Über Catherine Lacey

Catherine Lacey wurde in Mississippi geboren und lebt in Chicago. Für ihren ersten Roman »Niemand verschwindet einfach so« wurde sie mit dem Whiting Award 2016 ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman »Das Girlfriend-Experiment« wurde ebenfalls begeistert von der Kritik aufgenommen.

Bettina Abarbanell arbeitet als Literaturübersetzerin in Potsdam. Sie hat u. a. Jonathan Franzen, Denis Johnson und F. Scott Fitzgerald übersetzt. 2014 Übersetzerpreis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung. Für ihre Arbeit an »Niemand verschwindet einfach so« wurde sie mit dem Brandenburger Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Informationen zum Buch

Eine Erkundung der Liebe in Zeiten der Künstlichkeit – »Catherine Lacey spielt in ihrer eigenen Liga.« The New York Times.

In hypnotischen Sätzen zieht uns Catherine Laceys Roman hinein in das Girlfriend-Experiment, ins Leben gerufen von Kurt Sky, einem so berühmten wie exzentrischen Schauspieler. Die Geschichte um Kurt und die als »emotionale Freundin« angestellte Mary Parson zeigt uns eine artifizielle, doch allzu reale Welt und hinterfragt spielerisch die Konventionen, die unsere intimsten Momente bestimmen. Laceys Antworten auf diese Fragen sind höchst beunruhigend.

»Das ›must read‹ des Jahres. So analytisch wie menschlich, empathisch und entlarvend. Wie Don DeLillo für Millenials.« Vogue

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Catherine Lacey

Das Girlfriend-Experiment

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Bettina Abarbanell

Inhaltsübersicht

Über Catherine Lacey

Informationen zum Buch

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Prolog

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Dritter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Danksagungen

Impressum

Immerhin gab es einen Morgen, an dem ich mir sicher war, wenn auch nur für ein paar Stunden, dass alles, was mir je passieren könnte, schon passiert war. Ich wachte, quer über dem Bett liegend, auf, musste nirgendwohin, brauchte nichts, erwartete keinen Besuch, hatte niemanden anzurufen. Ich sah zu, wie gelblicher Tee in heißem Wasser zog. Der Becher wärmte mir die Hand. Ich dachte, es wäre vorbei.

Als ich die Jalousie öffnete, stand sie mitten auf der Straße, fixierte mein Fenster im ersten Stock, als wüsste sie genau, wo ich war, hätte auf diesen Moment gewartet. Unsere Blicke trafen sich – Ashley.

Der Becher rutschte mir aus den Händen, zersprang, der Tee verbrannte mir die Füße.

Ich versuche, mir nicht mehr so sicher zu sein.

Erster Teil

Eins

Mir blieb nichts anderes mehr übrig. Das steckt ja meistens dahinter, wenn Leute wie ich ihre letzten Hoffnungen auf einen Fremden setzen, vor allem die, dass dieser Fremde genau das mit ihnen machen wird, was sie brauchen.

Ich war so lange darauf angewiesen gewesen, dass andere etwas mit mir machten, und so lange hatte keiner das Richtige mit mir gemacht – aber schon eile ich wieder voraus. Das sei eins meiner Probleme, hat man mir gesagt, dass ich mir oft selbst vorauseile, also suche ich in letzter Zeit nach einem Weg, hinter mir zurückzubleiben, langsam und ruhig mit mir umzugehen, so wie Ed es getan hat. Aber das klappt natürlich nicht ganz, ich kann nicht dasselbe für mich sein, was Ed für mich war.

Es gibt Dinge, die nur andere mit einem machen können.

Bei der Pneuma-Adaptiven Kinästhesie, kurz PAKing – dem, was Ed mit anderen macht –, muss eine Person wissend sein und eine andere (in dem Fall ich) unwissend daliegen. Im Grunde weiß ich immer noch nicht genau, was Pneuma-Adaptive Kinästhesie eigentlich ist, außer dass ich dadurch wieder gesund wurde (oder zu werden schien). Während unserer Sitzungen hielt Ed manchmal die Hände über meinen Körper und sang, summte oder schwieg, während er – mutmaßlich – unsichtbare Teile von mir bewegte, neu anordnete oder heilte. Er legte mir Steine und Kristalle aufs Gesicht, auf die Beine, drückte oder drehte mitunter auf schmerzhaft angenehme Weise an meinem Körper herum, und obwohl ich nicht verstand, wie irgendetwas davon die diversen Krankheiten daraus entfernen sollte, sprach die Erleichterung für sich.

Ein Jahr lang hatte ich praktisch überall undiagnostizierbare Beschwerden gehabt, doch nach einer einzigen Sitzung mit Ed, nicht mehr als neunzig Minuten, in denen er mich kaum berührte, konnte ich fast vergessen, dass ich ein Körper war. Was für ein Luxus, nicht vom eigenen Verfall beherrscht zu werden.

PAKing hatte Chandra mir empfohlen, sie hatte es Feng Shui für den energetischen Körper, Guerillakrieg gegen negative Vibes genannt, und obwohl ich mitunter skeptisch war, wenn ich Chandra von Vibes reden hörte, musste ich ihr dieses Mal einfach glauben. Ich war schon so lange krank, dass ich inzwischen fast die Hoffnung verloren hatte, je wieder gesund zu werden, und mir war angst und bange davor, was an die Stelle dieser Hoffnung treten könnte, wenn sie vollends verschwände.

Theoretisch, erklärte mir Chandra, ist PAKing eine Form der neurophysiologischen chi-Körperarbeit, eine relativ unerforschte Technik an der Peripherie der vordersten Front oder der Peripherie der Peripherie, je nachdem wen du fragst.

Das Problem war, wie immer, ein unsichtbares. Das Problem war Geld.

Um einen ganzen Zyklus zu absolvieren, brauchte ich mindestens fünfunddreißig PAKing-Sitzungen zu je 225 $, eine komplette Behandlung belief sich also auf die halbe Jahresmiete der zu dunklen, schlecht geschnittenen kleinen Wohnung, in der ich seit Jahren lebte (nicht weil sie mir gefiel – ich fand sie schrecklich –, sondern weil alle sagten, sie sei ein Schnäppchen, zu gut, um sie aufzugeben). Und obwohl ich im Reisebüro ganz passabel verdiente, reduzierten mein monatliches Kreditkartenminimum, die Studentendarlehensraten und das Bombardement ärztlicher Rechnungen des letzten Jahres meinen Kontostand regelmäßig auf Cents oder Negativsummen, während meine Schulden ständig zu wachsen schienen.

Eines schlimmen Morgens aß ich, ausgehungert und abgebrannt, die Reste meiner Speisekammer zum Frühstück (leicht abgelaufene Anchovis in eine kleine Dose Tomatenmark gerührt). Zum Abendessen harekrishnate ich oft, ließ meine Schuhe und meine Selbstachtung draußen vor der Tür, um Krishna zu preisen, den Gott (soweit ich es beurteilen konnte) der vegetarischen Kost auf Cafeteria-Niveau und der manischen Gesänge. Beim vierten oder fünften Liebesmahl, mit auf die Stirn geschmierter weißer Tilaka und Pasta, die sich auf dem Metallteller kringelte, als wäre sie animiert, wusste ich, dass Krishnas grenzenlose Liebe, wie hungrig, arm oder verwirrt ich auch immer sein mochte, nie genug für mich sein würde. Ein paar Tage später kam der Moment, als die Annonce für ein einkommensschaffendes Erlebnis an der Reformhaus-Pinnwand mir meine einzige reale Option zu sein schien, ja, als wäre es das Beste, die letzten Reste meines Lebens wegzugeben, um ein echtes zurückzubekommen.

Ein Jahr lang hatte ich gar keins gehabt, nur Symptome. Zuerst waren sie ganz banal – hartnäckige Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden, ein ständig gereizter Magen –, doch im Lauf der Monate wurden sie immer seltsamer. Permanente Mundtrockenheit, eine taube Zunge. Ausschlag am ganzen Körper. Andauernd schliefen mir die Beine ein, so dass ich im Büro festsaß, auf der Toilette oder auch an der Bushaltestelle, wo der M5 kam und wieder fuhr, kam und wieder fuhr. Einmal schaffte ich es, mir im Schlaf eine Rippe zu brechen. Merkwürdige Knoten beulten meine Haut aus und verschwanden wieder, wie auf- und abtauchende Schildkrötenköpfe in einem Teich. Ich konnte nachts nur drei oder vier Stunden schlafen, also versuchte ich in der Mittagspause, an den Tagen ohne Arzttermine, mit der Stirn auf dem Schreibtisch ein Nickerchen zu halten. Ich mied Spiegel und Blickkontakte. Ich plante nicht weiter als eine Woche im Voraus.

Es wurden Bluttests und noch mehr Bluttests gemacht, Computertomographien und Biopsien. Ich war bei sieben Spezialisten, drei Gyns, fünf Allgemeinmedizinern, einem Psychiater und einem grapschenden Chiropraktiker. Chandra ging mit mir zu einem Promi-Akupunkteur, einem spirituellen Chirurgen und jemandem in Chinatown, der im Hinterzimmer eines Fischhändlers stinkende Pulver verkaufte. Es gab Vorfälle, Rückfälle, Durchfälle und so weiter.

Das ist nur Stress, sagte einer, konnte aber weder Krebs noch eine seltene Autoimmunstörung noch eine psychische Attacke noch eine reine Neurose ausschließen, in meinem Kopf erzeugt – sorgen Sie sich einfach nicht so viel, machen Sie sich nicht so viele Gedanken.

Ein Arzt sagte, So sind sie eben, unsere Körper, seufzte und schlug mir auf die Schulter, als wäre es ein Witz, den wir alle kannten.

Aber ich brauchte keine Pointe. Ich brauchte eine Erklärung. Wenn ich an der Praxis eines Handflächenlesers und Hellsehers vorbeikam, verlangsamte ich den Schritt. Ab und zu ließ ich mir von Chandra die Tarotkarten legen, und die Ergebnisse waren immer ungünstig – Schwerter, Dolche, Dämonen und Schnitter. Ich mache das noch nicht lange, sagte sie, aber das stimmte nicht. Ich zog meine krampfenden Beine an die Brust, legte das Kinn auf die Knie und fühlte mich wie ein Kind, eingeschüchtert von all dem Vielen, was ich nicht wusste.

Ein paarmal war ich kurz davor zu beten, aber alles schien schon unbeantwortet genug, da brauchte ich nicht noch einen Rahmen für das Schweigen.

Irgendetwas Genetisches wäre eine rationale Erklärung gewesen oder die Konsequenz falscher Entscheidungen, vielleicht auch nur eine heftige Pechsträhne – sinnlos oder eine karmische Backpfeife – irgendwie verdient. Meine Eltern hätten es als Teil Seines Plans bezeichnet, aber das traf für sie auf alles zu. Wie jemand Katastrophen zu erklären versucht, ist unwichtig, so viel weiß ich jetzt. Wenn der Haufen groß ist, spielt es keine Rolle mehr, wer darauf geschissen hat.

Zwei

Fünf Jahre lang hatte ich ein Leben.

Meine Kindheit war nicht mein Leben – Merles vielleicht, aber nicht meins. Die Zeit bei Tante Clara war auch kein richtiges Leben gewesen, mehr so eine Art Wiedereingliederung. Und das College schon gar nicht, das war nur eine Phase der Reifung, vier Jahre der Warnung und Vorbereitung auf das Leben, das da kommen würde, dieses zukünftige Etwas.

Mein Leben begann im Flugzeug, in dem Moment, als wir abhoben. Wir stiegen auf, und ich weinte, so leise ich konnte, an Chandras Schulter, und als die Flugbegleiterin zu uns kam, bat Chandra sie um ein Glas heißes Wasser für ihren selbst mitgebrachten Teebeutel, hielt es trotz der Turbulenzen ruhig, bis der Tee Trinktemperatur hatte, und reichte es mir. Sie wusste so viel, wusste immer, wie man alles am besten machte. Sie breitete ihren riesengroßen Schal aus und legte ihn uns beiden um die Schultern, und ich schlief an sie gelehnt ein. Als wir aufwachten, Hand in Hand, landeten wir gerade in London, und Minuten später manövrierte sie uns durch Heathrow, wo sie sich auch schon auskannte. Nicht dass sie mir wie meine Mutter vorkam, aber irgendwie war ich trotzdem ihr Kind.

Was für mich die erste Reise war, muss für sie die hundertste gewesen sein, ein Geschenk ihrer Eltern Vivian und Oliver zu unserem Bachelorexamen. Viv und Olly nannte sie sie. Ich hatte während der Collegezeit die meisten Ferien und manches Wochenende bei ihnen in Montauk verbracht, weil ich sonst nicht wusste, wohin. Das Haus war voller teurer Gegenstände, die ihnen im Grunde nichts bedeuteten – angestoßene Antiquitäten, vergessene technische Spielereien, stapelweise zerkratzte CDs –, und es war nichts Ungewöhnliches, hinter Sofakissen oder in der Küche zwischen Süßigkeiten aus fremden Ländern Zwanzigdollarscheine zu finden. Beim Abendessen unterhielten sie sich lauthals und mit vollem Mund und stritten liebevoll über Bücher und Kunst. Sie machten Witze, die ich nicht verstand, aber ich lernte, trotzdem mitzulachen. Ich trank mit ihnen Wein, selbst als ich erst neunzehn war und schon ein kleiner Schluck mich leichtsinnig und müde machte.

Mit dem Rund-um-die-Welt-Zweimonatsticket von Viv und Olly begannen meine Jahre des besessenen Reisens. Ich sah die Galápagos-Vögel, die Kirschblüten in Japan, die ägyptischen Pyramiden, die Katakomben, die burmesischen Schlangenpagoden und diesen unheimlichen neon-blaugrünen See in Neuseeland. Ich liebte das Abreisen, sogar die frühen Fünf-Uhr-Flüge, stille, durch trostloses Purpurlicht ratternde U-Bahnwaggons, morgengraue Flughäfen voll matter Menschen. Irgendwo habe ich mal gelesen, wer auf Reisen sei, lerne zuallererst, dass er nicht existiere – ich wollte nicht aufhören, nicht zu existieren.

Zu Hause wuchsen die Schulden immer weiter an. Zu allen Tageszeiten riefen mich Fremde an und behelligten mich damit, was ich ihnen zurückzuzahlen hätte. Ich bekam Briefe mit großen, fett gedruckten Ziffern, jede höher als die vorangegangene. Andere Umschläge enthielten neue Kreditkarten, neue Auswege, neue Reisen. Ich fragte mich nicht mehr, wo ich als Nächstes hinfliegen könnte, sondern nur noch, was passieren würde, wenn ich nie zurückkehrte. Aber ich kehrte immer zurück. Und jedes Mal, wenn das Flugzeug auf der Rollbahn aufsetzte, hatte ich dieses schreckliche Gefühl, dass die Reise, von der ich gerade wiederkam, gar nicht stattgefunden, dass ich Hunderte Dollar für etwas ausgegeben hatte, woran ich mich kaum erinnern konnte.

Mit den Rückenschmerzen fing es an, was mir noch harmlos genug erschien (hatte nicht jeder mal Rückenschmerzen?), auch wenn ich erst fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig war. Ich schob es auf verklumpte Hostelmatratzen und reiste weiter über meine Verhältnisse, wenn auch nicht mehr ganz so abenteuerlich, nachdem ein Muskelkrampfanfall derart schlimm gewesen war, dass ich in Abel Tasman eine Stunde lang am Wegesrand festgesessen hatte, bis mich eine japanische Wandergruppe abtransportierte.

Noch während ich ein paar Monate später mit dem ersten einer ganzen Plage von Magen-Darm-Infekten kämpfte, begannen die Kopfschmerzen, und mit ihnen kamen die Schmerzen am ganzen Körper, pulsierende, gewaltige Schmerzen, die mich innerlich auf die Streckbank zu legen schienen. Ich war schwanger mit ihnen, hatte Wehen, die nie endeten, sondern nur verebbten. Ich konnte nicht mehr reisen, weil ich all meine Zeit und mein Geld in verschiedene Versuche investieren musste, mich wieder lebendig zu fühlen – Überweisungen, Arzttermine, uneindeutige Ergebnisse, weitere Überweisungen, Rechnungen. Strenge Anrufe von Arzthelferinnen, die mir zuvor so freundlich erschienen waren – wann würde ich zahlen, wie würde ich zahlen, sei mir klar, dass bei versäumter Zahlung Mahngebühren anfielen? Dazu die Anrufe der Schuldeneintreiber, drei oder vier. Sie fragten mich, ob ich wisse, wie viel ich ihnen schuldete, oder sagten mir, wie viel es war – mehr, oft wesentlich mehr, als ich angenommen hatte. Anders als manche glaubten, könne man für seine Schulden ins Gefängnis kommen, belehrten sie mich. Ich sagte, das wundere mich, und sie erwiderten, so verwunderlich sei das ja nun nicht. Es ist Diebstahl, eine Form von Diebstahl. Ich schwieg. Ob ich mir denn gar keine Gedanken über solche Dinge wie Kreditwürdigkeit, Zukunftsplanung, Eigentumserwerb, Rente, Versorgung meiner Familie machte, worauf ich schnell und keineswegs freundlich sagte: Nein, daran habe ich bisher nicht gedacht, daran habe ich noch nie gedacht.

Tja, vielleicht sollten Sie mal damit anfangen.

Manchmal fragte ich mich, warum ich überhaupt noch ans Telefon ging, aber wahrscheinlich hatte ich immer die Hoffnung, dass jemand anders dran wäre, dass da draußen irgendeine andere Lebensweise auf mich wartete. Einer der Schuldeneintreiber sprach so schnell, dass mir beim Zuhören war, als würde mein Hinterkopf durch die Haare hindurch Hitze abgeben, ein anderer ganz leise und sanft, so dass ich glaubte, untergehen und ertrinken zu müssen, weil die Luft um mich herum immer dichter geworden war und mich in den Abgrund ziehen würde, wenn ich weiter atmete.

Es schien mir möglich – und ich weiß, wie absurd das ist –, dass die Nutzung meines Körpers, dieser einen Sache, die ich tatsächlich besaß, irgendwie gepfändet worden war.

Eine Zeit lang war Chandras beständige Fürsorge vielleicht das Einzige, was mich davor bewahrte, vollends den Verstand oder das Leben zu verlieren, und wenn ich auf jenes Jahr zurückblicke – in dem ich fast jede Nacht aufwachte, kaum atmen konnte und stundenlang mit offenem Mund, wie ein Wasserspeier, dalag – nein, ich möchte nicht darüber nachdenken, was aus mir geworden wäre, wenn sie sich nicht um mich gekümmert, mich nicht daran gehindert hätte, immer tiefer zu fallen. (Damit meine ich nicht, dass ich mich umbringen wollte – den Mut, der dafür nötig ist, habe ich nie gehabt –, aber manchmal war der Schmerz so unermesslich und groß, dass ich mich fragte, ob ich nicht versehentlich von mir selbst getötet wurde.)

Als Chandra mir gegen all die Schmerzen PAKing empfahl (und mir klar wurde, dass ich dafür einen zweiten Job brauchte), war ich wild entschlossen und zu allem bereit, egal wie teuer oder lächerlich, Hauptsache, es versprach Erleichterung. Sie war zur Expertin für Krankheit und Gesundheit geworden, dafür, wie man von dem einen Zustand zum anderen gelangte. Zwei Jahre davor war sie, als sie an einer Straßenecke stand, mit voller Wucht von einem Bus angefahren worden; seitdem lebte sie von der Entschädigungssumme und verwendete all ihre Zeit darauf, geheilt zu werden, und zwar komplett: von dem Beinbruch, der Handgelenkzerrung, dem zerschundenen Gesicht, der Angst vor Kantsteinen ebenso wie von den Dingen, die schon vorher da gewesen waren – Beklommenheit, Koffeinabhängigkeit, Pollenallergien, selbst diagnostizierte Candida, Desillusionierung, gestörte Intuition, Bindungsprobleme, Vertrauensprobleme sowie ihre Traumata und die daraus resultierenden Angewohnheiten. Sie hatte einen Herbalisten, einen Reiki-Meister, einen Rolfing-Lehrer, ging zur Sprachtherapie, zur Bewegungstherapie, zur Kunsttherapie und zur Gesprächstherapie.

Eine Zeit lang war sie häufig auf Retreats und Pilgerfahrten unterwegs, aber sie schrieb mir von überall Postkarten. Die bewahrte ich in meiner Handtasche auf und hoffte, durch das Betrachten der Bilder von Ozeanen und Tempeln einen Rest Seelenruhe abzubekommen, während ich wieder einmal in irgendeinem Wartezimmer saß und den Teil meines Körpers umklammerte, der mich aktuell gerade umbrachte. Zuerst schwor sie auf Ayahuasca, dann waren Reizabschirmungskammern das A und O, dann MDMA, Weizengras, die Entsäuerung des Körpers oder ein bestimmter Guru. Jeden Tag, sagte sie, werde eine weitere Schicht zwischen ihr und ihrem Selbst abgetragen. Sie sei zum ersten Mal in ihrem Leben ausgefüllt, und obwohl ich sie beneidete, konnte mein zynischeres Ich nicht umhin, sich zu fragen: womit?

Wenn sie in der Stadt war, kam sie jede Woche mit einem Arsenal an Heilmitteln vorbei – Kräutern, Pulvern, Ölen, bitteren Tinkturen, die so stark waren, dass ich sie nur tröpfchenweise einnehmen konnte. Sie verbrannte Salbei, psalmodierte und meditierte, und manchmal schlug sie auf einen kleinen Gong oder spielte auf einer Holzflöte, obwohl mir das enorm peinlich war. Ich wusste dann nie, wo ich hingucken und ob ich den Impuls, laut loszulachen, unterdrücken oder ihm freien Lauf lassen sollte – selbst meine Verlegenheit war mir peinlich. Warum psalmodierte ich nicht einfach mit und freundete mich mit ihrer bescheuerten Flöte oder dem kleinen Gong an? Ich konnte doch von Glück sagen, dass sie überhaupt da war, dass ich wenigstens einen Menschen, eine Frau, kannte, die mir nicht nur half, weil es ihr Job war, sondern weil sie mich geheilt sehen wollte.

An dem Tag, als sie aus Bali zurückkam, tauchte sie unangekündigt bei mir auf, schick, braun gebrannt, in weißes Leinen gehüllt.

Ich merke, dass du leidest, sagte sie.

Aus dem Mund jedes anderen hätte mich eine solche Feststellung, die keine Frage war, gestört, aber in meinem Fall hatte sie ja immer recht. Mit faszinierender, unheimlicher Gelassenheit ging sie durch meine Wohnung, als interessiere sie sich für nichts anderes mehr als die allmähliche Reinigung ihres Körpers, anderer Körper, der ganzen Welt. Sie hängte Schals über meinen Tischgrill, meinen Wecker, mein Telefon, flüsterte Mantras in jede Himmelsrichtung und breitete einen runden Teppich auf dem rissigen Wohnzimmerparkett aus, um sich in eleganter Meditationshaltung darauf niederzulassen. Ich versuchte, sie zu imitieren, aber meine Knie waren zu steif, und mein zuckender Fuß machte mir das Stillsitzen unmöglich, also gab ich auf und streckte mich in voller Seesternpose auf dem Boden aus.

Ich hatte fast alle meine Möbel auf dem Flohmarkt verkauft, damit ich die Miete zahlen konnte; auf dem Boden zu liegen, ohne irgendwas Besonderes zu tun, war also nichts Neues für mich. Wenn Chandra bei mir war, nannte ich es Meditation, aber mein Körper war von sich selbst so erschöpft, dass ich dabei immer halb einschlief. Als ich dieses Mal aufwachte, stand Chandra neben mir und schaute auf mich herab. Unsere Blicke trafen sich, und ich bemerkte, dass ihr Gesichtsausdruck sich leicht veränderte; wie, hätte ich nicht sagen können, ich spürte es nur. Unsere zwölfjährige Freundschaft machte das Schweigen zwischen uns leicht und nachgiebig, aber diese Vertrautheit war nicht erst mit der Zeit gekommen. Irgendwie war sie von Anfang an da gewesen, eine mysteriöse Nähe, uns angeboren wie ein Organ. Als ich jetzt dort auf dem Boden lag, wurde das wahre Gewicht unserer Liebe greifbar und trieb mir Tränen aus dem Kopf. Sie war alles, was ich hatte.

Nimmst du noch diese heilkundlichen Fischöle?

Ich nickte. Sie hockte sich hin, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und strich mir übers Haar.

Und das Geranium-Hanfpulver?

Im Porridge, wie du’s mir gesagt hast.

Gut, dann kümmern wir uns jetzt mal darum, dass du zunimmst. Sie wandte den Blick von dem Hemd ab, das ich inzwischen geworden war. Mein Appetit hatte sich schon vor langer Zeit verabschiedet; alles Weiche an mir war ihm gefolgt.

Zuerst dachten meine Kollegen, ich hätte mit Yoga angefangen, und lobten mich. Sie sagten, ich sähe gut aus, sei in Form gekommen, und wollten Motivationstipps und gesunde Rezepte von mir. Doch schon bald kriegte ich zu hören, dass ich nicht noch mehr abnehmen solle, ich sei genau richtig so, zu viel Yoga sei auch nicht gut, ich müsse Muskeln aufbauen, wieder zunehmen, mehr rotes Fleisch, Erdnussbutter oder vollfette Bio-Heumilch-Produkte essen. Irgendwer empfahl mir ernst seinen Schilddrüsenspezialisten, und Meg schlug vor, ich solle zur Hypnose gehen, um meine Essstörung zu kurieren, und als ich sagte, ich hätte keine Essstörung, ich sei einfach nur krank, sagte sie bloß: Ich weiß.

Nachdem sich meine vielen mittäglichen Arzttermine herumgesprochen hatten, taten alle so, als hätte ich gar keinen Körper, außer Joe Nevins, der mir mitten im Gespräch über eine fehlende Rechnung sagte, mein Gesicht sehe irgendwie anders aus, und auf meine Frage, wie er das meine, keine Antwort geben wollte oder konnte.

Einfach anders, sagte er nur und redete dann weiter über die Rechnung.

In gewisser Hinsicht gewöhnte ich mich daran, ein mit Problemen angefüllter Hautsack zu sein, denn einen Körper zu haben, gibt einem noch nicht das Recht, dass er auch richtig funktioniert. Einen Körper zu haben, scheint einem generell keine Rechte zu geben.

Du kriegst das schon in den Griff, sagte Chandra, während sie die neuen Kräuter und Wurzeln auspackte, die sie mir mitgebracht hatte. Der Schmerz ist nur dein Lehrer.

So sah sie die Welt – alles folgte einem Plan, unbewusst schufen wir uns unsere Probleme selbst, um jeden Krebs hatten wir gebeten, jede Verletzung verdient. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Mut hatte, daran zu glauben, und ob ich mir je verzeihen könnte, wenn ich akzeptierte, dass ich alles, was mir passiert war, selbst zu verantworten hatte. Aber Chandra schien diese Denkweise zu beruhigen. Wenn ihr Schmerz verdient war, dann galt das auch für alles Gute in ihrem Leben.

Eine solche Haltung hätte ich gut gebrauchen können. Ich hasste die Schmerzen in meinem Körper, kämpfte gegen sie an und verfluchte sie so sehr, dass ich inzwischen sogar gute Gefühle fürchtete – einen ruhigen Magen, einen entspannten Rücken, eine durchschlafene Nacht oder einen ganzen Tag ohne Tränen. Selbst Chandras Fürsorglichkeit machte mir mittlerweile Angst. Was, wenn sie verfliegen würde? Wenn Chandra einfach aufgeben würde und nicht mehr vorbeikäme?

Dass sie so gut zu mir war, als wären wir blutsverwandt oder schon ewig miteinander befreundet, hatte mich von Anfang an in Verlegenheit gebracht. Schließlich war ich nur zufällig in ihrem Leben aufgetaucht, teilte im College das Zimmer mit ihr, einer Halbwaise aus einem recht bildungsfernen Staat, die zu Hause unterrichtet worden war, und dennoch half sie mir stundenlang mit dem Papierkram für finanzielle Unterstützung und Studentendarlehen, den ich allein nicht durchschaute. Sie verzichtete auf ihren Schlaf, um mir zuzuhören, als ich das Für und Wider möglicher Hauptfächer abwog – Religion, Philosophie, Geschichte oder Englisch –, während ihre Entscheidung längst feststand: Hauptfach Theater, Nebenfach Marketing. Vor allem aber entschlüsselte sie für mich die Welt, erklärte mir alle Phänomene der Popkultur, die ich nicht kannte, akzeptierte meine ausweichenden Antworten auf ihre Frage, wie ich achtzehn hatte werden können, ohne je von Michael Jackson gehört zu haben. Ich schob es auf den Heimunterricht oder sagte: Wir waren arm. (Das Wort schien ihr eine Heidenangst zu machen: arm.) Einmal erwähnte ich, dass ich eine Zeit lang von meiner Tante großgezogen worden sei; da hörte sie auf, mir Fragen zu stellen. Menschen wie sie wurden nicht von Tanten großgezogen.

Nachdem Chandra und ich meditiert hatten, oder besser gesagt, nachdem sie meditiert und ich gemacht hatte, was immer ich da auf dem Boden machte, servierte sie mir Matetee im Flaschenkürbis und rohes Gemüse mit allergenfreier, veganer Paste aus gekeimten Kürbiskernen, die sie selbst zubereitet hatte, und sandte dabei nährende Vibes an meinen Astralkörper, wie sie mir erklärte. Die Paste schmeckte nach Gras und fühlte sich klumpig in meiner Kehle an.

Kürbiskerne absorbieren Gifte, sagte sie, als sie mir beim Essen zusah, so wie man jemanden beim Rückwärtseinparken beobachtet. Ich saß da, nahm Kürbiskerne in mich auf und stellte mir vor, wie sie ihrerseits meine Gifte in sich aufnahmen. Chandra maß mir an beiden Handgelenken den Puls und untersuchte meine Zunge. Sie schloss kurz die Augen und sagte mir dann, ihre Geistführer hätten ihr gerade geraten, mir zu raten, sobald wie möglich einen vollständigen PAK-Zyklus mit Ed, ihrem PAKer, zu absolvieren. Es habe etwas mit früheren oder künftigen, vielleicht sogar gegenwärtigen Leben zu tun, die Ed und ich in einer anderen Dimension zusammen führten. Sie sprach unbeirrt, als wären ihre Geistführer eine reale Gruppe von Menschen, ein Komitee aus Fleisch und Blut.

PAKing hat mein Leben verändert, sagte sie. Wenn sich nicht nur eine Tür öffnet … sondern … alle Türen in einem Haus? Das wirst du auch erleben. Meine Geistführer haben sich noch nie so klar geäußert. Das ist deine Zukunft. Du musst sie nur annehmen.

Ich war skeptisch, wenn Chandra von ihren Geistführern redete, die anscheinend immer irgendetwas mit ihr vorhatten, auch wenn sie es noch nicht genau absehen konnte. Einmal sagte sie, sie bereiteten sie auf unermesslichen Ruhm und Reichtum vor, ihr Unfall sei Teil der Stärkungskur für dieses großartige künftige Leben gewesen, und irgendwann werde sie eine eigene Talkshow haben.

Ich wusste gar nicht, dass du eine Talkshow haben möchtest, sagte ich, aber sie lächelte nur.

Es geht nicht darum, was ich möchte. Das Schicksal ist über unsere Wünsche erhaben.

Ich wollte gern glauben, dass sie wirklich etwas vom Schicksal verstand oder auf irgendeine Art in die Zukunft schauen konnte, einfach, weil sie daran zu glauben schien und ja auch an mich glaubte. Aber andererseits wollte ich sie nicht an den Irrglauben verlieren, dass es einen Code für das Leben gäbe, den man knacken könnte, eine ideale Art zu leben.

Trotzdem, ich vertraute ihr. Man könnte sagen, dass ich keine andere Wahl hatte, und vielleicht stimmt das auch, aber vor allem – das verstehe ich jetzt –, vor allem liebte ich sie, liebte sie auf jene seltene, nicht besitzergreifende und gewährende Art, wie Menschen wohl immer zu lieben versuchen, es aber nie schaffen, also nahm ich den Metallstrohhalm zwischen die Lippen, trank den Rest von meinem Matetee, schaute Chandra in ihre tiefengeheilten, spirituell geöffneten Augen und bat sie um Eds Nummer.

Drei

Ich wachte auf, als wäre ich geohrfeigt worden. Meine Halskrause war ab. Ich lag auf dem Rücken. Ed stand neben dem Massagetisch und schaute auf mich herunter.

Wie lange habe ich geschlafen?

Er strich sich eine wuschelige Haarsträhne aus den Augen, die sofort wieder zurückfiel.

Nur ein paar Tage.

Eine ganze Weile überlegte ich, ob ein paar Tage Schlafen zum Kleingedruckten gehörte, das ich nicht gelesen hatte. Ich konnte mich kaum daran erinnern, in die Praxis gekommen zu sein und etwas unterschrieben zu haben, ja nicht mal daran, wie die Therapiestunde begonnen hatte – nur an das leere, komplett weiße Zimmer, keine Musik, kein Empfangstresen, zwei dicht beieinanderstehende weiße Stühle in einer Ecke wie ängstlich am Boden kauernde Zwillinge.

Das war ein Scherz, sagte er, du hast ein paar Minuten geschlafen. Das passiert oft während dieser ersten Analyse. Ich hoffe, Chandra hat dich vorgewarnt, dass meine Deutungen eine starke Wirkkraft entfalten.

Ich sagte, das habe sie, dabei wusste ich noch immer so gut wie nichts darüber, was PAKing war und wie es funktionierte. Vielleicht, dachte ich besorgt, diente PAKing diesem Mann nur als Vorwand, als eine Methode, Frauen dazu zu bringen, dass sie sich bis auf die Unterwäsche auszogen und in seiner Praxis einschliefen. Seit ich so absurd dünn geworden war, hatte ich bemerkt, dass mich gewisse Männer, Typ pädophiler Vampir, mit einem gewissen Blick bedachten. (Wie leicht wäre es, mich zu erobern, sich über mich erhaben zu fühlen.) Ed schien nicht zu dieser Sorte Mann zu gehören, obwohl, wenn ich an die Legionen halb bewusstloser, verzweifelter Frauen dachte, die mir hier wahrscheinlich vorausgegangen waren, ließ sich leicht vorstellen, wie er ihre Füße befummelte, während er vorgab, ihre Aura zu lesen, oder vielleicht auch nur ihre unbekleideten Körper begaffte und dabei nutzlos gute Gedanken in ihre Richtung schickte, oder schlimmer noch, in die bloße Hand abspritzte, oder viel schlimmer noch – alles Mögliche tat, aber gesund zu werden war wichtiger für mich, als mich vor jemandes hypothetischer Abartigkeit zu schützen. Und was, wenn meine Skepsis nun bereits gegen mich arbeitete, wenn ich mir damit nur verscherzte, was immer Ed in einer für mich noch nicht erkennbaren Dimension ganz legitim tun oder heilen könnte?

Wie geht es ihr übrigens?

Wem?

Chandra – wie geht es ihr?

Ach so. Gut, glaube ich.

Natürlich, sagte er, und so, wie er nickte und lächelte, schien mir, dass er sehr viel mehr über Chandra wusste als ich.

Ich berührte meinen Hals und spürte, dass der pochende Schmerz nur noch ein warmes Kribbeln war.

Die Krause wirst du nicht mehr brauchen. Der Teil war leicht, aber die Analyse hat mehrere Blockaden aufgedeckt, deren Auflösung sehr viel länger dauern wird, also … ich muss dich fragen, Mary – bist du zu dieser Arbeit wirklich bereit?

Ich glaube sch-

Du brauchst dich nicht in Worten auszudrücken, unterbrach er mich. Ich spreche mit deiner Aura … Okay?

Wir schwiegen lange, hatten die Augen dabei aber offen. Ich lag nach wie vor einfach nur da. Er stand nach wie vor neben mir. Wenn er mit meiner Aura sprechen wollte, müsste er doch konzentriert wirken, dachte ich, anstatt nur so vor sich hin zu starren, als wartete er auf einen Bus.

Okay?, fragte er noch einmal. Ist das okay?

Jetzt schaute er auf meine Knie. Er hob eine Hand, als hätte er eine Frage, und ließ die andere Hand über meinem Kopf kreisen.

Okay?

Ich war mir nicht sicher, ob ich antworten sollte, hielt es eher für nicht angebracht und konnte aus irgendeinem Grund doch nicht anders.

Ist das –

Schsch …

Die Hand über meinem Gesicht zitterte leicht.

Ich warte, sagte er, also warteten wir beide eine Weile, vielleicht war es eine Minute, vielleicht waren es fünf, bis er schließlich die Hände sinken ließ.

Dies wird einige zusätzliche Anstrengungen erfordern, aha.

Er kniff sich in die Nasenwurzel, als hätte sie die Funktion, etwas in ihm an- oder auszuschalten. Mein Fuß hatte zum ersten Mal seit einer Woche aufgehört zu zucken, und die Ansammlung schmerzhafter Knoten, die am Morgen an meinem rechten Arm aufgetaucht war, hatte sich aufgelöst und in meinen Körper zurückgezogen. Ed saß am anderen Ende des Zimmers auf etwas Hängemattenähnlichem. Ich wusste nicht, ob ich mich schon bewegen durfte oder nicht, und auch nicht, ob ich ihn ansehen oder ansprechen sollte. Ich schloss die Augen.

Also, Mary … Hier fängt die ernsthafte Arbeit an. Chandra hat dich über die Ernsthaftigkeit dieser Arbeit doch aufgeklärt, oder? Über die Konzentration und Achtsamkeit, die du zu gleichen Teilen hierfür aufbringen musst, damit wir Fortschritte machen?

Ich sagte erst einmal nichts, unsicher, ob er noch immer mit meiner Aura sprach.

Jetzt darfst du dich in Worten ausdrücken, Mary. Ist dir klar, wie zutiefst ernsthaft diese Arbeit ist?

Ja, sagte ich, aber ich weiß jetzt, dass es mir damals nicht klar war und vielleicht nie klar geworden ist (ernsthaft im Gegensatz wozu?). Klar war mir nur, dass Ed auf seine Art schon jetzt Schmerzen in mir gelindert hatte, die gegen Tausende Dollar teure Behandlungen resistent gewesen waren, wobei ich nicht sicher sein konnte, ob Ed dafür auf ähnliche Weise verantwortlich war, wie Penizillin oder Zuckertabletten es sein können. Es gab keine Erklärung dafür, was er mit mir gemacht hatte – ich fühlte mich fast normal. Ich wappnete mich für ein neues Symptom oder die Wiederkehr eines alten, doch nichts geschah.

Hör zu – und ich sage das nicht, um dich zu erschrecken –PAKing wird deine Lebensweise von Grund auf verändern – deine Beziehungen zu anderen, den Begriff, den du dir von dir selbst machst – alles. Wenn du dich entscheidest, einen ganzen Zyklus zu absolvieren, werden dein Leben und dein Körper nie mehr dieselben sein.

Eine Weile lauschten wir dem weißen Rauschen der Geräuschgeneratoren. Ich dachte, wie sehr ich mir wünschte, dass sich alles in meinem Leben veränderte.

Ist dir das Konzept des Pneumas geläufig?

Nicht so richtig.

Nicht so richtig – inwiefern?

Ed schien nie darauf aus, mein Vertrauen zu gewinnen, was dazu führte, dass es wuchs. Sein Ton war schroff und flapsig zugleich. Er trug jeden Tag dieselben schlabberigen Hanfhosen und -tuniken. Manchmal hatte er ascheähnliche Flecken im Gesicht, die nur halb unbeabsichtigt wirkten.

Ich meine nur, dass mir Pneuma nicht viel sagt. Es hat irgendetwas mit der Seele zu tun, glaube ich …

Die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen ist »Atem«, aber als Konzept meiner Heiltätigkeit bezieht es sich auf die schöpferische Lebenskraft in jedem von uns. Kinästhesie ist ebenfalls griechischen Ursprungs und bedeutet, grob gesagt, »Wahrnehmung von Bewegung« – eine Frage, Mary. Bewegst du dich gerade?

Ich lag immer noch reglos auf dem gepolsterten Tisch, also sagte ich Nein, obwohl ich wusste, dass er nur gefragt hatte, um mich korrigieren zu können.

Falsch. Dein Körper bewegt sich im Moment sogar ganz enorm, weit mehr als nötig. Folgendes ist mit dir geschehen: Dein Pneuma befindet sich in einem Zustand von Chaos und Stress, der es in ständige Bewegung versetzt, aber die Wahrnehmung dieses Chaos ist aus Angst unterdrückt worden. Besagte unkontrollierte pneumatische Unruhe besteht schon so lange, dass sie sich in die physische Sprache deines Körpers übersetzt hat. Daher all deine Symptome – dein Pneuma versucht, sowohl ignoriert als auch behandelt zu werden. Es ruft um Hilfe und will gleichzeitig verhindern, dass es diese Hilfe bekommt.

Es war erleichternd, jemanden erklären zu hören, was mit mir nicht stimmte, was passiert war. Niemand sonst, keiner der Ärzte in ihren weißen Kitteln oder ihrer OP-Kleidung – manchmal komisch gemustert, wenn einer versuchte, an einem Ort der zerschmetterten Knochen und toten Herzen Humor zu zeigen –, keiner dieser Leute hatte auch nur den Versuch gemacht, mir etwas zu erklären. Alles, was sie sagen konnten, war, dass sich nichts mit Gewissheit sagen lasse, Körper seien ein Mysterium und selbst Bluttests, Ultraschalluntersuchungen, Röntgenaufnahmen, MRTs nur zaghafte Vermutungen. Ganze Krankenhäuser zuckten mit den Schultern.

Aber nun gab Ed mir eine Antwort: das Pneuma. Es spielte keine Rolle, ob ich an das Pneuma glaubte oder nicht. Es spielte nicht mal eine Rolle, ob er recht hatte. Es war eine Erklärung. Eine Geschichte.

Die Wurzel deiner Symptome ist tief in dein nichtkörperliches Selbst eingebettet und damit verflochten, kein Wunder also, dass die westliche Medizin dir nicht geholfen hat.

Eds Haarsträhne bewegte sich im Luftzug. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass die Zeit sich irgendwie gebogen hatte, dass sie diagonal auf mich zukam. Meine Kopfhaut war schweißnass.

Dein energetischer Körper sagt mir, du wünschst dir so dringend, geheilt zu werden, dass du deiner Heilung damit selbst im Weg stehst. Ist dir das bewusst?

Komisch, oder? Anscheinend kann man sich etwas so sehr wünschen, dass man alles daransetzt, es nicht zu bekommen. Rasend komisch.

Das könnte stimmen, sagte ich.

Er nickte langsam und vielsagend, die Moral zu seiner eigenen Geschichte. Alle deine Probleme und alle Antworten auf diese Probleme existieren innerhalb der Grenzen deines Körpers.

Mir war, als müsste ich gleich weinen, auch wenn ich nicht wusste, warum. Hinter meinen Augen summte es, aber es kam nichts heraus. Ed nahm einen hellgrauen Stein, trat wieder an die Liege und hielt ihn ein paar Zentimeter über meinen Nasenrücken.

Ich habe ein deionisiertes Feld um deinen Körper herum erzeugt, eine temporäre Schiene für deine Aura, das verschafft deinem Pneuma ein wenig Erleichterung, aber um eine bleibende Lösung herbeizuführen, müssen wir in den nächsten paar Monaten, vielleicht auch länger, einen ganzen PAKing-Zyklus durchlaufen. Das ist teuer, ich weiß, aber ich muss dich auf jede PAKing-Sitzung einen ganzen Tag lang vorbereiten, und du brauchst mindestens zwei Tage, um dich davon zu erholen. Auf meiner Warteliste stehen ein Dutzend Menschen, aber wegen Chandras Empfehlung und deiner Verfassung würde ich schon nächste Woche mit dir anfangen.

Er bewegte den Stein in einem Bogen über meinem Gesicht und berührte mich leicht an beiden Schläfen. Irgendwie war klar, dass ich nichts zu sagen oder zu tun brauchte.

Aber fürs Erste führe ich jetzt einige drastischere energetische Manöver durch, um die erwähnten Blockaden zu lösen. Du kannst uns dabei helfen, indem du versuchst, dich vollkommen zu entspannen, auf deinen energetischen Körper zu achten und dich meiner Führung anzuvertrauen.

Er legte mir den Stein aufs Brustbein und schloss die Augen, breitete dann die Hände aus und hielt sie über meinen Brustkorb. Ich versuchte, meinen Kopf zu leeren, und vielleicht gelang mir das, oder ihm gelang es, jedenfalls verschwamm der Rest der Behandlung, und ich erinnere mich nur noch an den langsamen Spaziergang nach Hause, bei dem mein Fuß nicht zuckte und die Halskrause halb aus meiner Tasche schaute. Ich hatte weder Schmerzen noch keine Schmerzen. Mir war, als packten mich mehrere starke Hände an den Beinen und am Rücken und drückten die Muskeln dichter an meine Knochen.

Nicht kämpfen. Nicht fliegen, sagte Ed, als ich ging. Schwebe einfach.

Vier

Wegen meiner ersten PAKing-Behandlung war ich fast drei Stunden nicht im Büro gewesen, also blieb ich am Abend länger – um noch ein paar Rechnungen abzuarbeiten, wie ich Meg mitteilte, als sie ging, aber in Wirklichkeit wollte ich mich von meinem Arbeitscomputer aus für einen zweiten Job bewerben, der mir das Geld für einen kompletten PAKing-Zyklus verschaffen sollte. Es gab keine Rechnungen abzuarbeiten, ich musste nur ein paar Stunden im Büro absitzen und so tun, als machte ich mich nützlich. Reisebüros starben aus, das wussten wir, und Universal Travel hatte sich, seit ich dort arbeitete, immer weiter verkleinert. Ich verfügte über keine der Kompetenzen, die für eine Buchhalterin von Vorteil gewesen wären, aber das Gehalt war zu gering, um jemand besser Qualifizierten für den Job zu interessieren. Ich hatte mich dort vor allem beworben, weil ich hoffte, in den Genuss kostenloser Reisen zu kommen, doch selbst die Mitarbeiter, die Reisen vermittelten, bekamen nur leichte Rabatte, und ich wurde nie eine von ihnen – Sie sind nicht der Typ, hieß es. Ich blieb im hinteren Teil des Büros mit den fluoreszierenden Lichtern und niedrigen Decken, schickte E-Mails an Leute, die uns Geld schuldeten, und an Leute, denen wir welches schuldeten. Schecks. Rechnungen. E-Mails. Das war mein ganzes Aufgabengebiet.

An diesem Abend jedoch verschickte ich nur Anschreiben und Lebensläufe an willkürlich aus der Craigslist herausgesuchte Adressen, und bewarb mich damit um diverse Abendjobs – Jobs im Gaststättengewerbe, Zeitarbeitsstellen, verschiedene Arten von Assistenz. Etwas widerstrebend antwortete ich außerdem auf eine Annonce, die ich an der Pinnwand eines Reformhauses entdeckt hatte.

Die Annonce listete einige Qualifikationen auf (Ivy-Abschluss, Erste-Hilfe-Kurs, stabile psychische Gesundheit, außenpolitische Kenntnisse, hohe Kommunikationsfähigkeit und vor allem: Diskretion), die Einzelheiten des Jobs könnten jedoch nicht genauer beschrieben werden, und zwar NICHT aus Legalitätsgründen, sondern weil die Beschreibung der konkreten Aufgaben aller Wahrscheinlichkeit nach Kandidaten anlocken würde, die für diesen hoch bezahlten, wenig zeitaufwendigen Job (Wochenenden und hier und da mal ein Abend) kaum geeignet wären, zumal es sich nicht um einen Job im eigentlichen Sinne handele, sondern eher um eine einkommensschaffende Erfahrung.

Wenige Minuten später kam eine automatische Antwort –

Wir möchten die Positionen sehr bald besetzen. Bitte bearbeiten und beantworten Sie alles so schnell und gründlich wie möglich.

Mit besten Grüßen,

Matheson.

– im Anhang die kompletten Bewerbungsformulare, ein Persönlichkeitstest, ein Schriftprobenblatt, das ich ausdrucken, ausfüllen und einscannen sollte, ein Radixhoroskop-Fragebogen, die Einverständniserklärung für eine Hintergrundprüfung und zehn kurze Essayfragen zu unterschiedlichen Themen.

Ich machte mich sofort an die Arbeit und war zwei Stunden später fertig. Was würde eine Hintergrundprüfung über mich zutage fördern, meine Schulden? Dass ich ein medizinisches Rätsel darstellte? Die Orte, an denen mein Reisepass gewesen war? (Wenn jemand eine wirklich zutreffende Hintergrundprüfung über mich machen könnte, würde er nichts finden außer Merle und Mutter in jener staubigen braunen Hütte. Den Namen Junia. Die marineblaue Bibel, die ich dort gelassen hatte. Aber das würde nie passieren.)

Wenn ich je selbst eine Hintergrundprüfung über mich vornehmen könnte, wüsste ich genau, was ich damit machen würde, dachte ich, als ich später durch das verwaiste Büro ging, dunkel bis auf einen allein tanzenden Bildschirmschoner. Ich würde sie nicht mal lesen, sie nur an einen geweihten Ort bringen und in Brand setzen.

Am nächsten Abend lag ich bäuchlings auf dem Wohnzimmerboden und versuchte, ein Buch zu lesen, als das Telefon klingelte. Es war Viertel nach elf. Außer Chandra rief mich niemand mehr an, und ich wusste, dass sie aus Prinzip nach Einbruch der Dämmerung keine technischen Geräte benutzte.

Könnte ich bitte mit Mary Parsons sprechen?

Am Apparat.

Halloooo, Mary. Verzeihen Sie, dass ich so spät noch anrufe. Wie geht es Ihnen heute Abend?

Ähm – gut … Aber in Wirklichkeit fühlte ich mich sonderbar und lebendig, weil mein Körper noch immer pulsierte, seit Ed irgendetwas damit gemacht hatte.

Schön, schön. Mein Name ist Melissa, und ich habe Ihre Bewerbung gelesen – Sie haben doch auf einen unserer Aushänge geantwortet? Also, wir würden Sie gern einladen, morgen zum Vorstellungsgespräch zu kommen.

Sie sagte, ich solle Punkt 1 Uhr 23 vor Suite 704 in einem Gebäude am Union Square erscheinen, und es war Punkt 1 Uhr 23, als die Tür zu Suite 704 aufging, bevor ich überhaupt die Chance gehabt hatte zu klingeln. Eine blasse, blonde junge Frau kam heraus, leicht gebeugt und blicklos, als hätte sie gerade etwas Unaussprechliches erlitten. Melissa und Matheson schüttelten mir schlaff die Hand – Hi, hallo, Mary, schön, Sie kennenzulernen, wie geht es Ihnen, danke für Ihr pünktliches Erscheinen –, und da sie gleichzeitig redeten, wusste ich nicht, wie ich antworten sollte.

Natürlich, sagte ich, besorgt, meine Nervosität könnte wie Herablassung wirken.

Entschuldigen Sie bitte die Beleuchtung, sagte Matheson und schnipste sich eine überfrisierte Strähne aus der Stirn, aber ich fürchte, wir müssen uns damit arrangieren.

Suite 704 war ein anonymes Sitzungszimmer mit einem auf Hochglanz polierten Tisch aus unechtem Holz, der fast den ganzen Raum ausfüllte. Ich setzte mich, während Matheson etwas auf seinem Klemmbrett notierte und dabei ein- und ausatmete wie ein Yogalehrer. Der asymmetrische Schnitt von Melissas Kragen unterhalb der extremen Symmetrie ihres Gesichts löste ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl in mir aus. Sie schaute mich an, als wäre sie unfähig, ihre Geringschätzung gegenüber jedem zu verhehlen, der nicht genauso adrett und gepflegt aussah wie sie. Ich schwankte, ob sie eine sehr junge, als ältere getarnte Frau war oder umgekehrt. Matheson war gekleidet wie der Geschäftsführer eines modernen Unternehmens, hatte aber noch das Gesicht eines Teenager-Models – verdächtig reine Haut, hohe Wangenknochen, einen kantigen Kiefer, attraktiv auf eine surreale, beunruhigende Art.

Haben Sie einen oder mehrere Lieblingsprominente?, fragte er mich.

Nein, sagte ich.

Und wissen Sie etwas vom Privatleben einiger Prominenter?

Dass sie ein Privatleben haben?

Ähm – nein. Verfolgen Sie die Nachrichten über das Leben bestimmter Prominenter?

Über Websites oder Zeitschriften?, schaltete Melissa sich ein.

Nein. Ich, ähm, lese gar keine Zeitschriften.

Melissa kniff kurz die Augen zu und blickte dann auf ihre Notizen. Welche Filme oder Fernsehshows schauen Sie? Gibt es Schauspieler oder Regisseure, die Ihnen besonders gut gefallen?