Die Autorin

Claudia  Balzer – Foto © Privat

Claudia Balzer, Jahrgang 1987, wuchs vor den Toren Dresdens auf, wo sie noch heute mit Mann, Kind und zwei Katzen lebt. Schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren hat sie sich in den Kopf gesetzt, ein Buch zu veröffentlichen, bevor sie dreißig wird. Dass sie ihr Ziel sogar deutlich vor ihrem dreißigsten Geburtstag erreicht hat, verdankt sie nicht nur einem ausgeprägten Hang zur Nachtaktivität, sondern vor allem ihrem Lieblingsgetränk: Kaffee.

Das Buch

Ella hat ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. Jedenfalls fast. Sie ist in eine neue Stadt gezogen, hat ihren ersten Job an Land gezogen und sobald sie ihre kleine Schwester zu sich geholt hat, muss sie nie wieder an ihre egoistische Mutter, ihre verkorkste Kindheit oder ihre diversen Stiefväter denken. Sie ist stark und unabhängig. Sie braucht niemanden. Schon gar nicht Levi. Levi, der auch nach mehrmaligen Abfuhren nicht locker lässt und sich langsam aber sicher in Ellas Herz stiehlt. Denn eins hat Ella bei all ihrem Überlebenswillen beinahe vergessen: Es muss auch etwas geben, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Oder besser: Jemanden...

Von Claudia Balzer sind bei Forever erschienen:

In der Burn-Reihe:
Burn for Love - Brennende Küsse
Burn for You - Brennende Herzen
Burn for Us - Brennende Leidenschaft



Flying Hearts
Meant to be
Nothing Between Us

Claudia Balzer

Nothing Between Us

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-390-2

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Für Jess, weil ich dir deinen Levi versprochen habe

Prolog


Silvester 2017

Ella

Es fühlt sich endlich nach dem Neuanfang an, nach dem ich mich schon so lange sehne. Eine neue Wohnung und eine neue Mitbewohnerin in einer neuen Stadt. Ich bin einmal quer durch Deutschland aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gezogen. Ich komme meinem Ziel nach Unabhängigkeit damit ein großes Stück näher. Ich kann mir mein Leben und ein neues Zuhause für meine Schwester aufbauen, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Wenn sie volljährig wird hole ich sie zu mir, bevor sie im Herbst beginnt in Leipzig zu studieren. Wir führen dann ein Leben weit weg von unserer Mutter.

Fürs Leben habe ich mir nur eine Sache geschworen: Ich werde nie wie meine Mutter sein. Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, das sind die großen Ziele, die ich verfolge. Vor allem in Bezug auf Männer. Das liegt weder daran, dass ich über den Durchschnitt hinaus schlechte Erfahrungen gemacht habe, noch, dass ich die Vertreter des anderen Geschlechts nicht leiden kann. Ich brauche sie nicht zum Glücklichsein. Unsere Mutter hat unser Haus nur unterhalten können, wenn sie Stiefväter für mich und meine Schwester Leonie mitgebracht hat, nachdem unser leiblicher Vater einfach gegangen ist. Es gab nette Exemplare unter ihnen. Es gab welche, denen wir ein Dorn im Auge waren und es gab diejenigen, denen wir schlichtweg egal gewesen sind. Die Letzteren waren mir die Liebsten. Dann hatte ich meinen Seelenfrieden und konnte mich in aller Ruhe um Leonie kümmern. Aber eine Sache hatten diese Stiefväter gemein: Sobald Mutter sie wie eine Weihnachtsgans ausgenommen hatte, sind sie von der Bildfläche verschwunden.

Alles was ich mir immer erträumt hatte, war ein normales und einfaches Leben. Ein Leben wie in den Fernsehserien, die ich sehe, oder den Büchern, die ich so gerne lese. Dabei rede ich nicht von den unrealistischen Liebesgeschichten. Niemand erlebt so etwas in der Realität. Liebe auf den ersten Blick? So ein Quatsch. Wenn die Liebe so oberflächlich ist und auf das Äußere fixiert, dann kann sie nicht allzu groß sein. Dann verzichte ich gerne auf sie. Mein Herz hat ohne das Zutun dieser hollywoodverschönten Gefühle über die Jahre genug blaue Flecken bekommen. Nein, was ich meine, sind die Familien in diesen Geschichten. Wie sie miteinander umgehen, sich bedingungslos unterstützen und immer füreinander da sind. Ein Familienleben, das ich nie erfahren durfte und dennoch vermisse.

Damals habe ich mir geschworen, dass ich nicht so ende wie Mutter. Meine Kinder werden keine Vorwürfe hören, dass sie mich zurückhalten, dass sie der Grund sind, warum ich meine Träume nicht verwirkliche. Ich schaffe alles aus eigener Kraft und werde niemandem die Schuld in die Schuhe schieben, sollte ich scheitern. Man muss nur einmal mehr aufstehen, wenn das Leben einen niederstreckt. Ich brauche keinen Mann, der mir wieder auf die Beine hilft.

Ich bin 26. Zwischen mir und meiner Mutter liegen über 500 Kilometer und in zwei Tagen beginne ich einen neuen Job. Ich würde sagen, dass ich durchaus Potenzial habe, um es zu schaffen.

»Ella, ich starte jetzt. Letzte Chance deine Meinung zu ändern«, ruft Linda, meine Mitbewohnerin, aus dem Flur und zerrt mich aus der leidigen Tagträumerei. Eigentlich hatte ich es mir mit einem Buch in meinem Bett bequem gemacht. Nur eine kurze Pause, bevor ich weiter die Kisten auspacke, die noch überall rumstehen. Ich bin noch gar nicht aus meinen Gedanken in die Realität zurückgekehrt, um ihr zu antworten, geschweige denn habe ich die Stelle im Buch zum Wiederfinden markiert, da höre ich sie im Flur fluchen. Keine Sekunde später hallt ein Poltern durch unsere Wohnung. Kurze Stille tritt ein, in der ich meine Ohren spitze. Direkt aufzuspringen habe ich mir inzwischen abgewöhnt. Dazu passieren ihr solche Sachen zu häufig. Ich kann gar nicht mitzählen, wie oft sie die letzten Tage über die Kisten oder noch nicht weggeräumte Dinge gestolpert ist. Mit einer Hand greife ich dennoch nach der Decke, unter der ich in meinem Bett liege.

»Alles okay«, ruft Linda schon und murmelt etwas, das ich nicht verstehe.

Wir wohnen knappe zwei Wochen zusammen und ich bin bereits oft in den zweifelhaften Genuss ihrer Tollpatschigkeit gekommen. In dieser kurzen Zeit sind wir enge Freundinnen geworden. Wir haben uns nicht erst durch das Zusammenziehen kennengelernt. Wir leben beide für gute Bücher und Social Media. Zwangsläufig sind wir uns in der virtuellen Welt über den Weg gelaufen und ins Gespräch gekommen. Das ist schon ein paar Jahre her. Wie es der Zufall wollte, benötigten wir zur gleichen Zeit eine Wohnung in Berlin. Im Witz schlug unsere gemeinsame Freundin Becca vor, dass wir doch zusammenziehen sollten, um uns die Kosten der Großstadt zu teilen. Aus diesem Einwurf wurde schnell Ernst und wir haben uns selbst gefragt: Warum eigentlich nicht? Wenigstens für den Anfang ist es die ideale Lösung. Zu unserem Glück sind wir uns im realen Leben genauso sympathisch. Linda ist voller Lebensfreude und Licht. Ebenso ist sie tollpatschig und das ist ihr auch bewusst. Sie nimmt es mit Humor. So wie jetzt, wo sie den Flur anscheinend der Länge nach vermessen hat. Sie taucht in der offenen Tür zu meinem Zimmer auf. Ihre blonden langen Haare sind immer ordentlich und ihr Äußeres ist zu jeder Zeit gepflegt. So wird sie auch vor ihrem Sturz ausgesehen haben. Ein paar Strähnen auf ihrem Kopf wurden verwuschelt. Ich schlage die Decke zurück und lege mein Buch zur Seite. Die Distanz zu ihr ist in wenigen Schritten überwunden. So gemütlich unsere Wohnung ist, so winzig ist sie auch. Linda hält still, als ich ihre Haare wieder richte und glatt streiche.

»Geh du aus, Linda und habe Spaß für uns beide, ja?«, lehne ich ihr Angebot ab. Sie weiß, dass ich meine Meinung nicht ändere, aber vielleicht hat sie darauf gehofft. Sicher, es ist aufregend, Silvester das erste Mal in Berlin zu erleben, und die angemessenste Art und Weise das zu feiern ist der Besuch des Brandenburger Tors. Doch mir sind das eindeutig zu viele Menschen und auch ist mir nicht nach Party zumute. Letztendlich flößt mir diese große, fremde Stadt gehörigen Respekt ein.

»So. Jetzt siehst du wieder ordentlich aus«, erkläre ich lächelnd.

»Danke dir«, sagt Linda. »Aber du kannst doch nicht den ganzen Abend alleine in deinem Bett sitzen und lesen«, diskutiert sie weiter.

»Dann kennst du mich noch nicht gut genug«, sage ich lachend. Wirklich. Genau das, was sie eben beschrieben hat, ist meine Idealvorstellung für den Silvesterabend. Linda holt Luft und ich weiß, dass sie noch etwas sagen möchte, aber sie seufzt nur, ebenfalls lächelnd, und zieht mich in ihre Arme. »Danke dir, Ella.« Sie lässt wieder von mir ab und richtet sich auf. Sie strafft ihre Schultern, als würde sie in den Kampf ziehen. Dabei geht sie mit Freunden aus. »Dann sehen wir uns nächstes Jahr, schätze ich.« Linda muss über ihren eigenen Witz lachen und ich gebe ein Glucksen von mir, das man als eine Antwort auf ihr Lachen deuten könnte.

»Wir sehen uns nächstes Jahr«, bestätige ich und dränge sie in die Richtung unserer Wohnungstür. Sie käme sonst nur zu spät oder würde nach Argumenten suchen, mich doch zum Mitgehen zu überreden. Ich tue uns beiden einen Gefallen damit.

»Stell nichts an, was ich nicht auch machen würde und komm mir gesund wieder«, verabschiede ich sie.

»Jawohl, Mama«, lacht sie, als sie das Treppenhaus herunter eilt. Kopfschüttelnd schließe ich die Tür. Ich atme tief durch und lasse mich von der Stille um mich herum einnehmen. Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer sehe ich, dass wir nachgelassen haben, was das Ordnunghalten angeht. Ich nehme mich der Aufgabe an, die weniger Zeit in Anspruch nimmt, als ich mir am Ende erhofft habe. Ganz so verwildert haben wir doch nicht gehaust. Nach dem Abwasch, Aufräumen, Abstauben, Bad putzen und Staubsaugen um die verbliebenen Kisten herum, ist noch keine Stunde vergangen. Mit einem aufgeschnittenen Apfel, Tee und dem angefangenen Buch ziehe ich auf die Couch um. Mitten im Kapitel, in dem die zwei Hauptpersonen auseinandergerissen werden, vibriert das Telefon neben meinem Oberschenkel in den Polstern des Sofas. Mit dem Zeigefinger der linken Hand fixiere ich die Stelle im Buch, an der ich bin und nehme mit der rechten das Gerät auf. Eine Nachricht von Becca.

ELLA!

Allein die Tatsache, dass sie meinen Namen komplett in Großbuchstaben schreibt und ein Ausrufezeichen dahinter setzt, lässt mich lächeln. Ich bin gespannt, was sie diesmal so in Aufruhr versetzt. Eine ihrer Lieblingsbands könnte ein Lied angekündigt haben. Sie könnte wieder mal die eine unschlagbare Idee für ihr Buch, an dem sie schreibt, haben, oder ihr Sohn hat ihr offenbart, dass er Comiczeichner wird statt Polizist, was ihre Brust zum Anschwellen bringen würde. Obwohl ihr kleiner Knirps sich später sicher gut in einer Uniform gemacht hätte. Was wird es diesmal sein?

Ich lerne ab heute koreanisch!

Mir entfährt ein lautes Lachen. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich weiß, dass ich alleine bin und dennoch sehe ich mich um, ob mich jemand dabei beobachtet, wie ich mir selbst zulache. Ich antworte ihr mit einem GIF von Dean Winchester, unser beider Kryptonit, wie er ihr einen Daumen nach oben entgegenhält, und füge ein »You go girl!« hinzu. Noch immer lächelnd widme ich mich abermals den Seiten vor mir. Die Zeit verfliegt mit der Geschichte. Um mich herum ist es inzwischen stockdunkel geworden, als ich nach ein paar Kapiteln meine Umgebung wieder wahrnehme. Ich weiß gar nicht, wann ich das kleine Standlicht neben mir angemacht habe. Aber als bunte Lichter die hellen Seiten des Buches färben, sehe ich auf. Ich suche den Ursprung und werde schnell fündig, als ich durch die Fensterscheiben nach draußen blicke. Ich lege das Buch offen mit dem Rücken nach oben auf den Couchtisch. Barfuß durchquere ich den Raum, bis ich vor dem Fenster stehe.

»So wunderschön«, flüstere ich, obwohl mich niemand hören kann. Das Feuerwerk erstrahlt den gesamten Himmel. Ich schlüpfe in die Strickjacke, die ich nur über einen Stuhl geworfen hatte. Ich stecke mir mein Handy in die Jackentasche und gehe auf unseren winzigen Balkon, auf den gerade mal zwei Klappstühle passen. Ich setze mich auf den linken.

Die kalte Winterluft kühlt meine Atemwege und der Geruch der ganzen Feuerwerkskörper dringt langsam in meine Nase. Überall leuchten Lichter in verschiedenen Färbungen auf und es funkt und glitzert am Nachthimmel. Aus der benachbarten Wohnung sind gegenseitige Glückwünsche zu hören. Der Himmel ist in bunte Farben getaucht, sodass ich meinen Blick gar nicht abwenden kann.

Ein neues Jahr.

Ich bin gespannt, was es für mich geplant hat. Abermals atme ich tief durch und beim Ausatmen entsteht eine große Wolke. Ja, was wird es für mich in Petto haben?

Werde ich in meinem neuen Job Fuß fassen? Werde ich mit meiner Arbeit so überzeugen, dass mein Vertrag Ende des Jahres entfristet wird? Werde ich die Schuldgefühle, dass ich diese Entscheidung hierher zu ziehen, weit weg von meiner Schwester, nur für mich gefällt habe, je los? Werde ich endlich komplett auf eigenen Beinen stehen und meinen Weg finden? Ist dieser Wunsch so unrealistisch?

Mein Handy vibriert und ich fische es aus der Tasche heraus.

»Happy New Year!«, wünscht mir Becca. Der Nachricht ist ein Bild von ihr, ihrem Mann und ihrem Sohn beigefügt, auf dem die beiden Männer Becca gleichzeitig auf jeweils eine Wange einen Kuss drücken. Sie sehen so verdammt glücklich aus. Das macht nicht nur das Grinsen in ihrem Gesicht deutlich. Auch ihre Augen verraten es. In einer kurzen Antwort wünsche ich den dreien ein gesundes Neues Jahr und versuche, ein Bild des mit Farbpunkten bedeckten Himmels beizufügen. Beim zweiten Anlauf klappt es. Ich beobachte das Spektakel ein paar Minuten weiter, bis das Telefon in der Hand wieder vibriert. Ich habe eine neue Nachricht von Becca vermutet, doch ich werde eines Besseren belehrt. Leonie. Mein Herz schlägt sofort schneller. Immer, wenn sie sich meldet, überrollt mich mein schlechtes Gewissen. Dabei habe ich meine Schwester nicht zurückgelassen. Sobald ich kann, werde ich sie zu mir holen. Ein halbes Jahr habe ich dafür Zeit. Dann wird sie achtzehn. Das bedeutet in unserem Haushalt, dass man flügge genug ist, um das Nest zu verlassen. Egal, ob man will oder nicht. Mutter hatte nur vergessen, uns das zu erzählen. Ich habe damals große Augen gemacht, als sie mir einen gebrauchten Koffer geschenkt hat und mir eröffnete, dass ich meine Sachen zu packen habe.

Kannst du wirklich nicht wieder nach Hause kommen? Happy New Year…

Leonies Nachricht gleicht einer Faust in die Magengrube. Sie hat diese Wirkung auf mich.

Die Entscheidung quer durch Deutschland zu ziehen habe ich mir nicht leicht gemacht, aber es ist die erste Entscheidung seit der Geburt von Leonie, die ich nur für mich gefällt habe. Ich wüsste nicht mal, wann ich jemals eine Entscheidung unabhängig von jemand anderen getroffen habe. Dieser Job, den ich übermorgen antrete, ist mein Traum. Dazu kommt, dass mein erstes Projekt, das ich betreue, für eine große Messe in Hamburg sein wird. Ich muss einen guten Eindruck mit meiner Bewerbung und dem Vorstellungsgespräch hinterlassen haben. Wer bekommt sonst als Neuling so einen großen Auftrag anvertraut?

Mir fällt es schwer, aber ich sperre mein Telefon und lasse es wieder in die Tasche der Jacke gleiten. Ich werde meiner Schwester nach einer Mütze Schlaf antworten. Nachrichten und Entscheidungen nach Mitternacht sind selten durchdacht und bringen mehr Schaden als Nutzen. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, aber die Ausrede ist gut genug, um meinem schlechten Gewissen ihr gegenüber nicht zu viel Raum zu geben.

Dieses Jahr wird mein Jahr. Meins und meins allein. Ich darf auch mal dran sein. Ich bin es leid, dass alle sich ihre Träume verwirklichen, aber ich immer auf der Strecke bleibe. Das ist nicht das Leben, das ich für den Rest meiner Tage leben will.

Heute ist der erste Tag des neuen Jahres und der erste Tag meines neuen Lebens.

»Pass auf Welt. Jetzt komme ich.«

März

Kapitel 1


Levi

»Ich schwöre, wenn ich zurück in Berlin bin, lasse ich dir einen dieser GPS-Chips setzen, die Hunde immer bekommen, damit ihre Herrchen sie tracken können«, fluche ich, als Philip noch immer nicht an sein Telefon geht und die Verbindung abbricht, weil ich es zu lange klingeln lasse. Seit gestern Abend kann ich ihn nicht erreichen. Nicht mal die obligatorische Guten-Morgen-Nachricht habe ich bekommen. Es ist Freitag um 08:00 Uhr. Er müsste schon längst auf den Beinen sein, wenn er sich pünktlich auf den Weg zur Arbeit machen will. Wäre ich nicht in Hamburg, würde ich zu ihm fahren und so lange gegen seine Tür pochen, bis er sie öffnet und die Nachbarn sich über ihn beschweren. Das war alles noch einfacher, als wir zusammen wohnten. Von außen betrachtet sehen die Sorgen um meinen besten Freund sicher übertrieben aus, aber um das zu verstehen, muss man unsere Geschichte kennen. Wir sind wie Brüder aufgewachsen. Wir sind das nächste an Familie, das wir noch haben. Roman, Philip und ich. Uns gab es immer nur zu dritt. Da Roman nicht mehr da ist, haben wir nur noch uns und ich übertreibe nicht, wenn ich das so sage. Wir haben nur uns.

Wir sind 29. Er ist nicht verpflichtet, sich bei mir zu melden, aber er weiß, dass es mir wichtig ist, damit ich beruhigt in den Tag starten kann. Wir hätten unsere WG nicht auflösen dürfen. Aber vermutlich wüsste ich dann auch nicht, wo er sich gerade aufhält. Ich hätte bei seinem Umzug einfach kleine Kameras in seiner Wohnung installiere sollen. Damals fand selbst ich das übertrieben, aber gerade finde ich die Option, einen Blick in seine vier Wände werfen zu können, nicht verkehrt. Ich schüttle über meine eigenen Gedanken den Kopf. Bin ich jetzt völlig verrückt? Er hat sich nur ein paar Stunden nicht gemeldet. Nicht Tage.

Seufzend lasse ich mein Handy in eine der vielen Taschen meiner Sicherheitshose gleiten. Von meinen Angestellten verlange ich, dass sie sich in jedem Moment auf ihren Job konzentrieren und private Sorgen oder Aufregung zu Hause lassen. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich meine Firma »Coup d`état« zu einer der erfolgreichsten in der Sicherheitsbranche gemausert hat. Vom ersten Tag an habe ich hohe Ansprüche an mich und meine Angestellten gestellt. Nur so konnten wir uns diesen guten Ruf erarbeiten. Ich atme noch einmal tief durch. Am Ende liegt Philip im warmen Bett einer Schönheit, die er gestern kennengelernt hat, und ich mache mir umsonst Gedanken.

Eine halbe Stunde später finde ich mich in einem der Meetingräume hinter den Kulissen der Hamburger Messe wieder. Wir sorgen für die Sicherheit auf einer der größten Unternehmermessen. Das heißt, hochrangige Geschäftsführer, Politiker und prominente Werbeträger werden anwesend sein. Mit mir am Tisch sitzen die Teamleiter. Besonders bei einem Großauftrag wie diesem ist es wichtig, dass wir klare Absprachen haben. Heute kommt nicht nur unsere Stammbelegschaft zum Einsatz. Für Events wie diesen werden oft zusätzliche Kräfte gebucht. Es sind meist die, die mir Sorgen bereiten. Ich kenne den Großteil nicht, und die zeitliche Kapazität, jeden Einzelnen vorher kennenzulernen habe ich nicht.

Die Motivation einen guten Job zu machen, kann bei ihnen enorm oder fast gar nicht vorhanden sein. Es ist so ein bisschen wie das Öffnen eines Überraschungseis: Man weiß vorher nie, was man bekommt. Ist es die seltene Sammelfigur, auf die alle hoffen – die Perle in einem Meer aus Plastikkugeln? Man weiß es erst, wenn man das Ei öffnet. Es ist unsere Aufgabe für die Sicherheit der Massen an Leute zu sorgen, die die Veranstaltungen besuchen. Ein Fehler kann im allerschlimmsten Fall jemanden das Leben kosten. Unser Job ist es, dass sich alle sicher fühlen, während sie Spaß haben. Dabei sind Messen wie diese noch die leichtere Aufgabe für unsere Branche. Nervig zu organisieren, aber dennoch entspannter vom Risikofaktor her.

»Guten Morgen«, grüße ich in die Runde, als sich das ganze Dutzend Teamleiter eingefunden hat. Sie erwidern den Gruß. Der Großteil hält sich an einem Becher Kaffee fest und ich kann es ihnen nicht verübeln. »Gestern war zum Aufwärmen. Der Messedonnerstag ist in der Regel ruhiger. Alles, was gestern suboptimal gelaufen ist, muss heute klappen. Heute geht es in die Vollen. Volle Hallen, volle Schlangen, volle Wartezeiten. Bereitet euch darauf vor. Und heute ist auch nur die Generalprobe für Samstag.« Ich sehe um mich. Alle stimmen mir zu. Teamleiter wird niemand, der erst vor ein paar Wochen angefangen hat. Nur erfahrene Leute sitzen vor mir. »Warnt die neuen Kollegen entsprechend vor. Neulinge werden nicht allein gelassen. Bildet Gruppen in euren Teams, die aus alten Hasen und jungem Blut gemischt sind. Ich will, dass wir alles zu jeder Zeit unter Kontrolle haben und alles ohne Zwischenfälle über die Bühne geht.« Wir haben elf Hallen abzudecken und für die Sicherheit von tausenden von Leuten zu sorgen.

»Die Leute kommen her, weil sie gleiche Interessen haben. Onlinebusiness wird ins reale Leben gebracht. Influencer sprechen auf großen Bühnen. Wichtige Geschäfte werden abgeschlossen. Angesagte Bands treten auf. Vergesst die Fans nicht. Nicht alle sind harmlos. Unsere Aufgabe wird es sein, dass alle die Zeit, die sie hier sind, genießen können, ohne sich dabei um ihre Sicherheit sorgen zu müssen.« Meine Kollegen hängen an meinen Lippen und ich würde lügen, wenn ich sagte dass mich das nicht noch mehr anstachelt.

»Im Konkreten wird das wie folgt aussehen: Das Personal an der Eingangskontrolle wird aufgestockt. Bleibt dabei dem Schema treu, dass kein Neuling alleine arbeitet. Seid gründlich bei den Taschenkontrollen, aber bleibt freundlich, lächelt und macht euren Job nach besten Wissen und Gewissen. Solltet ihr dennoch überrannt werden, dann ruft mich dazu. Ich packe überall mit an, wo ich gebraucht werde.« Prompt meldet sich der Supervisor vom Einlass.

»Big Boss, dann würde ich dich gleich für Samstag und Sonntag früh mit am Einlass einplanen«, schlägt er vor und ich nicke ihm bestätigend zu. Ich notiere mir die Änderung auf der Übersicht auf dem Klemmbrett vor mir.

»Für die After-Messe-Party heute Abend ist alles klar?«, frage ich und die drei verantwortlichen Teamleiter nicken mir zu.

»Also«, rufe ich aus und klatsche in meine Hände. »Die Pläne habe ich hier«, sage ich und wedle mit einem Stapel Papiere in meiner Hand herum. »Hier stehen eure Teams, einschließlich Einsatzzeiten drauf. Innerhalb des Teams organisiert ihr euch selbst. Wie gesagt, kein Neuling alleine.« Ich gebe die Listen an die Teamleiter aus. »Findet euch in euren Teams zusammen und bezieht eure Posten.« Keiner hat weitere Fragen und ich habe auch keine erwartet. Das ist der Vorteil, wenn man seinen Kollegen vertraut. Ich selbst habe einen Termin beim Geschäftsführer dieser Messe, bevor ich meine Kollegen unterstütze. Er wird mich darauf aufmerksam machen, dass sich einige Politiker angekündigt haben und wir extra darauf achten müssen. Als ob er mich darauf hinweisen müsste. Nachdem ich meine Ausbildung bei der Polizei geschmissen habe, habe ich als Bodyguard angefangen. Über kurz oder lang haben mich mein Können und meine unkonventionelle Art schnell wichtige Persönlichkeiten der obersten Reihen beschützen lassen. Ich habe diese Zeit gehasst. Minister und Lobbyisten sind nicht meine Leute. Es gibt anständige unter ihnen, aber viel zu oft wurde ich vom Gegenteil überzeugt. Dennoch habe ich mich nie im Schlechten von ihnen getrennt. Einige lassen ihre Einrichtungen durch meine Firma überwachen, weil sie noch wissen, wie ernst ich meinen Job nehme und vor allem, wie gut ich Geheimnisse für mich behalten kann.

Als alle den Raum verlassen haben, hole ich mein Handy noch einmal hervor. Noch immer habe ich keine Nachricht oder einen Anruf von Philip. Warum wundere ich mich darüber? Ich habe es weder klingeln gehört, noch ein Vibrieren gemerkt. Was zur Hölle treibt er? Noch einmal rufe ich ihn an. Vergebens. Ich versuche weiter meine Sorgen um ihn auszublenden und mache mich auf den Weg zum Geschäftsführer. Er wartet bereits im Atrium der Eingangshalle auf mich. Von hier hat man einen guten Überblick. Ich verlangsame meinen Schritt und atme noch einmal tief durch. Langsam normalisiert sich mein Atem und Puls wieder. Ich erwarte von jedem Einzelnen meiner Mitarbeiter, dass sie professionell sind, egal, was sie für private Sorgen haben. Das ist unser Job. Nur heute muss ich mich selbst an diesen Grundsatz erinnern.

Bevor ich meinen Auftraggeber erreiche, vibriert das Telefon in meiner Hand. Ich deute an, dass ich noch eine Sekunde brauche. Der Mann im steifen Anzug nickt mir verstehend zu und unterhält sich mit einem seiner Begleiter. Ich sehe auf das Display. Eine Nachricht von Philip.

Ich habe verschlafen, Herr Gefängniswärter.

»Dieser …«, murmle ich wütend vor mich hin, aber insgeheim bin ich erleichtert.

Kapitel 2


Ella

Für einen kurzen Moment verschlägt es mir die Sprache, als ich vor der großen Fensterfront der Hamburger Messe stehen bleibe. Die Sonne spiegelt sich darin. Als ich in aller Herrgottsfrühe in Berlin gestartet bin, war es noch dunkel und es hat geregnet. Ich genieße die warmen Strahlen, die mein Gesicht berühren. Ich bin schrecklich nervös. Nicht nur, weil ich solche Menschenmassen an einem Ort nicht mag. Sonntagmorgen steht ein mehr als wichtiger Termin für mich an. Es kann der Termin sein, der über meine weitere Karriere in der Agentur entscheidet. Und ein weiterer Punkt ist, dass ich Becca heute das erste Mal sehen werde. Wir sind seit Jahren befreundet und haben uns über unser Fernstudium kennengelernt, aber es hat sich nie ergeben, dass wir in ein und derselben Stadt gewesen sind. Dass wir beruflich sogar auf der gleichen Messe sind, grenzt an ein kleines Wunder. Ihre Bücher schreibt sie nur in ihrer Freizeit, auch wenn ich keine Ahnung habe, wann sie das anstellt. Gefühlt findet sie jeden Tag erneut ihre Berufung. Aber genau das mag ich an ihr. Sie begeistert sich so leicht und schnell für die einfachsten Dinge. Dadurch kennt sie sich in einer Vielfalt von Themen aus und das macht Unterhaltungen mit ihr so spannend.

Ich glaube, dass aus Bekanntschaften, die man online geschlossen hat, genauso tiefe und wichtige Freundschaften entstehen, als wenn man sich tagtäglich sehen würde. Mir fällt es sogar leichter, mich anderen gegenüber zu öffnen, wenn ich ihnen nicht unmittelbar ins Gesicht blicken muss. Und dennoch kommt der Zeitpunkt dafür. Man versteht sich eine Zeit sehr gut und dann reicht das nicht mehr aus. Man will sich sehen und testen, ob die Freundschaft im wahren Leben genauso eine Chance hat und der andere sich nicht nur verstellt hat.

Wir werden uns jedoch nicht vor heute Abend treffen können. Becca ist bereits gestern Abend angereist und war schon weg, als ich meinen Koffer ins Hotel gebracht habe. Ihre Firma hat ihren Stand in einer anderen Halle. Ich bin so aufgeregt, dass ich mich heute Morgen nicht von Linda verabschiedet habe und auf der Zugfahrt mein Buch nicht weiterlesen konnte. Ich konnte mich auf keine Zeile konzentrieren, obwohl ich das Buch wirklich mag und wissen will wie es weiter geht.

Ich zücke mein Handy hervor, weil ich nicht weiß, wann ich heute wieder dazu komme. Ich schreibe Linda eine Nachricht, dass ich gut angekommen bin, und die nächste geht an meine Schwester:

Bis Sonntag bin ich kaum am Handy. Wenn etwas sein sollte, dann schreib mir und ich melde mich, sobald ich kann.

Becca schreibe ich:

Ich bin da! Wir sind zur gleichen Zeit an einem Ort!

Von ihr erwarte ich die nächste Zeit keine Antwort. Sie wird bereits arbeiten. Aber ich bekomme eine Antwort von Leonie.

Ich weiß. Diese dumme Messe.

Getoppt wird diese Nachricht noch von einem verärgerten Emoji. Mein Magen zieht sich zusammen. Leonie ist enttäuscht und vielleicht hat sie jedes Recht dazu. Dennoch entweicht mir ein Seufzen, als sich erst Enttäuschung und dann Wut in mir ausbreitet. Die letzten drei Monate waren sicher nicht einfach für sie. Allein mit unserer Mutter und ihrem aktuellen Mann leben zu müssen ist alles andere als angenehm. Jeden Tag bettelt sie darum, dass ich sie da raushole, und das werde ich auch. Nur müssen wir noch ihren achtzehnten Geburtstag abwarten. Dann wird Mutter auch sie verstoßen und wir können unser Leben in Frieden verbringen. Den hatten wir beide bisher nur, als wir noch kleiner waren und ich ihr Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen habe. Nur dadurch habe ich die ganze Vielfalt der Bücherwelt kennen- und letztendlich liebengelernt. Vor allem, wie leicht sich der Realität durch sie entfliehen lässt. Ich habe Freunde in den Seiten gefunden, die mich heute noch stärken. Die Kinder von Bullerbü. Der tapfere Harry Potter. Die neugierige Matilda. Der kleine Prinz und die Liebe zu seiner Rose. Das sind die Freunde, mit denen ich und Leonie aufgewachsen sind. Der Haken an der Sache ist schon immer gewesen, dass sie nicht echt sind. Sie haben mir Trost gespendet, haben mich akzeptiert, wie ich bin – aber sie sind nicht echt. Becca und Linda sind die ersten engen Freunde, die nicht aus irgendwelchen Seiten stammen. Leonie weiß was diese Messe für meine Karriere bedeutet. Sie weiß auch, was Becca mir bedeutet und dass sie manchmal die Einzige gewesen ist, die verhindert hat, dass ich wegen unserer Mutter durchdrehe und einfach Leonie einpacke und gehe. Sie hat mich immer daran erinnert, dass wir das bereits versucht haben, als ich unser Zuhause verlassen musste. Es hatte für den Moment sogar funktioniert, bis Leonies Schule stutzig wurde und nachgeforscht hat. Das Jugendamt tauchte auf und kurz gesagt: Es war nicht schön. Mutter hat an der ganzen Sache nur gestört, dass ihr das Kindergeld gestrichen werden sollte. Umso wichtiger ist es, dass diese Messe gut für mich läuft, damit ich bereit bin. Ich werde Leonie ein One-Way-Ticket nach Berlin schenken. Ich hole sie zu mir, bis ihr Studium in Leipzig beginnt, und dann lassen wir unsere Mutter hinter uns. Ich antworte meiner Schwester.

Leonie, drei Monate haben wir geschafft. Fast die Hälfte ist rum. Noch vier Monate und ich hole dich zu mir.

Bin ich genauso grausam wie Mutter, weil ich Leonie alleine zurückgelassen habe? Aber auf der anderen Seite habe ich meiner Schwester alles an die Hand gegeben, damit sie zurechtkommt. Ich schenke ihr zu ihrem Geburtstag nämlich außerdem ein Sparbuch, auf dem ich während der letzten Jahre ein Startkapital für sie angelegt habe. Die Sterne stehen für sie besser. Nachdem Mutter mich rausgeschmissen hat, bin ich von Couch zu Couch gesurft, bis ich einen Job gefunden hatte. Als der Job sicher war und ich ein Dach über dem Kopf hatte, habe ich nebenher ein Studium begonnen. Es gab Zeiten, da wusste ich nicht, wie ich die nächste Mahlzeit bezahlen sollte. Studium, bis zu zwei Nebenjobs, die nicht unbedingt die schönsten gewesen sind, und dazu kam eine kleine Schwester, die gegen den Willen unserer Mutter lieber in meiner heruntergekommenen Ein-Zimmer-Wohnung mit mir gehaust hat. Oft wollte ich alles hinschmeißen, und dennoch habe ich es immer wieder geschafft aufzustehen. Leonie ist eine noch größere Kämpferin. Sie wird ihren Weg finden. Sie hat meine volle Unterstützung, aber zurzeit eben nicht direkt vor Ort. Auch wenn mich der bissige Kommentar meiner Schwester wütend macht, schicke ich ihr noch eine Nachricht hinterher:

Du weißt, dass meine Tür für dich immer offensteht.

Ich beobachte, wie sich die Häkchen hinter dem Text blau färben weil sie die Nachricht gelesen hat. Eine Antwort bekomme ich nicht. Bevor ich das Telefon wieder in meine Tasche gleiten lasse, kündigt sich noch eine Nachricht an. Becca hat mir doch antworten können.

Nur damit du weißt, nach wem du später am Ausgang Ausschau halten musst. Ella, ich bin so unglaublich nervös. Was machen wir, wenn wir uns nicht mögen oder wir uns nerven?

Ihre Stirn auf dem Foto, dass sie offenbar schnell vor dem Spiegel auf einer der Toiletten gemacht hat, ist in nachdenkliche Sorgenfalten gezogen. Schnell antworte ich ihr.

»Becca, das ist unmöglich. Wir beide – das kann gar nicht schief gehen«, versichere ich ihr und denke an die unzähligen Nachrichten die wir einander geschrieben haben. Sie weiß so viel über mich, dass es beängstigend ist. Aber das ist nicht einseitig. Sie hat mir einige Dinge anvertraut, die kaum einer weiß.

»Ok«, ist ihre Antwort, die nicht von ihrer Aussagekraft überzeugt. Aber das ist so eine Sache, die wir erst herausfinden, wenn wir uns gegenüberstehen. Ich bin genauso nervös und aufgeregt wie sie. Meine beruhigenden Worte sind nicht nur für sie bestimmt.

Becca, wir werden uns in die Arme fallen, wie zwei alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben. Wir knüpfen einfach an unsere letzten Nachrichten an. Du wirst sehen, dass es für uns keinen Unterschied macht. Dafür verstehen wir uns zu gut.

Dennoch beruhigt es mich, dass ich mit meinen Zweifeln nicht alleine bin. Die Befürchtungen, die sie gerade ausgesprochen hat, habe ich auch gehabt. Ich glaube einfach daran, dass wir beide uns verstehen werden. Etwas anderes werde ich nicht gelten lassen.

Doch jetzt gehe ich auf diese Messe und werde einen fabelhaften Job machen.

Kapitel 3


Ella

»Ella, uns gehen die Getränke gleich aus. Kannst du bitte Nachschub aus unserem Lager holen?«, fragt Selina mich. Sie hat kaum Zeit meine Antwort abzuwarten, weil sie zu ihrem Gesprächspartner zurückeilt. Die Messe ist hektisch und ich habe das Gefühl, dass meine Stimme heute Abend nicht mehr da sein wird vom vielen Reden.

»Klar«, sage ich, weil mein nächster Termin erst in einer Stunde gebucht ist. Alle meine Kolleginnen sind beschäftigt und unsere runden Tische sind belegt. Ich würde sagen, dass die Messe für uns bisher gut läuft. Die Tische waren zu jeder Zeit besetzt. Ich hole mir den Schlüssel für unser Lager und schnappe mir eine der zusammenklappbaren Sackkarren, die ich in dieser schmalen Größe sonst nur aus dem schwedischen Möbelhaus kenne. Ich bahne mir meinen Weg durch die Massen und brauche über zwanzig Minuten, um die Halle einmal zu durchqueren und in den Bereich zu gelangen, der ausschließlich für uns Aussteller reserviert ist. Bis dahin verläuft alles unspektakulär. Lediglich mit dem Stapeln der Getränke übertreibe ich es ein wenig. Doch lieber nehme ich etwas mehr mit, als dass noch einmal jemand von uns los muss, obwohl ein Termin den nächsten jagt. Mein Plan geht auch soweit auf. Bis ich kurz, bevor ich in den allgemeinen Bereich zurückkehre, mit einem Rad an irgendetwas hängenbleibe. Das Irgendetwas entpuppt sich als eine kleine Rolle aus Plastik, die irgendwo heruntergefallen sein muss. Ich stelle meine Karre ab und räume die Rolle weg, damit nicht jemand anderes darüber stolpert. Doch als ich die Getränke weiterschieben will, bemerke ich, dass ich die Karre überladen habe. Ich halte die obere Kiste nicht fest. Vom Ruck des Anfahrens und der Neigung rutscht sie aus der unteren Kiste heraus und macht sich selbstständig. Ich kann gerade noch ausweichen, als sie herunterfällt und meinen Kopf verfehlt. Die Flaschen verteilen sich auf dem ganzen Boden. Mein Glück ist nur, dass es keine Glasflaschen sind. Ich hätte den Rest des Wochenendes damit verbracht diese Sauerei wegzuwischen. So stelle ich die Kiste auf und beginne damit, die Flaschen einzusammeln. Nach und nach füllt sich der Kasten wieder. Aber vier Fächer bleiben leer. Ich sehe überall nach. Die Flaschen sind hinter keine der Tonnen gerollt und auch nicht unter einen der gelagerten Tische oder Stühle. Sie können nur die Treppe heruntergerollt sein, die sich rechts von mir befindet. Diese Treppe ist mit einem Schild und mit einem extra Band unübersehbar gesperrt. Nachdem ich mich vergewissere, dass mich niemand beobachtet, schlüpfe ich unter der Absperrung hindurch. Die Treppen sind nicht beleuchtet, aber am Ende entdecke ich drei der fehlenden Flaschen. Ich sammle sie ein und trage sie wieder nach oben. Auf halber Höhe halte ich inne, nicht, weil ich die letzte Flasche gefunden habe, sondern weil ich mich beobachtet fühle. Ich sehe auf und geradewegs in die Augen eines Sicherheitsangestellten. Für gewöhnlich reicht die Uniform dieser Männer, dass es mir die Sprache verschlägt. Doch habe ich davon heute schon einige gesehen und bin ein wenig abgehärtet. Zumindest für den Moment. Auch wenn seine Uniform ein wenig anders aussieht. Das gleiche Schwarz und das gleiche Logo, aber gleichzeitig schlichter, wenn das Sinn ergibt. Die farbige Weste mit der Stuartnummer fehlt. Er trägt nur die Uniform, ohne ein weiteres Merkmal um ihn zuzuordnen. Hat er mehr zu sagen als die anderen, dass er diese nicht benötigt?

Doch was mich bei dem Mann vor mir wirklich verstummen lässt ist sein Aussehen. Hätten Jensen Ackles und Matt Cohen ein Baby, dann würde es genauso aussehen. Exakt so. Nur, dass bei dem Mann vor mir nichts mehr an ein Baby erinnert. Unter seinem Blick gehe ich die letzten Stufen nach oben. Seine Augen sind so grün, dass die Farbe heraussticht. Seine dunklen Haare sind kurz an den Seiten und oben nur leicht länger. Er sieht müde aus. Dass er sich scheinbar einen Tag nicht rasiert hat, ist nicht unbedingt zu seinem Nachteil. Er hält die letzte fehlende Flasche in der Hand.

»Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass du als eine Attentäterin durchgehst«, sagt er und deutet mit einer Hand auf unseren Größenunterschied. Er ist über einen Kopf größer. Mindestens. Ich fühle mich ertappt, weil ich sehr wohl etwas Verbotenes getan habe, und gleichzeitig herausgefordert, weil man mich oft wegen meiner Größe unterschätzt.

»Wer sagt, dass kleine Leute nicht gefährlich sein können?«, frage ich, als ich die Flaschen wieder in die Kiste gleiten lasse. Ich weiß nicht, ob ich mir einen Gefallen tue, wenn ich eine Diskussion heraufbeschwöre, mit jemandem, der für die Sicherheit verantwortlich ist, wenn ich offensichtlich gerade einen abgesperrten Bereich betreten habe.

»Ich denk da an den kleinen Spitz meiner Oma«, erzählt er. »Der hat immer gekläfft und gezwickt, aber gefährlich? Nicht wirklich«, sagt er schulterzuckend.

»Wer sagt, dass hier wirklich Wasser drin ist?«, fordere ich ihn heraus und zeige ihm die Flasche, aus der ich vorhin schon einen Schluck getrunken habe. Der offene Verschluss ist klar zu erkennen. Das Grinsen rutscht ihm aus dem Gesicht. Es kehrt jedoch viel zu schnell zurück.

»Ich habe gesehen, wie dir die Wasserflaschen die Treppen heruntergefallen sind, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es nicht doch Absicht gewesen ist.«

Ich sage nichts. Es scheint mir das Klügste zu sein.

»Wie angebracht wäre jetzt ein Spruch über eine Leibesvisitation, um auf Nummer sicher zu gehen?«, fragt er, und auch wenn ich überdeutlich heraushöre, dass er es als Scherz meint, verdrehe ich die Augen. Solche dummen Sprüche kommen nie gut an.

»Ziemlich unangebracht«, sage ich und hebe die Kiste an, um sie wieder ganz oben aufzusetzen.

»Das habe ich mir schon gedacht, als die Frage gerade über meine Lippen glitt, aber ich die Worte nicht mehr bremsen konnte«, sagt er schnell. »Lass mich dir helfen«, setzt er hinterher und nimmt mir die Kiste ab.

»Du hast sicher Besseres zu tun«, sage ich und lasse nicht los.

»Nein, nicht wirklich. Das gehört zu meinem Job. Ich sorge dafür, dass du diese Sackkarre nicht überlädst und damit nicht mehr Gefahr läufst, dass du andere mit herunterfallenden Kisten erschlägst.« Jetzt lasse ich los und schiebe die Karre, als er sich den Wasserkasten auf die Schulter setzt.

»Danke«, sage ich, als wir uns durch die Menschen drängen. »Ich gebe es nicht gerne zu, aber ohne deine Hilfe hätte ich garantiert jemanden um einen Fuß erleichtert.«

»Stets zu Diensten«, sagt er und grinst. »Ich heiße übrigens Levi.«

»Ella«, sage ich langsam, weil ich nicht weiß, wohin sich diese Unterhaltung entwickeln soll, wenn wir uns vorstellen.

»Bist du heute Abend auf der Party, Ella?«, fragt er und sieht mich dabei von der Seite an.

»Ja«, sage ich noch immer genauso langsam und zurückhaltend.

»Dann hast du auch noch einen langen Tag vor dir«, redet er um den heißen Brei herum.

»Kommt drauf an, wie man lang definiert.«

»Hast du Lust, in deiner Pause einen Kaffee mit mir trinken zu gehen?«, fragt er direkt und geradeheraus. »Damit du genug Energie für den restlichen Tag hast.«

»Wie bitte?«, frage ich und bleibe stehen. Levi tut es mir gleich. »Nein«, ist meine resolute Antwort.

»Kommst du jetzt mit dem Spruch: Ich mag meinen Kaffee wie mich selbst – schwarz, bitter und zu heiß für dich?«, fragt er und lacht über seinen eigenen Witz. Ich finde, über die Art, wie man seinen Kaffee trinkt, macht man keine Witze.

»Ich trinke meinen Kaffee nicht schwarz«, erkläre ich daher humorlos.

»Warum dann gleich ein Nein?«, fragt er weiter. Er scheint nicht gekränkt. Enttäuscht vielleicht.

»Ich kenn dich nicht«, erkläre ich ihm.

»Aber dazu geht man doch einen Kaffee trinken, oder? Um sich kennenzulernen«, sagt er und lächelt mich an.

»Ja, aber warum?«, frage ich nach.

Levi sieht mich unsicher an. »Um dich kennenzulernen?«, wiederholt er.

Ich schüttle den Kopf. »Ja, das habe ich schon verstanden. Aber warum willst du mich kennenlernen?«, frage ich.

»Weil ich dich interessant finde?«, fragt er unsicher.

»Ja, dennoch. Warum?« Ich stelle mich keineswegs dumm. Ich kann es ehrlich nicht verstehen, warum man sich mit jemandem verabreden möchte, den man zwei Minuten kennt.

»Muss ich wirklich eine Antwort auf die Frage haben? Es ist einfach nur ein Kaffee.«

»Ein Kaffee ist für mich nie einfach«, sage ich und schaffe es abermals, dass sein dauerhaftes Lächeln verschwindet. »Es beginnt mit einem Kaffee. Dann folgt vielleicht noch ein zweiter. Dann trifft man sich zu einem Abendessen oder geht ins Kino, dann kommt der obligatorische erste Kuss und, argh, nein. Ich habe keine Zeit für so etwas.«

»Aber, das klingt doch alles andere als schlecht, was du eben aufgezählt hast. Bis auf den Teil, dass du keine Zeit dafür hast.« Zum Glück bleibt mir eine weitere Antwort erspart.

»Ella! Dein Termin wartet«, ruft Selina und kommt mir und Levi entgegen. Sie nimmt ihm die Kiste Wasser ab und bedankt sich, bevor sie mich antreibt, zu unserem Stand zurückzukehren.

»Danke!«, rufe ich über meine Schulter, als ich meiner Kollegin hinterhereile. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er seine Hand hebt und kurz winkt, bevor er sich ebenfalls abwendet. Levi sehe ich für den Rest des Messetages nicht wieder.

Nicht, dass ich an ihn denken würde. Nein. Gar nicht.