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Schach von Wuthenow
Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes

1. Kapitel

Im Salon der Frau von Carayon

In dem Salon der in der Behrenstraße wohnenden Frau von Carayon und ihrer Tochter Victoire waren an ihrem gewöhnlichen Empfangsabend einige Freunde versammelt, aber freilich wenige nur, da die große Hitze des Tages auch die treuesten Anhänger des Zirkels ins Freie gelockt hatte. Von den Offizieren des Regiments Gensdarmes, die selten an einem dieser Abende fehlten, war nur einer erschienen, ein Herr von Alvensleben, und hatte neben der schönen Frau vom Hause Platz genommen unter gleichzeitigem scherzhaftem Bedauern darüber, dass gerade der fehle, dem dieser Platz in Wahrheit gebühre.

Beiden gegenüber, an der der Mitte des Zimmers zugekehrten Tischseite, saßen zwei Herren in Zivil, die, seit wenig Wochen erst heimisch in diesem Kreise, sich nichtsdestoweniger bereits eine dominierende Stellung innerhalb desselben errungen hatten. Am entschiedensten der um einige Jahre jüngere von beiden, ein ehemaliger Stabskapitän, der, nach einem abenteuernden Leben in England und den Unionsstaaten in die Heimat zurückgekehrt, allgemein als das Haupt jener militärischen Frondeurs angesehen wurde, die damals die politische Meinung der Hauptstadt machten, beziehungsweise terrorisierten. Sein Name war von Bülow. Nonchalance gehörte mit zur Genialität, und so focht er denn, beide Füße weit vorgestreckt und die linke Hand in der Hosentasche, mit seiner Rechten in der Luft umher, um durch lebhafte Gestikulationen seinem Kathedervortrage Nachdruck zu geben. Er konnte, wie seine Freunde sagten, nur sprechen, um Vortrag zu halten, und – er sprach eigentlich immer. Der starke Herr neben ihm war der Verleger seiner Schriften, Herr Daniel Sander, im Übrigen aber sein vollkommener Widerpart, wenigstens in allem, was Erscheinung anging. Ein schwarzer Vollbart umrahmte sein Gesicht, das ebenso viel Behagen wie Sarkasmus ausdrückte, während ihm der in der Taille knapp anschließende Rock von niederländischem Tuche sein Embonpoint zusammenschnürte. Was den Gegensatz vollendete, war die feinste weiße Wäsche, worin Bülow keineswegs exzellierte.

Das Gespräch, das eben geführt wurde, schien sich um die kurz vorher beendete Haugwitz’sche Mission zu drehen, die, nach Bülows Ansicht, nicht nur ein wünschenswertes Einvernehmen zwischen Preußen und Frankreich wiederhergestellt, sondern uns auch den Besitz von Hannover noch als »Morgengabe« mit eingetragen habe. Frau von Carayon aber bemängelte diese »Morgengabe«, weil man nicht gut geben oder verschenken könne, was man nicht habe, bei welchem Worte die bis dahin unbemerkt am Teetisch beschäftigt gewesene Tochter Victoire der Mutter einen zärtlichen Blick zuwarf, während Alvensleben der schönen Frau die Hand küsste.

»Ihrer Zustimmung, lieber Alvensleben«, nahm Frau von Carayon das Wort, »war ich sicher. Aber sehen Sie, wie minos- und rhadamantusartig unser Freund Bülow dasitzt. Er brütet mal wieder Sturm, Victoire, reiche Herrn von Bülow von den Karlsbader Oblaten. Es ist, glaub ich, das Einzige, was er von Österreich gelten lässt. Inzwischen unterhält uns Herr Sander von unseren Fortschritten in der neuen Provinz. Ich fürchte nur, dass sie nicht groß sind.«

»Oder sagen wir lieber, gar nicht existieren«, erwiderte Sander. »Alles was zum welfischen Löwen oder zum springenden Ross hält, will sich nicht preußisch regieren lassen. Und ich verdenk es keinem. Für die Polen reichten wir allenfalls aus. Aber die Hannoveraner sind feine Leute.«

»Ja, das sind sie«, bestätigte Frau von Carayon, während sie gleich danach hinzufügte: »Vielleicht auch etwas hochmütig.«

»Etwas!« lachte Bülow. »Oh, meine Gnädigste, wer doch allzeit einer ähnlichen Milde begegnete. Glauben Sie mir, ich kenne die Hannoveraner seit lange, hab ihnen in meiner Altmärker-Eigenschaft sozusagen von Jugend auf über den Zaun gekuckt, und darf Ihnen danach versichern, dass alles das, was mir England so zuwider macht, in diesem welfischen Stammlande doppelt anzutreffen ist. Ich gönn ihnen deshalb die Zuchtrute, die wir ihnen bringen. Unsere preußische Wirtschaft ist erbärmlich, und Mirabeau hatte Recht, den gepriesenen Staat Friedrichs des Großen mit einer Frucht zu vergleichen, die schon faul sei, bevor sie noch reif geworden, aber faul oder nicht, eines haben wir wenigstens: ein Gefühl davon, dass die Welt in diesen letzten funfzehn Jahren einen Schritt vorwärts gemacht hat, und dass sich die großen Geschicke derselben nicht notwendig zwischen Nuthe und Notte vollziehen müssen. In Hannover aber glaubt man immer noch an eine Spezialaufgabe Kalenbergs und der Lüneburger Heide. Nomen et omen. Es ist der Sitz der Stagnation, eine Brutstätte der Vorurteile. Wir wissen wenigstens, dass wir nichts taugen, und in dieser Erkenntnis ist die Möglichkeit der Besserung gegeben. Im Einzelnen bleiben wir hinter ihnen zurück, zugegeben, aber im Ganzen sind wir ihnen voraus, und darin steckt ein Anspruch und ein Recht, die wir geltend machen müssen. Dass wir, trotz Sander, in Polen eigentlich gescheitert sind, beweist nichts; der Staat strengte sich nicht an und hielt seine Steuereinnehmer gerade für gut genug, um die Kultur nach Osten zu tragen. Insoweit mit Recht, als selbst ein Steuereinnehmer die Ordnung vertritt, wenn auch freilich von der unangenehmen Seite.«

Victoire, die von dem Augenblick an, wo Polen mit ins Gespräch gezogen worden war, ihren Platz am Teetisch aufgegeben hatte, drohte jetzt zu dem Sprecher hinüber und sagte: »Sie müssen wissen, Herr von Bülow, dass ich die Polen liebe, sogar de tout mon cœur.« Und dabei beugte sie sich aus dem Schatten in den Lichtschein der Lampe vor, in dessen Helle man jetzt deutlich erkennen konnte, dass ihr feines Profil, das einst dem der Mutter geglichen haben mochte, durch zahlreiche Blatternarben aber um seine frühere Schönheit gekommen war.

Jeder musst es sehen, und der Einzige, der es nicht sah, oder, wenn er es sah, als absolut gleichgiltig betrachtete, war Bülow. Er wiederholte nur: »o ja, die Polen. Es sind die besten Mazurkatänzer, und darum lieben Sie sie.«

»Nicht doch. Ich liebe sie, weil sie ritterlich und unglücklich sind.«

»Auch das. Es lässt sich dergleichen sagen. Und um dies ihr Unglück könnte man sie beinah beneiden, denn es trägt ihnen die Sympathien aller Damenherzen ein. In Fraueneroberungen haben sie, von alter Zeit her, die glänzendste Kriegsgeschichte.«

»Und wer rettete …«

»Sie kennen meine ketzerischen Ansichten über Rettungen. Und nun gar Wien! Es wurde gerettet. Allerdings. Aber wozu? Meine Phantasie schwelgt ordentlich in der Vorstellung, eine Favoritsultanin in der Krypta der Kapuziner stehen zu sehen. Vielleicht da, wo jetzt Maria Theresia steht. Etwas vom Islam ist bei diesen Hahndel- und Fasahndelmännern immer zu Hause gewesen, und Europa hätt ein bisschen mehr von Serail- oder Haremwirtschaft ohne großen Schaden ertragen …«

Ein eintretender Diener meldete den Rittmeister von Schach, und ein Schimmer freudiger Überraschung überflog beide Damen, als der Angemeldete gleich darnach eintrat. Er küsste der Frau von Carayon die Hand, verneigte sich gegen Victoire, und begrüßte dann Alvensleben mit Herzlichkeit, Bülow und Sander aber mit Zurückhaltung.

»Ich fürchte, Herrn von Bülow unterbrochen zu haben …«

»Ein allerdings unvermeidlicher Fall«, antwortete Sander und rückte seinen Stuhl zur Seite. Man lachte, Bülow selbst stimmte mit ein, und nur an Schachs mehr als gewöhnlicher Zurückhaltung ließ sich erkennen, dass er entweder unter dem Eindruck eines ihm persönlich unangenehmen Ereignisses oder aber einer politisch unerfreulichen Nachricht in den Salon eingetreten sein müsse.

»Was bringen Sie, lieber Schach? Sie sind präokkupiert. Sind neue Stürme …«

»Nicht das, gnädigste Frau, nicht das. Ich komme von der Gräfin Haugwitz, bei der ich umso häufiger verweile, je mehr ich mich von dem Grafen und seiner Politik zurückziehe. Die Gräfin weiß es und billigt mein Benehmen. Eben begannen wir ein Gespräch, als sich draußen vor dem Palais eine Volksmasse zu sammeln begann, erst Hunderte, dann Tausende. Dabei wuchs der Lärm und zuletzt ward ein Stein geworfen und flog an dem Tisch vorbei, daran wir saßen. Ein Haar breit und die Gräfin wurde getroffen. Wovon sie aber wirklich getroffen wurde, das waren die Worte, die Verwünschungen, die heraufklangen. Endlich erschien der Graf selbst. Er war vollkommen gefasst und verleugnete keinen Augenblick den Kavalier. Es währte jedoch lang, eh’ die Straße gesäubert werden konnte. Sind wir bereits dahin gekommen? Emeute, Krawall. Und das im Lande Preußen, unter den Augen Seiner Majestät

»Und speziell uns wird man für diese Geschehnisse verantwortlich machen«, unterbrach Alvensleben, »speziell uns von den Gensdarmes. Man weiß, dass wir diese Liebedienerei gegen Frankreich missbilligen, von der wir schließlich nichts haben als gestohlene Provinzen. Alle Welt weiß, wie wir dazu stehen, auch bei Hofe weiß man’s, und man wird nicht säumen, uns diese Zusammenrottung in die Schuh zu schieben.«

»Ein Anblick für Götter«, sagte Sander. »Das Regiment Gensdarmes unter Anklage von Hochverrat und Krawall.«

»Und nicht mit Unrecht«, fuhr Bülow in jetzt wirklicher Erregung dazwischen. »Nicht mit Unrecht, sag ich. Und das witzeln Sie nicht fort, Sander. Warum führen die Herren, die jeden Tag klüger sein wollen, als der König und seine Minister, warum führen sie diese Sprache? Warum politisieren sie? Ob eine Truppe politisieren darf, stehe dahin, aber wenn sie politisiert, so politisiere sie wenigstens richtig. Endlich sind wir jetzt auf dem rechten Weg, endlich stehen wir da, wo wir von Anfang an hätten stehen sollen, endlich hat Seine Majestät den Vorstellungen der Vernunft Gehör gegeben und was geschieht? Unsere Herren Offiziere, deren drittes Wort der König und ihre Loyalität ist, und denen doch immer nur wohl wird, wenn es nach Russland und Juchten und recht wenig nach Freiheit riecht, unsere Herren Offiziere, sag ich, gefallen sich plötzlich in einer ebenso naiven wie gefährlichen Oppositionslust, und fordern durch ihr keckes Tun und ihre noch keckeren Worte den Zorn des kaum besänftigten Imperators heraus. Dergleichen verpflanzt sich dann leicht auf die Gasse. Die Herren vom Regiment Gensdarmes werden freilich den Stein nicht selber heben, der schließlich bis an den Teetisch der Gräfin fliegt, aber sie sind doch die moralischen Urheber dieses Krawalles, sie haben die Stimmung dazu gemacht.«

»Nein, diese Stimmung war da.«

»Gut. Vielleicht war sie da. Aber wenn sie da war, so galt es, sie zu bekämpfen, nicht aber sie zu nähren. Nähren wir sie, so beschleunigen wir unsern Untergang. Der Kaiser wartet nur auf eine Gelegenheit, wir sind mit vielen Posten in sein Schuldbuch eingetragen, und zählt er erst die Summe, so sind wir verloren.«

»Glaub’s nicht«, antwortete Schach. »Ich vermag Ihnen nicht zu folgen, Herr von Bülow.«

»Was ich beklage.«

»Ich desto weniger. Es trifft sich bequem für Sie, dass Sie mich und meine Kameraden über Landes- und Königstreue belehren und aufklären dürfen, denn die Grundsätze, zu denen Sie sich bekennen, sind momentan obenauf. Wir stehen jetzt nach Ihrem Wunsch und allerhöchstem Willen am Tische Frankreichs und lesen die Brosamen auf, die von des Kaisers Tische fallen. Aber auf wie lange? Der Staat Friedrichs des Großen muss sich wieder auf sich selbst besinnen.«

»So er’s nur täte«, replizierte Bülow. »Aber das versäumt er eben. Ist dies Schwanken, dies immer noch halbe Stehen zu Russland und Österreich, das uns dem Empereur entfremdet, ist das friderizianische Politik? Ich frage Sie?«

»Sie missverstehen mich.«

»So bitt ich, mich aus dem Missverständnis zu reißen.«

»Was ich wenigstens versuchen will … Übrigens wollen Sie mich missverstehen, Herr von Bülow. Ich bekämpfe nicht das französische Bündnis, weil es ein Bündnis ist, auch nicht deshalb, weil es nach Art aller Bündnisse darauf aus ist, unsere Kraft zu diesem oder jenem Zweck zu doublieren. Oh, nein; wie könnt ich? Allianzen sind Mittel, deren jede Politik bedarf; auch der große König hat sich dieser Mittel bedient und innerhalb dieser Mittel beständig gewechselt. Aber nicht gewechselt hat er in seinem Endzweck. Dieser war unverrückt: ein starkes und selbständiges Preußen. Und nun frag ich Sie, Herr von Bülow, ist das, was uns Graf Haugwitz heimgebracht hat, und was sich Ihrer Zustimmung so sehr erfreut, ist das ein starkes und selbständiges Preußen? Sie haben mich gefragt, nun frag ich Sie

2. Kapitel

»Die Weihe der Kraft«

Bülow, dessen Züge den Ausdruck einer äußersten Überheblichkeit anzunehmen begannen, wollte replizieren, aber Frau von Carayon unterbrach und sagte: »Lernen wir etwas aus der Politik unserer Tage: wo nicht Friede sein kann, da sei wenigstens Waffenstillstand. Auch hier … Und nun raten Sie, lieber Alvensleben, wer heute hier war, uns seinen Besuch zu machen? Eine Berühmtheit. Und von der Rahel Lewin uns zugewiesen.«

»Also der Prinz«, sagte Alvensleben.

»O nein, berühmter, oder doch wenigstens tagesberühmter. Der Prinz ist eine etablierte Zelebrität, und Zelebritäten, die zehn Jahre gedauert haben, sind keine mehr … Ich will Ihnen übrigens zu Hilfe kommen, es geht ins Literarische hinüber, und so möcht ich denn auch annehmen, dass uns Herr Sander das Rätsel lösen wird.«

»Ich will es wenigstens versuchen, gnädigste Frau, wobei mir Ihr Zutrauen vielleicht eine gewisse Weihekraft, oder sagen wir’s lieber rund heraus, eine gewisse ›Weihe der Kraft‹ verleihen wird.«

»O vorzüglich. Ja, Zacharias Werner war hier. Leider waren wir aus, und so sind wir denn um den uns zugedachten Besuch gekommen. Ich hab es sehr bedauert.«

»Sie sollten sich umgekehrt beglückwünschen, einer Enttäuschung entgangen zu sein«, nahm Bülow das Wort. »Es ist selten, dass die Dichter der Vorstellung entsprechen, die wir uns von ihnen machen. Wir erwarten einen Olympier, einen Nektar- und Ambrosia-Mann und sehen stattdessen einen Gourmand einen Putenbraten verzehren; wir erwarten Mitteilungen aus seiner geheimsten Zwiesprach mit den Göttern und hören ihn von seinem letzten Orden erzählen oder wohl gar die allergnädigsten Worte zitieren, die Serenissimus über das jüngste Kind seiner Muse geäußert hat. Vielleicht auch Serenissima, was immer das denkbar Albernste bedeutet.«

»Aber doch schließlich nichts Alberneres, als das Urteil solcher, die den Vorzug haben, in einem Stall oder einer Scheune geboren zu sein«, sagte Schach spitz.

»Ich muss Ihnen zu meinem Bedauern, mein sehr verehrter Herr von Schach, auch auf diesem Gebiete widersprechen. Der Unterschied, den Sie bezweifeln, ist wenigstens nach meinen Erfahrungen tatsächlich vorhanden, und zwar, wie Sie mir zu wiederholen gestatten wollen, zu Nicht-Gunsten von Serenissimus. In der Welt der kleinen Leute steht das Urteil an und für sich nicht höher, aber die verlegene Bescheidenheit, darin sich’s kleidet und das stotternde Schlechte-Gewissen, womit es zu Tage tritt, haben allemal etwas Versöhnendes. Und nun spricht der Fürst! Er ist der Gesetzgeber seines Landes in all und jedem, in Großem und Kleinem, also natürlich auch in Ästheticis. Wer über Leben und Tod entscheidet, sollte der nicht auch über ein Gedichtchen entscheiden können? Ah, bah! Er mag sprechen was er will, es sind immer Tafeln direkt vom Sinai. Ich habe solche zehn Gebote mehr als einmal verkünden hören, und weiß seitdem was es heißt: regarder dans le Néant.«

»Und doch stimm ich der Mama bei«, bemerkte Victoire, der daran lag das Gespräch auf seinen Anfang, auf das Stück und seinen Dichter also zurückzuführen. »Es wäre mir wirklich eine Freude gewesen, den ›tagesberühmten Herrn‹, wie Mama ihn einschränkend genannt hat, kennen zu lernen. Sie vergessen, Herr von Bülow, dass wir Frauen sind, und dass wir als solche ein Recht haben, neugierig zu sein. An einer Berühmtheit wenig Gefallen zu finden, ist schließlich immer noch besser, als sie gar nicht gesehen zu haben.«

»Und wir werden ihn in der Tat nicht mehr sehen, in aller Bestimmtheit nicht«, fügte Frau von Carayon hinzu. »Er verlässt Berlin in den nächsten Tagen schon und war überhaupt nur hier, um den ersten Proben seines Stückes beizuwohnen.«

»Was also heißt«, warf Alvensleben ein, »dass an der Aufführung selbst nicht länger mehr zu zweifeln ist.«

»Ich glaube, nein. Man hat den Hof dafür zu gewinnen oder wenigstens alle beigebrachten Bedenken niederzuschlagen gewusst.«

»Was ich unbegreiflich finde«, fuhr Alvensleben fort. »Ich habe das Stück gelesen. Er will Luther verherrlichen, und der Pferdefuß des Jesuitismus guckt überall unter dem schwarzen Doktormantel hervor. Am rätselhaftesten aber ist es mir, dass sich Iffland dafür interessiert, Iffland ein Freimaurer.«

»Woraus ich einfach schließen möchte, dass er die Hauptrolle hat«, erwiderte Sander. »Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit unsern Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt geraten und ziehen dann jedesmal den Kürzeren. Er wird den Luther spielen wollen. Und das entscheidet.«

»Ich bekenne, dass es mir widerstrebt«, sagte Victoire, »die Gestalt Luthers auf der Bühne zu sehen. Oder geh ich darin zu weit?«

Es war Alvensleben, an den sich die Frage gerichtet hatte. »Zu weit? Oh, meine teuerste Victoire, gewiss nicht. Sie sprechen mir ganz aus dem Herzen. Es sind meine frühesten Erinnerungen, dass ich in unserer Dorfkirche saß, und mein alter Vater neben mir, der alle Gesangbuchsverse mitsang. Und links neben dem Altar, da hing unser Martin Luther in ganzer Figur, die Bibel im Arm, die Rechte darauf gelegt, ein lebensvolles Bild, und sah zu mir herüber. Ich darf sagen, dass dies ernste Mannesgesicht an manchem Sonntage besser und eindringlicher zu mir gepredigt hat als unser alter Kluckhuhn, der zwar dieselben hohen Backenknochen und dieselben weißen Päffchen hatte wie der Reformator, aber auch weiter nichts. Und diesen Gottesmann, nach dem wir uns nennen und unterscheiden, und zu dem ich nie anders als in Ehrfurcht und Andacht aufgeschaut habe, den will ich nicht aus den Kulissen oder aus einer Hintertür treten sehen. Auch nicht, wenn Iffland ihn gibt, den ich übrigens schätze, nicht bloß als Künstler, sondern auch als Mann von Grundsätzen und guter preußischer Gesinnung.«

»Pectus facit oratorem«, versicherte Sander und Victoire jubelte. Bülow aber, der nicht gern neue Götter neben sich duldete, warf sich in seinen Stuhl zurück und sagte, während er sein Kinn und seinen Spitzbart strich: »Es wird Sie nicht überraschen, mich im Dissens zu finden.«

»Oh, gewiss nicht«, lachte Sander.

»Nur dagegen möcht ich mich verwahren, als ob ich durch einen solchen Dissens irgendwie den Anwalt dieses pfäffischen Zacharias Werner zu machen gedächte, der mir in seinen mystisch-romantischen Tendenzen einfach zuwider ist. Ich bin niemandes Anwalt …«

»Auch nicht Luthers?« fragte Schach ironisch.

»Auch nicht Luthers!«

»Ein Glück, dass er dessen entbehren kann …«

»Aber auf wie lange?« fuhr Bülow sich aufrichtend fort. »Glauben Sie mir, Herr von Schach, auch er ist in der Decadence, wie so viel anderes mit ihm, und über ein Kleines wird keine Generalanwaltschaft der Welt ihn halten können.«

»Ich habe Napoleon von einer ›Episode Preußen‹ sprechen hören«, erwiderte Schach. »Wollen uns die Herren Neuerer, und Herr von Bülow an ihrer Spitze, vielleicht auch mit einer ›Episode Luther‹ beglücken?«

»Es ist so. Sie treffen es. Übrigens sind nicht wir es, die dies Episodentum schaffen wollen. Dergleichen schafft nicht der Einzelne, die Geschichte schafft es. Und dabei wird sich ein wunderbarer Zusammenhang zwischen der Episode Preußen und der Episode Luther herausstellen. Es heißt auch da wieder: ›Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist.‹ Ich bekenne, dass ich die Tage Preußens gezählt glaube, und ›wenn der Mantel fällt, muss der Herzog nach‹. Ich überlass es Ihnen, die Rollen dabei zu verteilen. Die Zusammenhänge zwischen Staat und Kirche werden nicht genugsam gewürdigt; jeder Staat ist in gewissem Sinne zugleich auch ein Kirchenstaat; er schließt eine Ehe mit der Kirche, und soll diese Ehe glücklich sein, so müssen beide zueinander passen. In Preußen passen sie zueinander. Und warum? Weil beide gleich dürftig angelegt, gleich eng geraten sind. Es sind Kleinexistenzen, beide bestimmt in etwas Größerem auf- oder unterzugehen. Und zwar bald. Hannibal ante portas.«

»Ich glaubte Sie dahin verstanden zu haben«, erwiderte Schach, »dass uns Graf Haugwitz nicht den Untergang, wohl aber die Rettung und den Frieden gebracht habe.«

»Das hat er. Aber er kann unser Geschick nicht wenden, wenigstens auf die Dauer nicht. Dies Geschick heißt Einverleibung in das Universelle. Der nationale wie der konfessionelle Standpunkt sind hinschwindende Dinge, vor allem aber ist es der preußische Standpunkt und sein Alter Ego der lutherische. Beide sind künstliche Größen. Ich frage, was bedeuten sie? welche Missionen erfüllen sie? Sie ziehen Wechsel aufeinander, sie sind sich gegenseitig Zweck und Aufgabe, das ist alles. Und das soll eine Weltrolle sein! Was hat Preußen der Welt geleistet? Was find ich, wenn ich nachrechne? Die Großen Blauen König Friedrich Wilhelms I., den eisernen Ladestock, den Zopf, und jene wundervolle Moral, die den Satz erfunden hat, ›ich hab ihn an die Krippe gebunden, warum hat er nicht gefressen?‹«

»Gut, gut. Aber Luther …«

»Nun wohl denn, es geht eine Sage, dass mit dem Manne von Wittenberg die Freiheit in die Welt gekommen sei, und beschränkte Historiker haben es dem norddeutschen Volke so lange versichert, bis man’s geglaubt hat. Aber was hat er denn in Wahrheit in die Welt gebracht? Unduldsamkeit und Hexenprozesse, Nüchternheit und Langeweile. Das ist kein Kitt für Jahrtausende. Jener Weltmonarchie, der nur noch die letzte Spitze fehlt, wird auch eine Weltkirche folgen, denn wie die kleinen Dinge sich finden und im Zusammenhange stehen, so die großen noch viel mehr. Ich werde mir den Bühnen-Luther nicht ansehen, weil er mir in dieses Herren Zacharias Werner Verzerrung einfach ein Ding ist, das mich ärgert; aber ihn nicht ansehen, weil es Anstoß gebe, weil es Entheiligung sei, das ist mehr, als ich fassen kann.«

»Und wir, lieber Bülow«, unterbrach Frau von Carayon, »wir werden ihn uns ansehen, trotzdem es uns Anstoß gibt. Victoire hat Recht, und wenn bei Iffland die Eitelkeit stärker sein darf als das Prinzip, so bei uns die Neugier. Ich hoffe, Herr von Schach und Sie, lieber Alvensleben, werden uns begleiten. Übrigens sind ein paar der eingelegten Lieder nicht übel. Wir erhielten sie gestern. Victoire, du könntest uns das ein’ oder andere davon singen.«

»Ich habe sie kaum durchgespielt.«

»Oh, dann bitt ich umso mehr«, bemerkte Schach. »Alle Salonvirtuosität ist mir verhasst. Aber was ich in der Kunst liebe, das ist ein solches poetisches Suchen und Tappen.«

Bülow lächelte vor sich hin und schien sagen zu wollen: »Ein jeder nach seinen Mitteln.«

Schach aber führte Victoiren an das Klavier, und diese sang, während er begleitete.

Die Blüte, sie schläft so leis und lind

Wohl in der Wiege von Schnee;

Einlullt sie der Winter »Schlaf ein geschwind

Du blühendes Kind«

Und das Kind es weint und verschläft sein Weh

Und hernieder steigen aus duftiger Höh

Die Schwestern und lieben und blühn …

Eine kleine Pause trat ein, und Frau von Carayon fragte: »Nun, Herr Sander, wie besteht es vor Ihrer Kritik?« »Es muss sehr schön sein«, antwortete dieser. »Ich versteh es nicht. Aber hören wir weiter. Die Blüte, die vorläufig noch schläft, wird doch wohl mal erwachen.«

Und kommt der Mai dann wieder so lind,

Dann bricht er die Wiege von Schnee,

Er schüttelt die Blüte »Wach auf geschwind

Du welkendes Kind.«

Und es hebt die Äuglein, es tut ihm weh

Und steigt hinauf in die leuchtende Höh

Wo strahlend die Brüderlein blühn.

Ein lebhafter Beifall blieb nicht aus. Aber er galt ausschließlich Victoiren und der Komposition, und als schließlich auch der Text an die Reihe kam, bekannte sich alles zu Sanders ketzerischen Ansichten.

Nur Bülow schwieg. Er hatte, wie die meisten mit Staatenuntergang beschäftigten Frondeurs, auch seine schwachen Seiten, und eine davon war durch das Lied getroffen worden. An dem halbumwölkten Himmel draußen funkelten ein paar Sterne, die Mondsichel stand dazwischen, und er wiederholte, während er durch die Scheiben der hohen Balkontür hinaufblickte: »wo strahlend die Brüderlein blühn«.

Wider Wissen und Willen, war er ein Kind seiner Zeit, und romantisierte.

Noch ein zweites und drittes Lied wurde gesungen, aber das Urteil blieb dasselbe. Dann trennte man sich zu nicht allzu später Stunde.

3. Kapitel

Bei Sala Tarone

Die Turmuhren auf dem Gensdarmenmarkt schlugen elf, als die Gäste der Frau von Carayon auf die Behrenstraße hinaustraten und nach links einbiegend auf die Linden zuschritten. Der Mond hatte sich verschleiert, und die Regenfeuchte, die bereits in der Luft lag und auf Wetterumschlag deutete, tat allen wohl. An der Ecke der Linden empfahl sich Schach, allerhand Dienstliches vorschützend, während Alvensleben, Bülow und Sander übereinkamen, noch eine Stunde zu plaudern.

»Aber wo?« fragte Bülow, der im Ganzen nicht wählerisch war, aber doch einen Abscheu gegen Lokale hatte, darin ihm »Aufpasser und Kellner die Kehle zuschnürten.«

»Aber wo?« wiederholte Sander. »Sieh, das Gute liegt so nah«, und wies dabei auf einen Eckladen, über dem in mäßig großen Buchstaben zu lesen stand: Italiener-, Wein- und Delikatessen-Handlung von Sala Tarone. Da schon geschlossen war, klopfte man an die Haustür, an deren einer Seite sich ein Einschnitt mit einer Klappe befand. Und wirklich, gleich darauf öffnete sich’s von innen, ein Kopf erschien am Kuckloch, und als Alvenslebens Uniform über den Charakter der etwas späten Gäste beruhigt hatte, drehte sich innen der Schlüssel im Schloss, und alle drei traten ein. Aber der Luftzug, der ging, löschte den Blaker aus, den der Küfer in Händen hielt, und nur eine ganz im Hintergrunde, dicht über der Hoftür schwelende Laterne, gab gerade noch Licht genug, um das Gefährliche der Passage kenntlich zu machen.

»Ich bitte Sie, Bülow, was sagen Sie zu diesem Defilé«, brummte Sander, sich immer dünner machend, und wirklich hieß es auf der Hut sein, denn in Front der zu beiden Seiten liegenden Öl- und Weinfässer, standen Zitronen- und Apfelsinenkisten, deren Deckel nach vorn hin aufgeklappt waren. »Achtung«, sagte der Küfer. »Is hier allens voll Pinnen und Nägel. Habe mir gestern erst einen eingetreten.«

»Also auch spanische Reiter … Oh, Bülow! In solche Lage bringt einen ein militärischer Verlag.«

Dieser Sander’sche Schmerzensschrei stellte die Heiterkeit wieder her, und unter Tappen und Tasten war man endlich bis in Nähe der Hoftür gekommen, wo, nach rechts hin, einige der Fässer weniger dicht nebeneinander lagen. Hier zwängte man sich denn auch durch, und gelangte mit Hilfe von vier oder fünf steilen Stufen in eine mäßig große Hinterstube, die gelb gestrichen und halbverblakt und nach Art aller »Frühstücksstuben« um Mitternacht am vollsten war. Überall, an niedrigen Paneelen hin, standen lange, längst eingesessene Ledersofas, mit kleinen und großen Tischen davor, und nur eine Stelle war da, wo dieses Mobiliar fehlte. Hier stand vielmehr ein mit Kästen und Realen überbautes Pult, vor welchem einer der Repräsentanten der Firma tagaus tagein auf einem Drehschemel ritt, und seine Befehle (gewöhnlich nur ein Wort) in einen unmittelbar neben dem Pult befindlichen Keller hinunterrief, dessen Falltür immer offen stand.

Unsere drei Freunde hatten in einer dem Kellerloch schräg gegenüber gelegenen Ecke Platz genommen, und Sander, der grad lange genug Verleger war, um sich auf lukullische Feinheiten zu verstehen, überflog eben die Wein- und Speisekarte. Diese war in russisch Leder gebunden, roch aber nach Hummer. Es schien nicht, dass unser Lukull gefunden hatte, was ihm gefiel; er schob also die Karte wieder fort und sagte: »Das Geringste, was ich von einem solchen hundstäglichen April erwarten kann, sind Maikräuter, Asperula odorata Linnéi. Denn ich hab auch Botanisches verlegt. Von dem Vorhandensein frischer Apfelsinen haben wir uns draußen mit Gefahr unseres Lebens überzeugt, und für den Mosel bürgt uns die Firma.«

Der Herr am Pult rührte sich nicht, aber man sah deutlich, dass er mit seinem Rücken zustimmte, Bülow und Alvensleben taten desgleichen, und Sander resolvierte kurz: »Also Maibowle.«

Das Wort war absichtlich laut und mit der Betonung einer Ordre gesprochen worden, und im selben Augenblicke scholl es auch schon vom Drehstuhl her in das Kellerloch hinunter »Fritz!« Ein zunächst nur mit halber Figur aus der Versenkung auftauchender, dicker und kurzhalsiger Junge, wurde, wie wenn auf eine Feder gedrückt worden wäre, sofort sichtbar, übersprang diensteifrig, indem er die Hand aufsetzte, die letzten zwei, drei Stufen und stand im Nu vor Sander, den er, allem Anscheine nach, am besten kannte.

»Sagen Sie, Fritz, wie verhält sich die Firma Sala Tarone zur Maibowle?«

»Gut. Sehr gut.«

»Aber wir haben erst April, und so sehr ich im Allgemeinen der Mann der Surrogate bin, so hass ich doch eins: die Toncabohne. Die Toncabohne gehört in die Schnupftabaksdose, nicht in die Maibowle. Verstanden?«

»Zu dienen, Herr Sander.«

»Gut denn. Also Maikräuter. Und nicht lange ziehen lassen. Waldmeister ist nicht Kamillentee. Der Mosel, sagen wir ein Zeltlinger oder ein Brauneberger, wird langsam über die Büschel gegossen; das genügt. Apfelsinenschnitten als bloßes Ornament. Eine Scheibe zu viel macht Kopfweh. Und nicht zu süß, und eine Cliquot extra. Extra, sag ich. Besser ist besser.«

Damit war die Bestellung beendet und ehe 10 Minuten um waren, erschien die Bowle, darauf nicht mehr als drei oder vier Waldmeisterblättchen schwammen, nur gerade genug, den Beweis der Echtheit zu führen.

»Sehen Sie, Fritz, das gefällt mir. Auf mancher Maibowle schwimmt es wie Entengrütze. Und das ist schrecklich. Ich denke, wir werden Freunde bleiben. Und nun grüne Gläser.«

Alvensleben lachte. »Grüne?«

»Ja. Was sich dagegen sagen lässt, lieber Alvensleben, weiß ich und lass es gelten. Es ist in der Tat eine Frage, die mich seit länger beschäftigt, und die, neben anderen, in die Reihe jener Zwiespalte gehört, die sich, wir mögen es anfangen wie wir wollen, durch unser Leben hinziehen. Die Farbe des Weins geht verloren, aber die Farbe des Frühlings wird gewonnen, und mit ihr das festliche Gesamtkolorit. Und dies erscheint mir als der wichtigere Punkt. Unser Essen und Trinken, soweit es nicht der gemeinen Lebensnotdurft dient, muss mehr und mehr zur symbolischen Handlung werden, und ich begreife Zeiten des späteren Mittelalters, in denen der Tafelaufsatz und die Fruchtschalen mehr bedeuteten, als das Mahl selbst.«

»Wie gut Ihnen das kleidet, Sander«, lachte Bülow. »Und doch dank ich Gott, Ihre Kapaunenrechnung nicht bezahlen zu müssen.«

»Die Sie schließlich doch bezahlen.«

»Ah, das erste Mal, dass ich einen dankbaren Verleger in Ihnen entdecke. Stoßen wir an … Aber alle Welt, da steigt ja der lange Nostitz aus der Versenkung. Sehen Sie, Sander, er nimmt gar kein Ende …«

Wirklich, es war Nostitz, der, unter Benutzung eines geheimen Eingangs, eben die Kellertreppe hinaufstolperte, Nostitz von den Gensdarmes, der längste Lieutenant der Armee, der, trotzdem er aus dem Sächsischen stammte, seiner 6 Fuß 3 Zoll halber so ziemlich ohne Widerrede beim Elite- so