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Michael Mann

Die dunkle Seite
der Demokratie

Eine Theorie der ethnischen
Säuberung

Aus dem Englischen
von Werner Roller

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-961-4

© der deutschen Ausgabe 2007 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-936096-75-0

© 2005 by Michael Mann
Translations rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency
Titel der englischen Ausgabe: »The Dark Side of Democracy.
Explaining Ethnic Cleansing«, Cambridge University Press 2005

Redaktion: Jörg Später
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras, unter Verwendung eines Ausschnitts aus
»Konstituierende Sitzung des neuen Parlaments der Republik Jugoslawien:

Blick in das Plenum«; aufgenommen am 10. 12. 1996

Copyright: ullstein bild – AP

Inhalt

Vorwort

1Das Thema

2Ethnische Säuberungen in der Geschichte

3Zwei Versionen von »Wir, das Volk«

4Genozidale Demokratien in der Neuen Welt

5Armenien, I: In die Gefahrenzone

6Armenien, II: Genozid

7Nationalsozialismus, I: Radikalisierung

8Nationalsozialismus, II: Fünfzehnhundert Täter

9Nationalsozialismus, III: Karrieren von Völkermördern

10Deutschlands Verbündete und Hilfstruppen

11Kommunistische Säuberungen: Stalin, Mao, Pol Pot

12Jugoslawien, I

13Jugoslawien, II

14Ruanda, I

15Ruanda, II

16Kontrafaktische Fälle: Indien und Indonesien

17Der Kampf gegen ethnische Säuberungen in der Welt von heute

Bibliographie

Register

Zum Autor

Vorwort

Da mein bisheriges Werk extreme menschliche Verhaltensweisen vernachlässigte, hatte ich bis zur Arbeit an diesem Buch noch nicht sehr viel über Gut und Böse nachgedacht. Wie die meisten anderen Menschen auch neigte ich dazu, beide Kategorien als Gegensätze zu betrachten und sie außerdem vom Alltagsleben abzutrennen. Jetzt, nachdem ich mich intensiv mit ethnischen Säuberungen1 beschäftigt habe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Obwohl es mir fernliegt, den moralischen Unterschied zwischen Gut und Böse zu verwischen, sind beide Kategorien in der Realität doch miteinander verbunden. Das Böse gelangt nicht von außerhalb in unsere Zivilisation hinein, aus einem von ihr zu unterscheidenden »primitiven« Bereich. Die Zivilisation selbst bringt das Böse hervor.

Wir sollten uns die Worte dreier prominenter historischer Persönlichkeiten ins Gedächtnis rufen. Der US-Präsident Thomas Jefferson gilt uns zumeist als die Verkörperung aufklärerischer Vernunft. Er berief sich in der Tat auf den Fortschritt der Zivilisation – und zwar als er die »Auslöschung« der amerikanischen Indianer rechtfertigte. Ein Jahrhundert später pflichtete ihm Präsident Theodore Roosevelt, ein anständiger, moderner Mensch, bei, als er über die Indianer sagte, deren »Auslöschung« sei »letzten Endes ebenso nützlich wie unvermeidlich« gewesen. Weitere 40 Jahre später sagte ein dritter führender Politiker: »Es ist der Fluch des Großen, dass er über Leichen schreiten muss, um neues Leben zu schaffen.«2 Dieser Mann war der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der zu Recht als die Verkörperung des Bösen gilt. Doch er und sein Führer Adolf Hitler behaupteten, sie träten nur in die Fußstapfen der Amerikaner. Ich werde in diesem Buch darlegen, dass die mörderische ethnische Säuberung ein zentrales Problem unserer Zivilisation gewesen ist, unserer Moderne, unserer Vorstellungen von Fortschritt und unserer Versuche, die Demokratie einzuführen. Sie ist unsere dunkle Seite. Wir werden sehen, dass die Vollstrecker der ethnischen Säuberung nicht als eine besondere Spezies von Übeltätern über uns kommen. Ihre Charaktere entwickeln sich im Rahmen von Konflikten, die konstitutiv für die Moderne sind, und dazu gehören auch unerwartete Eskalationen und Frustrationen, in deren Verlauf die Individuen sich zu einer Reihe ganz besonderer moralischer Entscheidungen genötigt sehen. Einige dieser Menschen wählen schließlich ganz bewusst Lebenswege, die zu schrecklichen Ergebnissen führen. Wir können sie dafür anprangern, doch es ist genauso wichtig zu verstehen, warum sie so handelten. Und wir anderen (auch ich selbst) können einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, weil wir selbst nicht zu solchen Entscheidungen gezwungen worden sind, denn viele von uns würden ebenso versagen. Die diesem Buch zugrunde liegende These lautet: Mörderische ethnische Säuberungen entstehen innerhalb unserer Zivilisation, und die meisten Täter waren uns durchaus nicht unähnlich.

Bei meinen Versuchen, diese Menschen zu verstehen, bin ich vielen anderen zu Dank verpflichtet. Diese Arbeit ist in erster Linie ein Werk der Sekundäranalyse, die sich auf bereits vorliegende Primärquellen stützt. Meine Forschungsarbeit konzentriert sich auf die Täter, nicht auf heldenhafte Widerstandskämpfer oder Opfer, deren Andenken in Ehren zu halten ist. Ich bewundere die seelische Kraft von Überlebenden, die Zeugnis von einem Grauen ablegten, das ihnen selbst widerfuhr; die Zuschauer, die sorgfältig beschrieben, was sie sahen; die Menschen, die an unabhängigen Berichten und gerichtlichen Untersuchungen beteiligt waren, und jene Gelehrten, die ihre berufliche Laufbahn dem Verständnis dessen widmeten, was da geschehen war.

In den letzten Jahren erhielt ich viele Anregungen aus den Sawyer-Seminaren über Massengewalt, die am Center for Advanced Study im Fachbereich für Verhaltenswissenschaften der Universität von Palo Alto in Kalifornien abgehalten wurden. Ich danke Norman Naimark, Ron Suny, Stephen Steadman und Bob Zajonc, meinen Mitorganisatoren, Doug McAdam, dem Direktor des Centers, sowie allen Studierenden und Gastreferenten des Seminars. Sie alle haben gedanklich zu diesem Buch beigetragen.

Besonderen Dank schulde ich Hilmar Kaiser, der mir mit seinem brillanten und doch zugleich auch mit Leidenschaft vorgetragenen Fachwissen über den Völkermord an den Armeniern neue Perspektiven eröffnete. Ich danke auch Raymond Kévorkian für die freundliche Überlassung seines bedeutenden, noch nicht publizierten Manuskripts und Ödul Bozkurt für ihre Übersetzungen aus dem Türkischen. Ian Kershaw und Michael Burleigh gilt mein Dank für zuverlässige Beratung im Forschungsprozess zum Völkermord der Nazis, Christopher Browning und George Browder danke ich für ihre kritischen Hinweise zu einer früheren Manuskriptfassung, Martin Tahany für Übersetzungen aus dem Deutschen und Peter Stamatov für Übersetzungen aus dem Ungarischen. Mark Lupher steuerte hilfreiche Einwände zu einem frühen Entwurf über kommunistische Säuberungen bei. Aleksandra Milicevic war häufig ein Korrektiv für mein Halbwissen gegenüber dem Geschehen auf dem Balkan, und ich genoss das Privileg, mit Scott Straus über dessen bemerkenswerte Forschungsarbeit in Ruanda diskutieren zu können. Patricia Ahmed half mir bei der Materialsammlung zu Indien und Indonesien. Ich danke auch David Laitin für seine nachdrückliche und hilfreiche Kritik an meinen zentralen Argumenten, befürchte aber gleichwohl, dass ihn meine Überarbeitungen immer noch nicht zufriedenstellen werden. Die UCLA bewilligte mir großzügige Forschungsmittel und stellte begabte Studenten ab. (Vier von ihnen habe ich oben namentlich genannt.) John Hall sorgte wie immer für allgemeine intellektuelle Ermutigung, während Nicky und Louise Hart sowie Gareth und Laura Mann mich im Verlauf eines derart verstörenden Forschungsprojekts bei klarem Verstand hielten.

1Der Begriff »ethnische Säuberungen« ist natürlich ein Euphemismus. Er wird aus Gründen der Lesbarkeit gleichwohl ohne Anführungszeichen verwendet.

2Zit. n. Kersten, Totenkopf, S. 150.

1
Thema und Thesen

»Die 74-jährige Batischa Hodscha saß mit ihrem 77 Jahre alten Ehemann Izet in der Küche ihres Hauses, sie wärmten sich am Ofen. Die beiden hatten Explosionen gehört, aber nicht bemerkt, dass eine serbische Einheit bereits in den Ort eingedrungen war. Plötzlich brachen fünf oder sechs Soldaten ihre Haustür auf und verlangten Auskunft: ›Wo sind eure Kinder?‹

Dann schlugen die Soldaten auf Izet ein, ›so heftig, dass er zu Boden fiel‹, berichtet sie. Sie traten ihn und verlangten dabei zugleich Geld und Informationen über den Aufenthaltsort der Söhne des Ehepaares. Izet lag immer noch auf dem Boden und sah zu ihnen hoch, und da erschossen sie ihn. ›Sie schossen ihm dreimal in die Brust‹, erinnert sich Batischa. Ihr Ehemann starb vor ihren Augen, und die Soldaten zogen ihr den Ehering vom Finger.

›Ich fühle immer noch den Schmerz‹, sagt sie. Sie schossen […] und schließlich traten sie Batischa und einen zehnjährigen Jungen, der sich bei ihnen aufhielt, und befahlen den beiden, das Haus zu verlassen.

›Ich war noch nicht einmal zum Tor hinaus, als sie das Haus anzündeten.‹ […] Die Leiche ihres Mannes lag in den Flammen. In jenem Augenblick war sie wie gelähmt. Sie stand im Regen auf der Straße, hatte ihr Zuhause und ihren Mann verloren, und alles, was sie noch besaß, waren die Kleider, die sie auf dem Leib trug. Schließlich kamen Fremde mit einem Traktor vorbei und nahmen sie in ihrem Anhänger mit. Batischas Tochter fand ihre Mutter später in einem Flüchtlingslager im Norden Albaniens.

Batischa blick zärtlich auf das einzige gemeinsame Foto mit Izet, das ihr geblieben ist, und murmelt: ›Niemand versteht, was wir gesehen und was wir erlitten haben. Gott allein weiß es.‹«1

So kam im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts eine mörderische ethnische Säuberung über einen Haushalt in Belanica, einem Dorf im Kosovo. Die Täter waren Serben, die die einheimischen Albaner mit Morden und wahlloser Zerstörung einschüchtern und zur Flucht nötigen wollten. Dann hätte das Land von Serben besetzt werden können, was, wie sie behaupteten, »unser historisches Recht« war. Inzwischen hat sich das Blatt im Kosovo gewendet. Seit 1999 vertreiben die Albaner die Serben. Heute ist der Kosovo gesäubert, aber nicht die Albaner sind vertrieben, sondern nahezu alle Serben.

Ändert man die Namen der Menschen und der Orte, hätte sich dieses Geschehen in den letzten paar Jahrhunderten nahezu überall auf der Welt abspielen können – in Australien, Indonesien, Indien, Russland, Deutschland, Irland, den Vereinigten Staaten, Brasilien. Ethnische Säuberungen sind eines der Hauptübel der modernen Geschichte. Wir wissen inzwischen, dass der Holocaust, der Massenmord an den europäischen Juden – obwohl in wesentlicher Hinsicht einzigartig –, nicht der einzige Fall von Völkermord ist. Zum Glück gibt es bis zum heutigen Tag nur wenige Fälle von Genozid, doch kennen wir auch die zahlreicheren Beispiele mörderischer ethnischer Säuberungen.

Dieses Buch bietet eine Erklärung für solche fürchterlichen Gräueltaten. In konzentrierter Form will ich diese Erklärung gleich zu Beginn in Form von acht allgemeinen Thesen darlegen. Ich hoffe, dass ich diese Thesen im Lauf des Buches belegen kann, indem ich die schlimmsten Fälle ethnischer Säuberungen – diejenigen, bei denen es zu Massenmorden kam – detailliert untersuche.

1. Die mörderische ethnische Säuberung ist ein modernes Phänomen, sie ist die dunkle Seite der Demokratie. Ich will gleich zu Beginn klarstellen, dass ich nicht behaupte, Demokratien griffen routinemäßig zu mörderischen Säuberungen. Nur wenige von ihnen haben so gehandelt. Ich lehne auch die Demokratie als politisches Ideal nicht ab – im Gegenteil. Zur Demokratie gehörte jedoch stets auch die Möglichkeit, dass die Mehrheit die Minderheit tyrannisiert, und diese Möglichkeit schließt in bestimmten, multiethnisch geprägten Lebenszusammenhängen unheilvolle Konsequenzen mit ein.

Diese These besteht aus zwei Teilen, die sich jeweils auf die Moderne und die Demokratie beziehen. Ethnische Säuberungen sind ein im Wesentlichen modernes Phänomen. In der Epoche der Moderne kommen sie häufiger und mit tödlicheren Konsequenzen vor als in früheren Zeiten, obwohl sie auch hier nicht unbekannt – und zwischen den sehr kleinen Gruppen, die die Vor- und Frühgeschichte der Menschheit prägten, möglicherweise üblich – waren. Der Blutzoll, den ethnische Konflikte des 20. Jahrhunderts mit (nach einer groben Schätzung) mehr als 70 Millionen Toten forderten, stellte das Geschehen der vorhergehenden Jahrhunderte in den Schatten. Außerdem erklärte die konventionelle Kriegführung in zunehmendem Maße ganze Völker zu Feinden. Noch im Ersten Weltkrieg lag der Anteil der getöteten Zivilisten an den Opfern bei unter zehn Prozent, im Zweiten Weltkrieg dann bereits bei über 50 Prozent und in den 1990er Jahren bei über 80 Prozent. Bürgerkriege, die meist von ethnischen Konflikten ausgelöst wurden, traten jetzt als Haupttodesursache an die Stelle der Kriege zwischen Staaten. Ihnen fielen möglicherweise bis zu 20 Millionen Menschen zum Opfer.2 Ethnische und religiöse Konflikte schwelen zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches (2003) nach wie vor in Nordirland, dem Baskenland, auf Zypern, in Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien, Algerien, in der Türkei, in Israel, im Irak, in Tschetschenien, Aserbaidschan, Afghanistan, Pakistan und Indien, auf Sri Lanka, in Kaschmir, Burma, Tibet, in der chinesischen Provinz Xinjiang, auf den Fidschi-Inseln, im Süden der Philippinen, auf mehreren Inseln Indonesiens, in Bolivien, Peru, Mexiko, im Sudan, in Somalia, Senegal, Uganda, Sierra Leone, Liberia, Nigeria, im Kongo, in Ruanda und Burundi. In mehr als der Hälfte dieser Konfliktgebiete kommt es zu einer hohen Zahl von Mordtaten. Während Sie diese Zeilen lesen, kommt es bei einem dieser Konflikte möglicherweise zu einem Ausbruch der Gewalt, über den im Fernsehen oder in den Zeitungen auch berichtet wird, während verschiedenen anderen Eruptionen der Gewalt kein Nachrichtenwert zugebilligt wird. Das 20. Jahrhundert war schlimm genug. Das 21. Jahrhundert wird vielleicht noch schlimmer.

Das Chaos und die Zerstörungen des 11. September 2001 und der dadurch ausgelöste »Krieg gegen den Terror« haben das Grauen mörderischer ethnischer und religiöser Konflikte im Bewusstsein der ganzen Welt verankert. Besonders nachhaltig wirkten sie in den wohlhabenden Ländern des Nordens, die von solchen Dingen ein halbes Jahrhundert lang verschont geblieben waren. Weder die Anschläge vom 11. September noch die Vergeltungsangriffe auf Afghanistan und den Irak hatten eine ethnische Säuberung zum Ziel, doch sie wurden sofort mit ethnisch-religiösen Konflikten verbunden, bei denen es auch um Säuberungen geht, den Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern, sunnitischen und schiitischen Muslimen, Irakern und Kurden, Russen und Tschetschenen, Muslimen und Hindus in Kaschmir und zwischen verschiedenen afghanischen Stämmen. Einige dieser Konflikte scheinen die Außenpolitik der Großmächte in wesentlichen Punkten zu bestimmen.

Die mörderische ethnische Säuberung ist deshalb – zu unserem Unglück – nichts Primitives oder Fremdes. Sie ist ein Teil unserer Zivilisation und unseres eigenen Selbst. Die meisten Menschen sagen, dies sei dem weltweiten Aufstieg des Nationalismus zuzuschreiben, und das ist wahr. Doch der Nationalismus wird nur dann sehr gefährlich, wenn er politisiert wird, wenn er für die Perversion des modernen Strebens nach Demokratie im Nationalstaat steht. Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Doch in der Moderne hat der Begriff das Volk zwei verschiedene Bedeutungen erlangt. Die erste steht für das, was die Griechen mit ihrem Wort demos meinten: die einfachen Leute, die Masse der Bevölkerung. Also steht Demokratie hier für die Herrschaft der einfachen Leute, der Masse der Bevölkerung. Doch in unserer Zivilisation wird das Volk auch mit dem Begriff der »Nation« oder mit ethnos, einem anderen griechischen Wort, das eine ethnische Gruppe bezeichnet, verbunden – gemeint ist ein Volk, das über eine gemeinsame Kultur und ein gemeinsames Kulturerbe verfügt und sich dadurch von anderen Völkern unterscheidet. Wenn jedoch das Volk in seinem eigenen Nationalstaat herrscht und außerdem durch ethnische Kriterien definiert ist, kann seine ethnische Einheit die Oberhand über die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Bevölkerungsgruppen gewinnen, die für die Demokratie konstitutiv sind. Wenn ein solches Volk herrschen soll, was soll dann mit den Angehörigen anderer Ethnien geschehen? Die Antworten fielen häufig unangenehm aus, vor allem, wenn eine ethnische Gruppe eine Mehrheit bildet, denn dann kann sie »demokratisch«, aber auch tyrannisch herrschen.

Ich erläutere diese erste These durch einige Subthesen.

1a. Mörderische ethnische Säuberungen geschahen nicht zufällig im Zeitalter der Demokratie, denn inmitten der ethnischen Vielfalt verband die Idealvorstellung von der Volksherrschaft allmählich das demos mit dem dominanten ethnos, und dies wiederum erzeugte organische Vorstellungen von Nation und Staat, die zur ethnisch motivierten Säuberung dieses Staates von Minderheiten ermutigten. Später wurden dann auch sozialistische Vorstellungen von Demokratie pervertiert, weil das demos sich mit dem Begriff des Proletariats verband, mit der Arbeiterklasse, die Druck ausübte, um andere Klassen zu beseitigen. Demokratische Ideale konnten sich also in mörderische Säuberungsbewegungen verwandeln.

1b. Siedlerdemokratien in modernen Kolonien verhielten sich in bestimmten Kontexten ausgesprochen mörderisch, schlimmer als die vorgehenden Kolonialregierungen, die doch eigentlich autoritärer regiert hatten. Je fester die Kontrolle kolonialer Institutionen durch die Siedler, desto mörderischer die Säuberung. In diesem Zusammenhang habe ich die direkteste Verbindung zwischen demokratischen Regierungsformen und Massenmord gefunden.

1c. Regime, die erst vor kurzem eine Demokratisierung eingeleitet haben, machen sich leichter mörderischer ethnischer Säuberungen schuldig als stabile autoritäre Regime.3 Wenn autoritäre Regime in einem multiethnisch geprägten Staat an Einfluss verlieren, verbinden sich demos und ethnos mit großer Wahrscheinlichkeit. Stabile autoritäre Regime dagegen neigen in solchen Kontexten zu einer Herrschaft nach dem Teile-und-herrsche-Prinzip. Deshalb suchen sie nach einem Ausgleich zwischen den Forderungen der mächtigen Interessengruppen, einschließlich der ethnischen. Einige äußerst autoritäre Regime weichen jedoch von dieser Linie ab. Sie mobilisieren majoritäre Gruppen zu einem Massenparteistaat, der seinerseits das Volk gegen »feindliche« Minderheiten aufwiegelt. Das nationalsozialistische Regime und die kommunistischen Regime waren keine Demokratien, sondern Diktaturen, obwohl sie sich aus scheinbar zur Demokratisierung führenden Kontexten entwickelten, die sie dann für die eigenen Bestrebungen ausnützten. Sie mobilisierten das Volk als ethnos oder als Proletariat. Sie sind partielle Ausnahmen von dieser Subthese.

1d. Stabile, institutionalisierte Demokratien neigen im Vergleich zu sich demokratisierenden oder autoritären Regimen weniger dazu, zum Mittel der mörderischen Säuberung zu greifen. In diesen Ländern sind nicht nur Wahlen und das Prinzip der Mehrheitsherrschaft, sondern auch verfassungsrechtliche Garantien für Minderheiten fest verankert. Doch in der Vergangenheit waren diese Nationen nicht so tugendhaft. Die meisten von ihnen praktizierten so viele ethnische Säuberungen, dass heute eine weitgehend monoethnische Bevölkerungsstruktur erreicht ist. In der Vergangenheit schritten Säuberungen und Demokratisierung Hand in Hand voran. Auf der Grundlage ethnischer Säuberungen entstanden liberale Demokratien, doch außerhalb der Kolonien geschah dies in Form institutionalisierten Zwangs und nicht durch Massenmord.

1e. Regime, die tatsächlich zu mörderischen Säuberungen greifen, sind niemals demokratisch, denn so etwas wäre ein Widerspruch in sich selbst. Diese Subthesen gelten deshalb für die frühen Phasen der Eskalation ethnischer Konflikte. Mit dem Fortschreiten der Eskalation treten alle Täterregime tatsächlich immer undemokratischer auf. Die dunkle Seite der Demokratie ist eine mit der Zeit voranschreitende Perversion der demokratischen Ideale, mögen sie nun liberal oder sozialistisch sein.

Angesichts dieser komplexen Zusammenhänge werden wir in der heutigen Welt keine allgemeingültigen Bezüge zwischen Demokratie und ethnischen Säuberungen finden.4 Doch ich strebe keine statisch-vergleichende, sondern eine historische und dynamische Analyse an: Zu mörderischen Säuberungen kam es auf der ganzen Welt, zeitgleich mit Modernisierung und Demokratisierung. In der Vergangenheit spielten sie sich vor allem unter Europäern ab, die auch den demokratisch verfassten Nationalstaat erfanden. Die von Europäern bewohnten Länder sind mittlerweile stabile Demokratien, doch die meisten von ihnen wurden zuvor ethnisch gesäubert. Inzwischen hat sich das Epizentrum der Säuberungen auf die südliche Halbkugel verlagert. Solange die Menschheit keine Gegenmaßnahmen ergreift, wird sich das Phänomen weiter ausbreiten, bis die Welt von – hoffentlich nicht ethnisch gesäuberten – Demokratien beherrscht wird. Dann wird sich die Lage entspannen. Wenn wir aber wollen, dass sich die Lage weltweit schneller entspannt, müssen wir heute schon die dunkle Seite der Demokratie unverstellt in den Blick nehmen.

2. Ethnische Feindseligkeiten entwickeln sich dort, wo Ethnizität der Klassenzugehörigkeit als wichtigstes Kriterium der sozialen Schichtung den Rang abläuft, im Verlauf dieser Entwicklung klassenähnliche Gefühle aufnimmt und in Richtung eines Ethnonationalismus kanalisiert. Ethnische Säuberungen waren in der Vergangenheit selten, weil die meisten historisch bedeutsamen Reiche Klassengesellschaften waren. Sie wurden von Aristokratien oder anderen zahlenmäßig kleinen Oligarchien dominiert, die nur selten mit den einfachen Leuten eine gemeinsame Kultur oder eine ethnische Identität teilten. Vielmehr verachteten sie diese Leute und sahen sie häufig kaum als Menschen an. Die Menschen überschritten die von der Klassenzugehörigkeit gesetzten Grenzen nicht – sie war wichtiger als die Ethnie.

Selbst moderne Gesellschaften wurden von klassenspezifischer Politik dominiert. Liberale, repräsentativ organisierte Staaten traten zunächst als eine Möglichkeit in Erscheinung, Klassenkonflikte beizulegen. Damit verband sich auch ein pluralistisches Verständnis von Volk und Nation. Diese Staaten tolerierten ethnische Vielfalt in einem gewissen Umfang. Dort, wo der moderne Kampf um die Demokratie aber ein ganzes Volk in den Kampf gegen als Fremde definierte Herrscher mit einbezog, entwickelte sich in diesem Volk ein Gefühl für ethnische Zugehörigkeit, das sich oft mit klassenspezifischen Ressentiments verband. Das Volk wurde als proletarische Nation empfunden, das sich in der Auseinandersetzung mit der Oberschicht zugehörigen imperialen Nationen für grundlegende demokratische Rechte einsetzte, während der Gegner behauptete, seinen rückständigen Völkern bloß die Zivilisation zu bringen. Die Palästinenser zum Beispiel schlagen heute einen derart proletarischen Tonfall an und zeichnen Israel als ausbeuterischen und kolonialen Unterdrücker, der vom amerikanischen Imperialismus unterstützt werde, während die Israelis und Amerikaner behaupten, sie verteidigten die Zivilisation gegen primitive Terroristen. Die Argumente ähneln denen der verfeindeten Klassen früherer Zeiten.

Ethnische Unterschiede verbinden sich mit anderen sozialen Unterschieden, in erster Linie mit Schichtzugehörigkeit, regionaler Zugehörigkeit und Geschlecht. Der Ethnonationalismus ist dort am stärksten, wo er auf andere Gefühle des Ausgebeutetwerdens übergreifen kann. Das schwerwiegendste Defizit aktueller Publikationen zum Ethnonationalismus ist die nahezu vollständige Vernachlässigung der Beziehungen zwischen den sozialen Schichten.5 Andere Autoren betrachten fälschlicherweise die soziale Schicht als materielle, die Ethnie als emotionale Kategorie.6 Das reproduziert spiegelbildlich den Fehler früherer Autorengenerationen, die annahmen, die Konflikte zwischen den sozialen Schichten dominierten, und deshalb ethnische Auseinandersetzungen ignorierten. In Wirklichkeit beeinflussen sich diese beiden Konfliktquellen wechselseitig. Die Palästinenser, Dayak, Hutu und andere Völker glauben, dass sie materiell ausgebeutet werden. Bolschewisten und Maoisten glaubten, die Grundbesitzer- und Kulakenklasse beuteten die Nation aus. Man darf weder die Ethnie noch die soziale Schicht vernachlässigen. Mitunter wird das eine oder das andere Element dominieren, doch dies schließt stets die Übernahme oder Kanalisierung des anderen mit ein. Dasselbe gilt für geschlechtsspezifische Fragen und für regionale Gefühlslagen.

Mörderische Säuberungen kommen in der Tat dort nicht vor, wo rivalisierende ethnische Gruppen getrennt, aber gleichberechtigt sind. Einfache Unterschiede bringen nicht notwendigerweise große Konflikte hervor. Nicht die Unterschiede zwischen Christen und Muslimen sorgen für Probleme, sondern Kontexte, in denen sich die Muslime durch Christen unterdrückt fühlen (oder umgekehrt). Die Afrikaner hätten nicht aufbegehrt, wenn Südafrika seinem eigenen Apartheid-Anspruch genügt und für eine getrennte, aber gleiche Entwicklung der Rassen gesorgt hätte. Doch die Afrikaner revoltierten, weil die Apartheid ein Schwindel war, der die rassistische Ausbeutung der Afrikaner durch die Weißen legitimierte. Zu ernsthaften ethnischen Konflikten kommt es, wenn eine ethnische Gruppe im Umgang mit der anderen als ausbeuterisch empfunden wird. Im Gegenzug wird der imperiale Unterdrücker mit rechtschaffener Empörung auf die Bedrohung reagieren, der sich seine »Zivilisation« durch den »Primitivismus« ausgesetzt sieht – wie das auch andere Oberschichten stets getan haben, wenn sie sich einer drohenden Revolution gegenübersahen.

3. Eine mörderische ethnische Säuberung droht, wenn a) Bewegungen, die für sich in Anspruch nehmen, zwei alteingesessene ethnische Gruppen zu vertreten, jeweils Anspruch auf das Staatsgebiet insgesamt oder auf Teile des Territoriums erheben und b) dieser Anspruch in ihren Augen deutlich legitimiert erscheint und eine reelle Chance auf Durchsetzung hat. Nahezu alle historischen Fälle ethnischer Säuberungen sind bi-ethnisch angelegt, wobei beide Gruppen jeweils recht machtvoll erscheinen und rivalisierende Ansprüche auf politische Souveränität sich auf ein ziemlich altes Gespür für ethnische Unterschiede stützen – wenn auch nicht auf etwas, was gemeinhin als uralter überlieferter Hass bezeichnet wird. Fortdauernde rivalisierende Ansprüche auf politische Souveränität verstärken die Empfindung ethnischer Unterschiede und lassen sie zu schwerem Hass anschwellen, der in Säuberungsbestrebungen umschlagen kann. Ich unterscheide vier charakteristische Hauptquellen sozialer Macht: ideologische, ökonomische, militärische und politische Quellen. Mörderische ethnische Konflikte betreffen in erster Linie politische Machtbeziehungen, obwohl sie in ihrer Entwicklung auch ideologische, ökonomische und schließlich auch militärische Machtbeziehungen einschließen. Ich gebe hier eine in wesentlichen Zügen politische Erklärung für ethnische Säuberungen.

4. Eine Gesellschaft steht unmittelbar vor einer mörderischen ethnischen Säuberung, wenn sich eines der beiden folgenden alternativen Szenarien entwickelt. a) Die schwächere Seite wird ermutigt zu kämpfen, anstatt sich zu unterwerfen (denn Unterwerfung reduziert das tödliche Konfliktpotenzial), weil sie glaubt, dass von außen Hilfe kommen wird – meist von einem Nachbarland, das vielleicht das Heimatland dieser Volksgruppe ist.7 Bei diesem Szenario erheben beide Seiten einen politischen Anspruch auf dasselbe Territorium, und beide Seiten gehen davon aus, dass sie die Ressourcen haben, mit denen sich dieser Anspruch auch durchsetzen lässt. So war das beispielsweise in Jugoslawien, Ruanda, Kaschmir und Tschetschenien. b) Die stärkere Seite wähnt sich im Besitz solch überwältigender militärischer Macht und ideologischer Legitimation, dass sie ihren eigenen, gesäuberten Staat mit einem geringen physischen und moralischen Risiko für sich selbst durchsetzen kann. So verhielt es sich im Fall kolonialer Siedlungen, zum Beispiel in Nordamerika, Australien und Tscherkessien. Im Schicksal der Armenier kamen diese beiden Szenarien zusammen, denn die dominante türkische Seite glaubte, sie müsse zuerst zuschlagen, um die schwächere armenische an einem Bündnis mit sehr viel bedrohlicheren Kräften von außerhalb zu hindern. All diese fürchterlichen Eventualitäten wurden durch die Interaktion zwischen den beiden Seiten erzeugt. Wir können eine solche Eskalation nicht nur mit den Handlungen oder Überzeugungen der Täter erklären. Wir müssen auch die Interaktionen zwischen den Tätern und den Opfergruppen untersuchen – zumeist auch die mit weiteren Gruppen, denn nur wenige bi-ethnische Situationen führen zu mörderischen Säuberungen. Eine oder beide Seiten muss/müssen sich zuerst dafür entscheiden zu kämpfen, anstatt zu versöhnen oder zu politischen Manövern zu greifen, und diese Wahl ist ungewöhnlich.

5. Zum entscheidenden Schritt in Richtung auf eine mörderische ethnische Säuberung kommt es dort, wo der Staat, der die Souveränität über das umstrittene Gebiet ausübt, inmitten einer instabilen geopolitischen Umgebung, meist eines Krieges, in einzelne sich radikalisierende Splittergruppen zerfallen ist. In solchen Krisen fordern Radikale eine härtere Behandlung der von ihnen wahrgenommenen ethnischen Feinde. Dort, wo ethnische Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen schon relativ lange bestehen, sind sie zumeist in gewisser Weise ritualisiert, laufen zyklisch ab und sind beherrschbar. Zu wirklich mörderischen Säuberungen kommt es dagegen unerwartet, ursprünglich auch unbeabsichtigt, sie entwickeln sich aus Krisen ohne Bezug zum Ausgangskonflikt, etwa aus einem Krieg. Im Gegensatz dazu scheinen selbst schwere ethnische Spannungen und Gewaltausbrüche in Fällen, in denen Staaten und die geopolitische Situation stabil bleiben, zyklisch, beherrschbar und weniger gewaltsam zu verlaufen. Dort jedoch, wo politische Institutionen instabil und vom Krieg beeinträchtigt sind, kann die Gewalt zum Massenmord werden.8

Es gibt verschiedene Formen politischer Instabilität. Einige Staaten zerfielen geographisch und politisch (wie der Hutu-Staat in Ruanda); andere wiederum waren erobert und aufs Neue konsolidiert worden. In einigen ganz neuen Staaten fiel diese Konsolidierung sehr ungleich aus (etwa in Bosnien-Herzegowina und Kroatien). Doch diese Staaten, ob nun demokratisch oder autoritär verfasst, waren instabil und ohne inneren Zusammenhalt. Kaum einmal war einer der gescheiterten Staaten betroffen, die nach der Analyse von Politikwissenschaftlern mit größter Wahrscheinlichkeit Bürgerkriege hervorbringen (der Kongo zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine Ausnahme). Die mörderischsten Phasen von ethnischen Säuberungen werden zumeist von Staaten gesteuert, denn ein solches Vorgehen erfordert einen gewissen staatlichen Zusammenhalt und die damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten.

6. Eine mörderische Säuberung liegt nur selten von Anfang an in der Absicht der Täter. Auf böse Geister, die von Anfang an den Massenmord planten, stößt man nur selten. Nicht einmal Hitler ging so vor. Die mörderische Säuberung ist typischerweise eine Art von Plan C, der erst entwickelt wird, wenn die beiden ersten Reaktionsweisen auf eine vermeintliche ethnische Bedrohung sich als Fehlschlag erweisen. Plan A sieht zumeist eine sorgfältig geplante Lösung vor, die entweder als Kompromiss oder als direkte Unterdrückung daherkommt. Plan B ist dann eine auf radikalere Art und Weise unterdrückerisch vorgehende Überarbeitung, die auf den Fehlschlag von Plan A folgt; er ist hastiger erarbeitet und steht im Kontext sich steigernder Gewalttaten und einer gewissen politischen Destabilisierung. Wenn diese beiden Pläne nicht greifen, gehen einige der politischen Planer noch weiter. Wir müssen die unbeabsichtigten Konsequenzen einer ganzen Reihe von Interaktionen analysieren, die für diese Eskalation sorgen, wenn wir die Ergebnisse verstehen wollen. Diese aufeinanderfolgenden Pläne mögen sowohl logische als auch eher kontingente Eskalationen beinhalten. Die Täter mögen von einem recht frühen Zeitpunkt an ideologisch darauf festgelegt sein, die unerwünschte ethnische »Outgroup«, die von ihnen dominierte Gruppe, loszuwerden, und wenn sanftere Methoden erfolglos bleiben, dann scheinen sie fast unweigerlich mit großer Entschlossenheit eine Eskalation zu betreiben, um alle Widerstände durch immer radikalere Mittel zu überwinden. So war das bei Hitler und seinen Myrmidonen: Die »Endlösung der Judenfrage« scheint sehr viel weniger ein Unfall als die logische Eskalation einer Ideologie zu sein, die rücksichtslos alle Hindernisse beseitigte, die sich ihr in den Weg stellten. Aus der Sicht der Jungtürken jedoch scheint die Behandlung der Armenier sehr viel kontingenter zu sein, sie entsprang dem, was sie im Jahr 1915 als eine plötzlich entstandene, verzweifelte Lage empfanden.

Wenn ich die Intentionalität politischen Handelns auf solche Art relativiere, ist dies in moralischer Hinsicht sicherlich unbefriedigend, und ich gerate häufig in Streit mit Menschen, die im Namen der Opfer sprechen. Der Völkermord an den Juden, den Armeniern und den Tutsi, an einigen kolonisierten eingeborenen wie auch an anderen Völkern war wohlüberlegt. Die Beweislage ist erdrückend. Doch die überlebenden Opfer neigen dazu, den Vorsatz im Handeln ihrer Unterdrücker zu stark zu betonen. Dies rührt vielleicht in erster Linie aus der Notwendigkeit her, ihren Leiden eine Bedeutung zu verleihen. Was könnte schlimmer sein, als solche extremen Leiden als rein zufällig empfinden zu müssen? Gloucester sagt in König Lear: »As flies to wanton boys / are we to the gods.« (Was Fliegen sind / Den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern.)

Ich halte dies für eine reizvolle Theorie der menschlichen Gesellschaft, zweifle aber daran, dass allzu viele Opfer diese Auffassung teilen. Ich behaupte auch gar nicht, dass mörderische Säuberungen ein zufälliges Geschehen sind, sondern stelle nur fest, dass sie ein sehr viel komplexeres und kontingenteres Geschehen sind, als die Theorien erfassen können, die sich an Schuldzuweisungen orientieren. Letzten Endes wird eine Säuberung wohlüberlegt ausgeführt, doch zu dem Punkt, an dem kühle Überlegung einsetzt, führt meist ein verschlungener Pfad.

7. Es gibt drei Ebenen der Täterschaft: a) radikale Eliten, die einen Einparteistaat beherrschen, b) militante Gruppen, aus denen sich gewalttätige Milizen entwickeln, sowie c) eine treue Anhängerschaft, aus der zwar nicht mehrheitliche, aber doch massenhafte Unterstützung aus der Mitte des Volkes kommt. Man benötigt alle drei für eine mörderische Säuberung. Wir können die Schuld nicht einfach böswilligen Anführern oder ethnischen Gruppen insgesamt zuschieben. Eine solche Denkweise würde die politischen Führer mit magisch-manipulativen Kräften oder ganze Völker mit einer ganz außerordentlichen Zielstrebigkeit ausstatten. Beide Annahmen widersprechen allem, was die Soziologen über die Beschaffenheit menschlicher Gesellschaften wissen. In allen von mir untersuchten Fällen sind bestimmte Eliten, militante Personen und treue Anhängerschaften auf eine recht vielschichtige Art miteinander verbunden, woraus sich soziale Bewegungen entwickeln, die (wie andere soziale Bewegungen auch) weltliche Machtbeziehungen verkörpern. Macht wird auf drei typische Arten ausgeübt: durch Eliten von oben nach unten, durch öffentlichen Druck von unten nach oben, auf horizontaler Ebene und unter Anwendung von Zwangsmitteln durch Milizen. Diese verschiedenen Arten des Drucks interagieren und schaffen so alltägliche Beziehungen, die sich in allen sozialen Bewegungen finden. In erster Linie sind hier zu nennen: Hierarchie, Kameradschaft und Karriere. Dies hat einen starken Einfluss auf die Motive der Täter.

Die Bedeutung der treuen Anhängerschaft zeigt uns, dass mörderische Säuberungen in einem Umfeld prächtig gedeihen, das Nationalismus, staatlichen Dirigismus und Gewalt miteinander verbindet. Die wichtigsten in diesem Zusammenhang zu nennenden Personengruppen sind: Menschen, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit aus ihrer Heimat fliehen mussten, sowie Menschen aus gefährdeten Grenzregionen; Menschen, die für ihren Lebensunterhalt und zur Bewahrung ihrer Werte stärker auf den Staat angewiesen sind; Menschen, die außerhalb der wichtigsten Bereiche der Volkswirtschaft, in denen Klassenkonflikte entstehen, leben und arbeiten (außerhalb der Bereiche also, in denen Klassenkonfliktmodelle eine größere Rolle spielen als ethnonationalistische Erklärungen); Menschen, die in ihrer Sozialisation physische Gewalt als eine Möglichkeit erlebt haben, mit der soziale Probleme zu lösen oder der persönliche Aufstieg zu befördern sind, zum Beispiel Soldaten, Polizisten, Kriminelle, Hooligans und Leistungssportler; und schließlich Menschen, die der Ideologie des Machismo huldigen – junge Männer, die in dieser Welt nach Bestätigung suchen und dabei oft von älteren Männern angeführt werden, die ihrerseits als Jugendliche in einer früheren Phase der Gewalttätigkeit sozialisiert wurden. Hauptachsen der Stratifikation bei ethnischen Säuberungen sind deshalb die Region, der wirtschaftliche Tätigkeitsbereich sowie Geschlecht und Alter der handelnden Personen. Radikale ethnonationalistische Bewegungen neigen unverändert zu einer normalen Klassenstruktur: Die Anführer kommen aus der Ober- und der Mittelschicht, die einfachen Mitglieder aus den unteren Schichten, und das wirklich schmutzige Geschäft wird häufig von der Arbeiterklasse erledigt. Ich untersuche die Motive, die Karrieren und die Interaktionen all dieser Gruppen.

8. Schließlich werden ganz normale Menschen durch normale gesellschaftliche Strukturen dazu gebracht, mörderische ethnische Säuberungen zu begehen, und ihre Motive sind von sehr profaner Art. Wenn wir ethnische Säuberungen verstehen wollen, ist eine Soziologie der Macht wichtiger als eine spezielle Psychologie der Täter, die sie als gestörte oder psychotische Menschen diagnostiziert – obwohl einige von ihnen durchaus in diese Kategorien fallen mögen.9

Auch Sie oder ich könnten aktiv an einer mörderischen ethnischen Säuberung teilnehmen, falls wir in vergleichbare Situationen und in ein ähnliches soziales Umfeld gerieten. Keine ethnische Gruppe oder Nation ist dagegen immun. Viele Amerikaner und Australier begingen in der Vergangenheit mörderische Säuberungen; einige Juden und Armenier – Angehörige der am schrecklichsten gequälten Völker des 20. Jahrhunderts – haben in jüngerer Vergangenheit Gräueltaten gegen Palästinenser und Aseris begangen (und umgekehrt gehören auch einige Mitglieder dieser Opfergruppen ebenfalls zu den Tätern). Es gibt keine tugendhaften Völker. Religionen neigen dazu, die in allen Menschen wirksame Erbsünde zu betonen, die Fähigkeit des Menschen, Böses zu tun. Und wir sind wirklich fast alle fähig, solche bösen Taten zu begehen – wenn wir nur unter den entsprechenden Begleitumständen in der entsprechenden politisierten Anhängerschar leben –, und so etwas vielleicht sogar mit Freuden zu tun. Doch die Erbsünde wäre eine unzureichende Erklärung für solches Handeln, denn unsere Fähigkeit, Böses zu tun, kommt nur unter Begleitumständen zum Vorschein, die in diesem Buch erläutert werden. Im Fall ethnischer Säuberungen sind die Umstände weniger primitiv oder uralt als vielmehr modern. Der Moderne wohnt etwas inne, das dieses besondere Böse als Massenphänomen freisetzt.

Mit Blick auf die Besonderheit von historischen Gesellschaften können meine Thesen nicht als wissenschaftliche Gesetze gelten. Sie passen nicht einmal lückenlos zu allen meinen Fallstudien. Der Völkermord der Nationalsozialisten passt zum Beispiel nicht gut zur 3. These, denn die Juden beanspruchten nicht die Souveränität über irgendeinen Teil Deutschlands. Im 7. Kapitel biete ich eine modifizierte, indirekte Version der 3. These, nach der die Juden von deutschen Ethnonationalisten als potenzielle Verschwörer wahrgenommen wurden, die in die Ansprüche anderer Gruppen auf politische Souveränität verwickelt waren (vor allem als sogenannte »jüdische Bolschewisten«). In jedem einzelnen Fall untersuche ich, inwieweit meine Thesen zutreffen, und weise auf notwendige Differenzierungen und Modifikationen hin. Die Kapitel 2 und 3 bieten eine kurze Geschichte ethnischer Säuberungen vom Altertum bis zur Gegenwart. Sie zeigen, dass ethnische Säuberungen ursprünglich recht selten waren, doch in der Welt der Europäer schließlich endemisch wurden, zunächst auf eine relativ milde Art und Weise, die den Klassenkonflikten untergeordnet blieb. Massenmord ist während des größten Teils der menschlichen Geschichte ein allgegenwärtiges, wenn auch seltenes Geschehen gewesen. Doch Mord in der Absicht, ein ganzes Volk zu beseitigen (die Welt von ihm zu »säubern«), war in früheren Jahrhunderten selten. Erst mit dem Aufstieg von Heilsreligionen und mit dem Aufstieg der Volksherrschaft wird die Lage gefährlicher. Den empirischen Kernbestand dieses Buches bilden dann eine Reihe von Studien zu den schlimmsten Ausbrüchen mörderischer Säuberungen in der Moderne. In all diesen Fällen beginne ich mit den allgemeinsten Gründen für die Entstehung von Gefahrenzonen, gehe dann zu Ereignissen über, die die Situation rasch über den kritischen Punkt hinaustrieben, und beschreibe schließlich das faktische Geschehen und die Täter der mörderischen Säuberung.

Meine Analyse muss sich mit zwei methodischen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Mörderische Säuberungen sind glücklicherweise selten. Wie können wir angesichts so weniger Fälle zu verallgemeinernden Erkenntnissen kommen? Könnten nicht die Gründe in jedem einzelnen Fall einzigartig sein? In einem gewissen Umfang trifft dies auch zu. Die Nationalsozialisten und ihr Hass auf die Juden waren einzigartig. Dasselbe gilt für die Situation der Hutu und Tutsi in Ruanda, die im ganzen Land in gemischten Gemeinschaften leben und sich deshalb auch nicht auf ein jeweils eigenes Stammland zurückziehen können. All diese Fälle weisen Besonderheiten auf. Nur diese Fälle zu berücksichtigen, würde wiederum bedeuten, ausschließlich über Vorgänge zu berichten, die bis zum Massenmord eskalieren, und die zahlreicheren Fälle, in denen die ethnischen Spannungen entschärft werden, zu ignorieren. Dies entspräche einer Vorgehensweise, die Sozialwissenschaftler als »Stichproben zur abhängigen Variable« bezeichnen. Deshalb nimmt das 16. Kapitel die gegenwärtigen Verhältnisse in Indien und Indonesien in den Blick, um zu zeigen, warum verschiedene ethnische Rivalitäten zu unterschiedlichen Graden der Gewaltausübung führen. Das 17. Kapitel fasst schließlich meine Thesen zusammen und untersucht aktuelle Tendenzen in der Welt von heute.

Wichtige Begriffe: Ethnie, Nation, ethnische Säuberung

»Ethnie« ist kein objektiver Begriff. Ethnische Gruppen werden normalerweise als Gruppen beschrieben, die über eine gemeinsame Kultur und Herkunft verfügen. Doch »Kultur« ist nur vage definiert und die Abstammung von Menschen normalerweise fiktiv. Eine gemeinsame Kultur mag sich auf ein relativ präzise zu fassendes Charakteristikum beschränken, zum Beispiel auf eine gemeinsame Religion oder Sprache. Sie kann sich aber auch bloß auf den Anspruch beziehen, man habe einen bestimmten Lebensstil gemeinsam – auf einen Anspruch, der nicht präzise definiert werden kann. Die gemeinsame Abstammung ist bei jeder Gruppe, die größer ist als ein Clan oder eine direkt nachvollziehbare Abstammungslinie (die ich im Folgenden als Mikro-Ethnie bezeichnen werde), ein Mythos. Künftige DNA-Analysen werden möglicherweise zeigen, dass relativ immobile Populationen erhebliche Übereinstimmungen in ihrem Erbgut aufweisen, doch bei den meisten großen Bevölkerungsgruppen, die sich als ethnische Körperschaft verstehen, wird dies nicht zutreffen. Menschen, die sich selbst als Serben oder Deutsche oder Schotten bezeichnen, stammen vielmehr von vielen kleineren Herkunftsgruppen ab, die im Land herumgezogen sind und in Nachbargruppen eingeheiratet haben. Das Postulat einer gemeinsamen Körperschaft, die große Bevölkerungsgruppen verbinde, vereinigt in Wirklichkeit nur zahlreiche unterschiedliche Herkunftsgruppen. Dieses Buch beschäftigt sich mit diesen Makro-Ethnien, die durch soziale Beziehungen und nicht durch biologische Tatsachen oder verwandtschaftliche Bindungen entstanden sind. Keiner der hier abgehandelten ethnischen Konflikte ist auf natürliche oder primordiale Ursachen zurückzuführen. Ethnien und ihre Konflikte entstehen durch soziale Beziehungen.

Dies geschieht auf verschiedene Art und Weise. Eine gemeinsame Sprache war bei der Vereinigung der Deutschen wichtig, aber nicht bei den Serben (sie teilen sich ihre Sprache mit den Kroaten und den Bosniern). Die Religion ist für die Serben wichtig (ihr orthodoxes Christentum unterscheidet sie von den Kroaten, Bosniern und Albanern), nicht aber für die Deutschen (die sich in Katholiken und Protestanten aufteilen). Theorien zu Zivilisation und Rasse verhalfen den Europäern zu einem gemeinsamen Empfinden, man sei zivilisiert und außerdem weiß, im Gegensatz zu den Untertanen in den Kolonien. Ökonomische Dominanz oder Unterordnung kann Identitäten prägen, und dasselbe gilt für militärische Macht. Imperiale Eroberer schaffen häufig Makro-Ethnien, indem sie Gruppen, die sie als Angehörige eines einzigen Volkes oder Stammes definieren, bestimmte Rollen zuweisen. Schließlich ist eine gemeinsame politische Geschichte als unabhängiger Staat oder selbständige Provinz von universeller Bedeutung – wie im Fall der Schotten, die sich in der Sprache oder Religion nicht von den Engländern unterscheiden, aber eine eigene politische Geschichte haben. Angesichts dieser Vielfalt erscheint es angemessener, Ethnien subjektiv zu definieren, mit den Begriffen, die sie selbst und/oder ihre Nachbarn benutzen.

Eine Ethnie ist daher eine Gruppe von Menschen, die sich selbst durch eine gemeinsame Abstammung und Kultur definiert oder von anderen so definiert wird. Also ist eine ethnische Säuberung die Entfernung von Mitgliedern einer solchen Gruppe von einem bestimmten Ort durch eine andere Gruppe dieser Art, die den fraglichen Ort für sich selbst beansprucht. Eine Nation ist eine solche Gruppe, die außerdem noch über ein politisches Bewusstsein verfügt und auf einem bestimmten Gebiet kollektive politische Rechte für sich in Anspruch nimmt. Ein Nationalstaat entsteht, wo eine solche Gruppe ihren eigenen, souveränen Staat hat. Nicht alle ihrer eigenen Existenz bewussten Nationen haben einen eigenen Nationalstaat oder streben einen solchen an. Einige von ihnen beanspruchen nur lokale Autonomie oder fest verbriefte Rechte innerhalb eines größer angelegten, multiethnischen Staates.

Ethnische Gruppen gehen auf sehr verschiedene Arten miteinander um, meistens ist Mord nicht darunter. Die wenigen Fälle, in denen es zu Massenmorden kam, sind durch die Berichterstattung der inzwischen weltweit tätigen Massenmedien tief in unserem Bewusstsein verankert. Zum Glück sind sie jedoch wirklich selten. Die westlichen Medien nehmen den afrikanischen Kontinent meist nur dann in den Blick, wenn es sehr schlechte Nachrichten gibt. Es gibt jedoch auch in Afrika nur wenige Fälle mörderischer ethnischer Säuberungen, und das in einem Kontinent, in dem alle Staaten multiethnisch zusammengesetzt sind.10

Die Tabelle 1 (S. 26) umreißt Eskalationsstufen für Gewalt wie auch für Säuberungen in den Beziehungen zwischen den Ethnien. Dies ermöglicht es uns, mörderische und nichtmörderische ethnische Säuberungen voneinander zu unterscheiden, auch Ausbrüche von massenhafter Gewaltanwendung und Tötung, die nicht auf eine ethnische Säuberung zielen, werden erfasst. Der Begriff erfasst nur die gewaltsame Säuberung von Zivilisten und schließt Massentötungen aus, die nach allgemeiner Ansicht durch die Regeln der Kriegführung legitimiert sind.

Die Tabelle umfasst zwei Dimensionen: das Ausmaß, in dem eine Gruppe aus einer Gemeinschaft eliminiert (»hinausgesäubert«) wird, und das Ausmaß, in dem zur Erreichung dieses Zieles Gewalt eingesetzt wird.