Kapitel 8

 

Am nächsten Wochenende fühlte sich Hanna wie in einer anderen Welt. Sie war in Rom. Michael hatte sich bisher große Mühe gegeben, sie die Unstimmigkeiten, die zwischen ihnen geherrscht hatten, vergessen zu lassen. Aber Hanna war, obwohl sie sich wie eine Prinzessin im Märchenland vorkam, noch nicht ganz versöhnt, was ihm nicht verborgen blieb.

Als sie das Zimmer im dritten Stock des hübschen, kleinen Hotel nahe der Spanischen Treppe bezogen hatten, stellte Hanna sich vor das Fenster, um nach unten auf die belebte Piazza zu schauen. Michael war hinter sie getreten und legte ihr die Arme um die Taille. Sie drehte sich zu ihm herum und küsste ihn sanft auf den Mund, um sich jedoch in der nächsten Sekunde wieder von ihm zu lösen.

»Lass uns ein wenig nach unten gehen«, schlug Hanna rasch vor, ohne von seinem enttäuschten Gesicht Notiz zu nehmen, »ich möchte einen Prosecco auf der Piazza trinken und danach könnten wir doch damit beginnen, die Stadt zu erkunden, was meinst du?«

»Eigentlich hatte ich mir den Ablauf des Nachmittages etwas anders vorgestellt, aber wie du meinst«, antwortete Michael resigniert. »Ich tue alles, was du willst.«

»Das würde ich nicht so laut sagen«, Hanna drohte ihm halbherzig mit dem Zeigefinger, »nicht, dass du dein Versprechen nachher nicht halten kannst.«

»Keine Sorge, ich bin für alle Fälle gewappnet«, Michael stellte sich wie ein Bodybuilder in Positur. »Also, Signorina, dann gehen wir jetzt zuerst einen Prosecco trinken.«

Während sie wenig später im Schatten eines großen Sonnenschirmes auf der Piazza saßen und das bunte Treiben um sie herum beobachteten, blieb Hanna recht still.

»Auf ein schönes Wochenende«, Michael hob sein Glas, um Hanna zuzuprosten. Sie hob das ihre daraufhin ebenfalls, wobei sie ihn ein wenig verhalten anlächelte und dann seinem Blick auswich.

»Sag mal, Hanna«, Michael stellte das Glas, ohne davon getrunken zu haben, wieder ab und sah sie, nun plötzlich ernst geworden, an. »Was soll ich denn noch alles machen, um dich wieder zu versöhnen?«, fragte er unvermittelt. »Du bist ja noch nachtragender, als ein Elefant. Schon die ganze Zeit gönnst du mir kaum ein Wort. Und das wegen einer solchen Lappalie.« Michael schüttelte verständnislos den Kopf. »Macht dir das eigentlich Spaß, mich derart vorzuführen?«

Hanna wandte ihm ihr Gesicht zu, aber die senkrechte Falte, die sich jetzt zwischen ihren Augenbrauen gebildet hatte, verhieß nichts Gutes.

»Wer hat denn hier wen vorgeführt?«, bemerkte sie ungehalten. »Die Lappalie, von der du sprichst, ist für mich eben keine. Ich finde es immer noch unmöglich, dass ich mir im Gerichtssaal wie eine Idiotin vorgekommen bin, für die jegliches Umdenken ja offensichtlich ein Problem ist, so wie du das anschaulich geschildert hast. Du musst ja eine schöne Meinung von mir haben. Aber fürs Bett bin ich seitdem wohl immer noch gut genug, was?« Hannas aufgestauter Unmut hatte sich ganz plötzlich entladen. Sie begriff im selben Moment instinktiv, dass sie zu weit gegangen war, aber – sie zuckte unbewusst mit den Schultern – gesagt war gesagt. Ach was, es geschah Michael ganz recht. Der allerdings starrte sie in diesem Moment völlig entgeistert an. Was war denn das? So kannte er Hanna überhaupt nicht. Wie eine Furie war sie gerade auf ihn losgegangen.

»Hanna …«, Michael suchte überrascht nach Worten. Dann wurde auch er wütend. »Jetzt halt mal die Luft an. Was ist denn schon groß passiert? Gut, ich hab' deinen Einwand in unserem Gespräch damals beim Essen für mein Plädoyer verwandt, weil ich die Situation auch allen anderen verständlich machen wollte. Aber das hatte in dem Moment doch nichts mehr mit dir zu tun! Gut …«, Michael fuhr sich in einer angespannten Geste durch sein schwarzes Haar, »den Angriff auf die Flexibilität der Ermittlungsbeamten hätte ich mir sparen können. Klar, dass du dich da getroffen fühlen musstest. Aber das habe ich in dem Moment in Kauf genommen, weil das, worauf ich hinauswollte, den Leuten durch so einem Lacher am Ende immer gut im Gedächtnis bleibt. Und das hat sich ja auch gezeigt. Degen ist mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Ich aber habe bei der ganzen Angelegenheit blöderweise auf dein Verständnis gehofft, beziehungsweise auf deine Fähigkeit, die Dinge zu abstrahieren.« Michaels Augen funkelten kalt. »Und was das Bett angeht, so könnte ich dir mit dem gleichen Argument kommen, also verschieß deine Munition nicht so unterhalb der Gürtellinie, das ist unfair.«

Hanna spürte während Michaels Ausbruch, dass sie ihn in seiner Ehre gekränkt hatte. Aber bevor das Mitgefühl von ihr Besitz ergreifen konnte und ihre Gegenargumente im Keim erstickt zu werden drohten, antwortete sie schnell:

»Was die Sache mit dem Bett angeht, gut … das nehme ich zurück, obwohl ich mir schon ziemlich dämlich vorgekommen bin und mich schon gefragt habe, was du bei einer solchen Einstellung überhaupt an mir findest.« Als Michael etwas einwenden wollte, hob sie abwehrend die Hand. »Nein, bitte, lass mich ausreden. Das Problem liegt woanders, wie ich gerade begreife. Wenn ich nicht im Gerichtssaal gesessen hätte, gäbe es überhaupt keine Schwierigkeiten. Oder anders gesagt, ich wüsste eben nichts davon. Ich habe bisher nur deine persönliche Seite kennen gelernt, nicht deine berufliche. Was ja bei vielen Paaren auch die Regel ist. Aber als ich dich sozusagen als Vertreter der Gegenseite erlebte, warst du mir plötzlich fremd. Ich hatte das Gefühl, dass du, wenn es einer Sache dient, über Leichen gehen kannst. Sogar über meine. Du hast aber trotzdem etwas getan, was mir nie passiert wäre: du hast deine Achtung vor mir für einen Lacher verkauft. Und damit bin ich nicht zurecht gekommen.« Michael hörte Hannas Stimme an, wie verletzt sie war und griff über den Tisch hinweg spontan nach ihrer Hand.

»Hanna, Liebes, ich weiß inzwischen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Und ich entschuldige mich dafür. Aber ich habe dir auch nie versprochen, dass es immer einfach mit uns sein wird«, er führte Hannas Hand an die Lippen, was sie mit ernstem Gesichtsausdruck geschehen ließ. »Das liegt natürlich auch an den unterschiedlichen Betrachtungsweisen, die wir von Berufs wegen einnehmen müssen«, fuhr Michael fort. »Da haben es andere Paare leichter. Und ich kann dir sagen, dass ich meinen Beruf außerordentlich liebe und daher immer für meine Mandanten kämpfen werde, wenn ich von deren Unschuld überzeugt bin. Aber meinst du nicht«, er sah sie verschmitzt an, »dass darin auch eine Chance für uns liegen könnte? Denn wenn unsere unterschiedlichen Positionen manchmal auch für Zündstoff sorgen und es richtig knallt, so stelle ich mir die Versöhnung umso schöner vor.« Michaels klare, blaue Augen sprachen Bände.

Hanna musste unwillkürlich lachen. »Das war jetzt ein tolles Plädoyer. Den Angeklagten kann also gar keine Schuld treffen, weil er alles dafür tut, dass die Beziehung nicht langweilig wird. Eigentlich müsste ich ihm also für seine Vorgehensweise dankbar sein«, Hanna deutete eine Verbeugung an.

»Jetzt komm schon. Mach es mir doch nicht so schwer. Nimm meine Entschuldigung endlich an.« Michael begegnete Hannas abwartendem Blick. »Außerdem habe ich wirklich eingesehen, dass ich einen Fehler gemacht habe«, setzte er ernst hinzu. »Bist du nun zufrieden?«

»Wenn du das wirklich so gemeint hast … ja«, Hanna legte versöhnt die andere Hand auf seine, die ihre Rechte immer noch umschlossen hielt. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr Michaels Kehle, und er beugte sich über den Tisch hinweg hinüber zu Hanna, um sie zart auf den Mund zu küssen. Diese spürte augenblicklich, dass alle Vorbehalte, die sie soeben noch gegen Michael gehegt hatte, wie Schnee in der Sonne zu schmelzen begannen. Und sie fühlte, dass sie seinem Werben nicht mehr lange widerstehen wollte. Rasch senkte sie den Blick, um ihn nicht erkennen zu lassen, welche Gefühle in ihrem Inneren tobten. Ein wenig sollte er noch schmoren … Als Hanna spürte, dass sie ihren Blick wieder kontrollieren konnte, hob sie die Augen und lächelte ihn an. Michael prostete ihr mit ernster Miene zu, und sie ergriff ihr Glas, um endlich auch einen Schluck daraus zu trinken.

Augenblicklich begann ihre Anspannung sich zu lösen, um jetzt einer ganz anderen Spannung Platz zu machen. Sie trank das Glas in einem Zug aus und stand abrupt auf.

»Michael, wenn wir die Stadt jetzt noch ein wenig erkunden wollen, sollten wir uns auf den Weg machen. Ich hole mir rasch mein Tuch aus dem Zimmer, für den Fall, dass es heute Abend etwas kühler wird, ja? Bis gleich also.« Hanna drehte sich um und war schon verschwunden, noch ehe Michael etwas einwenden konnte.

Kopfschüttelnd winkte er dem Kellner, um die Rechnung zu begleichen. Diese Frauen. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatten, waren sie schwerlich davon abzubringen. Aber er wollte jetzt auf keinen Fall einen neuen Streit riskieren. Schließlich hatten sie noch die ganze Nacht für sich. Michael stand auf und ging die paar Schritte zum Hotel, um unten in der Halle auf Hanna zu warten. Es dauerte. Eigenartig, so kannte er sie gar nicht. Normalerweise gehörte sie nicht zu den Frauen, die andere lange auf sich warten ließen. Unruhig begann er auf und ab zu gehen.

»Signor Sander?« Die Stimme des Portiers riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ja, bitte?«, erstaunt trat Michael an die Rezeption.

»Die Signora hat das hier für Sie abgegeben«, sagte der Portier in fließendem Deutsch, indem er ihm einen Zettel überreichte.

»Grazie«, Michael nahm das zweimal geknickte Blatt verwundert in die Hand und faltete es auseinander. Und im nächsten Moment sprang er auch schon, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen zum dritten Stock hinauf.

Vor ihrem Zimmer angekommen, blieb er einen Moment lang nach Atem ringend stehen, bevor er die Tür öffnete und den Raum betrat.

Die Fensterläden waren halb geschlossen, sodass die Strahlen der Nachmittagssonne jetzt nur noch gedämpft ins Zimmer fielen und den Raum in ein romantisches Licht tauchten. Hanna stand, das Gesicht Michael zugewandt, vor dem Fenster und lächelte ihn verführerisch an. Michael, der den Blick nicht von ihr wenden konnte, hielt in der Mitte des Zimmers angekommen inne, um ihren Anblick ganz in sich aufzunehmen. Das durchschimmernde, weiße, tief ausgeschnittene und seitlich bis zum Oberschenkelansatz geschlitzte Negligé ließ erkennen, dass Hanna darunter nur ein winziges Spitzenhöschen trug. Michael hörte, wie das Blut in seinen Ohren zu rauschen begann und spürte seine Lust, die jetzt ganz und gar von ihm Besitz ergriff. Mit wenigen Schritten war er bei Hanna und schloss sie stürmisch in die Arme. Zärtlich lachend presste sie sich an ihn und nahm seine Erregung zwischen ihren Schenkeln wahr, worauf sie mit beiden Händen sein Gesäß umschloss, um ihn noch näher an sich heranzuziehen. Michael stöhnte lustvoll auf und sie küssten sich wild und leidenschaftlich, während seine Hände ihren Körper erkundeten. Hanna sog die Luft in einem tiefen Atemzug ein, als Michael ihre Brüste berührte und schob ihn mit einem kleinen Ruck unvermittelt von sich, um mit fahrigen Bewegungen die Schnalle seines Gürtels zu öffnen. Er kam ihr mit entschlossenen Handgriffen zur Hilfe, während Hanna jetzt im Gegenzug hastig sein Hemd aufknöpfte. Ein Blitz durchfuhr ihn, als ihre Hand langsam vom Bauch zwischen seine Schenkel wanderte und einige Augenblicke später fielen sie auf das große Bett, um sich endlich dem Rhythmus ihrer Leidenschaft hinzugeben, zuerst stürmisch, und dann, als sie wieder zu Atem gekommen waren, langsam und zärtlich, sich gegenseitig mit allen Sinnen genießend. Als der Rausch verebbt war, lagen sie noch lange Zeit still und eng umschlungen beieinander. Michael durchbrach die wohlige Stille zuerst.

»Dein Kussmund auf dem zusammengefalteten Papier war die schönste Einladung, die ich je in meinem Leben bekommen habe«, raunte er zärtlich. Hanna biss ihn sanft in die ihr zugewandte Schulter.

»Ich habe eine solche Einladung auch noch nie ausgesprochen. Aber ich muss sagen, dass ich mir überlege, das von nun an öfter zu tun. Es war wunderschön«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. Michael drehte sich zur Seite, sodass sie jetzt Aug' in Aug' dalagen.

»Aber ich will immer der Gast sein, den du einlädst, das musst du mir versprechen.« Als Hanna absichtlich mit einer Antwort zögerte, versetzte er ihr einen leichten Klaps auf den Po.

»Ist ja schon gut«, räumte sie daraufhin lachend ein, »ich verspreche es dir. Und vor jeder Versöhnung bekommst du also in Zukunft Post von mir.«

»Wunderbar. Dann kann ich ja nur hoffen, dass wir uns bald wieder streiten.«

 

*

Am Abend saßen sie in lauer Luft vor einem kleinen Restaurant und genossen die Vielfalt der römischen Küche. Als der Espresso vor ihnen stand, klingelte Hannas Smartphone.

»Oh je, hoffentlich ist nichts mit Julian«, sagte sie besorgt, während sie das Gerät in ihrer Tasche suchte. Als sie es gefunden hatte, drückte sie die grüne Schaltfläche, um das Gespräch anzunehmen und meldete sich.

»Hi, Hanna, ich hoffe, ich störe nicht«, hörte sie ihren Kollegen Bernd am anderen Ende der Leitung sagen, »aber es gibt einen wichtigen Grund, warum ich dich anrufe. Wir sollen Montag früh sofort zu Dr. Wunderlich ins Büro kommen. Er hat einen neuen Fall für uns. Du kommst doch Sonntag schon zurück, oder?«

»Ja, leider«, Hanna griff über den Tisch hinweg nach Michaels Hand. »Wir kommen Sonntag zurück, obwohl ich gern bleiben würde. Es ist wunderschön hier.«

»Mmh, dann ist zwischen euch also wieder alles in Butter? Das freut mich. Also, nichts für ungut. Bis Montag, Frau Kollegin.«

Hanna schaltete das Gerät mit entschlossener Miene ab.

»So. Und jetzt will ich nicht mehr gestört werden.« Sie sah Michael zärtlich an. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt noch ein bisschen bummeln? Die Luft ist so schön und Rom bei Nacht hat etwas ganz Besonderes.«

»Anders als du«, antwortete Michael verschmitzt. Und auf ihren fragenden Blick setzte er hinzu: »Bei dir ist das immer so.«

»Bei dir auch«, gab sie mit einem ernsten Blick in seine Augen zurück.

Während sie sich auf den Weg machten, legte Michael seinen Arm um Hannas Schultern und sie umschlang seine Taille. Sie blieben stehen und schauten auf die Stadt mit ihren Lichtern. Rom hatte bei Nacht wirklich etwas Besonderes.

 

 

ENDE

 

 

 

 

Nachtrag der Autorin:

Quelle des angeführten Gedichtes laut Internet: Baedecker über Südafrika

Hinweis auf die Veröffentlichung im Tourismwatch Nr. 4, 1994

 

 

CAROLINE MARTIN

Wir waren Freunde

 

Rheinlandkrimi 2

 

Dezernat Köln

Hanna Winter ermittelt

 

 

 

Inhalt

 

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

 

 

Impressum

 

Überarbeitete Neuveröffentlichung März 2019

Copyright © 2019 by Caroline Martin

Copyright © 2019 der eBook-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

Dieser Roman wurde bereits unter dem Titel ›Ganz nah dran‹ in der Reihe KRIPO KÖLN veröffentlicht und von der Autorin für die vorliegende Fassung neu bearbeitet.

 

Covergestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

E-Book-Konvertierung: Die eBook-Manufaktur

Redaktionelle Betreuung: Thomas Knip

 

ISBN ePub 978-3-86305-284-3

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.