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Natasha A. Kelly ist Autorin, Dozentin und Kuratorin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in ihren Arbeiten afrodeutsche Geschichte(n), Gegenwart und Zukunft auf vielfältige Weise zu thematisieren. Dies demonstriert sie in der vorliegenden Publikation und in ihrem gleichnamigen Dokumentarfilm, der von der 10. Berlin Biennale for Contemporary Art beauftragt wurde.
Natasha A. Kelly is a writer, lecturer and curator who has set herself the task of addressing Afro-German histories, presents and futures in a variety of ways. This is demonstrated in this publication and in her documentary film of the same name, commissioned by the 10th Berlin Biennale for Contemporary Art.

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Der Film „Millis Erwachen“ erhielt beim Black Laurel Film Award den ersten Preis in der Kategorie „Best Documentary Feature“.
The film „Milli‘s Awakening“ is the winner of the Black Laurel Film Award in the category „Best Documentary Feature“.

Pressestimmen zum Film „Millis Erwachen“:

Press reviews of the filmMilli’s Awakening”:

„5 Künstler, die man auf der 10. Berlin Biennale nicht verpassen darf.“

„5 Artists You Must Not Miss at the 10th Berlin Biennale.”

news.artnet.com, 11.06.2018

„In „Millis Erwachen“ erzählen die Frauen von sich und ihrem Leben in einem Land, dessen alltäglichen Rassismus alle vielfach erfahren haben – was den Film aber nicht dazu verleitet, ihre Leben über einen Kamm zu scheren. Es wird nicht angeklagt, sondern erzählt, subjektiv und nachdenklich.“

„In „Milli’s Awakening” the women talk about themselves and their lives in a country whose everyday racism they share in many ways - but this does not mislead the film to lump their lives together. It‘s not charged, but recounted subjectively and thoughtfully.”

Die Welt, 11.06.2018

„Bei Kelly wird die Schwarze Frau vom Objekt der Kunst zum Subjekt ihres eigenen Lebens.“

„In Kelly’s film, the Black Woman moves from object of art to the subject of her own life.”

Der Freitag, 14.06.2018

„Jede Geschichte für sich ist ein Zeugnis von Selbstbestimmung und von Sich-Zurechtfinden in einer vorwiegend weißen Gesellschaft. Das Kunstschaffen wird so zum Ausdruck eines doppelten Widerstandes gegen Vereinnahmung und Ausgrenzung – zu einer Strategie des Bestehens.“

„Each story in itself is a testimony of self-determination and self-reliance in a predominantly white society. Art thus becomes the expression of a double resistance against appropriation and exclusion - a strategy of survival.”

gallerytalk.net, 23.06.2018

„Wenn man den biografischen Erzählungen in „Millis Erwachen“ lauscht, wird deutlich, dass in allen Lebenslagen weiße Normen maßgeblich bestimmend sind.“

„Listening to the biographical tales in „Milli’s Awakening” shows that white norms are crucial in all life situations.”

Kunstzeitung, Ausgabe August 2018

Natasha A. Kelly

Millis Erwachen
Schwarze Frauen Kunst und Widerstand

Milli’s Awakening
Black Women, Art and Resistance

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Inhalt

Einleitung

Nadu

Meine erste Maske war eine Kraftmaske

Zari

Meine Malerei ist auch Ausdruck meines Aktivismus

Maseho

Meine erste Ausstellung war 1994 beim Black History Month in Hamburg

Diana

Weil Fotografie ja auch etwas mit Ermächtigung zu tun hat

Naomi

Kunst war nur für Weiße reserviert!

Patricia

Kunst ist für mich mehr und mehr zum Geschäft geworden

Sandrine

Es gibt nicht genug Raum, es gibt nicht genug Sichtbarkeit

Maciré

Das ist keine Kunst, sondern das bin ich!

Content

Introduction

Nadu

My first mask was a power-mask

Zari

My painting is also an expression of my activism

Maseho

My first exhibition was during the Black History Month in Hamburg in 1994

Diana

Because photography also has something to do with empowerment

Naomi

Art was reserved only for whites!

Patricia

Art has become more and more a business for me

Sandrine

There‘s not enough space, there‘s not enough visibility

Maciré

That’s not art, that’s me!

Einleitung

Wie es zu diesem Projekt kam? Wieso ich ein Buch veröffentliche, das aus Interviews besteht?

Dies hatte zwei Gründe. Zum einen ist die vorliegende Publikation Teil eines multimedialen Projektes, zu dem auch mein Dokumentarfilm „Millis Erwachen“ zählt. Der Film wurde von der 10. Berlin Biennale for Contemporary Art in Auftrag gegeben und war von Juni bis September 2018 täglich in den Kunst-Werken KW Berlin zu sehen. Aber wie es so häufig bei Filmprojekten der Fall ist, konnten nur einzelne Sequenzen der Interviews verwendet werden, die ich zu diesem Anlass geführt hatte. Folglich war nur ein Bruchteil dessen zu sehen, was meine Interviewpartnerinnen mir in Einzelgesprächen erzählten. Die Auswahl habe ich in meiner Rolle als Regisseurin treffen müssen, wohlwissend, dass sich jede andere Filmemacherin je nach Ausrichtung anders entschieden hätte.

Ausschlaggebend für mich war, dass die einzelnen Bausteine ein großes Ganzes ergeben, d. h. dass sie in afrokultureller Tradition wie ein Quilt aneinander gesteppt werden können. Zum anderen mangelt es in der Schwarz deutschen Community – aus welchen Gründen auch immer – an einer Dokumentation der eigenen Geschichte(n). Zu häufig haben wir es versäumt, die (sozial-) politischen Entwicklungen hierzulande und unsere damit zusammenfallenden individuellen Erfahrungen aus der eigenen, selbstbestimmten Schwarzen Perspektive festzuhalten. Dadurch fehlt es den nachfolgenden Generationen häufig an Identitätsangeboten und an Best-Case- oder Worst-Case-Beispielen. Diese Diskontinuität wollte ich, wie schon viele vor mir, weiterhin aufbrechen. Denn einen Platz in der Gesellschaft können wir nun dann für uns als Community beanspruchen, wenn wir auch unseren Platz dauerhaft einfordern. Deshalb entschied ich mich, neben dem Film die vorliegende Publikation herauszugeben, in der die Interviews ungekürzt und ungefiltert abgedruckt sind.

„Aber wir waren doch auch noch da!“

Alles begann nach meiner Vorstellung von „M(a)y Sister“ im HAU Hebbel am Ufer Theater in Berlin 2017. Eine schüchterne, ältere Schwester kam auf mich zu und machte mich darauf aufmerksam, dass ich sie vergessen hätte – ihre Geschichte nicht erzählte. In einem Zeitungsartikel, in der die Show ankündigt wurde, sprach ich von zwei Wellen der afrodeutschen Bewegung: Die erste Welle verortete ich im deutschen Kolonialismus als Schwarze Menschen sich gegen die herrschende, rassistische Kolonialordnung auflehnten. Die zweite Welle ordnete ich zeitlich Mitte der 1980er Jahre ein, als Audre Lorde sich in Berlin aufhielt. Das Buch „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (1986) entstand durch die Anregung von Audre Lorde und wurde zur wegweisenden Publikation der gegenwärtigen Schwarzen Community in Deutschland.

„Aber wir waren doch auch noch da!“, sagte mir diese mir bis dahin unbekannte Frau, die nicht viel jünger ist als meine Mutter. Doch wer war sie? Und wer waren diese Frauen, die noch immer unsichtbar zu sein schienen? Wer waren die Schwestern, die sich vor May Ayim und Katharina Oguntoye, die Mitherausgeberinnen von „Farbe bekennen“, auf den Weg gemacht hatten, um eine Community zu bilden? Woran waren ihre Mühen gescheitert? Mein Interesse war geweckt. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass Nadu 1955 als Tochter einer weißen Mutter und eines Schwarzen Vaters in Detmold geboren ist. Sie erzählte mir nicht nur viel über ihr Leben, sondern auch viel über die sozialpolitische Situation von Schwarzen Frauen im Westdeutschland der 1970iger Jahre. Schnell stellte sich heraus, dass Nadu und ihre Wegbegleiterinnen allesamt bemüht waren, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, auch wenn dies erstmal noch nicht zum Erfolg geführt hatte. Meine Idee entstand, die Spurensuche (wieder) aufzunehmen.

Die Suche nach weiteren Frauen dieser Generation gestaltete sich sehr schwer. Viele Namen sind gefallen, nur wenige Personen konnte ich finden. Andere wollten sich nicht finden lassen und wenn, dann wollten sie nicht vor die Kamera. Es machte mich traurig zu erfahren, wie viele inzwischen verstorben waren. Selbstmord war die häufigste Ursache. Einfach, weil sie sich aufgegeben hatten und/oder von der Gesellschaft nicht gesehen wurden. Die Tatsache, dass der Film für die Biennale gedreht wurde, lenkte das Projekt dann in eine andere Richtung. Ich entschied mich, die Biografien von Schwarzen Künstlerinnen in den Mittelpunkt zu stellen. Nadu stellte schließlich Masken her, weshalb das Kunstschaffen eine tragende Rolle in ihrem Leben spielte. Wie war sie zur Kunst gekommen? Was bedeutete überhaupt Kunst für sie? Und welchen Zugang hatte sie zum Kunstbetrieb?

Für sie sei Kunst wie ihre zweite Leber, ihre dritte Niere oder ihr drittes Auge.

Dank Mahide Lein, die ihren Fundus an Wissen und Kontakten durchforschte, konnte ich Naomi finden, die 1965 in Südafrika geboren ist und im Apartheidtssystem Namibias großgeworden war. Ihre Leidenschaft fürs Theaterspielen und Schreiben wuchs bereits während ihres Studiums an der University of Namibia. Nach der Wende und Namibias Unabhängigkeit war sie nach Deutschland gekommen, wo ihre Kreativität ihr in Auseinandersetzungen mit den weißen deutschen Behörden zugute kam. Heute verarbeitet sie diese Erfahrungen in ihrer Webserie „The Center“, in der sie die Lebensgeschichten von Afrikanerinnen in Deutschland portraitiert.

Kurz danach lernte ich die junge Schwester Maciré kennen, die 1995 in Bremen geboren ist. Als ich sie auf der Bühne sah, wie sie ein Spoken Word Stück performte, fielen mir die Geschichten all jener Frauen ein, die noch immer stimmlos sind, aber dennoch „als Stahlbolzen für die Emotionen aller Menschen um sie herum“ herhalten müssen. Macirés Worte stimmten mich nachdenklich. Gleichzeitig machte ihre positive Ausstrahlung mir Mut. Und weil es keine Zufälle gibt, erzählte sie mir von einer Filminstallation, die sie für die Kunsthalle in Bremen entwickelt und umgesetzt hatte. Wer meine nächste Interviewpartnerin werden würde, war also klar. Es ging nach Bremen. Doch als ich in der Ausstellung „Der blinde Fleck“ vor dem Gemälde „Schlafende Milli“ von Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938) stand, wurde mir ganz anders. Weshalb mich dieses Bild so betroffen machte, und was es mit meiner eigenen Biografie zu tun hat, wurde mit erst später bewusst.

Mit Zari, die 1955 in Chicago geboren ist und seit 1981 in Deutschland lebt, war ich seit vielen Jahren bei Facebook befreundet. Persönlich hatten wir uns bis dato noch nicht getroffen. Als ich vor knapp 10 Jahren nach Berlin zog, hatte ich mich mit ihr in Verbindung gesetzt, aber kurz zuvor war sie nach Hamburg gezogen. Zari ist bildende Künstlerin. Zu ihren beliebten Motiven gehören Frauen aus unterschiedlichen Kulturen, die sie nicht so abbildet wie weiße Männer sie sehen, sondern so, wie sie sie sieht oder sie sich selbst sehen, was einen wichtigen Perspektivwechsel in der Kunstgeschichte markiert. Als sie einwilligte, an dem Projekt teilzunehmen, fuhr ich mit meinem Team nach Hamburg. Dort sprach ich auch mit Maseho, die ich vor vielen Jahren auf einem Bundestreffen der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) kennengelernt hatte. Sie hatte mir damals ein Bild von afrikanischen Königinnen geschenkt, was noch heute in meiner Küche hängt. Maseho ist 1964 in Hamburg geboren. Nach eigenen Angaben verlief ihre Kindheit „relativ durchschnittlich aus Schwarzer deutscher Perspektive“. Für sie sei Kunst wie ihre zweite Leber, ihre dritte Niere oder ihr drittes Auge und nicht wegzudenken aus ihrem Leben. Masheo stellte dann vor Ort den Kontakt zu Diana her, die 1965 in Aschaffenburg geboren ist und seit 1986 in Hamburg lebt. Diana ist Fotografin, die bereits in den 1980er Jahren als Herausgeberin und Fotografin des SM-Magazins „Leather News“ agierte. Was dies und ihre Leidenschaft für Blumen mit ihrem eigenen Leben zu tun haben, erzählt sie sehr offen und emotional.

Inzwischen hatte ich also sechs Gesprächspartnerinnen unterschiedlichen Alters gefunden. Zwischen den ältesten (Nadu und Zari) und der jüngsten (Maciré) liegen exakt 40 Jahre. Um die Erzählung stringent zu machen und die ungebrochene Kontinuität rassistischer und sexistischer Stereotype von Schwarzen Frauen erzählen zu können, war es mir wichtig, zwei weitere Schwestern zu finden, die jeweils in den 70ern und 80ern geboren sind. So konnte ich zumindest aufzeigen, dass Schwarze deutsche Geschichet(n) „gegen den Strich“ gelesen werden kann/können. Patricia, die 1970 in der ehemaligen DDR geboren und aufgewachsen ist, hatte das Cover von einem meiner letzten Bücher, „Sisters & Souls“ (Orlanda 2015) designed und ist in ihrer Heimatstadt Potsdam inzwischen für ihre Grafikkunst bekannt. Auch sie ist seit vielen Jahren in frauenpolitischen Kontexten aktiv. Und Sandrine, die 1980 in (West-)Berlin geboren und aufgewachsen ist, brachte durch ihre institutionelle Tätigkeit auch eine weitere Perspektive ins Gespräch, auf die nicht verzichtet werden durfte. Obwohl sie eine künstlerische Ausbildung durchlaufen hat, schaffte Sandrine es nicht, als Künstlerin Fuß zu fassen. Zu sehr verstörten die strukturellen Hierarchien innerhalb von Kunstinstitutionen. Derzeit arbeitet sie im Auftrag des Berliner Senats. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass „Diversity“ – so vielfältig dieses Wort auch sein mag – im Kunstbetrieb nicht nur (sprich-)wörtlich gilt, sondern auch in die Tat umgesetzt wird.

Was meine Interviewpartnerinnen also gemeinsam haben, ist, dass sie alle ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sich als Schwarz positionieren, als Frauen gelesen werden und auf der einen oder anderen Art mit Kunst zu tun haben. Auch wenn ihr Kunstverständnis sich stark voneinander unterscheidet und sie sich nicht alle als „Künstlerinnen“ verstehen, so spielt Kunst doch eine tragende Rolle in ihrem Leben und damit einhergehend die Art und Weise, wie sie als Schwarze in der Kunstwelt und darüber hinaus wahrgenommen werden. Aus diesem Grund lag es nahe, allen dieselben zehn Fragen zu stellen:

– Wann und wo wurdest du geboren?

– Wie verlief deine Kinderheit?

– Wann wurde dir zum ersten Mal bewusst, dass du Schwarz bist?

– Wie ist deine Selbstbezeichnung – Afrodeutsche und/oder Schwarze Deutsche?

– Welche Rolle spielte die Publikation „Farbe bekennen“ in deinem Leben?

– Welche Rolle spielt das Frausein in deinem Leben?

– Würdest du dich selbst als Feministin bezeichnen?

– Welche Rolle spielt Kunst in deinem Leben?

– Inwieweit wird dein künstlerisches Schaffen durch deine gesellschaftliche Position als Schwarze Frau beeinflusst?

– Ist deine Kunst politisch?

Aus diesen Fragen ergaben sich im Laufe der Einzelgespräche weitere Fragen, sodass halbstandardisierte Interviews entstanden sind. Anders als im Film richtet sich die Reihenfolge der abgedruckten Texten aufsteigend nach dem Alter der Schwestern, sodass das Buch sich als einen historischen Abriss des Schwarzen Feminismus in Deutschland versteht. Wichtig war es mir, die Gesprächsform beizubehalten. Denn auch, wenn die Anzahl der Publikationen aus der Schwarzen Community in Deutschland in den letzen Jahrzehnten stetig angestiegen ist, haben wir weder genügend Raum, noch angemessene Ressourcen, um unsere Geschichte(n) mit eigenen Worten zu erzählen und der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Darüber hinaus war es mir wichtig, nicht für und/oder über diesen Personen zu sprechen. Denn wir alle haben unsere persönliche(n) Geschichte(n), die sicherlich Teil einer Kollektiverzählung ist/sind. Aber Schwarz ist nicht gleich Schwarz und Frau ist nicht gleich Frau. Als Schwarze heterosexuelle cis-Frau, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland verortet, teile ich mit meinen Interviewpartnerinnen zwar viele ihrer strukturell bedingten Erfahrungen, mache aber aufgrund meiner persönlichen Biografie individuelle Erfahrungen, die mich von ihnen unterscheiden.

„Ich bin Milli – Milli ist ich!“

Es war kurz vor meinem Abitur. Ich suchte händeringend einen Job. Ein Schulfreund verwies mich an einen weißen, männlichen Künstler, der dringend Nacktmodelle für seine Kunstschule suchte. Das Geld war mal wieder knapp, also zog ich mich bis auf die Unterhose aus und ließ mich von seinen Schüler_innen zeichnen. Im Vordergrund stand angeblich die Anatomie meines Körpers und nicht meine Hautfarbe, worüber ich mir aber zu diesem Zeitpunkt auch nicht wirklich Gedanken gemacht hatte. Es dauerte nicht lange, bis der Künstler mich fragte, ob ich mich denn auch für ihn nackt auf die Couch legen würde, er wolle mich wie „die großen Meister“ malen. Ich hatte keine Ahnung, von welchen „großen Meistern“ er sprach und dass es sein Versuch war, die Pinselstriche Kirchners nachzuahmen. Als ich in Bremen vor Kirchners Bild stand, wurde diese Erinnerung wach. „Ich bin Milli – Milli ist ich!“ dachte ich.

Wir Schwarze Frauen werden seit jeher durch den weißen, männlichen Blick erotisiert und exotisiert. In den als „Klassiker“ geltenden Werken vieler Expressionisten werden wir lediglich als „Objekte der Begierde“ abgebildet. Kirchner beispielsweise suchte zur Blütezeit des deutschen Kolonialismus weniger die Anatomie des Frauenkörpers zu erforschen. Vielmehr ging es ihn darum, über die vermeintliche „Naturgebundenheit“ seiner Motive seine eigene Manneskraft zu spüren. 1911 malte er die „Schlafende Milli“ nackt auf einer Couch liegend. Als Inspirationsquelle ließ er nur die eigene Potenz gelten. Doch wer war Milli? War das überhaupt ihr richtiger Name? Und wie war sie in Kirchners Atelier gekommen? Plötzlich war die koloniale Vergangenheit wieder ganz nah. Die „Schlafende Milli“ spiegelte das wieder, was ich selbst erlebt hatte und noch immer zahlreiche Schwarze Frauen auf diese oder andere Art erleben müssen. „Für dich und all deine Bedürfnisse ist sie da, bin ich da. Für dein sexuelles Erlebnis à la exotischer Art“ heißt es weiter in Macirés Spoken Word Stück, das sie in der Kunsthalle Bremen vor dem Bild performte. Milli war in einer Objektposition verhaftet worden, in der wir uns als Schwarze Frauen in der weißen deutschen Mehrheitsgeselleschaft noch immer befinden. Doch die Einzigen, die uns jemals „aufwecken“ und daraus befreien werden, sind wir selbst!

Danksagungen

Zuerst möchte ich mich noch einmal bei meinem Filmteam bedanken – Anh, Henning und Philipp, ohne euch wären weder der Film noch dieses Buch das geworden, was sie jetzt sind! Mein besonderer Dank gilt zudem allen Personen, die in welcher Weise auch immer zum Gelingen des Gesamtprojekts beigetragen haben. Unter anderem Yvette Mutumba, Co-Kuratorin der 10. Berlin Biennale, die mich einlud, diese/unsere Geschichte(n) für ein internationales Publikum aufzuarbeiten. Aus diesem Grund erscheint dieses Buch in deutscher Sprache mit englischen Übersetzungen. Darüber hinaus möchte ich mich beim Orlanda Verlag bedanken, der seit vielen Jahrzehnten die Geschichte(n) von Schwarzen Frauen in und aus Deutschland in den Fokus nimmt – trotz allen Hürden, die ein Verlag dieser Größe immer wieder überwinden muss. Und nicht zuletzt möchte ich mich bei meinen Interviewpartnerinnen bedanken, dafür dass sie mir ihre Geschichten anvertraut haben, so dass wir (afro-)deutsche Geschichte (weiter-)schreiben können.

Natasha A. Kelly

Berlin im Juli 2018

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Nadu

1955 in Detmold geboren, verbrachte Nadu ihre ersten Lebensjahre wie viele Schwarze deutsche Kinder ihrer Generation im Kinderheim. Nachdem ihre Mutter neu heiratete, holte sie Nadu zurück zu sich und wanderte mit der Familie nach Island aus. Im kühlen Norden durchlebte das damals sehr temperamentvolle Mädchen ihre ersten Schuljahre. Dauerhaft zurück in Deutschland war ihr Alltag von Rassismus, Sexismus und Homophobie geprägt. Zur Kunst fand Nadu erst später in ihrem Leben. Über das Schmieden kam sie zur Herstellung von Masken, die sie in afrikanischer Tradition selbst als „Medizinmasken“ beschreibt, die eine heilende Wirkung auf die Trägerinnen haben.

Ich fand es ganz schön, wie wir uns kennengelernt haben. Vielleicht magst du das erzählen.

Ja, das war so. Es gab ein Interview mit dir in der TAZ. Das Bild von May Ayim ist mir sofort ins Auge gestochen. Und mich hat fasziniert, dass das Interview von einer Schwarzen Frau, mit einer Schwarzen Frau gemacht wurde, über eine Schwarze Frau. Da sprichst du davon, dass die zweite Bewegung der Schwarzen Deutschen in den 80er und 90er Jahren war. Und genau an dem Punkt habe ich gedacht, das stimmt irgendwie nicht. Uns gab es ja vorher. Wir waren doch auch noch da! Damals in den 70er Jahren. Wir nannten uns zwar nicht „afrodeutsch“, sondern „die Schwarze Frauengruppe“. Und da habe ich mich eben gefragt – weißt du davon? Weil es uns nur sehr kurz gab. Man hat uns kaum bemerkt. Wir kamen ja auch nicht richtig zum Zug wie die Gruppe, die Audre Lorde später ins Leben gerufen hat. Deswegen bin ich nach dem Theaterstück zu dir gekommen und hab gedacht, dass ich dir das mal erzähle. Dann sehe ich ja, ob das für dich relevant ist oder nicht. Ich persönlich finde, es ist relevant. Weil selbst wenn nichts daraus geworden ist, sind wir auf unsere Art auch Vorkämpferinnen gewesen.

Wie war es denn damals?

Also es war so: Ich kam 1977 nach Berlin und habe mich erstmal in der Frauenszene umgeschaut. Da bin ich auch zum ersten Mal anderen Schwarzen Frauen begegnet. Wir hatten nicht so einen richtigen Kontakt, ich hatte ein Gespräch mit einer Frau, die meinte irgendwas über „wir Schwarze“ und so und da ich ja nur unter Weißen aufgewachsen war, war mir das erst mal nicht so richtig bewusst. Aber ja – wir haben uns dann unterhalten und da war ich erst mal wieder weg und hatte dann so losen Kontakt. Also wir kannten uns noch nicht richtig. Aber wir sind uns immer mal irgendwie über den Weg gelaufen.

Gibt es eine Begegnung oder Person, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja, Guy. Guy St. Louis war die Frau, die damals unsere Schwarze Frauengruppe initiiert hat. Sie war sich selbst sehr bewusst, also sehr bewusst, dass sie eine Schwarze Frau ist mit allen Hindernissen, die es mit sich bringt. Und sie hat auch immer gekämpft und auch kämpfen müssen als Schwarze Frau anerkannt und gehört zu werden. Sie war für uns als Gruppe so wichtig, weil sie die Fähigkeit hatte, das auszusprechen, und zwar verständlich auszusprechen, was bei uns so schwammig im Bewusstsein war.

Einmal hatte sie bei einem Seminar mitgemacht. Es ging da um Schwarze Frauen in der weißen Gesellschaft. Aber Guy war die einzige Schwarze Frau, die dabei war. Und sie hat gesagt: „Leute, ich erzähle euch mal wie es ist, Schwarz zu sein in einer weißen Gesellschaft“ – und hat ausgepackt. Guy hat ziemlich klar gesagt, wie es ist, woraufhin die weißen Frauen sie rausgeschmissen haben. Die wollten eben über Schwarze Frauen reden, ohne dass welche dabei sind. Also das war so absurd, weil Fakt ist einfach, dass viele Weiße überhaupt gar nicht mitkriegen, was wir Schwarze Frauen durchmachen, weil Rassismus läuft ja oft so unterschwellig ab – eigentlich nur für uns Schwarze eben erfahrbar. Und diese Geschichte hat dann unsere Schwarze Frauengruppe irgendwie ins Leben gerufen. Guy war sozusagen die Initiatorin, hat gesagt: „Ey Leute, wenn die uns nicht wollen, kommt lass uns zusammen kommen und lasst uns eine eigene Gruppe bilden.“ Wir waren natürlich Feuer und Flamme.

Und wie ging es dann weiter?

Ja, dann haben wir uns halt zusammen getan und hatten unheimlich viele Pläne. Wir wollten zum Beispiel auch ein Buch schreiben, in dem jede von uns ihren Lebensweg bis dahin beschreibt: wie es eben ist, als Schwarze Frau in Deutschland zu leben. Wir haben damals einen Aufruf übers Radio gemacht. Und zwar bei der Sendung „Zeitpunkte“. Das war, oder ist noch eine Frauensendung – damals lief es beim SFB, heute beim RBB. Wir wollten wissen, ob es noch mehr Schwarze Frauen gibt, die sich mit uns zusammen tun würden. Dieser Aufruf wurde zwar gesendet, aber es kamen keine weiteren Frauen dazu.

Was hattet ihr denn vor?

Wir haben uns getroffen, weil wir als Schwarze Frauen vereinzelt waren und auch einander kennenlernen wollten. Wir wollten aber auch tiefer gehen. Aber soweit konnten wir damals noch gar nicht denken. Wir hatten gar nicht die richtigen Worte damals. Was wir eben wollten war, einen eigenen Raum mieten. Wir wollten ein eigenes Konto haben, das auf unseren Namen geht und mit dem Geld wollten wir zum Beispiel auch zusammen nach Afrika fahren und auch andere Dinge machen. Also wir hatten wirklich gute Pläne. Aber wir hatten alle schlechte Erfahrung gemacht, als Schwarze, eine Wohnung zu mieten. Also das ist unheimlich schwer gewesen. Dann haben wir gedacht, ach wir bitten eine weiße Frau, das für uns zu machen. Weil das leichter gewesen wäre.

Ist es euch gelungen?

Also wir hatten dann eben eine weiße Frau darum gebeten und wir kamen dann mit ihr zusammen und sie brachte gleich ihre Freundinnen mit. Diese Frauen waren politisch tätig und zwar für „Women for Housework“ aktiv, was ja auch okay ist. Aber die saßen dann da und haben uns gesagt, dass sie das Geld für uns verwalten könnten und einen Raum anmieten, wobei sie uns dann zu gegebener Zeit erlauben würden, ihn zu benutzen. Eigentlich haben wir uns das ganz anders vorgestellt. Das ist dann unser Geld und das ist dann unser Raum! Wir wollten gar nicht für die „Women for Housework“ kämpfen. Wir hatten unseren eigenen Kampf! Wir hatten unsere eigenen Interessen! Für uns sah es so aus, als wollten diese Frauen uns benutzen für ihre Kampagne. Wir durften dann irgendwie denen zu Diensten sein.

Gab es in der damaligen Frauenbewegung denn keinen Raum für Bündnisse?

Du musst dir das so vorstellen: Die kamen alle von der Uni, waren eloquent, konnten gut reden und auch Streitgespräche führen. Wir konnten eigentlich nur sagen, was wir nicht wollten. Wir konnten aber kaum sagen, was wir wollten. Und dann haben wir gesagt: „Okay, wir treffen uns nochmal und versuchen das denen nochmal genau zu erklären.“ Wir haben dann ziemlich lange diskutiert und ihnen versucht klar zu machen, dass sie uns nicht so behandeln können, oder dass wir nicht weniger wert sind, bloß weil wir Schwarz sind. Sie haben aber abgestritten, dass sie sich so verhalten hätten. Und ich muss aber im Nachhinein sagen, dass sie nicht wirklich verstanden haben, dass wir etwas wollten, was ohne ihren Einfluss stattfinden sollte. Weil das ist einfach schwierig für die Weißen zu sehen, wo sie uns ignorieren. Denen ging es immer um ihre Sache, ihren Standpunkt und die wollten sie durchfechten und uns ging es eigentlich nicht so sehr darum etwas durchzufechten, sondern einfach unseren Weg zu finden.

Wie ging es dann weiter?

Wir haben dann einfach gesagt, dass wir nicht zusammen arbeiten wollen. Wir arbeiten überhaupt nicht mit Weißen zusammen, erst mal. Weil wir dann wieder die Unsichtbaren sind. Also es ging nicht darum zu sagen: „Hier guck mal, hier bin ich!“ Aber wir wollten eine Präsenz haben und auch gesehen werden, wahrgenommen werden, darum ging es uns. Und dann haben wir uns alleine getroffen und versucht, einiges durchzusetzen. Und dadurch sind wir als Schwarze Gruppe plötzlich sehr stark gewesen. Haben auch eine innere Stärke entwickelt und waren auch selbstbewusster. Es war der erste Schritt und das war ganz wichtig.

Wart ihr in irgendeiner Form politisch aktiv?

Also, ich fand das war politisch, was wir gemacht haben. Nämlich, dass wir selbst zu uns fanden. Weil aus dem Nichts heraus, kannst du nicht agieren. Politisch bist du dann absolut wirkungslos. Und letztendlich haben wir auch kein Bein auf den Grund gekriegt. Wir standen nicht. Deshalb würde ich trotzdem sagen, dass wir politisch waren. Das war ja unsere Absicht. Und ich fand auch politisch, dass wir das Buch schreiben wollten, dass wir eben im Radio waren. Das sind aus meiner Perspektive alles politische Handlungen. Auch wenn das alles relativ kläglich war. Aber es ging auch nicht darum, berühmt zu werden oder so, sondern einfach wirklich zäh unseren Weg zu gehen. Und ich kann auch nicht sagen, dass wir versagt haben.

Was waren denn eure Themen?

Ja, also unsere Themen waren einfach zum Beispiel: Aufdröseln, wo wir als Schwarze den Unterschied erfahren, dass wir Schwarz sind. Ist ja nicht nur die Hautfarbe, ist ja auch, wie wir kategorisiert werden. Also zum Beispiel: In der Schule musst du dich ja schon stärker anstrengen, um die gleichen Noten zu haben wie der Rest. Oder manches wird dir verwehrt, weil die Leute von vornherein davon ausgehen, dass du nichts kannst. Oder du musst eben beweisen, dass du kein Dieb bist oder wenn was geklaut wird, wirst du als Erste verdächtigt.

Wir reden von den späten 70er Jahren. Das ist doch heute noch so?

Ja natürlich! Da hat sich nichts verändert. Ich glaube aber, was ein bisschen anders ist, ist dass wir alle Heimkinder waren. Alle bis auf eine. Die kam aus Jamaika und das war für uns auch interessant, weil sie eben erzählt hat: In Jamaika sind die Schattierungen sehr wichtig. Also von hell bis dunkel. Und je heller du bist, desto höher dein Status. War uns ein bisschen fremd, aber auch aufschlussreich.

Glaubst du, dass das strukturell bedingt war, dass ihr alle Heimerfahrung hattet?

Was meinst du mit „strukturell“?

Gesellschaftlich bedingt?

Ja, auf jeden Fall, weil es war einfach schwierig für weiße Frauen ein Schwarzes Kind zu haben in einer weißen Gesellschaft. Und ich weiß auch, dass vielen Frauen auch die Kinder erst mal weggenommen wurden. Oder sie kamen nicht zu Recht mit einem Schwarzen Kind. Und dann wurde ihnen geraten: „Tun sie es doch in ein Heim!“ Also bei den meisten von uns war ja der Vater – ich meine jetzt der leibliche Vater, der Schwarze Vater, der war ja überhaupt nicht präsent. Der war irgendwie dann weg. Das heißt, die Mütter waren alleinerziehend. Meistens Frauen, die eben ein uneheliches Kind hatten. Und das war damals – ich spreche hier jetzt von Mitte der 50er Jahre wo wir dann ungefähr geboren wurden – eben noch ziemlich schwierig für weiße Mütter.

Wie ist denn deine Biografie? Du bist in den Fünfzigern geboren?

Mitte der Fünfziger bin ich geboren.

Und wo?

In Detmold. Meine Mutter kommt aus Ostpreußen. Damals hat sie in London gelebt und dort meinen Vater kennengelernt. Aber um mich auf die Welt zu bringen, ist sie nach Deutschland gekommen. Bestimmt aus irgendwelchen bürokratischen Gründen. Nachdem ich dann auf der Welt war, hat mein Vater mich verleugnet und meine Mutter hat mich in ein Heim gegeben. Also meine Mutter hat dort auch gearbeitet, eine Zeit lang. Und hat mich dann erst mal verlassen. Ist dann nach Süddeutschland. Hat meinen Stiefvater kennengelernt (lacht). Und dann, also das muss ich ihnen aber auch wirklich zu Gute halten. Die sind nämlich nach Island ausgewandert, nachdem sie geheiratet hatten. Und hatten mich auf dem Weg nach Island im Heim abgeholt. Ich denke, das war auch meine Rettung. Ja, dann habe ich sechs Jahre in Island gelebt mit meinen Eltern und da kam auch meine Schwester zur Welt.

Wie ist das Verhältnis zu deiner Schwester?

Also meine Schwester ist ja vier Jahre jünger als ich und ich habe immer so einen Beschützerinstinkt für sie gehabt. Wenn jemand ihr etwas angetan hat, dann bin ich hingegangen und habe sie gerächt. Bei uns war es üblich, dass die älteren Geschwister auf die Jüngeren aufpassen. Jetzt spreche ich von Island, da war das so üblich, also habe ich halt auf meine kleine Schwester aufgepasst. Und dadurch ist das vielleicht auch so entstanden mit dem Beschützerinstinkt. Meine Schwester wirkte auf mich auch immer so verletzlich und ich habe sie sehr, sehr geliebt. Und obwohl sie keinen Kontakt zu mir will, liebe ich sie immer noch sehr.

Spielte in eure Beziehung Hautfarbe eine Rolle?

Nein. Hat keine Rolle gespielt. Aber in der Familie – und damit meine ich die erweiterte weiße Familie – da war schon unterschwellig eine gewisse Sorge. Weil Schwarze sind ja auch Diebe, Lügner etc. Ich habe auch geklaut als Kind. Ich habe auch gelogen als Kind. Aber, wenn du das als weißes Kind machst und wenn du es als Schwarzes Kind machst, ist es doch etwas anderes. Da musst du dann doch besser auf das Schwarze Kind aufpassen. Das war jetzt nicht direkt unmittelbar bei meinen Eltern so, aber meine Großmutter und der Umkreis, die hatten diese Gedanken. Solche Sachen wurden nie ausgesprochen, aber meine Großmutter hat mal so einen Satz fallen gelassen, dass sie sich da Gedanken mache, was wohl aus mir wird. Es war ja immer die Sorge: „Aus dir wird nichts.“ Na ja, was soll aus mir werden? Also mein größter Wunsch ist ja, die zu werden, die ich bin.

Und wie war das Verhältnis zu deiner Mutter?

Nicht sehr gut. In Island ging es auf eine Art. Aber davor war ich ja in diesem Heim. Was meinst du wie es da zuging? Du bist ja ständig geschlagen worden, ständig bestraft worden und hin und her geschüttelt worden. Ich habe es irgendwie überhaupt nicht verstanden, was los ist. Du wusstest nie, was du falsch gemacht hast. War ja egal! Und es war auch so, dass ich von den anderen Kindern isoliert wurde, sodass ich alleine im Zimmer bleiben musste, während die anderen Kinder draußen gespielt haben. Und wenn ich zum Fenster rausgeguckt habe, habe ich den anderen Kinder beim Spielen zugeschaut und dachte: „Ach es muss auch schön sein, da zu sein und zu spielen“.

Deine Mutter holte dich aus dem Heim wieder ab und ging dann mit euch nach Island?

Ja! Und da ging es mir eigentlich gut. Ich meine Rassismus gibt es überall, aber so permanenten Rassismus habe ich jetzt nicht erfahren. Sagen wir mal gesellschaftlichen Rassismus habe ich nicht erfahren in Island. Vereinzelt ja, aber nicht so, dass eben meine Hautfarbe irgendwie ein Stolperstein gewesen wäre. Und dann gingen wir aber wieder nach Deutschland. Und in Deutschland habe ich halt die Erfahrung gemacht, dass wenn du anders aussiehst oder anders bist, dass du nicht mehr unbedingt zur Kategorie Mensch gehörst.

Wie würdest du Deutschland und Island vergleichen?

Am stärksten fiel mir auf, dass du, wenn du hilfsbereit warst, als dumm eingestuft wurdest. Intelligent-Sein ist ja das Wichtigste in Deutschland. Ich bin in Island eingeschult worden. Ich lernte dort schon rechnen und schreiben und lesen und sowas. Bisschen Physik konnte ich auch schon. In Deutschland bin ich dann auf die Grundschule. Damals hieß es noch Volksschule. Also da habe ich eben auch in der Schule die Erfahrung gemacht, dass ich eben schon Sachen wusste, aber die wurden mir als Fehler angerechnet. Was ich erst mal so nicht kapiert habe, weil ich dachte, das wären wirklich Fehler. Später musste ich dann herausfinden, ich war denen einfach voraus. Und das ist im deutschen System nicht vorgesehen, dass du mehr weißt, als dir vorgegeben wird. In der Volksschule hatte ich nur einen Lehrer und dem war ich ja ausgeliefert. Der war ja nicht richtig schlecht oder so. Aber hatte eben – wie soll ich sagen, der hatte seine Vorbehalte.

Was ist die prägnanteste Erinnerung aus deiner Schulzeit?

Ich hatte eine wunderschöne Schrift. In Island habe ich immer die beste Note dafür bekommen. Und dann kam ich nach Deutschland und wurde vor der Klasse lächerlich gemacht. Diese Schrift, die eigentlich wirklich schön war, war nichts mehr wert. Also die galt als Sauklaue.

Warst du gezwungen, neu Schreiben zu lernen?

Ja, ja ich musste mir eine neue Schrift zulegen. Weil die deutsche Schrift ist ohne Schnörkel. In Island war die Schrift so geschwungen und großzügig, da war dann durchaus auch ein eleganter Haken dabei, wenn dir die Lust danach war. Und im Deutschen schreibt man eben nur ganz knapp, was nötig ist. Das ist jetzt ja nur ein Beispiel für die gesamte Denkstruktur. Und später auf dem Gymnasium mussten wir immer zu dem Schülergottesdienst und an diesem einen Tag waren alle furchtbar unruhig. Nur ich nicht. Ich habe normalerweise den Schülergottesdienst immer dazu genutzt, um den Restschlaf, den ich in mir hatte, auszuschlafen. Bekam aber als Einzige einen Eintrag ins Klassenbuch, weil die Lehrerin es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass ich aufgestanden war, obwohl die Fakten anders waren. Und das hat mich frustriert. Aber das hat mir natürlich auch gezeigt, wie die Welt funktioniert. Dass du Dinge siehst die nicht vorhanden sind, wenn du sie in deinem Kopf schon vorbereitet hast.

Wie verlief deine weitere Schulzeit?

Ich bin nach der mittleren Reife abgegangen und zwar musste ich die mittlere Reife noch nachmachen bzw. ich musste eine Prüfung in Latein nachmachen, damit ich die mittlere Reife überhaupt schaffe. Ich hatte sehr viele Probleme zu Hause mit meinen Eltern und vor allem ich habe die Welt nicht verstanden. Ich war in der Pubertät und ich habe nicht verstanden, wie die Welt funktioniert. Du musst überlegen, ich trage eine Kultur in mir, meine Schwarze Kultur. Ich bin in einer anderen Kultur in Island groß geworden und bin in dieser neuen Kultur in Deutschland, die mir überhaupt nicht behagt hat. Und wir als Familie, wir hatten alle einen Kulturschock. Und kamen dann auch miteinander nicht so blendend aus. Ich bin nicht klar gekommen, weder zu Hause, noch in der Schule, noch sonst wie. Und ich war aber gleichzeitig noch ein Kind. Ich bin nicht so schnell erwachsen geworden. Ich habe viele Dinge nicht verstanden.

Und was hast du nach der Schule gemacht?

Ich war eigentlich prädestiniert, Sportlehrerin zu werden. Was ich ohne Weiteres hätte werden können nach der mittleren Reife. Aber da haben sich mir meine Eltern in den Weg gestellt. Und so wurde ich technische Zeichnerin. Ich habe eine Begabung für Technik. Aber ich bin absolut unbegabt, still in einem Büro zu sitzen. Dazu kam, dass es in diesem Laden die Frauen meistens nur als Teilzeichnerinnen ausgebildet haben. Das heißt, die haben nur zwei Jahre Ausbildung und nachher dürfen sie den Herren den Kaffee kochen, damals war das alles noch so üblich. Ich hatte um den Vollzeichner kämpfen müssen. Irgendwann, da war ich schon in Berlin, hatte ich beschlossen, dass ich doch lieber Ingenieurin werde. Ich konnte eben mehr als Kaffee kochen oder zeichnen, was jemand für mich vorgedacht hatte. Dann habe ich das Fachabitur gemacht und bin dann auf die technische Fachhochschule. Da habe ich drei, vier Semester studiert, habe dann aber festgestellt, dass ich neben der erlernten Denkstruktur eine eigene habe und die wollte ich kennenlernen. Da habe ich mein Studium abgebrochen.

Was hat dich nach Berlin geführt?

Ich habe ja in Stuttgart gelebt, aber da war ich einfach unglücklich und wusste, ich muss was anderes machen, weil ich mir sonst das Leben genommen hätte. Und dann standen eben Berlin und München zur Debatte und ich habe mich für Berlin entschieden.

Und warum hast du dich für Berlin entschieden?

Einmal war es finanziell günstiger, also es gab ja unheimlich viele Vergünstigungen. Aber es hat sich einfach besser angefühlt. München war damals zwar auch sehr lebendig, aber Berlin hat mir einfach mehr zugesagt.

Was bedeutet Berlin für dich?

Berlin? Berlin? Also Berlin bedeutet für mich auch eine Form von Erwachen, weil ich in Berlin sehr viele verschiedene Menschen auf sozusagen engstem Raum kennengelernt habe. Vorher kannte ich ja auch verschiedene Leute, aber ich war eigentlich immer in so einer homogenen Gesellschaft und wie gesagt, ich habe ja denn hier auch zum ersten Mal Schwarze Leute kennengelernt. Ich war mit anderen Nationalitäten zusammen und ich fing an, mein eigenes Leben zu leben. Das, was ich eigentlich leben wollte.

Damals, als die Mauer noch da war, da gab es viel mehr Solidarität und gleichzeitig gab es viel Freiheit. Wir haben alles Mögliche ausprobiert, wir konnten uns anziehen, wie wir wollten, wir haben gemacht, was wir wollten. Die Gesetze waren nicht so streng. Es war auch nicht so reglementiert wie heute. Heute habe ich ja das Gefühl, dass es so eng ist, dass ich mich kaum umdrehen kann, ohne dass ich ein Gesetz verletzte oder irgendwie eine Ordnungswidrigkeit begehe.

Und dann habe ich mich irgendwann aufgemacht und bin ungefähr dreizehn Jahre gereist in verschiedene Länder. Ich war stadtmüde. Ich hatte eigentlich keine Lust mehr auf Großstadt. Aber ich selbst war auch schon psychisch erschöpft und ich konnte auch nicht mehr mithalten mit der Geschwindigkeit. Und als ich zurückkam, war Berlin nicht mehr das Berlin, was ich kannte, als die Mauer noch stand. Und ich fand, dass Berlin langweiliger geworden ist und auf eine Art auch prätentiöser. Das was wir damals gelebt hatten, das hatte eine Selbstverständlichkeit und was heute manchmal an Verücktheiten gelebt wird, das hat sehr stark mit dem Ego zu tun.

Und ich habe meine Freundin in Berlin kennengelernt und bin mit ihr, einer Afrikanerin, eine Beziehung eingegangen. Da hatte ich die Möglichkeit, nach Afrika zu gehen, nach Sambia.

War das deine erste Reise nach Afrika?

Ja, die Frage ist gar nicht so einfach. Natürlich war ich dann in Afrika und habe so was wie Erinnerungen gespürt. Jede Person, jedes paar Augen, in das ich geschaut habe, war mir vertraut und hat mich an mein eigenes Sein erinnert. Also so etwas wie Erinnerungen an zu Hause. Obwohl ich meinen Vater niemals kennengelernt habe. Niemals persönlich und er ist auch inzwischen verstorben. Meine Freundin hatte Bekannte von überall aus Afrika und dadurch, dass ich eben auch für mich selbst auf der Suche nach meinen afrikanischen Wurzeln war, was auch immer das heißt, habe ich auch viel Kontakt gesucht zu Afrikaner_innen. Also ich hatte weniger Kontakt, fast keinen Kontakt zu Schwarzen Amerikaner_innen. Hin und wieder habe ich welche getroffen und mich mit ihnen unterhalten. Aber mein Augenmerk ging mehr nach Afrika.

Und dann sind wir eben nach Afrika geflogen. Ja. Also ich glaube drei / vier Wochen waren wir da. Wir waren dort, um ihren Bruder zu begraben. Das war leider auch mein einziges Mal, dass ich in Afrika war. Aber immerhin: Ich habe afrikanischen Boden berührt. Meine afrikanische Familie habe ich erst später kennengelernt – das war 1996 oder so. Da hat mein Cousin versucht, die Familie zusammen zu kriegen. Er schrieb mir einen Brief aus London, wollte sich einfach melden. Und da bin ich sofort los und habe ihn, meine Tante und drei Cousinen kennengelernt.

Wie war diese Begegnung für dich?

Das war, als würde ich in den Spiegel schauen. Also die sehen mir nicht unbedingt ähnlich. Aber es war, als würde ich in den Spiegel schauen, wirklich. Also ich kann mich erinnern, mein Cousin, der hat mich abgeholt und dann sind wir zu meinen Cousinen gefahren. Wir betraten das Haus und dann kreuzte da so eine Frau den Gang, meine Cousine. Wir guckten einander an und wir haben beide das Gleiche gedacht, als würden wir in den Spiegel gucken. Und wir wussten sofort, dass wir miteinander verwandt sind, sofort. Und dann haben wir uns ausgetauscht.

Also die Sache mit dem Spiegel begegnet mir immer wieder im Leben. Ich kann mich erinnern, als ich in Island als Kind gelebt habe, da gab es ja keine Schwarzen. Und das ist ja auch das Ding mit dem Spiegel. Wenn du die einzige Schwarze bist, kannst du dich nicht spiegeln. Es gab zwar die US-amerikanische Basis dort, aber die sind da nie raus gekommen. Die sind immer unter sich geblieben. Aber eines Tages bin ich einem Schwarzen begegnet und er ist auf mich zu und hat sich gefreut. Für mich war das erst mal nicht erträglich. Also er war sehr freundlich. Er ist auf mich zugegangen und hat gesagt, „du brauchst keine Angst haben“, weil ich so zurückgewichen bin. „Du brauchst keine Angst haben vor mir, ich bin doch dein Bruder.“ Aber ich konnte das nicht in dem Moment.

Und das Interessante dran ist, dass ich genau die umgekehrte Situation später hatte, als ich als Erwachsene in Island war und dann einem Schwarzen Kind begegnet bin. Der war mit fünf anderen, natürlich weißen Jungs unterwegs. Ich sehe ihn und geh auf ihn zu, weil ich mich freue ein Schwarzes Kind zu sehen. Und er guckt mich an und will eigentlich gar nichts mit mir zu tun haben. Er war der erste von den fünf Jungs, der mich verspottet hat. Ich hab mich dann erinnert, wie ich selbst reagiert hatte als Kind. Wenn du als Einzige „anders“ bist und nicht angenommen wirst, dann hast du einfach keine Spiegelung, keine Repräsentation und dann ist es immer so, als wärst du im luftleeren Raum.

Inwieweit hast du dich in anderen Schwarzen Menschen wiedergefunden?

Es ist schwierig, weil ich keine „typische Frau“ bin. Ich fand keinen Zugang zu Afrikaner_innen. Ich habe immer gedacht, es läge an mir. Aber die haben mich auch abgelehnt. Das war natürlich, weil ich lesbisch bin und das ist ja eine Erfindung von den Weißen, heißt es (lacht). Es ist einfach schwierig gewesen. Und dann war es so, dass mir einer etwas angetan hat, was für mich dann wirklich traumatisch war. Daran knabbere ich heute noch. Das möchte ich aber jetzt nicht aussprechen, weil das nicht so einfach ist. Aber das ist insofern wichtig, dass ich das erwähne, weil ich erstmal nicht nach Afrika wollte und mich zurückgezogen habe. Dann bin ich auf Reisen gegangen. Ich bin dann zurück nach Island und war dort eine Zeit lang, da habe ich erst mal nichts gemacht, weil ich erst mal heilen musste. Dann habe ich irgendwann in einer Fischfabrik gearbeitet. Von dort bin ich dann wieder nach London und bin dann dort sehr schnell in die Schwarze Community geraten. Da habe ich mich sehr wohl gefühlt.

Was war in London anders?

Ich habe mich wiedererkannt. Also ich habe in die Gesichter geschaut und gedacht: „Ah, ja das bist du“ Ob das jetzt Kinder waren, Erwachsene oder alte Menschen, ich habe mich immer wieder gesehen. Und ich habe auch Respekt erfahren. Eine ganz andere Art von Respekt, wie ich bis dahin erfahren hatte. Die standen auch hinter mir. Also die haben mich auch geschätzt, die haben mich auch geachtet.

Was bedeutet das heute für dich?

Die Erfahrung in London jetzt?

Ja, sowohl deine positiven Erfahrungen in London, als auch die negativen Erfahrungen auf dem Kontinent?

Also die negativen Erfahrungen haben mich dahingehend geprägt, dass ich ein bisschen Schiss habe, wieder nach Afrika zu fahren. Gleichzeitig spüre ich ganz stark in mir, also auch durch meine Träume, dass ich irgendwann diese Verbindung wieder herstellen muss, weil das bin ich ja, das ist egal, wie gut oder schlecht die Erfahrungen sind. Ich muss diese Connection machen, um wieder ganz zu werden. Und ich mache das auch, das wird irgendwann sein, aber im Moment noch nicht. Ich kann ja nur einen Schritt nach dem anderen gehen.

Was ist dein nächster Schritt?

Ich habe vor einigen Jahren angefangen, Masken zu machen und zwar würde ich sie „Medizinmasken“ nennen. Medizin im afrikanischen Sinne bedeutet zum Beispiel, dass wenn Menschen zusammen kommen und ein gutes Gespräch haben, dann war das gute Medizin. In diesem Sinne mache ich Masken. Die sollen gute Medizin sein. Das heißt, ich mache sie so, dass sich Leute gut fühlen.

Und wie entstehen deine Masken?