die mit einer stramm politischen einherging: Kreislandschule Seifersdorf, Gauführerschule Augustusburg, Rassenpolitischer Kursus Dresden. Seit dem März 1933 war er Mitglied der NSDAP. Dann Blockwart, Blockwalter, Blockleiter. Elisabeth Grunert gehörte zeitgleich zur NS-Frauenschaft. In den Personalakten hat Großvater bald schon keine Haare mehr und sieht sowieso etwas trübe aus. Ganz anders seine Frau: drahtig, hochgeschlossene Kleider, protestantisch, entschlossener Blick. Sie hat mächtig was vor. Ihr innerer Motor heißt Geld, Karriere, Absicherung, raus aus der sozialen Schicht. 1937 meldete sich Otto Grunert freiwillig zum Militär. Vier Jahre Kaserne in Dresden. Drei Wochen nach Beginn des Russlandfeldzuges, als es um die Besetzung der Verwaltung für das riesige Reichsministerium der okkupierten Ost-Gebiete ging, war er pünktlich zur Stelle. Er meldete sich zum Osteinsatz, nahm zwei Wochen Urlaub, regelte seine Abreise, fuhr in die NS-Ordensburg Falkenburg am Krössinsee in Pommern und wurde in einer Dreiwochenschulung für das Bevorstehende »in Form gebracht«, wie Helmut Lethen wohl sagen würde.

Das Bevorstehende, das Mutter noch immer unsere glücklichsten Jahre nennt. Von außen betrachtet, dürfte es dafür kein anderes Wort als Katastrophe geben. Bin ich drinnen oder draußen? Das steht außer Frage, ist aber erst später dran. Zunächst einmal begab sich Otto Grunert auf den Weg vom Krössinsee nach Riga. Ankunftstag war der letzte Augusttag 1941. Genau zwei Monate zuvor hatten die Deutschen die lettische Hauptstadt besetzt. An der Nationaloper hing eine riesige, rote Fahne mit schwarzem Hakenkreuz. Nicht nur das. Auf den Stalin-Terror folgte übergangslos der Hitler-Terror: Pogrome, mobile Kommandos, Lynchmorde, tausende Tote. Man nannte das Sommerexekutionen, die durch die Einsatzgruppe A gesteuert und in erster Linie durch lettische Hilfsverbände umgesetzt wurden. Nach den Überfällen in der Stadt wurde das große Morden in die Wälder von Bikernieki an der Ausfallstraße nach Nordosten verlegt.

Mobilitäten. Das deutsche Militär beanspruchte Riga als Versorgungsbasis und Verteilungszentrum für den nördlichen Frontabschnitt. Die Stadt sollte Lebenselixier für den Krieg, aber auch Umschlagplatz und Materiallager für Hitlers »Großraumwirtschaft« sein. Vor allem wurde es ein europäisches Schlachthaus. Als Otto Grunert Anfang September 1941 seinen Dienst beim Reichskommissar für das Ostland antrat, waren fast 30 000 Rigaer Juden ins große Ghetto in der Moskauer Vorstadt gesperrt. Nur für zwei Monate. Im ersten Massaker Ende November 1941 wurden binnen weniger Stunden 15 000 von ihnen im Wald von Rumbula exekutiert. Im zweiten, acht Tage später, am selben Ort 12 500.