Über Jan Steinbach

Jan Steinbach, geboren 1973, ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschen Schriftstellers, der bei einer Reise an die Ostsee seine Leidenschaft für Lübeck und Travemünde entdeckte. Inspiriert von Marzipan und Weihnachtszauber entstand die Idee für diese weihnachtliche Liebesgeschichte.

Bei Rütten & Loening erschienen zuletzt »Willems letzte Reise« und »Das Café der kleinen Kostbarkeiten«.

Informationen zum Buch

Weihnachten am Meer

Widerwillig reist Karen zu ihrer Mutter an die Nordsee. Wegen ihrer schwierigen Familiengeschichte ist der jährliche Pflichtbesuch in Husum das Einzige, was die beiden verbindet. Dann begegnet Karen ihrem Jugendfreund Bent, für den sie schon damals mehr empfand, als sie sich eingestehen mochte. Bent will in der alten Heimat einen Gasthof am Meer eröffnen. Beim Kochen im Strandhaus, über den Aromen von Sternanis und Piment, kommen er und Karen einander näher. Doch erst die Magie der Weihnachtsnacht lässt Karen sich mit ihrer Mutter versöhnen und dieses kostbare neue Gefühl zu Bent zulassen.

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Jan Steinbach

Das Strandhaus
der kleinen
Kostbarkeiten

Roman

Inhaltsübersicht

Über Jan Steinbach

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Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Winterliche Rezepte des Nordens

Apfelbrot

Nordfriesische Fischsuppe

Husumer Krabbensuppe

Salzwiesenlamm mit eingelegten Birnen und Baby-Kale

Gefüllte Schweinefilets mit Honig-Chili-Rosenkohl und Walnuss-Kartoffelpüree

Dank

Impressum

Kapitel eins

Ratternd und schaukelnd bewegte sich die U-Bahn eine gefühlte Armeslänge vor ihrem Fenster über die Hochbahntrasse. Hinter regennassen Scheiben hockten müde Pendler, die auf ihre Smartphones starrten, auf Zeitungen oder einfach ins Leere. Flackerndes Neonlicht zog vorbei, das Signalgelb der Berliner Verkehrsbetriebe, dann war die U-Bahn verschwunden, und der blinkende Weihnachtsmann im grauen Fenster gegenüber trat von Neuem ins Blickfeld.

»Es wird schon wieder dunkel«, sagte Karen missmutig. »Dabei war es gar nicht richtig hell. Was für ein deprimierendes Wetter.«

Unten huschten Menschen mit eingezogenen Schultern über den Bürgersteig. Versuchten, sich vor dem kalten Regen in Sicherheit zu bringen. Autos und Straßenbahnen verstopften die Straßen, und in den Schaufenstern der Ramschläden leuchtete billige Weihnachtsdekoration.

»Heut ist eben Mittwinter«, erwiderte Gaby, ihre Sekretärin, die es sich mit Ingwertee und brennendem Adventsgesteck hinter ihrem Schreibtisch gemütlich gemacht hatte. »Du weißt schon, der einundzwanzigste Dezember. Der kürzeste Tag, die längste Nacht.« Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Spürst du es nicht, Karen? Heute liegt Magie in der Luft.«

Unten fiel Karen ein dürres Mädchen ins Auge, dem ein halb verhungerter Hund hinterherlief. Der Hund ging plötzlich in die Hocke, machte mitten auf dem Gehweg einen Haufen und trottete unbeirrt weiter. Ein älterer Mann bemerkte es und brüllte dem Mädchen mit hochrotem Kopf etwas hinterher, doch die zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger, ohne sich auch nur umzudrehen. Im Gewühl waren beide schnell verschwunden, zurück blieb nur der Hundehaufen.

»Ja, Magie«, kommentierte Karen.

Das Telefon klingelte. Sie wandte sich vom Fenster ab, doch Gaby war bereits am Apparat.

»Literaturagentur Peters«, flötete sie, und wie jedes Mal, wenn sie den Hörer nahm, setzte sie dabei ein Bühnenlächeln auf. Rückte ihr grellrotes Brillengestell zurecht, streckte den Rücken durch und nahm so schwungvoll den Hörer, wie es ihr massiger Körper nur zuließ. Alles wie gemacht für den ganz großen Auftritt. Und so klang dann auch ihre Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«

Karen lächelte. Das trübe, trostlose Wetter konnte Gaby nichts anhaben. Sie war einfach unerschütterlich. An Tagen wie diesen wünschte Karen, sie hätte ein bisschen von dem sonnigen Gemüt ihrer Mitarbeiterin.

Sie ließ den Blick erneut über die triste Stadtlandschaft gleiten. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass Weihnachten vor der Tür stand. Und dass sie wie jedes Jahr das Weihnachtsfest an einem Ort feiern würde, an dem sie eigentlich nicht sein wollte.

»Oh, das tut mir leid«, hörte sie Gaby mit Bedauern in der Stimme sagen. »Aber Karen ist nicht da. Da haben Sie wirklich Pech gehabt.«

Überrascht wollte sie widersprechen, doch Gaby legte den Finger an die Lippen. Sie formte stumm ein Wort: Sanna.

Das bedeutete, Sanna Wolff war am anderen Ende. Ihre Bestsellerautorin. Gaby wusste offenbar, dass Karens Nerven an diesem Dezembertag ein wenig Schonung brauchten. Sie wollte sie vor ihrer anstrengendsten Klientin schützen.

»Sie ist gerade rausgegangen, um schnell was zu essen«, log sie schamlos. »Ja, ich weiß. Hier war den ganzen Vormittag der Teufel los. Und gleich hat sie schon wieder einen Termin. Wirklich zu dumm. Ich fürchte, heute wird das nichts mehr, Frau Wolff.«

Gaby zwinkerte triumphierend. Karen spürte ihr schlechtes Gewissen. Eigentlich mochte sie solche Spielchen nicht. Sie wollte ehrlich mit den Leuten umgehen, auch wenn das Kraft kostete. Sie wollte sich nicht verleugnen lassen.

Doch heute fühlte sie sich tatsächlich nicht danach, sich Sannas Tiraden über ihre Problemchen anzuhören. Also verhielt sie sich ruhig, auch wenn ihr das unangenehm war.

Wie es aussah, musste Gaby jetzt herhalten, denn das Gespräch hörte gar nicht auf. Doch gelang es Gaby problemlos, mitfühlende Seufzer und empörte Bekräftigungen auszustoßen und gleichzeitig mit den Augen zu rollen und Blumen an den Rand einer Zeitung zu kritzeln.

Karen setzte sich mit leichtem Unbehagen an ihren Schreibtisch. Schweigend ging sie ihre E-Mails durch. Es gab Neuigkeiten aus Husum: Ihre Hotelbuchung war erfolgreich, die Suite stand bereit. Wir freuen uns, Sie an der Nordsee empfangen zu dürfen. Dazu Informationen zu Restaurants und Sehenswürdigkeiten, als wäre sie eine Touristin. Nun stand der Reise nichts mehr im Wege.

Husum. Die Stadt ihrer Kindheit. Karen konnte nicht behaupten, dass sie sich darauf freute. Wie jedes Jahr Weihnachten würde sie dort ihre Mutter besuchen. Natürlich war ihr klar, dass viele Mutter-Tochter-Verhältnisse kompliziert waren. Doch das, was zwischen ihr und Marit war, hatte seine besonderen Untiefen. Dass Marit trotz aller Probleme gern so tat, als wären sie ein Herz und eine Seele, als passte kein Blatt Papier zwischen Mutter und Tochter, machte es nicht unbedingt einfacher.

Es würde wie jedes Jahr ablaufen: Karen würde im Hotel Quartier beziehen, ihre Mutter besuchen, Geschenke abwerfen, viel Süßes essen und sich dabei bemühen, »heile Familie« zu spielen, um alle Konflikte zu umschiffen. Sie würden ein paar anstrengende Stunden miteinander verbringen, wobei die oberste, natürlich unausgesprochene Regel lautete, zu vermeiden, über das zu reden, was früher war. Über das, was ihre Familie auseinandergebracht hatte.

Wenn Weihnachten schließlich vorbei wäre, würde Karen tief durchatmen, zurück nach Berlin fahren und bedauern, dass sie wieder mal kein richtiges Weihnachten gefeiert hatte. Eines, wie man es sich vorstellte: mit brennendem Kamin und Kerzenlicht, mit Duft von Zimt und Kardamom, mit gutem Essen und im Kreis der Menschen, die man liebte. Und tief im Innern würde sie bedauern, dass Husum und die Kate ihrer Mutter einfach nicht der Ort dafür sein konnten.

Am Tisch gegenüber war Gaby immer noch am Telefon.

»Sobald sie wieder im Büro ist, sage ich ihr Bescheid«, flötete sie. »Dann ruft sie Sie zurück, Frau Wolff. – Ja, ich verstehe. Es tut mir sehr leid. – Natürlich. – Rufen Sie jederzeit gern wieder an. Wir freuen uns immer, von Ihnen zu hören.«

Sie legte auf, kicherte und nahm sich zur Belohnung einen Lebkuchen von dem Plätzchenteller, der für Besucher gedacht war.

Karen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Danke, Gaby«, sagte sie. »Auch wenn ich solche Schwindeleien eigentlich nicht besonders mag.«

»Ach, Unsinn. Das war Notwehr. Dafür kommen wir nicht ins Fegefeuer. Vertrau mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

Karen ließ sich im Schreibtischstuhl zurücksinken. Sie schnappte sich ebenfalls einen Lebkuchen und kaute lustlos darauf herum.

»Du siehst nicht so aus, als würdest du dich auf die Weihnachtsferien freuen«, kommentierte Gaby.

»Ach, ich hab nur gerade die Buchungsbestätigung vom Hotel bekommen.«

»Und das hat dich daran erinnert, wie wenig Lust du auf deine Reise hast?«

Karen hob missmutig die Schultern.

»Doch hängt mein ganzes Herz an dir, Du graue Stadt am Meer …«, begann Gaby zu rezitieren. Das berühmte Gedicht von Theodor Storm über Husum, das dort jedes Kind kannte.

»Ja, ja. Die graue Stadt am Meer«, stöhnte Karen auf. »So grau ist es gar nicht. Meistens jedenfalls nicht.«

»Der Jugend Zauber für und für«, fuhr Gaby fort. »Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, Du graue Stadt am Meer.«

Dann strahlte sie übers ganze Gesicht und verbeugte sich würdevoll vor nicht vorhandenem Publikum.

»Was machst du eigentlich Weihnachten?«, fragte Karen.

»Na ja …« Sie grinste verschwörerisch. »Das mit Tom, das scheint was Ernstes zu werden. Wir haben jedenfalls Pläne für die Feiertage.«

»Ich verstehe«, lachte Karen. »Keine Einzelheiten bitte.«

Sie konnte immer nur staunen, wie rege das Liebesleben ihrer Kollegin war.

»Wir werden die Wohnung drei Tage lang nicht verlassen«, kicherte Gaby. »Es ist alles vorbereitet. Warum bleibst du nicht auch einfach in Berlin, wenn du keine Lust auf deine graue Stadt am Meer hast? Mach’s dir doch hier gemütlich.«

Karen seufzte. Als wenn das möglich wäre.

»Ich meine es ernst, Karen. Du musst dir mal Zeit für dich nehmen. Runterkommen und entspannen. Und wenn du mich fragst, könntest du auch mal wieder einen Mann im Leben gebrauchen.«

Oje, das wurde ja immer besser. »Bitte, Gaby! Was das betrifft, habe ich wirklich keinen Bedarf.«

Ihre letzten Erfahrungen in dieser Richtung hatten ihr nur gezeigt, dass sie allein besser zurechtkam. Sie brauchte keinen Mann, um sich wohl zu fühlen.

»Aber was den Rest angeht, hast du ja recht«, räumte sie ein. »Ich sollte mir mehr Zeit für mich nehmen. Einfach mal ein paar Tage auf dem Sofa verbringen. In Ruhe die ganzen Manuskripte lesen, die sich hier aufgestaut haben und …«

»Nein! Genau das sollst du nicht tun.«

»Wie bitte?«

»Ich weiß, es ist schwierig, wenn man selbständig ist. Trotzdem. Du musst wirklich mal entspannen. Die Arbeit ganz liegenlassen. Lesen ist perfekt zum Entspannen. Aber wenn, dann lies keine Manuskripte für die Arbeit, sondern ein paar tolle Romane, die du wirklich lesen möchtest.«

Karen schwieg. Sie wusste selbst, dass sie zu viel arbeitete. Es war eben nicht einfach, sich abzugrenzen, wenn einem der Laden gehörte.

»Vielleicht nehme ich mir im Januar ein paar Tage frei.«

»Unsinn. Da wird doch eh nichts draus.«

Wenn sie einen Blick in den Terminkalender für Januar warf, stimmte das wahrscheinlich. Doch sie konnte ihrer Mutter nicht absagen. Der Weihnachtsbesuch war schließlich Tradition.

»Du hast so stressige Monate hinter dir, Karen. Mach das einfach. Nimm dir Weihnachten frei. Tu nur, wozu du Lust hast, und sonst nichts.«

Die Vorstellung war verführerisch. Und wenn sie tatsächlich nichts machte? Außer auszuspannen?

»Ich könnte keinem sagen, dass ich in Berlin bin. Dann wäre ich ein paar Tage ungestört.«

»Du könntest auf dem Sofa sitzen, Ingwertee trinken, klassische Musik hören …«

»… Plätzchen naschen, eine Kerze anzünden …«

»… den Gottesdienst in der Passionskirche besuchen …«

»… und einfach nur entspannen. Ein paar Tage ganz für mich haben. Das hört sich wirklich toll an.«

»Siehst du! Wer hält dich also davon ab?«

Gute Frage. Hauptsächlich war es ihr schlechtes Gewissen, das sie abhielt. Und ihre Mutter natürlich, denn die würde ihr unterschwellig Vorwürfe machen.

»Deine Mutter kannst du an einem Wochenende im Januar besuchen. Das muss sie verstehen. Du bist einundfünfzig. Da kannst du mal ein Weihnachten aussetzen. Denk an dich.«

Karen zögerte. An sich selber denken. Wenn das nur so einfach wäre.

»Gib dir ’nen Ruck«, insistierte Gaby. »Man kann nicht immer tun, was andere von einem erwarten. Sei deine eigene Herrin.«

»Mal sehen. Ich denke darüber nach. Vielleicht bleibe ich ja wirklich hier.«

»Nicht mal sehen. Tu es einfach!«

Karen lächelte.

»Du bist ganz schön hartnäckig.«

»Schätzchen, ich arbeite schließlich jeden Tag mit dir zusammen. Du wirkst seit Monaten erschöpft, wenn ich das mal sagen darf.« Ironisch fügte sie hinzu: »Wenn du zusammenklappst, bin auch ich meinen Job los.«

»Daher die Sorge«, erwiderte Karen. Doch sie wusste, dass Gaby es nur gut mit ihr meinte.

Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Warum eigentlich nicht? In ihrem Alter sollte sie wirklich so weit sein, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und sich von den Erwartungen anderer frei zu machen.

Gutgelaunt schnappte sie sich noch einen Lebkuchen. Weihnachten in Berlin. Allein auf dem Sofa. Was für eine verlockende Vorstellung.

»Was wollte Sanna Wolff eigentlich?«, wechselte Karen das Thema.

Gaby verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. »Sich beklagen, was sonst?«

Karen schüttelte den Kopf. Sanna war noch so ein Grund, für ein paar Tage auf Tauchstation zu gehen. Keine permanenten Anrufe, in denen jedes Problemchen stundenlang besprochen werden musste. Einfach mal etwas Abstand von alldem gewinnen. Karen sollte es wirklich machen.

In diesem Moment klingelte das Telefon erneut. Karen warf einen Blick auf das Display. Nummer unbekannt. Sicher war das ihre Mutter. Es wunderte sie, dass sie nicht längst angerufen hatte. Besser, sie brachte es gleich hinter sich. Mal sehen, was sie dazu sagte, dass Karen Weihnachten in Berlin bleiben wollte. Am besten machte sie es kurz und schmerzlos. Innerlich wappnete sie sich, dann schnappte sie entschlossen den Hörer.

»Agentur Peters.«

Da erst bemerkte sie, wie Gaby ihr aufgeregt Zeichen gab. Erst verstand sie nicht. Und dann war es schon zu spät.

»Karen!«, drang es erleichtert an ihr Ohr. »Ein Glück, dass ich dich erreiche. Hier ist Sanna. Jetzt kann ich ja doch mit dir persönlich sprechen. Das ist perfekt …«

Kapitel zwei

Da es der letzte Arbeitstag vor den Weihnachtsferien war, öffneten Karen und Gaby am späten Nachmittag eine Flasche Sekt und saßen noch eine Weile plaudernd beisammen. Der Anrufbeantworter war angestellt und teilte allen mit, dass die Agentur in den Weihnachtsferien und erst am 2. Januar wieder besetzt sei.

Mit der plötzlichen Aussicht auf Freizeit und Erholung kam bei Karen zwischen Adventsgesteck und Plätzchenteller beinahe so etwas wie Weihnachtsstimmung auf. Jedenfalls genoss sie es, keine Termine mehr zu haben und keine Anrufe mehr annehmen zu müssen. Nachdem Gaby sich allerdings kichernd und ordentlich angetrunken verabschiedet hatte, entschloss Karen sich doch noch dazu, ein wenig zu arbeiten. Ganz abschalten konnte sie eben nicht, Weihnachtsferien hin oder her.

Sie nahm sich das Manuskript eines neuen Autors vor und notierte sich ein paar Vorschläge, wie der Autor noch daran feilen könnte. Wie so oft vergaß sie bei ihrer Arbeit völlig die Zeit. Irgendwann schlurfte sie mit Manuskript und Laptop hinüber in die Privaträume der Altbauwohnung, die vom Büro aus über einen langen, schmalen Flur zu erreichen waren. Sie schmierte sich in der Küche ein Käsebrot, kochte einen Tee, dann machte sie es sich auf ihrem Sofa bequem und versank von Neuem in ihrer Arbeit.

Erst als ihre Tochter nach Hause kam, stellte Karen fest, dass sie viel zu lange gearbeitet hatte. Hannah schimpfte stets mit ihrer Mutter, wenn sie fand, dass die zu viel arbeitete. Und so legte sie auch jetzt sofort los.

»Mama, bist du verrückt geworden? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Willst du etwa die ganze Nacht durcharbeiten?«

Karen reckte sich, massierte ihre Schulter.

»Ich hab wohl die Zeit vergessen …«, murmelte sie.

»Es ist gleich drei Uhr! Mitten in der Nacht!«

Ein leises Rumpeln verriet, dass Hannah nicht allein war. Ihr Freund war jedoch sofort ins Schlafzimmer gegangen, ohne sich im Wohnzimmer blicken zu lassen.

»Hast du nicht auch Ferien, Mama? Komm schon, ab ins Bett, aber schnell.«

Karen lugte heimlich in den Flur, doch die Schlafzimmertür war geschlossen und der junge Mann dahinter verschwunden.

Hannah bemerkte ihren neugierigen Blick.

»Ist es okay, dass ich Jonas mit nach Hause gebracht habe? Er hätte sonst mit dem Nachtbus nach Neukölln fahren müssen.«

»Natürlich ist das in Ordnung.« Karen stand auf und faltete die Wolldecke zusammen, unter der sie gelegen hatte. »Du bist dreiundzwanzig. Du kannst machen, was du willst.«

»Ich meine ja nur. Solange ich kein bezahlbares WG-Zimmer gefunden habe … Wenn dir das nicht recht ist …«

»Hör schon auf. Du wohnst hier, solange du willst. Und natürlich kannst du deinen Freund mitbringen.«

»Also gut. Danke, Mama.« Hannah gab ihr einen Kuss auf die Wange und steuerte ihr Zimmer an. »Gute Nacht. Du gehst jetzt aber auch ins Bett, ja?«

»Wann lerne ich ihn denn mal kennen? Ich meine, so richtig? Nicht nur mit Guten Tag und Tschüss.«

Hannah blieb in der Tür stehen. »Nach Weihnachten, das verspreche ich. Wir können ja zusammen Weihnachten nachfeiern. Essen gehen oder so.«

»Weihnachten …« Karen lächelte. »Ach, Hannah, ich wünschte, wir könnten dieses Jahr zusammen feiern. Du und ich, und meinetwegen auch Jonas.«

»Ja, ich auch. Aber ich feiere bei Papa, wie jedes Jahr. Und dann ist da noch die Party, zu der Jonas und ich wollen. Du weißt schon, die Christmas-Party im Treptower Hafen. Wir freuen uns schon seit Ewigkeiten darauf.«

Natürlich. Hannah war jetzt in dem Alter, in dem das Familienfest nur Vorgeplänkel war und die Partynacht der eigentliche Höhepunkt zu Weihnachten.

»Außerdem fährst du ohnehin nach Husum.«

»Also, was das angeht …«

Karen hatte inzwischen einen Entschluss gefasst. Es gab keinen Grund, das zu verschweigen. Oder sich dafür zu schämen.

»Ich habe mir überlegt, dieses Jahr hierzubleiben. Ich fahre nicht nach Husum. Ich bleibe in Berlin.«

»Das hast du dir heute überlegt?«

»Ja. Warum denn nicht?«

»Und was ist mit Oma?« Hannahs Stimme klang vorwurfsvoll.

»Die besuche ich ein anderes Mal.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Warum denn nicht?«

»Das kannst du nicht machen, Mama. Soll Oma denn Weihnachten allein sein?«

»Sie ist nicht allein. Sie hat Freundinnen. Ich muss doch nicht jedes Mal an die Nordsee fahren. Wann haben wir beide überhaupt das letzte Mal zusammen Weihnachten gefeiert? Das ist Ewigkeiten her.«

»Aber wir sehen uns doch auch so jeden Tag. Ehrlich, Mama. Oma freut sich so auf dich. Das find ich nicht okay.«

Natürlich. Das hätte Karen sich denken können. Auch von ihrer Tochter war kein Verständnis zu erwarten. Sie kam genauso wenig auf die Idee, sich zu fragen, weshalb Karen so wenig Lust hatte, ihre Mutter zu besuchen. Immer ging es nur um die arme Marit, der man das nicht antun konnte. Ihrer Mutter gelang es eben viel besser als Karen, so zu tun, als wäre alles zwischen ihnen in Ordnung.

»Lad Oma doch über Weihnachten nach Berlin ein, wenn du keine Lust hast, nach Schleswig-Holstein zu fahren«, schlug Hannah vor. »Hier ist doch genug Platz. Ich fände das gar nicht schlecht. Dann könnte ich sie auch mal wiedersehen.«

Karen schnaubte. Dann gäbe es überhaupt keine Möglichkeit mehr, sich Marit vom Hals zu halten.

»Oma kommt auf keinen Fall nach Berlin. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich bleibe in diesem Jahr hier, und fertig.«

»Aber du hast doch eh nichts vor. Da kannst du auch nach Husum fahren. Oma wird sicher traurig sein. Ich finde, du solltest …«

»Das ist nicht deine Sache, Hannah.«

Der scharfe Tonfall, mit dem Karen das sagte, erstaunte sie selbst. Sie bemühte sich, ihre Stimme freundlicher klingen zu lassen. »Tut mir leid. Aber das ist wirklich meine Entscheidung. Ich muss das so machen, wie ich es richtig finde.«

Hannah wollte etwas erwidern, überlegte es sich jedoch anders. Sie lächelte versöhnlich.

»Natürlich. Gute Nacht, Mama. Ich geh jetzt schlafen.«

So war Hannah. Sie wollte nicht mit ihr streiten, bevor sie ins Bett ging. Lieber gab sie nach.

Karen fühlte sich scheußlich. Als wäre nicht ohnehin schon alles kompliziert genug. Jetzt musste sie sich noch von Hannah Vorwürfe machen lassen. Was Karen anging, könnte Weihnachten ganz ausfallen in diesem Jahr. Ihr würde nichts fehlen.

Sie putzte sich im Bad die Zähne, zog das Nachthemd über, schlug verärgert die Kissen in Form und schlüpfte unter die Decke. Das Licht der Hinterhofbeleuchtung fiel matt durchs Fenster. Über den Dächern der Stadt leuchtete der Nachthimmel rosa. Mit dem Rauschen des Verkehrs und dem entfernten Lachen einiger Betrunkener im Ohr schlief Karen kurz darauf ein.

Als die Türklingel sie unsanft aus dem Schlaf riss, wusste sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Jemand stand draußen vor der Wohnungstür. Noch ehe sie richtig wach war, wurde ihr klar, dass es Enno sein musste.

Er war wieder aufgetaucht.

Es klingelte erneut. Erst jetzt wurde Karen richtig wach. Sie stöhnte, reckte sich, wühlte sich unter der Bettdecke hervor. Die Uhr zeigte halb sieben. Es war immer noch stockdunkel draußen. Was für eine seltsame Vorstellung, dachte sie. Wieso sollte Enno vor der Tür stehen? Das war doch unmöglich.

Sie musste von ihm geträumt haben. Wie so oft. Von seinem verschmitzten Lächeln, seinen strahlenden Augen. Sie wünschte, er wäre wirklich vor der Tür, auch wenn sie wusste, dass dieser Wunsch niemals erfüllt würde.

Mit einem Seufzer stemmte sie sich aus dem Bett. Warf sich den Morgenmantel über, schaltete das Flurlicht ein, blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit. Sie stolperte gegen das französische Beistelltischchen, stieß einen leisen Fluch aus, rieb sich die Augen. Dann zog sie die schwere Eichentür auf, die zum Treppenhaus führte. Es quietschte laut. Ein kalter Windhauch erfasste ihre nackten Füße.

Der Flur war dunkel. Da war keiner. Sie trat vor und sah ins Treppenhaus. Doch nichts.

»Mama?«, kam es verschlafen aus der Wohnung. »Bist du das?«

Hannah war mit kleinen Augen im Flur aufgetaucht. Sie blickte stirnrunzelnd zur offenen Tür.

»Was machst du denn da, Mama?«

»Bist du auch von der Klingel wach geworden?«

»Was? Es hat nicht geklingelt.«

»Doch, gerade eben. Das musst du doch gehört haben.«

»Ich bin wach geworden, weil du hier rumschleichst. Da hätte ich die Hausklingel sicher gehört. Die ist tierisch laut. Es hat nicht geklingelt.«

Seltsam, dachte Karen. Das konnte sie doch unmöglich geträumt haben.

Hannahs Zimmertür stand offen. Im Bett sah Karen einen blonden Haarschopf und nackte Füße unter der zerwühlten Bettdecke hervorragen.

»Geh wieder ins Bett, Mama. Schlaf noch ein bisschen. Du hast schließlich frei.«

Damit verschwand Hannah in ihrem Zimmer und schloss die Tür. Schützte ihren Freund vor neugierigen Blicken.

Karen blieb unschlüssig im Flur stehen. Sie schlurfte in die Küche. Schlafen würde sie ohnehin nicht mehr. Also setzte sie Teewasser auf.

Während das Wasser sich aufheizte, blickte sie gedankenverloren durch das Fenster in den Innenhof des Berliner Altbaus. Ein enger Lichtschacht, getünchte Mauern, hohe Sprossenfenster. Alles lag in winterlicher Dunkelheit.

Enno. Er fehlte ihr immer noch. Obwohl es eine Ewigkeit her war. Für lange Zeit war Karen in ihrer Wut wie gefangen gewesen, weil er sie alleingelassen hatte. Doch irgendwann hatte sie es verstanden. Hatte begriffen, warum er nicht mehr da war. Heute war sie nicht mehr wütend auf ihn. Nur noch traurig.

Im Wasserkocher zischte und brodelte es. Sie warf einen Teebeutel in ihre Tasse und goss kochendes Wasser darüber. Gegen die Anrichte gelehnt, wärmte sie ihre Hände an der Tasse.

Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn Enno hier wäre. Er würde am Küchentisch sitzen und zu ihr aufblicken. Mit seinem ironischen Blick und seinem angedeuteten Grinsen.

»Was soll ich nur tun?«, fragte sie laut. »Ich will nicht nach Husum. Ich habe mein eigenes Leben. Darum muss ich mich kümmern, nicht um Marit und ihr Leben. Das ist doch alles Vergangenheit.«

Er antwortete nicht, grinste nur schief. Das war typisch. Enno hatte sich oft auf Marits Seite geschlagen. Im Gegensatz zu Karen hatte er sich blendend mit ihr verstanden.

»Dann geht sie dir halt auf die Nerven«, sagte er. »Wäre das so schlimm?«

»Sie tut immer, als wäre alles in Ordnung. Als wäre nie etwas passiert. Warum muss ich das Spiel mitspielen? Warum muss es immer nach ihr gehen?«

»Weil du stärker bist. Weil dich das nicht anficht. Lass sie dir doch auf die Nerven gehen. Das hältst du aus.«

Karen nippte an ihrer Teetasse. Blickte schweigend zum verwaisten Küchentisch. Natürlich hatte Enno nicht mit ihr gesprochen. Sie war allein.

Ihre nackten Füße wurden auf den Küchendielen kalt. Sie stellte die Tasse ab, ging ins Schlafzimmer, schlüpfte in ihre Hausschuhe. Auf dem Rückweg nahm sie ihren Laptop, um kurz die Mails zu checken. Sie konnte sich nie vollständig von der Agentur lösen, aber das gehörte in diesem Geschäft wohl dazu.

Mit Tee und Rechner setzte sie sich an den Küchentisch. Tatsächlich waren noch ein paar Mails eingegangen, aber es war nichts dabei, was nicht bis nach den Ferien warten konnte. Abgesehen von der Nachricht eines ihrer Autoren, der in seinem Chaos den aktuellen Buchvertrag nicht finden konnte und wissen musste, ob er seinen Abgabetermin schon verpasst habe. Die Kopie des Vertrags war vorn in der Agentur abgelegt. Kurzerhand ging Karen in die Büroräume, um den Ordner herauszusuchen. Ihre letzte Amtshandlung vor Weihnachten, schwor sie sich. Danach wollte sie die Arbeit ruhen lassen.

Die vorderen Räume waren über Nacht ausgekühlt. Es war noch immer stockdunkel, Laternenlicht fiel von draußen herein. Ein Martinshorn ging, dann ratterte die Hochbahn vorbei.

Der Lärm und die kalte Dunkelheit wirkten nicht gerade einladend. Dabei war sie bei der Gründung ihrer Agentur begeistert gewesen von der riesigen Altbauwohnung mit dem Deckenstuck, dem Fischgrätenparkett und den Schwingtüren, die mitten im belebten Szenekiez lag. Damals war alles so aufregend und urban gewesen. Leben und arbeiten mitten in der pulsierenden Hauptstadt.

Doch inzwischen sehnte sie sich nach Ruhe. Nach Licht. Vielleicht ein bisschen Grün, auf das man blicken könnte. Sie hätte nie gedacht, dass sich ihre Bedürfnisse so verändern würden. Es war doch kurios, was das Älterwerden mit einem machte. Karen fragte sich, was sie eigentlich umtrieb – ging es hier nur um einen freieren Blick auf den Himmel oder um eine ganz banale Weihnachtsdepression? Oder wusste sie eigentlich gar nicht, was ihr in ihrem Leben fehlte?

Mit dem Vertrag wollte sie zurück in die Küche, da klingelte das Telefon. Wer rief denn so früh am Morgen an? Noch dazu in den Weihnachtsferien?

Sie ging zum Telefon und sah aufs Display. Nummer unbekannt. War das vielleicht wieder Sanna? Sie spürte Ärger in sich aufsteigen. Wenn die nicht mal auf die Weihnachtsferien Rücksicht nahm, dann wollte sie ihr dieses Mal die Meinung sagen. Egal, wie wichtig sie als Klientin war.

Sie ging an den Apparat. »Peters.«

»Ein Glück, dass ich dich erreiche!«

Es war ihre Mutter. Beinahe hätte Karen aufgestöhnt.

»Ich habe seit gestern schon zigmal versucht, dich zu erreichen. Aber das ist praktisch unmöglich. Du gehst ja nie ans Telefon. Immer nur der blöde Anrufbeantworter.«

»Die Agentur ist geschlossen, Mutter. Wir haben Ferien. Du hast doch meine Handynummer.«

»Schon. Ich weiß nur nicht, wo die ist. Ich habe sie irgendwo hingelegt … Aber das ist doch auch alles in einer Wohnung bei dir. Du hörst doch, wenn man anruft?«

»Trotzdem. In den Ferien bleibt das Telefon unbeantwortet. Deswegen sind es ja Ferien.«

»Auch nicht, wenn ich anrufe?«

»Das kann ich doch nicht ahnen. Deshalb der Anrufbeantworter. Ich war nur zufällig in der Agentur, sonst wäre ich gar nicht rangegangen.«