Über Wolfgang Martynkewicz

Wolfgang Martynkewicz ist freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft an den Universitäten Bamberg und Bayreuth; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse; u.a. über Jane Austen, Edgar Allan Poe, Arno Schmidt, Sabina Spielrein, C. G. Jung und Georg Groddeck. 2009 gelang ihm mit »Salon Deutschland. Kunst und Macht 1900–1945« ein Erfolg bei Presse und Publikum.

Informationen zum Buch

Die Reise in ein epochales Jahr und in die Vorgeschichte der Goldenen Zwanziger

1920 war ein Jahr, das den Zeitgenossen chaotisch, anarchisch und haltlos erschien. Zugleich war es der Moment für Visionen, Träume und Utopien. Denn der Nullpunkt, nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und vor dem Aufschwung in die Goldenen Zwanziger, liegt zwischen beiden Polen als ein Raum von ungeahnter Kraft.

Wolfgang Martynkewicz entwirft ein Schicksalspanorama, das diesen entscheidenden Wendepunkt europäischer Geschichte wieder aufleben lässt – mit eindrücklichen Porträts von Bertolt Brecht, Sigmund Freud, Franz Kafka, Milena Jesenská, Hannah Höch u. v. m.

»Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu ... und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen.« Stefan Zweig

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Wolfgang Martynkewicz

1920 – Am Nullpunkt des Sinns

Inhaltsübersicht

Über Wolfgang Martynkewicz

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog – Eine babylonische Welt

»Abenddämmerung oder Morgendämmerung«

Wo geht es hin?

Der Blickwinkel

Eine Reise

Erster Teil – Die Welt 1920

Weimar wird zerlegt

Indifferenz

Die unverständliche Welt

A Star is Born

Massensuggestion

Warten auf den Diktator

Ein systematisches Arbeiten am Ball

Ein Spieler

Der heimliche Kaiser

Eine bodenlose Welt

»Blick ins Chaos«

Zurück auf Los

Zweiter Teil – Am Nullpunkt

I – Balancieren

»Eine Vorgewitter Schwüle«

Alles Verstellung

»Die Zeiten sind entsetzlich spannend«

Ein Magenleiden

Nicht-Handeln

Kampf gegen das Zarte

II – Eine sehr erstaunte Unruhe

Aufbruch im Grand Hotel

Noch einmal neu anfangen

Vom Abenteurer zum Schriftsteller

Anfang und Ende

Eine Vision

Die Afrikaner kommen

Ein junger Wilder

»Glotzt nicht so romantisch«

Wiederkehr des Archaischen

III – Jenseits der Lust

Vier Tage in Wien

»Lust an der Unlust«

Alles strebt nach Null

Die »blühende Sophie«

Eine Art von Desillusionierung

IV – Mobilmachung

»Hätte der Kaiser Jazz getanzt …«

Der Skandal der Gleichzeitigkeit

Sommer 1920

Unempfindlich werden

Auf den Mann kommt es an

Neue Helden

V – Katastrophen überleben

Der Dschungel

Eine harte Haut

»Es muß etwas gemacht werden«

Dämme bauen

Das »Erlöschen der Menschenart«

Ein Urlaubssouvenir

Die Macht der Apparate

Die Welt aus den Fugen

»Die Enteisung Grönlands«

Epilog – Ein Jahr zwischen den Zeiten

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Siglen

Personenregister

Bildnachweis

Impressum

Prolog
Eine babylonische Welt

»Denn ein anderer Rhythmus war in der Welt.

Ein Jahr, was geschah jetzt alles in einem Jahr!«

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern

»Abenddämmerung oder Morgendämmerung«

»Diese Zeit hat etwas durchaus Gespensterhaftes.«1 Mit diesem Satz beginnt Kurt Tucholskys Essay »Dämmerung«, erschienen im März 1920 in der Wochenschrift Die Weltbühne. Tucholsky beschreibt das Lebensgefühl in der Welt von 1920. Das bürgerliche Zeitalter war im Krieg untergegangen, aber man tat so, als sei nichts passiert – business as usual: »Seltsam, dieses Bürgertum. […] Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?«, wundert sich Tucholsky. Äußerlich scheint alles normal, die Menschen arbeiten, gehen ihren Geschäften nach, vergnügen sich: »aber es ist alles nicht wahr«.2

Die Welt ist in Bewegung, »es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise«.3 Viele Selbstverständlichkeiten sind dahin – und davon gab es einige: »daß das Vaterland das Höchste ist«, »daß die Familie der Endpunkt der Entwicklung«, »daß der Kapitalismus notwendig oder gar nutzbringend sei«. Alles das ist nun, so Tucholsky, »sehr bestritten«. Klarheit herrscht nicht, es gibt keine gemeinsame Basis: »die babylonischen Menschen« sprechen verschiedene Sprachen, sie »sprechen aneinander vorbei, und sie haben weniger gemeinsam denn je«.4

Noch glauben die Menschen allerdings, dass die »gute alte Welt« eines Tages wiederkomme, aber – da ist sich Tucholsky sicher – sie kommt nicht wieder. »Ich fühle nur dumpf, daß da etwas herankriecht, das uns alle zu vernichten droht. Uns: das ist unser altes Leben […] – uns: das ist unsre alte Welt, an der wir – trotz allem – so gehangen haben.«5

Die Welt war seit August 1914 ins Rollen gekommen – und nun »stürzt« sie. Der Sinn des Lebens ist grundsätzlich in Frage gestellt. Nur nehmen – das ist für Tucholsky das Wahnwitzige – die wenigsten wirklich Notiz davon, krampfhaft hält man an den alten Vorstellungen vom Leben fest. Man spricht über Politik und Kunst, diskutiert über die neuen Romane, besingt die »gute alte Zeit«, als wenn nichts wäre – eine gespenstische Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, in der nichts mehr wahr ist, in der alle Gewissheiten zweifelhaft geworden sind.

Doch es gibt auch, folgen wir Tucholsky, Hoffnung, das Alte geht nicht nur unwiderruflich unter, es zeigt sich auch das Neue: »Horcht hin, und ihr hört einen neuen Herzschlag der Zeit.«6 Doch was man da hörte, war nicht frei von Angst – »Angst vor dem Neuen, das keiner kennt«.7

Wie ein Refrain zieht sich eine Frage durch den Text: »Wohin führt das alles?« – »Wohin treiben wir?«8 Es gibt keinen, der lenkt, keinen, der steuert. Tucholsky beschreibt das Gefühl einer allgemeinen Bodenlosigkeit, es gibt nichts Festes mehr, alles wankt, droht nachzugeben, zu zerfallen, zu sinken. Es gibt keine Richtung, keine Orientierung. »Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.«9

Erkennen wir überhaupt etwas von der Zeit, wenn wir uns in ihrer Gegenwart befinden?, fragt sich Tucholsky: »Was wissen wir von der Zeit? Wir stehen davor wie der Wanderer vor der roten Felswand, viel zu nah, um ihre Struktur, geschweige denn ihre Schönheit zu sehen!«10

Stefan Zweig hingegen hat die Welt von 1920 als Zeit des Aufbruchs, des neuen Lebens, der Hoffnung und Befreiung, aber auch des Chaos, des Rausches und der Ekstase beschrieben. Anders als Tucholsky, dessen Essay 1920 entstanden ist, blickte Zweig allerdings aus großem zeitlichem Abstand auf die Ereignisse zurück. Seine Erinnerungen schrieb er um 1940, in den letzten Jahren seines Exils. Sie erschienen postum 1942 unter dem Titel Die Welt von Gestern.

Das Bemerkenswerteste an dieser Welt von 1920 ist für Zweig der Verfall, ja die Verachtung der Autoritäten. Sie hatten in den Augen der ›Jungen‹, der Neuerer – zumindest für den Moment – allen Kredit verspielt, was immer sie sagten, man glaubte ihnen nicht mehr und wollte vor allem eins, sich vom ›Alten‹ befreien. »Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft. Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiet des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen.«11

Es war eine Phase, so Zweig, der antiautoritären Revolte. Und man revoltierte gegen alles, gegen die Polarität der Geschlechter und sexuellen Dispositionen, gegen die konventionelle Musik, gegen die tradierte Architektur und das Guckkastentheater. »Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte.«12 Das alles geschah vor dem Hintergrund der beginnenden Inflation: »mit dem schwindenden Wert des Geldes« kamen auch »alle anderen Werte« ins Rutschen. »Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Graphologie, indische Yohjilehren und paracelsischer Mystizismus.«13

Aufrührerisch und subversiv seien die Jahre nach dem Krieg gewesen – wohin das Auge blickte, herrschte Tempo und Aufbruchsgeist. Von Normalität und Mäßigung keine Spur. Vieles, was da zum Vorschein kam, sei nicht seriös, sei Bluff und ohne jede Substanz gewesen. Zweig sieht ein wirres Nebeneinander von Ideen und Konzepten, eine aufgeregte Suche nach Sinn und Bedeutung. Das Neue, Wandel und Veränderung hätten Konjunktur gehabt, es sei eine Zeit der großen Kontraste, zugleich aber auch eine Zeit der allgemeinen Konfusion, in der es keine verlässlichen Strukturen mehr gab.

Über das kollektive Lebensgefühl der Kriegs- und Nachkriegszeit dachte 1920 auch Robert Musil nach. Er arbeitete in dieser Zeit im Archiv des Pressedienstes im Außenministerium, ab September 1920 im Staatsamt für Heereswesen. Dort befasste er sich mit der Aus- und Weiterbildung der Soldaten im nun republikanischen Heer. Musil war auf dem Sprung zum freien Schriftsteller. Das Jahr 1920 sollte zum Entrée werden: Im Frühjahr lernte er in Berlin Ernst Rowohlt kennen. Mitte des Jahres kam es zu einem Vertrag, der dem Autor auf Jahre ein Honorar sicherte, damit er seinen Roman, den Mann ohne Eigenschaften, schreiben konnte. Das Werk, das Epoche machen sollte, hieß damals noch »Der Spion«. Ein Jahr später trug es den Arbeitstitel »Der Erlöser«, dann »Die Zwillingsschwester«. Die Titel wechselten, auch die Namen der Protagonisten. Die Beweggründe aber, diesen Roman zu schreiben, änderten sich nicht. Musil suchte nach Erklärungen für den Zerfall der Monarchie, den Ausbruch des Krieges und den Zusammenbruch – er suchte Erklärungen nicht zuletzt auch für das eigene Versagen, seine Kriegsbegeisterung, sein Eintreten für das Deutschtum. Um diese Zeit hatte bei ihm ein Prozess des Aufarbeitens, des Reinemachens, des Suchens und Sortierens eingesetzt.

In dem 1922 erschienenen Essay »Das hilflose Europa« betrachtet Musil die Jahre unmittelbar nach dem Krieg und kommt gleich am Anfang zu einer bemerkenswerten Einschätzung, die von der Sichtweise Tucholskys und Zweigs, aber auch von der damals üblichen Betrachtungsweise völlig abweicht: Der Mensch habe sich durch den Krieg kaum verändert, er sei nicht viel anders als vorher auch: »wir waren früher betriebsame Bürger, sind dann Mörder, Totschläger, Diebe, Brandstifter und ähnliches geworden: und haben doch nichts erlebt«.14 Sicher, es gab Wandel und Veränderung, im Grunde aber doch nur einen Wechsel des Metiers, mit Sicherheit sieht Musil keine Regression, keinen Rückfall in die Barbarei – wie man den Sündenfall 1914 damals gesehen hat und auch heute noch sieht. So sehr anders, sagt Musil, ist der Mensch gar nicht. Er bleibt sich gleich, ob er nun in den Krieg zieht oder ins Büro geht. Die Jahre des Krieges hätten gezeigt, dass der Mensch »eine überraschend viel bildsamere Masse« sei, »als man gemeinhin annahm«.15 Insoweit könne man die Erfahrung des Krieges als ein ungeheures Massenexperiment betrachten, es hätte sich erwiesen, »daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.«16 Dafür sei die Welt um 1920 der beste Beweis: »Das Leben geht doch genau so dahin wie früher, bloß etwas geschwächter und mit etwas Krankenvorsicht; der Krieg wirkte mehr karnevalisch als dionysisch, und die Revolution hat sich parlamentarisiert.«17 Im Grunde habe sich wenig verändert, nur unruhiger sei es geworden, aufgeregte Debatten hätten sich entzündet, alles sei – scheinbar – in Bewegung geraten, alles werde ventiliert und zur Disposition gestellt. Was die »Unruhe« angeht, so würde Musil der Einschätzung Zweigs vom aufrührerischen Geist durchaus zustimmen, doch er sieht es gelassener, ja, man könnte sagen, sarkastischer: »Deutschland wimmelt von Sekten. Man blickt nach Rußland, nach Ostasien, nach Indien. Man klagt die Wirtschaft an, die Zivilisation, den Rationalismus, den Nationalismus, man sieht einen Untergang, ein Nachlassen der Rasse. Alle Wölbungen sind vom Krieg eingedrückt worden. Selbst der Expressionismus stirbt. Und das Kino ist am Vormarsch (Rom vor dem Untergang).«18 Ist es nicht das, was Tucholsky als »gespenstisch« beschreibt? Alles scheint normal, »aber es ist alles nicht wahr«.

Musil wollte Ordnung schaffen, zumindest im Kopf, denn in der Wirklichkeit, das war seine feste Überzeugung, die er mit Tucholsky und Zweig teilt, gab es keine Ordnung mehr. »Das Leben, das uns umfängt, ist ohne Ordnungsbegriffe.«19 Der Mensch hat keinen sicheren Grund, er hat weder von sich selbst noch von der Tatsachenwelt eine genaue Kenntnis: »Die Tatsachen der Vergangenheit, die Tatsachen der Einzelwissenschaften, die Tatsachen des Lebens überdecken uns ungeordnet.«20 Auch Musil sieht in der Welt um 1920 ein »Nebeneinander« von Wirklichkeiten, die in völlig unausgleichbaren Gegensätzen zueinander stehen, Gegensätzen, die nicht mit Entweder-oder zu entscheiden sind. Der Mensch spürt das Übergewicht der Tatsachen und hat die Orientierung verloren. Die Welt »ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird, und die Moral mit dem Geist sich zersetzt. Im Keller dieses Narrenhauses aber hämmert der hephaistische Schaffenswille, Urträume der Menschheit werden verwirklicht wie der Flug, der Siebenmeilenstiefel, das Hindurchblicken durch feste Körper und unerhört viele solcher Phantasien, die in früheren Jahrhunderten seligste Traummagie waren; unsere Zeit schafft diese Wunder, aber sie fühlt sie nicht mehr.«21 Während »im Keller des Narrenhauses« die technologische Modernisierung voranschreitet und »Wunder« schafft, ist die Kultur zerfallen, der Geist zersplittert. Eine »einheitliche Ideologie, eine ›Kultur‹«22 wie in früheren Zeiten wird es nicht mehr geben. Der Mensch, sagt Musil, ist 1920 nicht groß anders als vor dem Krieg, aber die Welt hat sich verändert, sie befindet sich in einem »fortschreitenden Selbstzersetzungsprozeß«.23

Wo geht es hin?

So unterschiedlich der Blick der Interpreten im Einzelnen ausfällt, in einem besteht Einigkeit zwischen den Dichtern: In der ›Welt von 1920‹ sind die Gewissheiten verschwunden, Orientierungen haben sich aufgelöst, das Geistige ist zersplittert. In der babylonischen Welt gibt es keinen übergreifenden Sinn. Zum kollektiven Lebensgefühl der neuen Zeit gehört die Haltlosigkeit, der Relativismus, der die Dinge nur noch im Verhältnis sieht, alles ist relativ geworden in dieser Welt. Wenn jedoch alles relativ ist, dann ist die Welt letztlich unverständlich, dann gibt es keine Sicherheit: Es könnte so, aber auch anders sein.

Die Dinge erscheinen komplex, und zum kollektiven Lebensgefühl der Welt von 1920 gehört es, dass die Welt sich allen Versuchen, sie zu begreifen, entzieht. Daraus entsteht die allenthalben spürbare Wut, die sich gegen das Moderne und Neue wendet. Eine Wut, hinter der sich der Wunsch nach Vereinfachung, nach Klarheit und, vor allem was das Politische angeht, nach Entscheidung und Führung verbirgt. Daraus entsteht aber auch die geistige Unruhe der Zeit. Die von Zweig wie von Tucholsky und Musil beschriebene Suche nach einem neuen Anfang, sie war ein Signum der Zeit.

Nach den Erfahrungen des Krieges empfand man die unmittelbaren Jahre danach als einen Nullpunkt. Einen Nullpunkt, den viele, vor allem viele Intellektuelle als Herausforderung ansahen. Vom Nullpunkt aus wollten sie noch einmal beginnen, sich neu erfinden.

Dieser Nullpunkt ist im mehrfachen Sinn Thema dieses Buches. Vom Nullpunkt aus wird gemessen und berechnet, er teilt ein und grenzt ab, den positiven und den negativen Bereich. Der Nullpunkt liegt zwischen den Polaritäten. Wer sich am Nullpunkt befindet, fühlt sich nicht nur erschöpft und bedrückt, der fühlt auch einen Zustand der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit.

1920 war für viele Literaten und Intellektuelle eine Zäsur. Sie sahen nicht nur Deutschland am Boden, auch die großen Ideen, die viel beschworenen Werte der bürgerlichen Welt, den Sinn, an dem man das Leben bislang ausgerichtet hatte – alles oder vieles davon wurde in Zweifel gezogen, auch und nicht zuletzt das eigene Werk, das eigene Denken. Neubeginn lag in der Luft.

Diese Neuorientierung ist freilich nicht punktgenau auf das Jahr 1920 zu datieren. Viele Ideen und Gedanken waren schon vor dem Krieg da oder entwickelten sich aufgrund der Kriegserfahrungen. Das Jahr 1920 kann darum nicht der alleinige Kosmos sein, es ist der Ausgangspunkt, der Fokus, den ich in der Untersuchung immer wieder anvisieren werde. Jedes hier vorgestellte Ereignis, jedes Werk und Dokument steht mit diesem Jahr in enger Verbindung und lässt sich auf dieses Datum zurückführen. Gleichwohl erlangen viele Dinge erst in späteren Jahren Relevanz. Im 5. Kapitel (Katastrophen überleben) gehe ich auf Döblins Roman Berge Meere und Giganten ein, der 1924 erschienen ist. Döblin ließ sich zu dem Projekt auf magisch-mystische Weise inspirieren durch den Fund einiger Steine am Ostseestrand. Das war im Sommer 1921. Der Schriftsteller erzählt davon in den ebenfalls 1924 erschienenen »Bemerkungen zu ›Berge Meere und Giganten‹«. In diesem Text schildert er gleichwohl, dass der Roman ganz wesentlich mit dem Jahr 1920 verknüpft ist.24 Dieses Datum sei der Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit der Natur gewesen, eine Beschäftigung, die ihn verwandelt und ihm die Augen geöffnet habe für ein anderes Sehen. Und aus diesem neuen Sehen sei dann sein Roman hervorgegangen. Es würde wenig Sinn ergeben, Döblins Beschäftigung mit der Natur im Jahre 1920 isoliert von dem zu betrachten, was daraus folgt: dem monumentalen Roman Berge Meere und Giganten. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem 1933 veröffentlichen Briefwechsel zwischen Einstein und Freud: Warum Krieg? Freud schreibt über Destruktion und Todestrieb, Gedanken und Ideen, die er 1920 in dieser Weise erstmals entwickelt hat und die in den zwanziger Jahren zunehmend an Aktualität gewonnen haben. Geht man den Dingen auf diese Weise nach, ist natürlich ein Ende schwerlich zu erreichen, immer neue Bezüge tun sich auf, immer neue Quellen werden entdeckt, die sich auf das Jahr 1920 datieren lassen. Es gibt also kein Ende, und es war auch kein Ende intendiert. Trotzdem sind die Kapitel nicht beliebig angeordnet, sie zeichnen ein Szenario nach, das am Schluss der Arbeit offenbleibt, offenbleiben muss.

Der Blickwinkel

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil geht es um die »Oberflächenphänomene«,25 um Ereignisse, die 1920 Aufmerksamkeit erregten oder auch erst im historischen Prozess Bedeutung erlangten und dieser Zeit, diesem Jahr nachträglich als bedeutsam zugeschrieben worden sind. Insoweit sind die lose miteinander verbundenen »Oberflächenphänomene« natürlich nicht ein Abbild der Zeit, sondern eine konstruierte, eine ›erfundene‹ Realität, die freilich den Anspruch hat, Wirkliches aus der Welt von 1920 einzufangen. Wobei es vor allem um das Zeitgefühl geht, das ein ganz spezifisches war. Wir befinden uns – man muss es sich immer wieder in Erinnerung rufen – gerade einmal zwei Jahre von einem Krieg entfernt, der als Zivilisationsbruch in die Geschichte eingegangen ist und zur »traumatischen Massenerfahrung«26 wurde. In vielerlei Hinsicht befand man sich in Schockstarre. Faktisch hatte man den Krieg zwar überwunden, aber die Vergangenheit verging nicht. Das zeigte sich auch in Literatur und Kunst, insbesondere am Stummfilm, dessen Blütezeit 1920 beginnt. Filme wie Dr. Caligari, der am 26. Februar 1920 uraufgeführt wurde, lassen sich nur vor dem Hintergrund traumatisierender Gewalterfahrungen verstehen.

Man schreibt zwar das Jahr 1920, aber von den berühmt-berüchtigten Goldenen Zwanzigern sind wir noch Jahre entfernt. Natürlich wirft diese Zeit schon ihre Schatten voraus, in manchen Ereignissen scheint das, was wir mit den Goldenen Zwanzigern verbinden, schon da und präsent zu sein. Es gibt keine Wiederholung, auch wenn sich Geschichte manchmal so anfühlt, es gibt, im eigentlichen Sinn, auch keine Kontinuität. Mit anderen Worten, es lief nicht alles auf Hitler zu. 1920 feierte Hitler zwar seine ersten »Triumphe«, aber die waren von lokaler Bedeutung: In München, in der Stadt der Bierstuben, war man bekanntlich von dem Agitator hingerissen, da hatten die Menschen, so Joachim Fest, ein besonderes Faible »für den theatralischen Stil seiner Selbstinszenierung und die ungezügelten Ausbrüche des Redners«27 – aber im übrigen Deutschen Reich war der Mann, wenn man ihn 1920 überhaupt kannte, absolut unbeliebt, er kam bei der breiten Masse nicht an. Freilich, das sollte sich ändern.

1920 dauerte der Krieg noch an – der Krieg in den Köpfen und Körpern und der Krieg in den Straßen und auf den Plätzen, das Geschehen war gegenwärtig und noch nicht zur Vergangenheit geworden. Zum allgemeinen Zeitgefühl gehörte die Bodenlosigkeit; da aller Sinn versagt hatte, suchte man jenseits der etablierten Kultur nach neuen Konzepten und Ideen. 1920 war ein Jahr zwischen den großen Daten der Geschichte – ein Jahr zwischen den Zeiten.

Im ersten Teil geht es um das, was Hans Ulrich Gumbrecht in seinem schönen Buch über 1926 als »heraufbeschwören«28 von Welten und Wirklichkeiten beschrieben hat. Dieses Heraufbeschwören ist der Versuch einer Vergegenwärtigung von Ereignissen, Phänomenen, Aspekten und Hintergründen, die zur Welt von 1920 gehörten. Man kann freilich die Vergangenheit nicht erlebbar machen, man kann sie nur unter einem bestimmten Blickwinkel zeigen. Mein Blickwinkel ist die oben angesprochene komplexe Welt, die für viele zum Problem, ja zum Ärgernis wurde. Das soll an der Debatte über Albert Einstein und seine Relativitätstheorie gezeigt werden. Einstein wurde 1920 zur populären Figur, zum Faszinationsobjekt einer breiten Öffentlichkeit, ein Gelehrter, der nicht zuletzt durch die Medienwelt zum internationalen Star aufgebaut wurde. Der Naturwissenschaftler verkörperte wie kein anderer, mit seiner Modernität und seinem nonkonformistischen Habitus, das neue Selbstbewusstsein der jungen Weimarer Republik. Er geriet aber auch genau damit in die Kritik, er – der jüdische Gelehrte – war der Repräsentant jener komplexen Welt, die man nicht mehr verstand, die nur noch für die ›Ernsthaften‹ zugänglich und begreifbar war, die mit abstrakten Begriffen und mit mathematischen Formeln umzugehen wussten. Dieser Kreis war begrenzt. Aus Einstein, dem Faszinationsobjekt, wurde für viele so ein Hassobjekt. Am Phänomen Einstein wird deutlich, dass aus der monarchischen Welt eine Massengesellschaft geworden ist. Und die Massen haben bekanntlich einen schlechten Ruf. Sie waren, glaubt man ihren ›Theoretikern‹, nur zu leicht der Suggestion und Beeinflussung zugänglich. In der jungen Weimarer Republik entsteht die Angst, dass Einzelne, Führer, Despoten, Diktatoren durch Manipulation der Massen die Macht an sich reißen könnten. Siegfried Kracauer spricht in seinem berühmten filmhistorischen Werk Von Caligari zu Hitler vom »Aufmarsch der Tyrannen«.29 Der bereits angesprochene Joachim Fest sieht die frühen zwanziger Jahre als eine »fremd und chaotisch heraufziehende Zeit«, geprägt von der »Angst vor normierten, termitenhaften Daseinsweisen«.30

Der Traum von einer neuen Welt wurde damals von vielen geträumt. Das Neue löste jedoch nicht nur positive, sondern auch unheimliche Gefühle aus. In diesem ersten Teil soll davon die Rede sein.

Der zweite Teil hat fünf Hauptdarsteller und sehr viele Nebendarsteller. Zu den Hauptdarstellern gehören Walter Serner, Ernst Jünger, Sigmund Freud, Alfred Döblin und Bertolt Brecht. Sie alle veröffentlichten 1920 Arbeiten, mit denen sie etwas Neues versuchten und einen radikalen Blickwechsel vollzogen: Walter Serner legte mit Letzte Lockerung eine, so Peter Sloterdijk, »beispiellose Prosa« vor, in der der Dadaist »brutal und elegant« um sich schlägt.31 Ernst Jünger tritt 1920 als junger Autor auf die Bühne, er kommt hochdekoriert aus dem Krieg und legt seinen Erstling In Stahlgewittern vor. Er präsentiert in diesem Buch den ›neuen Menschen‹, den er als Stoßtruppführer sieht. In Wien denkt Sigmund Freud unter dem Eindruck des Krieges über die Zukunft der Psychoanalyse nach. 1920 veröffentlicht er mit Jenseits des Lustprinzips eine Revision seiner Lehre, die viele Anhänger und Schüler als Neubeginn gelesen haben. Alfred Döblin beschreibt im Wallenstein-Roman einen Krieg, der keinen Anfang hat und kein Ende nimmt – eine apokalyptische Vision, die ihn nicht mehr loslässt und die ihn dann, so Klaus Modick, zu einem »der unerhörtesten, bizarrsten Romane des 20. Jahrhunderts«32 führt: Berge Meere und Giganten. 1920 legt der junge Bertolt Brecht seinen Erstling vor, das Drama Baal – ein Stück, das mit den romantischen Sentimentalitäten und der Leibfeindlichkeit bricht. Geschrieben ist das Ganze in einer rotzig-frechen Sprache voller Zynismen, ein Stück, in dem das Triebwesen ›Mann‹ gewaltsam und explosiv hervortritt.

Alle Protagonisten bewegten sich mit ihren Überlegungen am »Nullpunkt des Sinns«,33 sie fühlten sich von der nun heraufziehenden neuen Zeit herausgefordert. Unabhängig voneinander haben sie Ideen, Ansichten und Visionen entwickelt, die sich, wenn man sich die Gedanken und Konzepte genauer anschaut, auf verblüffende Weise ähneln und miteinander korrespondieren. Das führte, wenn ich es recht sehe, in keinem Fall tatsächlich zu einem persönlichen Austausch. Umso spannender ist es, diesen Austausch herzustellen. Dieses Buch macht den Versuch. Dabei sollen die Ideen mit der Geschichte der Hauptdarsteller verbunden werden, erzählt wird von ihren Hoffnungen und Schicksalen, von ihren Wünschen und Träumen, natürlich vom Suchen und Scheitern, aber auch vom Glück des Findens und von der Energie, die freigesetzt wird, wenn man den Mut hat, sich in Frage zu stellen, sich vom Vergangenen zu lösen und das Leben nach vorn zu leben.

Eine Reise

Wenn etwas am Jahr 1920 auffällt, dann ist es die Gleichzeitigkeit von ganz unterschiedlichen Ereignissen, die in der Trennung existieren, zuweilen aber auch aufeinander reagieren. 1920 war ein bewegtes Jahr, ein Jahr, in dem vieles in Bewegung und noch nichts entschieden war. Ein Jahr, in dem die Republik, kaum entstanden, schon am Abgrund balancierte. Die große Politik stand neben dem Unpolitischen, Gewalt und blutiger Terror neben dem Amüsement und der Normalität des Alltags. Hans Magnus Enzensberger hat angesichts eines solchen Nebeneinanders vom »Skandal der Gleichzeitigkeit«34 gesprochen.

1920 – das sind hundert Jahre Abstand, ein Abstand, der zu beachten ist, der sich nicht einfach überbrücken lässt. Wir müssen uns auf eine Zeitreise begeben, und wir haben schweres Gepäck dabei. Ich nenne schlagwortartig einige Namen: die Hyperinflation 1923, der Schwarze Donnerstag am 24. Oktober 1929, der nationalsozialistische Terror, die stalinistischen Schauprozesse, der Holocaust, der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, der Zerfall der Sowjetunion – die Liste ließe sich ergänzen und fortsetzen. Dahinter stehen Schicksale, Tragödien. Auch die Protagonisten haben davon einiges mitbekommen, aber längst nicht alles. Außerdem, das bleibt festzuhalten, waren sie ganz unterschiedlich davon betroffen und standen auf verschiedenen Seiten.

Wer sich dem Beginn der zwanziger Jahre nähert, wird gut daran tun, die Zeit nicht sogleich aus der Brille dieser Ereignisse zu betrachten. Gleichwohl, die Zukunft ist nicht offen, sie ist es nie – auch 1920 nicht.

Erster Teil
Die Welt 1920

Weimar wird zerlegt

1920 wurde Hannah Höchs Fotomontage auf der »Ersten Internationalen Dada-Messe«, die vom 30. Juni bis zum 25. August im Kunstsalon Otto Burchard in Berlin am Lützowufer stattfand, zum ersten Mal ausgestellt. Die Welt kurz nach dem ›Großen Krieg‹, nach Zusammenbruch und Revolution, am Schnittpunkt zwischen Kaiserreich und junger Weimarer Republik.

9783841218063-001.tif

1 Hannah Höch: Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, 1919.

Die Künstlerin hat mit dem »Küchenmesser Dada« ganze Arbeit geleistet. Alles ist in Einzelteile zerlegt. Auf den ersten Blick ein Chaos von disparaten Elementen. Nichts scheint hier zusammenzupassen.1 Köpfe passen nicht zu den Körpern, zum Teil sind sie zu groß, die Proportionen stimmen nicht. In einigen Fällen ist der Körper kopflos, in anderen Fällen ist etwas am Kopf montiert oder transplantiert. Die Welt, so wie Hannah Höch sie uns zeigt, ist aber nicht nur in Teile zerfallen, die nicht mehr zusammenpassen, es sind auch merkwürdige Verbindungen, neue Konfigurationen entstanden. Weibliche Körper mit männlichen Köpfen – skurrile Verbindungen sind darunter wie die des Feldmarschalls Paul von Hindenburg, dessen Kopf auf dem Körper einer halb entblößten Frau drapiert ist, die sich lasziv an Wilhelm II. lehnt (rechts oben). Die Geschlechter sind offenbar in Unordnung geraten. Gleichwohl leben wir immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft. Es sind ausschließlich Männerköpfe, die auf Frauenkörper montiert sind. Wie überhaupt die Männer das dominierende Element bilden, die freilich (Bierbauchkultur!) kritisch gesehen werden. Neben den Männern fallen überdimensionierte Räder und Kugellager ins Auge, die von irgendwoher zu kommen scheinen. Relikte einer vergangenen Zeit, des Maschinenzeitalters, das mit der Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeleitet wurde und die industrielle Revolution auslöste. Gewaltige Energiemengen wurden entfesselt und nutzbar gemacht. Und was kommt jetzt – Anfang der zwanziger Jahre? Neue Maschinen, neue Energien? Das alles liegt noch im Dunkeln. Fremd und mystisch erscheinen auch die Buchstaben, das große ›e‹ zum Beispiel (unten links) wirkt wie ein Menetekel; zumal wenn man das Umfeld bedenkt, im Hintergrund ein Foto der Wall Street, davor die Kinderschar und (rechts davon) der Tagungsraum der Weimarer Nationalversammlung.

9783841218063-002.tif

2 Hannah Höch mit Dada-Puppen im Hof der Berliner Galerie Burchard, 1920.

Die Menschen sind Bruchteile, die keine wirklichen Schnittpunkte haben, sie blicken sich nicht an, und kaum einer der montierten Köpfe schaut aus dem Bild, alle scheinen irgendwie mit sich selbst beschäftigt. Mechanisierung, Maschinisierung und Verdinglichung sind die großen Themen, die die Berliner Dadaisten insgesamt, insbesondere aber Hannah Höch umtreiben. Auf der Ausstellung zu sehen sind auch ihre Puppen, die sie seit 1916 aus Textilien, Karton, Wolle und Perlen anfertigte. Im Hof der Galerie hat sie sich in verschiedenen Posen mit den Puppen fotografieren lassen – bestimmt, herausfordernd und ein wenig amüsiert blickt sie auf die grotesk wirkenden Geschöpfe, die etwas Selbständiges, Mechanisches haben.

Auf der »Ersten Internationalen Dada-Messe« präsentierten 27 Künstler ihre Werke, neben Hannah Höch unter anderen John Heartfield, George Grosz, Rudolf Schlichter, Hans Arp, Francis Picabia, Max Ernst und Raoul Hausmann. Die Aufnahme von der Eröffnung der Ausstellung zeigt einige der Berliner Dadaisten – eine entspannte, familiäre Szene, mit dabei auch Mies van der Rohe, der nicht zum inneren Kreis gehörte, aber mit der Künstlerbewegung sympathisierte und sich von ihr inspirieren ließ. Ein knappes Jahr später stellte er Fotomontagen seiner ersten Hochhaus-Entwürfe vor. Der neuartige Glas-Stahl-Skelettbau bot unverhüllte Einblicke in das Innere des Gebäudes, was ebenso provokant und skandalträchtig war wie die Dada-Kunst.

Kunst, da waren sich die Protagonisten einig, sollte nicht Selbstzweck sein, sondern gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Grosz und Heartfield brachten die Intention der Ausstellung mit einem Plakat auf den Begriff: »Die Kunst ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins.« Es ging um den radikalen Bruch mit dem bürgerlichen Kunstbegriff – der Konstruktivist Wladimir Tatlin, der gerade sein berühmtes Monument zur III. Internationale entworfen hatte, verkörperte für die Dadaisten diesen Bruch. Er sah den Künstler nicht als Schöpfer, sondern als Ingenieur, der Teile zusammenfügt, montiert. Die Fotomontage entstand nach dem Ersten Weltkrieg, erfunden von den Dadaisten als eines ihrer wichtigsten Ausdrucksmittel. Nicht von ungefähr, denn die Montage ermöglichte – wie an Hannah Höchs Werk zu sehen ist – Auflösung, Neukomposition und Kontrastierung von Realitätsfragmenten. Vorgefundener Sinn konnte durch Montage verändert oder in Un-Sinn verwandelt werden. Montage war für die Dadaisten eine Form der Destruktion des tradierten kulturellen Sinns, sie stand auch für den Geist der Verweigerung. In Raoul Hausmanns Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung, erschienen 1919, heißt es: »Wir wollen lachen, lachen, und tun, was unsere Instinkte heißen. Wir wollen nicht Demokratie, Liberalität, wir verachten den Kothurn des geistigen Konsums, wir erbeben nicht vor dem Kapital […]: wir wollen nicht Wert und Sinn, die dem Bourgeois schmeicheln – wir wollen Unwert und Unsinn.«2

Mit Hohn und Spott wurde die Pose der Ernsthaftigkeit bedacht – alles, was sich ernst nahm, wurde skandalisiert und dem Gelächter ausgesetzt. Mit viel Sinn für Provokation hatte man in der Ausstellung eine schwebende Deckenplastik von Heartfield und Schlichter aufgehängt, den »Preußischen Erzengel« – eine Figur, die mit einer Offiziersuniform bekleidet war und der man einen Schweinskopf aufgesetzt hatte. Auf einer Bauchbinde war zu lesen »Vom Himmel hoch, da komm ich her«. Die Ausstellungsmacher hatten richtig kalkuliert. Die Reichswehr fühlte sich beleidigt und reichte bei der Ersten Strafkammer am Landgericht Berlin Klage ein. Die Künstler gaben sich radikal und positionierten sich in Fundamentalopposition sowohl gegen die Weimarer Republik als auch und insbesondere gegen den preußischen Militarismus und die als spießig erachteten bürgerlichen Wertvorstellungen.

Im Februar 1919 hatte man angekündigt: »Wir werden Weimar in die Luft sprengen.«3 Man liebte die große Geste, war fasziniert von der Rhetorik der Gewalt, gab sich in Texten und Gedichten militant und ungehemmt. Zertrümmern wollte man die bürgerliche Hochkultur – und Weimar war in den Augen der künstlerischen Avantgarde das Synonym für den deutschen Geist, der in der Kunst Sinnsuche betrieb und den Wahn und die Bodenlosigkeit der Epoche ignorierte. Dahinter stand keine politische Position, sondern ein allgemeiner Ekel über den Zustand der Welt, dahinter stand aber auch eine tiefe Enttäuschung über Kunst und Kultur, an die man vor dem Krieg noch geglaubt hatte. In der aggressiven Haltung, in der Sprache des Hasses gaben die Avantgardisten den Ton vor, sie wollten, wie Nietzsches Zarathustra, alles, was fällt und verfällt, nicht halten, sondern stoßen. Der Ruf nach Katharsis richtete sich gegen eine Welt der Lüge und der Verstellung. Mit Demokratie, wie sie nun allenthalben propagiert wurde, konnte die künstlerische Avantgarde wenig anfangen.

Der Architekt Adolf Behne schrieb im Juli 1920 in einem Artikel zur Eröffnung der Ausstellung: »Dada zeigt die Welt 1920. Viele werden sagen: so scheußlich sei selbst 1920 nicht. Es ist so: Der Mensch ist eine Maschine, die Kultur sind Fetzen, die Bildung ist Dünkel, der Geist ist Brutalität, der Durchschnitt ist Dummheit und Herr das Militär.«4

9783841218063-003.tif

3 Hannah Höch und Raoul Hausmann 1920 im Ausstellungsraum der Ersten Internationalen Dada-Messe. Links unten an der Wand Höchs Fotomontage.

Ausdrücklich lobte Behne die ›Klebearbeit‹ von Hannah Höch. Während des Krieges hatte sie neben ihrem Studium an der Lehranstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums bei Emil Orlik im Ullstein Verlag als Entwurfszeichnerin gearbeitet. Sie kam mit den Zeitschriften des Verlages in Kontakt, ließ sich inspirieren und sammelte Material für ihre ersten Collagen. Nach dem Krieg setzte sie die Arbeit fort, zum Teil in Zusammenarbeit mit Raoul Hausmann. In der Montage wollte Hannah Höch die Zeit einfangen, sie schnitt Bildmaterial aus und setzte es neu zusammen. Die Fotomontage zeigte aufs Schönste, was sich um diese Zeit in der Gesellschaft abspielte: Zerfall, Auflösung, Chaos – aber auch das Experimentieren, die Suche nach neuen Kombinationen und Zusammenhängen. Die Fotomontage, sagt Hannah Höch, sei für sie »ein neues phantastisches Gebiet« gewesen. »Ein wundersames Neuland, das zu entdecken als erste Voraussetzung hat: Hemmungslosigkeit. Aber nicht Disziplinlosigkeit. Denn auch innerhalb dieser neuentdeckten Möglichkeiten gelten Form- und Farbgesetze, die eine gelöste Bildfläche gestalten.«5 Die Freiheit, die das Verfahren zuließ, machte es möglich, Dinge nebeneinanderzustellen, ohne sie zu einer nahtlosen Einheit zu bringen. Gleichwohl ist die Bedeutung, die sie einmal hatten, im Artefakt noch sichtbar. Doch der neue Zusammenhang ändert alles. Für ihre Montage wählte Hannah Höch Personen, Elemente und Realitätspartikel aus, die für die Zeit der beginnenden zwanziger Jahre standen, die sie symbolisierten, Fotografien und illustratives Material, das im kollektiven Gedächtnis verankert war. Viele Dinge, die auf der Fotomontage zu sehen sind, sind heute erklärungsbedürftig. Das gilt insbesondere für die dargestellten Personen, ihre Kontexte sind im wahrsten Sinne des Wortes ›abgeschnitten‹. Die Fotomontage »Schnitt mit dem Küchenmesser« wirkt darum, anders als für die Zeitgenossen, merkwürdig surreal und erinnert eher an Traumbilder. Zu den Personen, die auch heute auf Anhieb identifizierbar sind, gehört zweifellos der Kopf Einsteins. Obwohl es sich nicht um ein typisches Einstein-Porträt handelt, sondern um ein später eher selten reproduziertes Foto. Die Ähnlichkeit mit Einstein ist da, doch der wilde Haarschopf, mit dem der Wissenschaftler in den zwanziger Jahren zur Ikone der Populärkultur wurde und mit dem wir Einstein für gewöhnlich identifizieren, ist noch nicht zu sehen. Diese Haartracht hat sich Einstein erst später zugelegt.6

9783841218063-004.tif

4 Albert Einstein in Denkerpose, Berlin 1919.

Hannah Höch benutzte ein Titelfoto der Berliner Illustrirten Zeitung, der Massenzeitung aus dem Hause Ullstein mit einer Auflage von über einer Million. In der Ausgabe vom 14. Dezember 1919 erschien dieses Einstein-Porträt von Suse Byk auf der Titelseite mit der Bildunterschrift: »Eine neue Größe der Weltgeschichte: Albert Einstein«.

Mit diesem Foto wurde Einstein in Deutschland bekannt – es wurde in Zeitungen und Zeitschriften vielfach reproduziert. Hannah Höch konnte sicher sein, dass ein breites Publikum das Bild von dem, wie es nun allenthalben hieß, ›weltberühmten‹ Physiker schon einmal gesehen hatte. Als sie das Porträt montierte, hatten gerade am 6. November 1919 die britische Royal Society und die Royal Astronomical Society bekannt gegeben, dass die von der allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagte Lichtablenkung der Sonne sich nach eingehender Prüfung bestätigt habe. Einen Tag später meldete die Londoner Times: »Wissenschaftliche Revolution. Neue Theorie des Universums. Newtons Vorstellung gestürzt.«

Nun begann Einsteins Aufstieg zu einem internationalen Star. Interessant an dem Titelfoto der Berliner Illustrirten Zeitung ist die bemerkenswerte Teilung des Gesichts. Die eine Gesichtshälfte ist hell, stark belichtet, der zu sehende Rand des Ohres sticht heraus und wirkt irgendwie unorganisch; die andere Gesichtshälfte ist dagegen in tiefes Dunkel getaucht, die Konturen des Kopfes lösen sich auf, verwischen sich mit dem Hintergrund.

Hannah Höch hat nur die eine Gesichtshälfte, die dunkle, mit Elementen bestückt und die helle Seite frei gelassen. Nur ein Auge ist geöffnet, das andere ist mit einem Unendlichkeitszeichen überklebt. Seitlich ist ein Fuhrwerk mit Pferden zu sehen, die am Futtertrog stehen, der eine Trog scheint direkt mit Einsteins Ohr verbunden zu sein; über Einsteins Kopf hinweg fährt eine Lokomotive auf Schienen, und oben auf dem Dach der Lokomotive ist ein Flaschenzug mit dem Slogan »Legen Sie Ihr Geld in dada an!« zu sehen. Ein großer Teil der dunklen Gesichtshälfte und der Stirn wird von einem überdimensionierten Ohrwurm eingenommen.

Der phantastisch stilisierte Ohrwurm lässt natürlich aufmerken, offensichtlich ist hier nicht das Insekt gemeint, es wird auf die umgangssprachliche Bedeutung angespielt – also ein eingängiges Musikstück, das in Erinnerung bleibt und nicht so leicht aus dem Kopf geht. Bei Hannah Höch ist indes nicht Musik, sondern der im Schriftzug genannte Text gemeint: »Der Waghalter der Welt« von Salomo Friedlaender. Es handelt sich um einen Aufsatz, den Friedlaender im Juli 1915 in den Weißen Blättern publizierte und der 1918 in sein Werk Schöpferische Indifferenz einging.

Friedlaender hatte über Schopenhauer und Kant promoviert, war dann zur Literatur gekommen und veröffentlichte unter seinem Pseudonym Mynona Satiren und Grotesken, kleine, zum Teil absurde Kabinettstückchen mit viel Hintersinn. Er selbst betrachtete sich als »ernsthafter Philosoph und Humorist in Personal-Union« – »eine gewisse Synthese aus Kant und Clown (Chaplin)«7, wie er 1922 an seinen Verleger schrieb. Friedlaenders Thesen über Polarität waren damals unter den Intellektuellen ein Geheimtipp, doch nur wenige hatten sein Buch über die Schöpferische Indifferenz von vorn bis hinten gelesen. Es ist eine überbordende »Textwüste«8: Essays, Skizzen, Fragmente, Aphorismen, in denen der Autor seinen Grundgedanken von der Polarität der Welt und der schöpferischen Indifferenz in immer neuen Anläufen umkreist, er spricht von der »Monotonie der Variation«.9 Hannah Höch und ihr Freund Raoul Hausmann gehörten zu den treuen Lesern, ja Exegeten des Werks. Sie brachten ihre künstlerische Arbeit, ihre Lebens- und turbulente Liebesgeschichte mit der »schöpferischen Indifferenz« in Verbindung.10 Dada, so meinte Hausmann später, sei aus »einer Einstellung« entstanden, »die man ›Schöpferische Indifferenz‹ nennt«.11

Indifferenz

Friedlaender sieht die Welt und den Menschen durch polare Gegensätze bestimmt: Alles Wirkliche ist »zweideutig, zweiseitig«.12 Es gibt keine innere Einheit. Alle Anstrengungen des Menschen sind darauf gerichtet, diesen inneren Zwiespalt, diese polare Spannung zumindest partiell zu überwinden und in ein Gleichgewicht zu kommen. Dieses Gleichgewicht beschreibt Friedlaender als indifferente Mitte, als Neutrum und Nullpunkt. Mit Indifferenz meint er nicht Gleichgültigkeit, statische Ruhe. Im Gegenteil, es ist ein Punkt, der sich nur durch fortwährende Anstrengung erreichen lässt, denn die polare Spannung muss »balanciert« werden. Indifferenz ist der Nullpunkt, der sich in der Balance nur temporär verwirklicht. Im Nullpunkt existiert keine Spannung, alle polaren Gegensätze sind ausgeglichen, und von diesem Punkt aus, so denkt es sich Friedlaender, kann der Mensch ›gesunden‹, kann der ›neue Mensch‹ entstehen. »Nur mediale Indifferenz gibt Herrschaft über alle Differenzen, befreit von deren Knechtung.«13

Die Formel von der »schöpferischen Indifferenz« kam Anfang der zwanziger Jahre in Mode. Im Chaos der Welt wirkte Indifferenz geradezu als Verheißung, als Möglichkeit, einen Gleichgewichtspunkt zwischen den uns tangierenden Kräften und Polen zu finden. Es ging um Selbstbewahrung, um Strategien der Entlastung – und so mancher sah darin ein Heilsversprechen. Andere interpretierten Indifferenz als Flucht aus der vulgären, pöbelhaften Welt in einen Elfenbeinturm. Dazu gehörten George Grosz und John Heartfield. »Jede Indifferenz ist konterrevolutionär!«,14 hieß es im Pamphlet Der Kunstlump vom April 1920. Grosz und Heartfield reagierten damit auf einen Aufruf Oskar Kokoschkas, der in vielen Zeitungen erschienen war. Der Maler und Professor an der Kunstakademie in Dresden hatte an die Öffentlichkeit appelliert, während der bewaffneten Auseinandersetzungen die Kulturgüter zu schützen. Anlass war die Beschädigung eines Rubens-Gemäldes durch eine Kugel bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches am 15. März. George Grosz legte im August 1920 noch einmal nach und attackierte die Indifferenz als restaurative Haltung einer bürgerlichen Intelligenz: »Was ist Eure schöpferische Indifferenz und Euer abstraktes Gefasel von der Zeitlosigkeit anders als eine lächerliche, nutzlose Spekulation auf die Ewigkeit. […] Das Getue um das eigene Ich ist vollkommen belanglos.«15

In den aufgewühlten Zeiten wurde Indifferenz zum Kampfbegriff. Friedlaender hielt das alles für ein Missverständnis – mit Indifferenz sollte nicht einer Weltabgewandtheit das Wort geredet werden, überhaupt wollte er den Begriff nicht politisch oder psychologisch verstanden wissen, sondern als rein philosophische Spekulation. Doch die Missverständnisse und Widersprüche sind im Text angelegt. Friedlaender selbst betont das »Praktische« der Indifferenz, die »Differenz zu leisten«16 habe, Differenz zum äußeren und inneren Leben. Er spricht von der Reinheit, die der Indifferenz innewohnt, und landet schließlich bei einer Vergottung des eigenen Selbst als des einzig schöpferischen Prinzips.17

Das Balancieren der Gegensätze, die Suche nach der indifferenten Mitte war zumindest für Hannah Höch mehr als eine abstrakte Theorie. Mit Friedlaenders Brille ordnete sich die Welt, sie wurde nicht mehr chaotisch wahrgenommen, sondern als eine Welt polarer Gegensätze.