Kapitel 7

 

Die einzige Chance, Licht in die verfahrene Angelegenheit zu bringen, war, den Fall noch einmal ganz anders anzugehen, und bewusst gewohnte Denkpfade zu verlassen.

»Ich werde den Verdacht nicht los, dass wir irgendwo etwas Gravierendes übersehen haben«, Hanna zog die Luft scharf durch die Nase ein und stieß sie wieder aus. »Die Sache mit der Zugehfrau zum Beispiel. Die muss doch etwas wissen. Aber bisher haben wir noch keinen Hinweis darauf, wer das sein könnte. Meinst du, es bringt etwas, wenn wir uns bei Burger im Haus noch einmal umhören? Vielleicht kann uns da jemand auf die Sprünge helfen.«

»Weil die Mitbewohner sich vielleicht bewusst zurückhaltend geäußert, mit Absicht nichts gesehen haben, und keiner von ihnen mit dem Mord in Verbindung gebracht werden wollte?«

»Ja, so in etwa. Wir wissen zwar schon viel über unseren unbeliebten Toten, aber vielleicht gibt es doch noch etwas Neues zu entdecken.«

Hanna machte eine Pause, dann legte sie den Kopf schräg und lächelte Bernd schelmisch an. »Meinst du … Imbiss-Karl könnte uns dabei helfen, endlich die richtige Fährte zu finden?«

Bernd lachte. »Du willst mich doch nicht allen Ernstes schon wieder an die Stätte meines alten Lasters führen, liebe Kollegin?«

»Doch, das will ich. Ich finde, soviel Konsequenz, wie du sie an den Tag legst, muss ab und zu auch mal belohnt werden. Dein Bauch ist eigentlich so gut wie nicht mehr vorhanden, Kompliment.«

»Ja, Juliane freut sich auch sehr darüber«, er grinste, »aber weißt du, dass ich gar nicht hungere, aber dafür anders esse?«

»Oder bekocht wirst?«, schob Hanna rasch nach.

»Zugegeben, ich lebe inzwischen ja auch mehr bei Juliane, als bei mir, und wir kochen natürlich auch zusammen.«

»Ich freue mich so für dich, Bernd. Du hast dich sehr zum Positiven verändert, nein«, sie lachte und hob entschuldigend die Hände, »versteh mich jetzt bitte nicht falsch. Ich mochte dich immer gern, aber es gab auch eine Zeit, in der dein Selbstbewusstsein, das berufliche natürlich ausgenommen, ziemlich am Boden lag.«

»Das stimmt. Ich hab’ ja auch gar nicht mehr daran geglaubt, dass es wirklich eine Frau gibt, die sich für mich interessiert. Und jetzt habe ich eine, die nur auf mich gewartet zu haben scheint. Und was für eine!« Bernd stand das Glück auf dem Gesicht geschrieben, was Hanna zu einem warmherzigen Lächeln veranlasste.

»Und, wie stehen meine Chancen jetzt, dich zu Imbiss-Karl zu locken, der die beste Currywurst der Stadt macht, wie du mir früher immer erzählt hast?«

»Ich befürchte ganz gut«, Bernd lachte, »komm, mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.«

 

*

Hanna und Bernd beschlossen, sich die Räume des Toten noch einmal zusammen anzusehen. Vielleicht gab es ja wider Erwarten doch einen Hinweis, den sie übersehen hatten. In der Wohnung roch es muffig. Kein Wunder, seit Tagen war hier nicht mehr gelüftet worden. Hanna riss erst einmal die Fenster auf und atmete die frische Luft in tiefen Atemzügen ein.

»Du tust ja fast so, als wären wir in der Pathologie«, grinste Bernd.

»So kommt es mir hier auch fast vor. Ich weiß nicht, ich finde diese Wohnung einfach beklemmend, geht dir das nicht so?«

»Nö, aber ich kann mir vorstellen, dass sie auf Frauen einen solchen Eindruck machen kann. Man merkt an allen Ecken und Enden, dass hier ein Platzhirsch gelebt hat, so könnte man das jedenfalls ausdrücken. Und weil so ein Typ überhaupt nicht auf deiner Linie liegt, kommt es dir hier komisch vor.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Aber er muss ja auch gar nicht auf meiner Linie liegen. Schließlich müssen wir einen Mord aufklären. Also dann los, Kollege, lass uns unsere eigene Wohnungsdurchsuchung machen. Hast du eigentlich den Teller mitgenommen?«

»Klar, ich weiß zwar nicht, was du damit bezweckst, aber bitte.«

»Ich habe mir so etwas wie eine Beschwörung vorgestellt«, sagte Hanna grinsend, »der Teller wird uns hier vor Ort sagen, wer der Mörder ist. Hol ihn doch mal aus der Tasche.«

»Du redest wohlgemerkt von einem toten Gegenstand und nicht vielleicht von einem Hund, der die Witterung aufnimmt?«, fragte Bernd kopfschüttelnd und zog den Teller hervor. Hanna nahm ihn und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann ging sie zu Burgers Geschirrschrank und nahm ein Pendant heraus, das sie ebenfalls von allen Seiten betrachtete. Plötzlich stutzte sie, fuhr mit dem Finger über den Namenszug auf der Unterseite des Tellers und nickte langsam.

»Sag mal, Bernd, der Teller von Frau Kampmann war doch auch ein Originalstück, wie das von Burger hier auch«, sie hielt ihm den Teller hin.

»Klar, ansonsten hätten die ja auch nicht so ein Theater um diese Börsen gemacht. Was zählt, ist nur das Original.«

»Genau. Und jetzt schau dir mal die Unterseite unseres Giftkuchentellers an.«

Bernd nahm den Teller, betrachtete die Rückseite und schaute Hanna verständnislos an.

»Jetzt lies doch mal, was da steht.«

»Willst du mich veräppeln? Da steht ›Rosenthal‹, was sonst? Er wollte ihr den Teller gerade zurückgeben, als auch er plötzlich stutzte. Nein, da steht ›Rosental‹, das ›h‹ fehlt.«

»Genau. Und damit handelt es sich um …«

»… um ein Plagiat«, fiel Bernd ihr ins Wort. »Warum ist das keinem von uns bisher aufgefallen?«

»Ja, das hätte uns eine Menge Umstände erspart, Frau Kampmann war es also wahrscheinlich wirklich nicht. Jetzt müssen wir nur herausfinden, wer dieses Plagiat besitzt. Vielleicht finden wir ja dort den Mörder.«

»Beziehungsweise die Mörderin«, fiel Bernd ihr ins Wort.

»Natürlich, du hast recht«, bestätigte Hanna.

 

*

Michael wollte Hanna an diesem Wochenende richtig verwöhnen. Viel zu lange waren sie schon nicht mehr von morgens bis abends und nachts zusammen gewesen, und so manches persönliche Gespräch war im Keim erstickt worden, weil es wieder einmal drängende Alltäglichkeiten oder aktuelle Probleme zu regeln gab.

Genau das sollte an diesem Wochenende nicht passieren, und deshalb beschloss Michael, Hanna zu entführen, damit sie wirklich ungestört sein konnten.

Hanna liebte wie Michael das Meer, zugegebenermaßen besonders das Mittelmeer, aber diesmal war seine Wahl auf Sylt gefallen, wo er eine kleine Ferienwohnung für sie beide gemietet hatte. Freitagnachmittag sollte es losgehen und erst am Sonntagabend zurück, was durch die neue, regelmäßige Flugverbindung zur Nordseeinsel kein Problem war.

Michaels Plan ging auf, Hanna geriet ganz aus dem Häuschen vor Freude; Julian würde allein zu Hause bleiben, Rolf lud ihn übers Wochenende zum Essen ein und versprach Hanna darüber hinaus ein Auge auf ihn zu haben.

Als sie am frühen Abend ihr Wochenend-Domizil betraten, fühlte Hanna sich sofort zuhause. Die vorherrschenden Farben Weiß und Blau wirkten frisch, die alten Kiefernholzmöbel romantisch und der Kamin, neben dem das Holz in dekorativer Weise aufgestapelt war, rief sofort Assoziationen an lauschige Abende hervor, die man bei flackerndem Feuer und einem Glas Wein verbrachte.

Nachdem sie die Wohnung genau inspiziert und ihre Reisetaschen ausgepackt hatten, schloss Michael Hanna stürmisch in seine Arme, was sie sich lachend gefallen ließ. Ein langer, zärtlicher Kuss betörte bereits ihre Sinne, als Michael sich unvermittelt ein Stück von ihr löste und sie nachdenklich ansah.

»Bevor wir uns völlig vergessen, mein Herz, sollten wir vielleicht zuerst etwas essen gehen.« Hanna sah ihn verdattert an. Wie konnte er jetzt an essen denken?

»Nein, tatsächlich«, er lachte ein wenig verlegen und räusperte sich, »wie viel Reiseproviant hast du noch übrig behalten?«

»Einen Apfel.«

»Gut, ich habe noch zwei. Zusammen sind das also drei. Wir sollten uns wirklich überlegen, ob uns das für die lange Nacht, die vor uns liegt, reicht …« Michael ließ, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, seine Fingerspitzen mit sanftem Druck an Hannas Wirbelsäule entlang nach unten gleiten, »… oder ob wir uns vorher doch besser stärken sollten …«. Er zog sie wieder an sich und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Hanna schloss die Augen und spürte den wohligen Schauern nach, die sie wie kleine Flammen durchrieselten.

»Gut«, seufzte sie und nickte lächelnd, »du hast bestimmt recht. Mir schwinden jetzt schon die Sinne …« Hanna biss ihm sanft in die Unterlippe, »… vor Hunger …«, fügte sie nach einer eindrucksvollen Pause schelmisch hinzu.

Und wie sich später herausstellte, war die Entscheidung, die sie an erster Stelle für ihr leibliches Wohl gefällt hatten, im doppelten Sinne genau richtig gewesen …

 

*

Roland Burger hatte auch nach seinem Tod nichts an Sympathien gewonnen, wie Hanna und Bernd bei einer neuerlichen Befragung der Nachbarn schnell klar wurde.

»Ich bin froh, dass hier endlich Ruhe eingekehrt ist«, das Gesicht der älteren Dame, die die Parterrewohnung des vornehmen alten Hauses bewohnte, nahm einen ungehaltenen Ausdruck an. »Ständig diese fremden Frauen, die hier nachts durch das Treppenhaus liefen und dann auch noch der Krach … man kam sich ja schon fast wie in einer Absteige vor. Jetzt hat alles wieder seine Ordnung, Gott sei Dank.«

»Wissen Sie vielleicht etwas von einer Zugehfrau, die bei Herrn Burger beschäftigt war?«, fragte Bernd.

»Nein, ich wusste gar nicht, dass er eine hatte. Mir ist jedenfalls niemand aufgefallen.«

»Vielen Dank, das war’s erstmal«, Hanna lächelte verbindlich, während ihr Blick die Tasse mit dem Blümchendekor streifte, die die alte Dame in der Hand hielt.

Die Schritte, die jetzt auf der Treppe zu hören waren, zogen Hannas Aufmerksamkeit augenblicklich auf sich, und sie wandte sich um.

»Ach, guten Tag Frau Wieler«, begrüßte sie die Nachbarin Roland Burgers, die gerade die breite Holztreppe hinabstieg. »Darf ich Ihnen meinen Kollegen, Kommissar Bernd Keller vorstellen?«

»Angenehm«, Margot Wieler streckte lächelnd ihre Hand zur Begrüßung aus, als sie das Parterre erreicht hatte.

»Entschuldigen Sie, Frau Wieler, sind Sie auf dem Weg nach draußen, oder haben Sie vielleicht noch einen Augenblick für uns Zeit?« Hanna las die Überraschung im Gesicht der anderen, worauf Bernd ergänzte:

»Wir befragen noch einmal alle Hausbewohner, reine Routine, wissen Sie.«

»Gibt es denn immer noch keinen Verdächtigen?« Die Frage klang anteilnehmend.

»Doch, doch«, beeilte Hanna sich zu sagen, »aber uns fehlen noch ein paar Details, deshalb würden wir Sie auch noch einmal gerne befragen.«

»Ich stehe Ihnen sofort zur Verfügung, gehen Sie doch einfach schon mal nach oben. Die Tür ist angelehnt. Ich hole nur schnell die Post.«

Eine Minute später standen Hanna und Bernd unentschlossen in der Diele und überlegten, ob sie sich einfach ins Wohnzimmer setzen sollten.

»Ich glaube, hier ist das Wohnzimmer«, Hanna trat auf die linke der beiden geschlossenen Türen zu und öffnete sie einen Spalt breit, um gleich darauf überrascht in der Bewegung zu verharren.

»Was ist denn los? Du erstarrst ja zur Salzsäule«, Bernd tat einen Schritt auf seine Kollegin zu und stellte sich neben sie, wobei Hanna die Tür gleichzeitig ein Stück weiter öffnete. Und jetzt war es an Bernd zu erstarren, denn auch er konnte nicht glauben, was er sah. Vor ihnen lag das genaue Abbild des Schlafzimmers Roland Burgers! Ein riesiges Bett, schwülstiges Rot mit ein paar schwarzen Akzenten, Spiegel, großformatige Bilder … das Zimmer ähnelte dem darüber wie ein Ei dem anderen.

Schritte auf der Treppe ließ sie zusammenfahren. Hanna schloss mit schnellem Griff die Tür, und sie nahmen sofort wieder ihre Ursprungspositionen in der Diele ein, während sie versuchten, ihre Gedanken wenigstens in groben Zügen zu ordnen.

Besorgnis lag auf dem Gesicht Margot Wielers, als sie jetzt ihre Wohnung betrat, und sowohl Hanna als auch Bernd vermuteten, dass ihr spätestens am Briefkasten klar geworden sein musste, dass in ihrer Wohnung eine Zeitbombe tickte.

Hanna versuchte die Bedenken der anderen mit einem unbedarften Lächeln zu zerstreuen. »Schön, dass Sie sich für uns die Zeit nehmen, Frau Wieler, es dauert auch nicht lange.«

»Das ist kein Problem. Folgen Sie mir doch bitte ins Wohnzimmer.« Sie öffnete sie rechte Tür, wobei Bernd, der diesen Raum nicht kannte, angesichts des sich ihm bietenden, gutbürgerlichen Kontrastprogramms, fast die Luft wegblieb. Als sie Platz genommen hatten, eröffnete er das Gespräch mit einer Bitte.

»Entschuldigen Sie, Frau Wieler, ich möchte nicht unbescheiden wirken, aber wir sind schon eine Weile unterwegs. Könnten wir vielleicht eine Tasse Kaffee bekommen?« Bernds höflicher Charme beeindruckte nicht nur Hanna.

»Natürlich, möchten Sie auch ein paar Plätzchen zur Stärkung?« Margot Wielers Gesicht wirkte durch ihr Lächeln um Jahre verjüngt.

»Gern«, Bernd deutete eine Verbeugung an, »vielen Dank.«

Während Frau Wieler sich in der Küche zu schaffen machte, steckten die beiden anderen ihre Köpfe zusammen.

»Ich kann es nicht glauben. Es sieht ja ganz danach aus, als ob Margot Wieler unsere Mörderin ist. So eine kleine, unscheinbare Frau.« Bernd schüttelte den Kopf.

»Ja«, flüsterte Hanna zurück, »wahrscheinlich hat Burger sie auch nur ausgenutzt. Aber wir können erst sicher sein, wenn Haarprobe und Fingerabdruck mit den ihren identisch sind.«

»Oder wenn sie ein Geständnis ablegt«, gab Bernd zurück.

Kurz darauf stellte die liebenswürdige Gastgeberin ein Tablett mit drei Tassen dampfendem Kaffee und einen Dessertteller mit Plätzchen vor ihnen auf dem Couchtisch ab.

Bernd, der sofort nach einem Plätzchen griff, schnupperte wohlgefällig daran, bevor er genussvoll hineinbiss.

»Hmm, die schmecken ja toll. Haben Sie die selbst gemacht?«

Frau Wieler nickte stolz. »Ja, ich backe für mein Leben gern. Bei mir kommt nichts fertig Gekauftes auf den Tisch. Ich backe auch mein Brot selbst.«

Hannas Blick ruhte auf dem Geschirr, bevor sie zögernd eine Tasse vom Tablett nahm. Auf jeden Fall war das kein Rosenthal, ob mit oder ohne h. Sie musste es irgendwie bewerkstelligen, einen Blick in die Schränke werfen zu können.

»Tja, Frau Wieler, kommen wir noch einmal auf die leidige Angelegenheit mit ihrem Obermieter zurück. Kommt Ihnen die Ruhe nicht komisch vor, jetzt, wo er nicht mehr da ist?«

Ein Zucken durchlief Margot Wieler, das sie zu verbergen suchte, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Ein wenig ungewohnt ist es schon«, versuchte sie zu scherzen, »aber wenigstens muss ich mir dieses Stöckelschuhgetrappel jetzt nicht mehr anhören.«

»Trugen die Damen ausnahmslos Stöckelschuhe, wenn sie Herrn Burger besuchten?«, fragte Hanna in neutralem Tonfall.

»Soweit ich weiß, ja …«, sie schwieg.

»Frau Wieler, ist Ihnen vielleicht im Nachhinein noch etwas aufgefallen, das Sie uns sagen könnten – wir suchen ja immer noch nach ein paar Details, die Burger betreffen«, Bernd begann zu pokern, »um die verdächtige Person, die bereits in Untersuchungshaft sitzt, zu überführen.«