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Der Autor

 

PD Dr. med. Heinrich Burkhardt ist Chefarzt der Sektion Altersmedizin der II. Med. Klinik an der Universitätsmedizin Mannheim. Habilitiert für das Fach Innere Medizin mit einem Thema zur Gerontopharmakologie, Internist mit der Zusatzbezeichnung Klinische Geriatrie mit 28 Jahren Berufserfahrung. Sektionsvorsitzender der Sektion II der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie bis 2016. Autor der FORTA-Gruppe zur Optimierung der Medikation für ältere Patienten.

 

Die Reihenherausgeber

 

PD Dr. Rupert Püllen

 

Chefarzt/Medizinisch-Geriatrische Klinik

Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie 2014-2016

AGAPLESION MARKUS KRANKENHAUS

Wilhelm-Epstein-Straße 4

60431 Frankfurt am Main

 

Prof. Dr. med. Johannes Pantel

 

Leiter Arbeitsbereich Altersmedizin

Institut für Allgemeinmedizin

Johann Wolfgang Goethe-Universität

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt

Heinrich Burkhardt

Umgang mit Multimorbidität und Multimedikation

Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031659-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031660-7

epub:  ISBN 978-3-17-031661-4

mobi:  ISBN 978-3-17-031662-1

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. 1          Das Phänomen Multimorbidität und seine Bedeutung in der klinischen Praxis – Eine Einführung anhand eines konkreten Beispiels
  4. 2          Theoretische Aspekte der Multimorbidität und epidemiologische Befunde
  5. 2.1       Verwendung des Begriffs und Definitionen
  6. 2.2       Bewältigung von komplexen Situationen in der Medizin
  7. 2.3       Bezüge zum Konzept der Vulnerablität in der Geriatrie
  8. 2.4       Beiträge geriatrischer Syndrome zur Multimorbidiät
  9. 2.5       Wie kann Multimorbidität gemessen und dargestellt werden?
  10. 2.6       Epidemiologische Hinweise
  11. 2.7       Grundlegende Aspekte der Morbidität und ihre Relevanz in der Situation der Multimorbidität
  12. 2.8       Wie kann Komplexität grundsätzlich operational beherrscht werden?
  13. 2.9       Muster der Multimorbidität
  14. 2.10       Geriatrische Multimorbidität
  15. 3          Multimorbidität in der klinischen Praxis
  16. 3.1       Bedeutung für die Diagnostik
  17. 3.2       Im geriatrischen Kontext häufig verpasste Aspekte in der Diagnostik
  18. 3.3       Bedeutung für die Therapie
  19. 3.4       Therapeutische Szenarien
  20. 3.5       Die therapeutische Perspektive
  21. 3.6       Zu den rationalen Grundlagen einer Therapie- entscheidung – die Risiko-Nutzen-Bilanz
  22. 3.7       Evidenz in der Medizin – von den Datenquellen bis hin zu Leitlinien
  23. 3.8       Lösungsstrategien für die individuellen Entscheidungssituationen
  24. 3.9       Mögliche Problemfelder therapeutischer Maßnahmen in der Situation der Multimorbidität
  25. 3.10       Die therapeutische Kaskade und die Therapielast
  26. 3.11       Zergliederung der therapeutischen Angebote, therapeutische Netzwerke und Case-Management
  27. 3.12       Das Problem der Polypharmazie
  28. 3.13       Definition der Polypharmazie und Merkmale sowie Ursachen entbehrlicher Polypharmazie
  29. 3.14       Therapietreue und wie überhaupt komplizierte Therapien umgesetzt werden können
  30. 3.15       Der gerontopharmakologische Verordnungskontext
  31. 3.16       Möglichkeiten der Deeskalation
  32. 3.17       Besondere Problemfelder der Polypharmazie
  33. 3.18       Schmerztherapie
  34. 3.19       Psychopharmaka
  35. 3.20       Die Bedeutung der prognostischen Perspektive für therapeutische Entscheidungen
  36. 3.21       Die Perspektive des Patienten
  37. 3.22       Fallstricke und Lösungsansätze
  38. 3.23       Besondere Situationen
  39. 3.23.1     Die Multimorbiditäts-Situation mit der Komorbidität Demenz
  40. 3.23.2     Behandlung am Lebensende
  41. 4          Schluss und Ausblick
  42. Literatur
  43. Sachregister

Vorwort zur Reihe

 

 

 

Altersmedizin dient dem älteren Patienten, indem sie wie kein zweites Fach seine Besonderheiten und Bedürfnisse ganzheitlich in den Blick nimmt. Sie ist aber auch vielseitig, spannend und effektiv.

Dies anhand ausgewählter Handlungsfelder deutlich zu machen, ist ein wichtiges Anliegen der Reihe »Altersmedizin in der Praxis«. Das wichtigste Ziel ist es jedoch, das auch in der Altersmedizin exponentiell anwachsende Wissen für den Versorgungsalltag kompakt und praxisnah aufzubereiten.

Doch braucht man dazu heute noch Bücher? Haben nicht Internet und Zeitschriften das Buch längst abgelöst, weil sie häufig einen rascheren Zugriff auf manchmal schnell veraltendes Fachwissen erlauben? Das mag in einzelnen Bereichen und zu manchen Fragestellungen zutreffen; doch wer sich vertieft mit einem Thema auseinandersetzen möchte, wer nicht nur Fachinformationen, sondern auch ausgewogene Bewertungen sucht, wer sich durch einen erfahrenen Autor fundiert in ein Thema hineinführen lassen möchte, der greift besser zu einem Buch. Nicht zuletzt bieten Bücher eher Sponsor-unabhängige Informationen als kostenlos zugängige Publikationen.

Die Reihe »Altersmedizin in der Praxis« erhebt nicht den Anspruch, das weite und wachsende Gebiet der Altersmedizin vollständig darzustellen. Es geht vielmehr darum, einzelne für die altersmedizinische Praxis wichtige Themen aufzuarbeiten und in einer didaktisch gut aufbereiteten Form auf dem neuesten Wissensstand zu präsentieren.

An wen richtet sich die Reihe? Natürlich in erster Linie an Ärzte jeglicher Fachrichtung, die regelmäßig ältere Patienten in der Praxis, dem Krankenhaus oder in einem anderen Kontext betreuen. Die Bücher richten sich ebenfalls an Ärzte in Weiterbildung und an Studenten, aber auch an andere Professionelle des Gesundheitswesens, die Umgang mit älteren Patienten haben. Die einzelnen Bände können dabei sowohl als fundierte Einführungen und Übersichten zu den jeweiligen Themen gelesen werden, als auch als kompakte Nachschlagewerke für den Einsatz in der täglichen Praxis dienen.

 

Die Herausgeber

Johannes Pantel und Rupert Püllen

Vorwort

 

 

 

Als die Herausgeber dieser Buchreihe mich aufforderten, mit einem Buch zur Multimorbidität beizutragen, habe ich zunächst ambivalent reagiert. Einerseits war mir sofort klar, dass Multimorbidität ein zentrales Thema der Medizin ist, auch in aktuellen Debatten und keineswegs auf die Geriatrie oder das Segment der älteren Menschen begrenzt. Andererseits musste ich aber auch feststellen, wie wenig Beachtung diesem Thema tatsächlich geschenkt wird und wie wenig strukturiertes Material vorhanden ist, welches man für ein Fachpublikum aufarbeiten könnte. Das veranlasste mich, gründlich darüber zu reflektieren und es gab mir wiederum auch reichlich Anlass darüber nachzudenken, wie Medizin, medizinisches Wissen und diagnostische und therapeutische Strategien heute angemessen gelernt, gelebt und wieder gelehrt werden können.

Zurückblickend erinnere ich mich nicht, während meines Medizinstudiums in den mittleren und späten 1980er Jahren jemals explizit mit der Frage Multimorbidität, geschweige denn mit systemtheoretischen Ansätzen zur Frage der Komplexität und Komplexitätsbewältigung konfrontiert worden zu sein. Dagegen erinnere ich mich aber sehr wohl an verschiedene Erfahrungen und Begebenheiten, die mir wie Schlaglichter immer wieder einmal die Bedeutung dieses Phänomens deutlich werden ließen, und zwar lange bevor in einer wissenschaftlichen Sitzung in einem großen europäischen Geriatrie-Kongress vor 2 Jahren das Ende der Ära der ICD-Diagnosen ausgerufen wurde. Da war der ältere Herr, dem ich in meinem Pflegepraktikum im Krankenhaus bei basalen Alltagsverrichtungen zu helfen hatte und der sehr stark von Gebrechlichkeit und kognitiven Problemen betroffen war. Er war der erste multimorbide Patient, dem ich in professioneller Art und Weise begegnete, oder sagen wir besser, begegnen sollte. Auf meine Frage, worunter der Mann eigentlich leide und wie man ihm helfen könne, erhielt ich damals die Antwort, man wisse es nicht genau, es habe aber sicher etwas mit dem Gehirn zu tun, weswegen eine Szintigraphie des Gehirns gemacht werden sollte. Letzteres zog mich fortan dann als Student zunächst in den Bann, aber eigentlich war nicht klar, weshalb genau seine Alltagskompetenz dadurch behindert sein sollte. Ich erhielt einen Hinweis auf das dysfunktionale Organ, dem die ganze Situation zuzuschreiben war, aber weder einen auf die äußerst vielfältigen Konsequenzen einer neurodegenerativen Erkrankung noch auf die Wechselbeziehungen mit anderen Organfunktionen oder Dysfunktionen, was eigentlich das Spannendere gewesen wäre.

Sehr gut erinnere mich auch an mein erstes Weiterbildungsjahr in der Inneren Medizin Anfang der 1990er Jahre und an meinen Supervisor, der mich auf die Intensivstation mitnahm und dort aufforderte, unter seiner Aufsicht probehalber die Anordnungskurven zu schreiben, was mir damals sehr schwer erschien. Auf meine Nachfrage erklärte er mir, dass die Intensivmedizin der strukturierteste Teil der Medizin sei, mithin also trotz der klinischen Schwere der Situation oftmals das Leichtere, und dass die zunächst leichter erscheinende Arbeit auf der peripheren Station (z. B. die Beratungsgespräche) oftmals das wesentlich Komplexere und Anspruchsvollere sei. Ich habe lange darüber nachgedacht, fand aber in den vielen Jahren meiner ärztlichen Tätigkeit genau diese Einschätzung oftmals bestätigt. Immer wieder habe ich mir durchaus selbstkritisch die Frage gestellt, ob die vorliegende Situation wirklich so einfach war, wie es zunächst schien, oder ob sie nicht doch entscheidender von einer unterliegenden Komplexität und Vielschichtigkeit geprägt war und der gewählte diagnostische und therapeutische Zugriff unangemessen simplifiziert ausfiel?

Noch eine Erinnerung aus meiner Weiterbildungszeit gab mir lange zu denken. Ein Kollege, ebenfalls in der Weiterbildungszeit, kritisierte mich einmal recht deutlich, als ich einen betagten älteren Herrn aufgrund der von ihm geschilderten thorakalen Beschwerden einer kardiologischen Diagnostik unterziehen wollte. Der Kollege hielt mir vor, ich hätte nicht die realen Lebensumstände des Patienten berücksichtigt und hätte als Erstes klären müssen, inwiefern diese Prozeduren mehr Nutzen als Risiken nach sich ziehen würden. Die Risiken- und Nutzenabwägungen hatte ich aus meiner Studienzeit damals nicht als diskursiv anspruchsvoll erlebte Aufgabe mitgebracht. Wie mühsam es sein kann, diesen essentiellen Teil der Medizin ernsthaft zu bearbeiten, merke ich im klinischen Alltag auch heute immer noch, obwohl ich gerade diesen Aspekt als Hochschuldozent im Medizinischen Feld immer wieder betone.

Bestimmt ließen sich noch viele weitere Anekdoten aus dem Alltag der Medizin finden, die Schlaglichter auf das Ringen der Medizin nach Eindeutigkeit und das mögliche Scheitern an der ungeheuren Mannigfaltigkeit der konkret vorliegenden Lebenssituationen werfen. Dieses Erahnen eines möglichen Scheiterns in der Situation der Multimorbidität befördert die Sehnsucht nach eindeutiger Erklärung und begründet sicher auch, warum man der Multimorbidität, der Komplexität nicht mit dem wissenschaftlichen oder praktisch-klinischen Enthusiasmus begegnet, den dieses Phänomen verdient.

Auch wenn uns katalogisierte Aus- und Weiterbildungsziele, ICD-Entitäten und Leitlinien etwas anderes suggerieren wollen, erscheint die medizinische Welt im diffusen Licht der Komplexität oft unsicher. Mit diesem Buch will ich zeigen, wie Komplexität in der Medizin dennoch erfasst, begriffen und bewältigt werden kann. Es wendet sich primär an Ärzte und andere professionelle Kräfte mit unterschiedlichem Erfahrungsgrad. Es erhebt von vornherein nicht den Anspruch, die Thematik erschöpfend zu behandeln, denn dieser Anspruch stünde im Widerspruch zum Thema der Komplexität selbst. Das Buch soll freilich Impulse geben, sowohl den praktisch klinisch Interessierten, als auch denjenigen, die sich eher mit theoretischen Aspekten befassen, indem es zur Rückreflexion in die klinischen Bezüge anregt.

Wie kann das gelingen? In meiner Laufbahn als Hochschuldozent musste ich eines Tages einen erfahrenen Kollegen um Rat bitten, wie die Flut der sich überschneidenden Anforderungen unterschiedlicher Lehrveranstaltungen bewältigt werden könne. Sein Rat war weise: Geben Sie primär Ihre klinischen Erfahrungen weiter! Ich habe diesen Rat, so gut es ging, beherzigt und rückblickend kann ich resümieren: Nie waren Lerneffekte unmittelbarer und fruchtbarer als durch gelungene Besprechungen an Fällen, seien es Demonstrationen oder aufgearbeitete kritische Reflexionen. Warum war das so und was waren die Bedingungen für das Gelingen? Heute meine ich, dass im konkreten Fall eindrucksvoller, schneller und effektiver vermittelt werden konnte, was im Katalog oder in einer zu stark vereinfachten Darstellung mühsam und unvollständig blieb: Das Erkennen eines Musters. Die Muster der Lebensmöglichkeiten mit der Bedrohung durch Krankheit und den Bezügen in den Lebenswelten waren letztlich das Faszinierende, das unmittelbar aufgenommen werden konnte und unser Lernen und Handeln inspirierte. So wird man in diesem Buch zwar auch einiges an theoretischen Darstellungen, durchaus auch Schematisierungen und Kategorisierungen finden, aber es war mir ein wesentlicher Anspruch, auch durch konkrete Fallschilderungen Entscheidungssituationen und -möglichkeiten fassbar zu machen. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich, dass sie sich und ihre Erfahrungen durch dieses Buch bestätigt, zugleich aber auch herausgefordert finden werden.

Ich widme das Buch allen Patienten, Mitarbeitern und Kollegen, sie alle zählen zu meinen Lehrern, seien sie sich dieses Lehrer-Seins bewusst gewesen oder nicht. Dadurch, dass ich sie kennenlernen, die gemeinsame sorgende Zuwendung zum Kranken mit ihnen teilen und darüber kritisch reflektieren durfte, haben sie alle zum Erfahrungsschatz, zur Kenntnis und zum Repertoire an Reflexionsvermögen beigetragen, welches alles zur Basis meines verantwortlichen ärztlichen Handelns, Beratens und Lehrens geworden ist.

Heinrich Burkhardt, im Oktober 2018

1          Das Phänomen Multimorbidität und seine Bedeutung in der klinischen Praxis – Eine Einführung anhand eines konkreten Beispiels

 

 

 

In den letzten Jahren findet das Phänomen der Multimorbidität zunehmend Anerkennung als ein zentrales Phänomen und wichtige Herausforderung in der Medizin und wird von manchen Autoren sogar als einer der bedeutendsten Aspekte in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung genannt (Marengoni et al. 2017). Ganz aktuell greift auch ein Editorial in der angesehenen Fachzeitschrift The Lancet dies auf und weist dem Merkmal Multimorbidität eine zentrale Bedeutung in der modernen Medizin zu. Allerdings geht es mit diesem Begriff ähnlich wie mit anderen Schlagwörtern der Moderne. Er ist wenig scharf definiert und obwohl eigentlich unmittelbar klar wird, was gemeint ist, nämlich das Auftreten mehrerer Erkrankungen oder Gesundheitsprobleme gleichzeitig, entstehen bei näherer Betrachtung mehr Fragen als Antworten. Daher erscheint eine genauere Analyse lohnend und sogar notwendig. In diesem Buch werden in einem ersten Teil anhand eines Beispiels wichtige Aspekte aufgelistet und Fragen formuliert. In einem zweiten Abschnitt werden wichtige theoretische Aspekte dargestellt aber auch eine Übersicht über epidemiologische Befunde gegeben. Aufbauend auf den theoretischen Aspekten werden Vorschläge abgeleitet, wie das Phänomen im geriatrischen Kontext besser zu fassen und zu bewerten ist. In einem dritten, mehr der Praxis zugewandten Abschnitt werden konkrete Probleme in der klinischen Praxis angesprochen, auch hier wird versucht, ein Überblick über aktuelle Lösungsmöglichkeiten und Entwicklungen zu geben.

Um die Problematik besser darstellen zu können, sollen mit einem einführenden möglichst konkreten Beispiel wichtige Aspekte dargestellt und Fragen abgeleitet werden. Zentral sind hier die Herausforderungen, die sich durch Multimorbidität im klinischen Alltag für den Arzt aber auch andere professionelle Akteure im Gesundheitssystem ergeben können. Daher soll zunächst auf diese fokussiert werden, wenn auch klar ist, dass aus vielerlei anderweitigen Intentionen das Phänomen Multimorbidität betrachtet werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch aus diesen Bereichen wie z. B. Mathematik Impulse aufgenommen werden sollen, die es ermöglichen, klinische Kontexte besser zu verstehen.

Das Beispiel

Frau M., 76 Jahre alt, lebt alleine seit ihr Mann vor 2 Jahren verstorben ist. Sie leidet an Bluthochdruck und nimmt seit Jahren unterschiedliche Medikamente ein. Sie kann ihren Blutdruck selbst messen, toleriert aber bei Wohlbefinden auch höhere Werte. Sie beklagt seit Jahren Schmerzen in der Lendenwirbelsäule und nimmt immer wieder diverse Schmerzmittel, teilweise auch solche, die nicht verschrieben werden müssen. Die lange Erkrankung ihres Mannes und sein schließlich eingetretener Tod hat sie stark belastet. Seit über einem Jahr nimmt sie auch regelmäßig Antidepressiva ein. Frau M. hat zwei Töchter, die aber mit ihren Familien in anderen Städten leben und sie nur unregelmäßig unterstützen können. Frau M. hat seit vielen Jahren Übergewicht und wiegt jetzt bei einer Körpergröße von 162 cm noch ca. 85 kg. Sie hat wegen ebenfalls erhöhter Cholesterinwerte im Blut Simvastatin verordnet bekommen, hat aber ihre Ernährungsgewohnheiten nicht sehr verändert. Frau M. fällt es zunehmend schwer die Treppe zu ihrer Wohnung im 2. Obergeschoss eines Mehrparteien-Mietshauses ohne Atemnot zu erreichen. Sie hat mit ihrem Hausarzt darüber gesprochen. Dieser hat ihr eine Überweisung zu einem Kardiologen ausgestellt.

Es ergeben sich folgende konkrete Fragen:

•  Woran leidet Frau M. und welches Gesundheitsproblem ist hier das führende?

•  Welche unmittelbaren Maßnahmen sollen ergriffen werden?

•  Wie soll Frau M. beraten werden?

Ohne Frage handelt es sich bereits bei diesem einfachen und sicher in der Praxis so oder ähnlich häufig auftretenden Fall um eine Konstellation, die man bereits gut mit dem Begriff Multimorbidität bezeichnen kann. Es liegen verschiedene Gesundheitsprobleme vor, die sich unterschiedlich stark durch Symptome äußern und welche auch unterschiedliche Anforderungen an Beratung, Behandlung oder auch Prävention einer weiter ungünstigen Entwicklung stellen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige Details, die sich zu unterschiedlichen Aspekten aus den benannten Gesundheitsstörungen ergeben (Images Tab. 1).

Tab. 1: Übersicht über gesundheitsrelevante Aspekte bei Frau M.

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Dazu zählen nicht nur diagnostische Aspekte, sondern auch solche, welche die Therapie und Beratung des Patienten über längere Sicht betreffen. Daraus würde sich eine in diesem Beispiel bereits beachtlich umfangreiche Liste von Zielen und Maßnahmen ergeben, die entweder unmittelbar ergriffen werden sollen oder auch im Rahmen eines längerfristigen Prozesses realisiert werden müssen. Die Tabelle zeigt ebenso die Liste der in Betracht kommenden Maßnahmen an (Images Tab. 1).

Die zweite Frage eröffnet bereits das Feld für wichtige Aspekte in der Beurteilung der Gesundheitsprobleme. Nach welchen Kriterien würde man die doch bereits überraschend lange Liste der Ziele und Maßnahmen priorisieren, da man kaum alle Aspekte simultan bearbeiten wird können. Hier ergeben sich zwei naheliegende Gesichtspunkte. Zum einen kann eine Priorisierung nach der Bedeutung für die unmittelbare Prognose und zum anderen nach der Symptomlast vorgenommen werden. Im Beispiel bliebe vermutlich unwidersprochen, dass die neu berichtete Dyspnoe zunächst erklärt werden sollte mit dem Blick auf die eventuell bedrohte kardiale Organfunktion aber auch auf die Symptomlast durch dieses Symptom. In diesem Beispiel ergibt sich also zunächst keine Konkurrenz zwischen verschiedenen Zielen, dies wäre aber in anderen Konstellationen sicher denkbar. Andererseits könnten weitere Ziele, z. B. die Schmerzen in der Lendenwirbelsäule weniger Aufmerksamkeit erhalten und vernachlässigt werden.

Vieles an den akut geschilderten Problemen spricht für das Vorliegen einer kardialen Einschränkung, die bei langjähriger arterieller Hypertonie jetzt Ausdruck einer hypertensiven Herzerkrankung sein kann. Sehr gut kann aber auch eine zusätzliche koronarielle Problematik vorliegen, so dass die Überweisung zu weiterer kardiologischer Diagnostik vernünftig erscheint. Möglich wäre, dass sich eine Chance ergibt, ein koronarielles Problem durch einen Kathetereingriff rasch zu bessern und damit auch eine Verbesserung der Symptomatik und der Alltagskompetenz zu erreichen. Außerdem ist es für die weitere medikamentöse Behandlung der Patientin von erheblicher Bedeutung, zu klären, ob und inwiefern hier eine kardial bedingte Problematik vorliegt.

Das Vorliegen einer Depression stellt einen erheblichen Einflussfaktor für den weiteren Verlauf gleichzeitig bestehender somatischer Erkrankungen dar. Man mag die strikte Trennung zwischen psychischen und somatischen Gesundheitsproblemen für nicht mehr modern halten, angesichts der vielfältigen Bezüge, die sich zwischen diesen ergeben können, dennoch ist es immer wieder wichtig auf diesen Aspekt der gegenseitigen Beeinflussung zu verweisen. Gründe hierfür können im Verhalten des Patienten liegen, nicht-depressive Patienten zeigen im Schnitt ein eher gesundheitsförderliches Verhaltensmuster, insbesondere was die kardiovaskulären Erkrankungen anbelangt, aber auch direkte Beeinflussungen auf einer somatischen Ebene werden diskutiert.

Wichtige Begleitumstände wie die Adipositas werden im medizinischen Kontext nur zögerlich als krankheitsrelevante Aspekte angesprochen, gleichwohl ist ihr Einfluss auf das kardiovaskuläre Risiko unwidersprochen. Bei älteren Menschen nimmt dieser prognostisch ungünstige Einfluss etwas ab und man kann die über 80-jährigen mit langjähriger Adipositas durchaus auch als »expert survivor« des Adipositas-Risikos, was die kardiovaskuläre Komponente anbelangt, bezeichnen. Man sollte aber bedenken, dass neben diesen Effekten auch noch andere Einflüsse bestehen, die gerade im Alter viel stärker zur Geltung kommen als der kardiovaskuläre Effekt. Dies sind Einflüsse auf die Lokomotion, die bei Vorliegen einer Adipositas und gleichzeitig Schwinden der Kraftreserven durch eine altersbedingte Sarkopenie immer mehr in den Vordergrund treten. Daneben beeinflusst die Adipositas die Entwicklung chronischer Gelenkprobleme in den großen Gelenken der unteren Extremität genauso aber auch in den kleinen des Achsenskeletts in erheblichem Umfang und trägt so dazu bei, dass ein chronisches Schmerzsyndrom entstehen kann. Das ist vermutlich bei Frau M. auch der Fall.

Dieser Punkt spielt auch bei Frau M. eine bedeutende Rolle und trägt zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Alltagskompetenz bei. Zusätzlich kann durch das Problem des chronischen Schmerzes eine komplizierte Dauermedikation notwendig werden, die in sich bereits eine erhebliche Problematik über hohe Raten unerwünschter Wirkungen birgt. Frau M. müsste daher ausführlich über diese Gefahren beraten werden, ebenso über mögliche Maßnahmen, wie die Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule nicht-pharmakologisch gemindert werden können. Hier sind evtl. angepasst physiotherapeutische Verfahren erforderlich, da auf die evtl. bereits reduzierte Kraft der Patientin eingegangen werden muss.

Es muss also eine Abstimmung erfolgen, welche Maßnahmen kurzfristig erforderlich sind, welche Maßnahmen bei den chronischen Gesundheitsproblemen aufeinander abgestimmt werden müssen und für eine optimale Flankierung erforderlich sind. Dies betrifft insbesondere Beratung und Begleitung der Patientin. Hier ergibt sich die Frage, ob Frau M. Zugang finden kann zu entsprechenden abgestimmten Aktivitäten inkl. einer physiotherapeutischen Intervention oder auch einer fortgesetzten Ernährungsberatung und -begleitung.

Wir können diese Betrachtungen zusammenfassen und feststellen, dass für ein angemessenes Verständnis der Situation und das Aufstellen eines einen rational begründeten Behandlungsplans folgende Punkte wichtig sind:

•  Vollständige Liste der Gesundheitsprobleme

•  Erstellen einer Maßnahmenliste und Abstimmen der einzelnen Punkte aufeinander

•  Überprüfen der individuellen Ressourcen und Aufstellen einer Liste unterstützender und begleitender Maßnahmen

•  Priorisierung auf der Zeitachse nach Dringlichkeit

•  Priorisierung nach Patientenpräferenz

Man sieht bei näherer Betrachtung, dass sich an einem so einfachen Beispiel bereits ein komplexes Wirkgefüge darstellen lässt mit daraus potentiell folgenden und gegebenenfalls schwierigen Abwägungsprozessen. Ein direkt erkennbarer Konflikt wird z. B. bereits in der einfachen und naheliegenden Frage erkennbar, was sollte jetzt eigentlich als nächstes geschehen. Hier wird sicher das geschilderte Symptom der Dyspnoe die Aufmerksamkeit primär besetzen und vermutlich wird sich schnell Konsens erzielen lassen, dass bei drohendem kardiovaskulärem Problem als erstes weitere Diagnostik in diesem Feld erforderlich ist. Dies ist sicher korrekt, birgt aber auch die Gefahr, dass viele andere Aspekte nun aus dem Blickfeld rücken und deren Bearbeitung, wiewohl zugegebenermaßen nicht in Tagen oder Wochen dringend abzuarbeiten, aber vielleicht dann gar nicht mehr adäquat adressiert werden, da der Fokus des Therapeuten zu sehr auf einem Aspekt, hier der möglichen koronaren Herzerkrankung verharrt und andere vernachlässigt werden.

Es entsteht so ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch einer Priorisierung, um Dringendes schnell zu bearbeiten und dem Anspruch der Vollständigkeit mit dem Ziel, alle Gesundheitsstörungen rechtzeitig zu erkennen und auch angemessen therapeutisch zu adressieren.

Vielfach wird die klinische Bedeutung des Phänomens Multimorbidität unterschätzt. Dies ist erstaunlich, da sich bei gezielten Untersuchungen der Verläufe in großen Kohorten wiederholt erwiesen hat, dass Multimorbidität ein bedeutsamer prognostischer Faktor ist. So zeigte beispielsweise die Analyse von Tisminetzky et al. (2016), die dies bei älteren Patienten mit koronarer Herzerkrankung mit einem systematischen Review untersuchten, dass Multimorbidität ein signifikanter Faktor für die Mortalität ist. Das gilt auch für andere Aspekte der Morbidität wie z. B. die Notwendigkeit einer erneuten Hospitalisation.

Trotz dieser Hinweise findet sich in der medizinischen Literatur dieser Aspekt kaum an prominenter Stelle. Eine Übersicht über aktuelle Lehrbücher und Kompendien der Inneren Medizin, Allgemeinmedizin und auch Geriatrie weist hier kaum ausführlichere Erörterungen dieses Phänomens aus (Images Tab. 2). Das überrascht einerseits wegen der vielen Unsicherheiten, die in einer derartigen klinischen Situation entstehen können, zeigt aber andererseits, in welchem Ausmaß die in der Klink verwendete medizinische Systematik traditionell in eng umrissenen Kategorien arbeitet. Auch neuere Reviews, die sich nur auf die Frage beschränken, inwiefern Studien aktuell wichtige Komorbiditäten berücksichtigen, finden hier erhebliche Lücken und einen großen Bedarf nach weiteren Daten (He et al. 2016). Wie bereits detaillierter ausgeführt wird (Images Kap. 2), wäre dies ein vereinfachtes Modell der Multimorbiditäts-Situation mit einem Hauptproblem und einem oder mehreren Neben-Problemen, die dann Komorbiditäten genannt werden.

Tab. 2: Berücksichtigung von Multimorbidität in klassischer medizinischer Literatur

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a: Analyse des Inhaltsverzeichnisses bez. des Terminus Multimorbidität;

b: Analyse des Stichwortverzeichnisses bez. des Terminus Multimorbidität

Dabei konnte z. B. am Beispiel der chronischen Herzinsuffizienz in einer Meta-Analyse gut gezeigt werden, welche Bedeutung Komorbiditäten für die Prognose der Haupterkrankung haben können. Rushton et al. (2015) konnten für alle der von Ihnen untersuchten Komorbiditäten (Diabetes, COPD und chronische Niereninsuffizienz) einen eindeutigen Effekt für eine verschlechterte Prognose aufzeigen. Eine zusätzliche Erkrankung oder ein zusätzliches Gesundheitsproblem bedeutet daher nicht nur eine kompliziertere Situation, sondern kann sich auch direkt als Risikofaktor für einen ungünstigen Verlauf erweisen. Andererseits gibt es aber auch qualitative Reviews, die keine so eindeutigen Effekte finden. Hier ist die koronare Herzerkrankung zu nennen, für welche Fried et al. (2014) dies untersuchten und z. B. für Diabetes als Komorbidität keinen eindeutigen Effekt nachweisen konnten. Es mag also stark davon abhängen, in welche Beziehung zwei Krankheitsentitäten miteinander treten können und es ergibt sich die Notwendigkeit einer komplexen Analyse der individuellen Situation. Durch das Auftreten von Komorbiditäten können theoretisch folgende Effekte eintreten:

•  Direkte Beeinflussung einer anderen Erkrankung oder Gesundheitsstörung als Risikofaktor

•  Komplexitätsproblem bei der Sicht auf die Gesundheitssituation insgesamt

•  Priorisierung des Ressourceneinsatzes bei zeitlich und summarisch begrenzten Ressourcen

•  Neutrales Verhalten der Komorbidität

Ressourceneinsatz ist in diesem Zusammenhang primär nicht nur unter dem Gesichtspunkt Medizin im Kontext begrenzter ökonomischer Ressourcen zu verstehen, sondern viel mehr noch unter der stets limitierten Zeit, die sowohl für Diagnostik wie auch Therapie zur Verfügung steht. Andererseits wird an dieser Stelle auch deutlich welch große Bedeutung potentiell Multimorbidität auch für die ökonomische Ressourcenbelastung entwickeln kann.

Es wundert daher nicht, dass häufig in der Praxis bei Konfrontation mit Multimorbidität viele Unsicherheiten entstehen bzw. selten strukturierte Entscheidungshilfen zur Anwendung kommen. Vereinzelt wird zwar versucht, dieses Problem anzusprechen, aber nicht in umfassender Art und Weise. Es ist auch klar, dass hier noch erheblich mehr Forschung zu leisten ist, um mit diesem Phänomen besser umgehen zu können. Erst kürzlich wurde hierzu versucht eine Forschungs-Agenda zu formulieren (Tisminetzky et al. 2017). Die Gründe für eine so zögerliche Befassung mit diesem im klinischen Kontext allgegenwärtigen Phänomen sind vielfältig und in nicht unerheblichem Maß in der Art und Weise begründet, wie Medizin aktuell verstanden, entwickelt, ausgestaltet und schließlich praktiziert wird.

Folgende übergeordnete Aspekte konnten an dem konkreten Beispiel aufgezeigt werden und sollen im folgenden Teil, der sich mit den theoretischen und konzeptuellen Gesichtspunkten im Detail beschäftigt, aus unterschiedlicher Perspektive heraus genauer beleuchtet werden:

•  Komplexität

•  Priorität

•  Kontinuität

Was bedeutet Komplexität im medizinischen Kontext bei Erkennen, Analyse und Behandlung von Gesundheitsproblemen? Wie kann diese hinsichtlich qualitativer und quantitativer Aspekte erfasst werden? Gibt es spezielle altersmedizinische Gesichtspunkte? Dazu wird es hilfreich sein, theoretische Gesichtspunkte zu rekapitulieren und die medizinische Nosologie einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Was bedeutet im klinischen Kontext Priorität? Ist dies nur eine Frage von Zeitabläufen? Welche Gesichtspunkte sind hier entscheidend und gibt es einen Wandel der Prioritäten in unterschiedlichen Lebensphasen? Dazu wird es hilfreich sein, Handlungsmaximen im medizinischen Kontext und mögliche Konfliktsituationen zu beleuchten.

Wie kann man der Situation des chronisch Kranken gerecht werden? Welchen Stellenwert hat Kontinuität in der Behandlung? Was bedeutet kontinuierliche Behandlung in der langfristigen Behandlungsperspektive über unterschiedliche Lebensphasen? Dazu wird es hilfreich sein, Fragen der Prognose-Findung und die Bedeutung der Prognose für Therapieentscheidungen zu rekapitulieren.

2          Theoretische Aspekte der Multimorbidität und epidemiologische Befunde

 

 

2.1       Verwendung des Begriffs und Definitionen

Mit Multimorbidität wird gewöhnlich das Vorliegen von mehr als einem chronischen Gesundheitsproblem bezeichnet. Aktuell existiert aber keine allgemein gültige Definition einer solchen Multimorbidität. Für gewöhnlich ist damit eine gleichzeitige Aktivität von drei Gesundheitsproblemen gemeint. Eine aktuelle Publikation der Academy of Medical Sciences greift diese Diskussion auf (The Academy of Medical Sciences. 2018) und definiert Multimorbidität bereits als das Vorhandensein zweier chronischer Zustände, die folgendes sein können:

•  eine physische nicht übertragbare chronische Erkrankung wie z. B. eine Tumorerkrankung oder eine kardiovaskuläre Erkrankung

•  eine chronische psychische oder mentale Erkrankung wie Depression oder Demenz

•  eine langdauernde infektiöse Erkrankung wie HIV oder Hepatitis C

So folgt diese Definition einem mathematisch orientierten strengen Ansatz, andere Autoren würden die Schwelle höher legen und implizieren damit auch aus einer klassischen klinischen und mehr empirisch geleiteten Sicht heraus, dass ein gewisser Schwellenwert der Problematik vorhanden sein könnte, ab welchem dann erst eine klinische Bedeutung zugewiesen werden kann. In dem Positionspapier der Academy of Medical Sciences wird darüber hinaus auch das erstaunliche Defizit belastbarer Erkenntnisse über dieses so bedeutsame Phänomen herausgestellt und eine Reihe von sechs konkreten Aufträgen bzw. Forschungsfragen für die zukünftige, speziell auch wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas abgeleitet:

1.  Welche Trends und Muster der Multimorbidität lassen sich erkennen?

2.  Welcher Multimorbiditäts-Cluster erzeugt die größte Belastung der Gesundheit?

3.  Wie lassen sich geeignete Determinanten distinkter Multimorbiditäts-Cluster definieren?

4.  Was sind geeignete präventive Strategien um die wichtigsten chronischen Konditionen, die schließlich zu Multimorbiditäts-Clustern führen zu kontrollieren?

5.  Welche Strategien können helfen Risiken therapeutischer Maßnahmen in der Situation der Multimorbidität zu minimieren und den Nutzen derselben zu optimieren?

6.  Wie kann das Gesundheitssystem organisiert werden, um besser auf die Bedürfnisse der Patienten mit Multimorbidität eingehen zu können?

Erst die gezielte Bearbeitung dieser Forschungsfelder wird die Gesellschaft und die Gesundheitssysteme in die Lage versetzen, die Herausforderungen, welche durch Multimorbidität entstehen, in angemessener Weise bestehen zu können. Es kann durchaus sein, dass dies einige Traditionen im medizinischen und auch pflegerischen Denken verändern wird.

Im dritten Teil dieses Werkes lassen sich einige Hinweise an konkreten Beispielen aufzeigen, in welche Richtung die Beantwortung dieser Fragen gehen kann (Images Kap. 3). Kommen wir aber zunächst zurück zu den bisher vorliegenden Positionen und Erkenntnissen und den theoretischen Grundlagen, die sich hinter den aufgeworfenen Fragen verbergen. Das betrifft zunächst die Charakterisierung der einzelnen, letztlich die Multimorbidität hervorbringenden Konditionen oder Gesundheitsstörungen, später dann die Frage übergeordneter Muster. Diese beim Zustandekommen von Multimorbidität beteiligten Gesundheitsprobleme sind klassischerweise, wie auch in diesem Vorschlag, stark an die Nosologie der ICD-Klassifikation angelehnt, meinen also weniger syndromartige Komplexe oder auch Bereiche der Funktionalität. Multimorbidität ist heute der populärste unter einer ganzen Reihe von Begriffen, die eigentlich eine höhere Komplexität der Gesundheitsproblematik aufzeigen und besonders auf die Interaktivität und Interkonnektivität unterschiedlicher Aspekte und Kompartimente im Organismus hinweisen. Wichtige Begriffe in der Abgrenzung, die auch heute in aktuellen Diskussionen aufzufinden sind, sind Komorbidität und Vulnerabilität. Häufig bleibt die Diskussion hier aber zu sehr an der Oberfläche und es lohnt, hier unterschiedliche Ebenen der verwendeten Konzepte zu beschreiben. So unterteilen Kuhlmey und Tesch-Römer (2013) wie folgt:

•  Statistisches Multimorbiditätskonzept

•  Geriatrisches Multimorbiditätskonzept

•  Dynamisches Multimorbiditätskonzept

Das statistische Konzept beschreibt das Vorliegen von mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig und orientiert sich sehr an der medizinischen Diagnosestellung nach ICD. Hier wird fast ausschließlich auf quantitative Aspekte fokussiert. Mit geriatrischen Konzepten meinten Kuhlmey und Tesch-Römer die Erweiterung dieses Ansatzes mit einem Ablösen von einem ausschließlich auf die nosologische Sphäre des ICD-Systems beschränkten Blickes durch eine zusätzliche Mitbetrachtung von funktionellen Aspekten. Hochkomplexe Strukturen wie der Mensch in seinen physischen Bedingtheiten und psychischen und sozialen Bezügen lassen sich immer nur sehr vereinfachend und näherungsweise beschreiben. Daher stellt die klassische medizinische Nosologie mit der strikten Trennung von gesund und krank, dem damit einhergehenden Festhalten an harten diagnostischen Grenzen und einem festgeschriebenen Katalog von Erkrankungen bereits eine sehr starke Vereinfachung dar. Die Erfahrung zeigt, dass so vielfach Gesundheitsprobleme nur unvollständig beschrieben sind. Ein Bespiel hierfür ist die kontinuierliche Entwicklung der diabetischen Stoffwechsellage beim klassischen Typ 2 Diabetes von der initialen Insulinresistenz über das metabolische Syndrom bis zum Erreichen der diagnostischen Schwelle zum Diabetes mellitus. Ähnlich ist es mit der Definition des Lungenemphysems beim älteren Menschen. Hier werden gar die strikten Grenzwerte der Norm in der Lungenfunktionsanalyse einfach linear weiter extrapoliert. Diese Schwächen im traditionellen Verständnis von Gesundheitsproblemen sind lange erkannt und wurden bei Formulierung des aktuellen Konzepts von Krankheit und Gesundheit nach den Vorstellungen der WHO berücksichtigt. Hier werden wichtige Hauptbezüge unterschiedlicher Sphären beschrieben. Die folgende Abbildung (Images Abb. 1) gibt diese wieder.

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Abb. 1: Das Biopsychosoziale Krankheitsmodell der WHO

Von besonderer Bedeutung ist hier, dass zusätzlich zu der Ebene der Integrität, worin die klassischen Auswirkungen auf Erkrankung durch Veränderung von Physiologie oder auch psychischem Erleben repräsentiert sind mit einer als funktionelle bzw. partizipativ beschriebenen ebene viel stärker die Auswirkungen auf Alltagsfunktion und Teilhabe betont werden, wie das üblicherweise im medizinischen Kontext beschrieben und diskutiert wird. Hält man sich diese bereits recht komplexen Wechselwirkungen beim Zustandekommen von Krankheit vor Augen, wird deutlich, dass es auch bei evtl. sehr unterschiedlichen und scheinbar klar getrennten Auswirkungen von zwei Erkrankungen im Bereich der Physiologie durch andere mögliche Wechselwirkungen zu einer starken wechselseitigen Beeinflussung kommen kann. Ein klassisches Beispiel ist das gleichzeitige Vorliegen einer primär somatischen Störung wie z. B. der eingeschränkten Pumpfunktion des Herzens (Herzinsuffizienz) und einer Depression, welche das Coping mit der Erkrankung behindert und dadurch die Auswirkungen auf die funktionelle und partizipative Ebene erheblich verstärken kann. Diese zusätzliche Berücksichtigung der Dynamik zwischen den beschriebenen und aufgezählten Problemfeldern sind schließlich mit dem dynamischen Multimorbiditätskonzept gemeint.

An dieser Stelle lohnt ein kritischer Blick auf das ICD-System der Erkrankungen (ICD-10, 2016), welches seit nunmehr über 80 Jahren von der WHO immer weiterentwickelt wurde. Diese Systematik diente ursprünglich in ihren frühen Versionen der Erfassung von Todesursachen und lehnt sich im Kern der Systematik stark der Vorstellung von den großen Systemen des Organismus an, so wie er zu Beginn des letzten Jahrhunderts verstanden wurde. Zum Beispiel werden alle Herzerkrankungen in eine Gruppe zusammengefasst, alle Lungenerkrankungen in eine andere. Man könnte sich auch auf den Standpunkt stellen, dass alle Erkrankungen, die eine Atemnot bedingen in eine Gruppe zusammengefasst werden müssten, also eine Einteilung nach Leitsymptomen sinnvoller wäre wie eine solche nach den hauptsächlich betroffenen Organen. Interessanterweise, war und ist in diesem System nicht vorgesehen, dass ein Tod auch auf natürliche Weise also ohne Erkrankung eintreten könnte. Dass eine solche rein an den Organen und Geweben orientierte Systematik nicht ausreicht, um Gesundheitsstörungen zu erfassen, wird durch die Erweiterungen um Symptomcluster deutlich. Schließlich hat die WHO selbst der Unzulänglichkeit des ICD-Systems Rechnung getragen und mit der ICF-Klassifikation der funktionellen und partizipativen Domäne ein ergänzendes Klassifikationssystem geschaffen, welches aber weit weniger in den klinischen Alltag Eingang gefunden hat. Ein dynamisches Multimorbiditätskonzept muss sich daher von der reinen ICD-Systematik lösen und anderen Beschreibungen von Gesundheitsstörungen öffnen. Dies insbesondere, da viele aktuelle Herausforderungen an das Gesundheitssystem nicht mehr auf einer rein nach Organfunktionen ausgerichteten Matrix verstanden oder behandelt werden können. So sprach Mary E. Tinetti sich beispielsweise sehr stark für einen Perspektivenwechsel mit einer stärkeren Fokussierung auf die Bedürfnisse des Patienten aus und meinte damit auch ein gewisses Lösen von einer von ihr als übermäßig stark empfundenen Fixierung auf rein pathogenetische Merkmale (Tinetti et al. 2016). Auch eine Reihe anderer namhafter Geriater haben diese Sichtweise aufgegriffen und bereits vom Ende der Ära der einzelnen Erkrankungen (»the end oft the disease era«) zugunsten eines mehr Syndrom-orientierten und mehrschichtigen Verständnisses von Gesundheitsstörungen gesprochen, um die Behandlung älterer Patienten zu optimieren (Cesari et al. 2016).

Boyd und Fortin (2010) beschäftigten sich intensiv mit der Abgrenzung eines dynamischen Multimorbiditätskonzepts vom Konzept der Komorbidität. Letzteres impliziert eine gewisse Hierarchie in der Betrachtungsweise und lässt die aktuell führende Problematik im Fokus (Images Abb. 2).

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Abb. 2: Die Perspektive im Komorbiditäts-Konzept

Dies entspricht der Abgrenzung von Haupt- und Nebendiagnose, Hauptanlass und Nebenerkrankungen und impliziert eine Hierarchie, die oft nicht kritisch hinterfragt wird und evtl. in vielen klinischen Situationen auch so nicht existiert. Oft wird dabei auch ein zeitlicher dynamischer Freiheitsgrad nicht beachtet. Was heute die Hauptdiagnose sein kann, kann morgen oder in einem Jahr bereits anders aussehen. In einem patientenzentrierten Ansatz führt dies dann nicht selten zu einem evtl. unangemessenen Auflösen einer simultanen Multimorbiditätsproblematik in ein sequentielles Abarbeiten der unterschiedlichen Aspekte. Ein praktisches Beispiel kann dies verdeutlichen: Ein Patient mit gleichzeitigem Vorliegen einer Herzinsuffizienz, einer lokomotorischen Einschränkung auf dem Boden eines Frailty-Syndroms und zunehmender Vergesslichkeit wegen neurodegenerativen Veränderungen würde zunächst einen Kardiologen zur Optimierung seiner Therapie konsultieren. Hier werden die anderen Gesundheitsprobleme unter dem Aspekt Komorbidität aufgefasst aber evtl. in ihrer Bedeutung abgestuft. Dann würde der Patient einen Neurologen konsultieren, um die Frage einer eventuellen zusätzlichen medikamentösen Therapie der Vergesslichkeit zu erörtern. Jetzt wechselt die Perspektive der Komorbidität, genauso wie der Blick auf eine evtl. notwendige Maßnahme bezüglich der lokomotorischen Probleme, die eigentlich den Blick des Mobilitäts-Spezialisten erfordern. Aber es fehlt der Dialog, um etwaige konkurrierende Maßnahmen abwägen zu können. Häufig führt das zu einer unangemessenen Akkumulation von sowohl Diagnostik aber auch Therapie. Besser ist hier die simultane Erörterung der unterschiedlichen Probleme idealtypisch im Sinne einer Fallkonferenz. Dies wird im dritten Kapitel dieses Werkes an konkreten Beispielen erneut aufgegriffen (Images Kap. 3). Betrachtung von gleichzeitig auftretenden Gesundheitsstörungen unter der Konzeption »Komorbidität« impliziert automatisch eine gegebene oder angenommene Priorisierung dieser Gesundheitsstörungen und Fokussierung auf ein Hauptproblem. Aber entspricht dies auch der wahren Situation? Es entspricht natürlich in vielerlei Hinsicht der traditionellen ärztlichen Herangehensweise. Ein Vorgehen, welches sich zum Beispiel auch in den aktuellen Dokumentationsrichtlinien widerspiegelt. Hier ist zum Beispiel für Krankenhäuser nicht vorgesehen, dass ein Aufnahme-Anlass auch ein mixtum compositum aus verschiedenen gleichzeitig vorliegenden GeImagesAbb. 3