Über Caroline Hulse

Caroline Hulse verbringt den größten Teil ihrer Zeit mit Schreiben (womit ihr Traum wahrgeworden ist, einen Job zu finden, den man im Schlafanzug erledigen kann). Sie lebt in Manchester mit ihrem Ehemann und einem kleinen, herrschsüchtigen Hund.

»Der Ausflug« ist ihr Debütroman, der in 14 Ländern erscheint.

Iris Hansen lebt nach Aufenthalten in Kanada und Spanien als Übersetzerin in Hamburg.

Teja Schwaner, Studium in Hamburg, Frankfurt und London. Arbeitete als Musik- und Filmjournalist. Übertrug neben Hunter S. Thompson Daniel Woodrell und Daniel Friedmann ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Zwei Geschiedene. Ihr Kind. Ihre neuen Partner.

Ein gemeinsamer Ausflug.

Was kann da schon schiefgehen?

Matt und Claire sind geschieden. Was natürlich nicht heißt, dass ihrer Tochter Scarlett nicht einen ganz normalen Familienalltag bieten wollen. Mit einem ganz normalen – also gemeinsamen – Ausflug, zu dem auch Matts neue Freundin Alex und Claires Freund Patrick mitkommen sollen. Schließlich sind doch alle erwachsen … Doch je mehr Zeit die fünf an ihrem idyllischen, aber doch beengten Ausflugsziel verbringen, desto tiefer werden die Risse in der Patchwork-Harmonie. Bis die Familienfehde nicht mehr aufzuhalten ist.

»Bissig und brillant.« Sunday Mirror

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Caroline Hulse

Der Ausflug

Ein Familienroman

Aus dem Englischen
von Teja Schwaner und Iris Hansen

Inhaltsübersicht

Über Caroline Hulse

Informationen zum Buch

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Heiligabend 14:06 Uhr

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Dank

Impressum

Familie

[faˈmiːli̯ə]

Substantiv, die, Plural: Familien

[Lebens]gemeinschaft, die aus mindestens einem erwachsenen, also mündigen Elternpaar und Kind besteht; heute oft erweitert durch weitere, nicht-verwandte Personen

Auszug aus der Broschüre des Happy Forest:

Der Happy Forest ist der ideale Ort zum Abschalten und Entspannen. Treten Sie auf die Veranda Ihrer komfortablen Holzhütte, genießen Sie die frische Waldluft und lassen Sie die Sorgen des Alltags hinter sich.

Der perfekte Familienausflug für Sie und Ihre Lieben liegt nur einen Klick entfernt. Ihr Aufenthalt bei uns wird zum unvergesslichen Erlebnis, von dem Sie lange zehren werden.

Heiligabend
14:06 Uhr

Telefonist: Notrufzentrale. Worum geht es?

Frau: Wir brauchen einen Krankenwagen im Happy Forest Resort.

Telefonist: Sind Sie in Gefahr?

Frau: Bitte beeilen Sie sich. Wir sind auf dem Bogenschießplatz.

Telefonist: Sagen Sie mir bitte, ob Sie sich aktuell in Gefahr befinden.

Frau: Nein. Aber wir brauchen einen Krankenwagen. Es gab einen Unfall, ein Mann ist getroffen worden.

Telefonist: Hilfe ist bereits auf dem Weg zu Ihnen. Trotzdem muss ich Sie bitten, mir jetzt einige Fragen zu beantworten. In Ordnung?

Frau: Sorgen Sie nur dafür, dass schnell jemand kommt. Hier ist alles voller Blut.

Telefonist: Okay. Sie sagen, er sei getroffen worden. Wovon ist er getroffen worden? Was können Sie erkennen?

Frau: Von einem Pfeil. Beim Bogenschießen.

Telefonist: Wie heißen Sie?

Frau: Alex.

Telefonist: Okay, Alex. Ist er bei Bewusstsein?

Frau: Ja … oder? … Also … nein.

Telefonist: Atmet er?

Frau: Noch – ja. Bitte kommen Sie schnell.

Telefonist: Wie ich schon sagte: Während Sie mit mir sprechen, ist jemand auf dem schnellsten Weg zu Ihnen unterwegs. Okay?

(Lärmender Wind und Hintergrundgeräusche brechen abrupt ab.)

Telefonist: Wann ist das passiert?

Hallo?

Ist der Verletzte Ihrer Meinung nach bei Bewusstsein und ansprechbar, Alex?

Hallo?

Hallo?

Sind Sie noch da? Alex, sind Sie noch da?

Kapitel 1

Als Matt den Ausflug gegenüber Alex zum ersten Mal erwähnte, wusste er schon seit Monaten davon.

Er hatte nicht absichtlich etwas vor seiner Freundin geheim halten wollen; es war nur so, dass er mit komplizierten Gedanken ebenso verfuhr wie mit seiner Post. Wenn Briefe durch den Türschlitz geworfen wurden und auf dem Flurfußboden landeten, machte Matt einen großen Schritt über sie hinweg. Sobald sich ein Stapel nicht mehr ignorieren ließ, stopfte er ihn in die erstbeste Ecke. Neben den Herd, aufs Bücherregal: Matts Post landete an leicht zu erreichenden Orten, wo sie dennoch aus dem Weg war und – das war das Wichtigste – nicht ohne weiteres wiedergefunden wurde.

Auf diese Weise entledigte sich Matt jeglichen Gefühls der Dringlichkeit, und wenn der Absender nochmals Kontakt mit ihm aufzunehmen versuchte, schien Matt ernsthaft überrascht zu sein (wie Alex feststellte, wunderte er sich tatsächlich, dass sich die Angelegenheit nicht von selbst erledigt hatte).

Binnen weniger Wochen nach Matts Einzug hatten sich in ihrer Wohnung Briefe stapelweise an Orten breitgemacht, an denen noch nie zuvor Post gewesen war.

Nachdem Alex immer mehr Umschläge aus Ecken hervorgezogen hatte, die zuvor leere Ecken gewesen waren, sammelte sie eines Nachmittags alle Briefe zusammen. Sie legte sie wie die Zettelchen einer Schnitzeljagd von der Eingangstür bis zum Küchentisch.

Auf der Suche nach ihr erreichte Matt irgendwann das Schlafzimmer, die Umschläge in den Armen. »All diese Briefe sind für mich, Alex? Wirklich?«

»Ich dachte, ich lege sie alle an einen Ort. Damit du's leichter hast.«

Matt zuckte mit den Achseln, und die Briefe zuckten mit. »Ich kapiere dieses Briefding einfach nicht. Von wem wird denn heutzutage noch erwartet, dass er seine Post liest?«

Nur wenige Wochen später waren die Ecken wieder vollgestopft.

An jenem Abend, als Matt ihr zum ersten Mal von dem Ausflug erzählte, hatte Alex einen Pie zubereitet – und zwar eigenhändig. Bis auf den Teig, schließlich hatte sie ihre Zeit nicht gestohlen. Mit siebenunddreißig war es für sie noch immer ein außergewöhnliches Ereignis, eine vollständige Mahlzeit zuzubereiten; es schien ihr stets ein bemerkenswertes Verdienst, nicht einfach nur Milch über Frühstücksflocken gegossen zu haben.

Alex erledigte gerade den Abwasch vom Abendessen, als Matt auftauchte und sich an der Küchentür herumdrückte.

»Alex. Du weißt doch noch, was ich dir von Claires Idee für Weihnachten erzählt habe.«

Alex sah auf. »Nein.«

Er machte große Augen. »Ich habe es nicht erwähnt?«

»Du hast es nicht erwähnt.«

Matt blies sich den dunklen Pony aus den Augen, wie er es ungefähr zwanzigmal am Tag tat. Für einen Achtunddreißigjährigen war seine Haarpracht beeindruckend, und Alex hatte ihn im Verdacht, diese Sache mit dem Pony bewusst kultiviert zu haben, damit es auch ja niemand übersah. Könnte sein, könnte aber auch nicht sein. Sie müsste jemanden fragen, der ihn von früher kannte. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre – aber Alex war Wissenschaftlerin. Hatte sie eine Hypothese aufgestellt, musste diese logischerweise überprüft werden. Es gefiel ihr, Beobachtungen eindeutig zuordnen und kategorisieren zu können.

»Sorry, Alex, ich bin wirklich zu nichts nütze.«

Um nicht antworten zu müssen, hielt sie das Glas, das sie in der Hand hielt, ins Licht und suchte es nach Flecken ab.

Matt streckte die Hand aus, um nach ihrem Arm zu greifen. »Ich muss mich wohl immer wieder gefragt haben, wie ich es ansprechen soll. Ich glaube, ich habe befürchtet, dass du sauer werden könntest.«

Nicht ohne sehr wohl den nahtlosen Übergang von »Ich dachte, ich hätte es längst erwähnt« zu »Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte« zu bemerken, zog Alex die Gummihandschuhe von den Händen und warf sie über den Abtropfständer. Sie drehte sich zu Matt um. »Und habe ich denn einen Grund, sauer zu werden?«

Matt winkte sie zu sich heran. Er schlang die Arme um ihre Taille. »Vielleicht einen, ein bisschen sauer zu werden, natürlich.« Er küsste ihre Stirn. »Was völlig verständlich wäre. Aber eigentlich keinen, total auszurasten.«

Das verhieß nichts Gutes. »Und weiter?«

»Also, du weißt, dass ich Weihnachten nicht mehr mit Scarlett verbracht habe, seit Claire und ich uns getrennt haben.«

Alex nickte. »Wird Scarlett dieses Jahr bei uns sein? Das fände ich schön.«

»Nein, es ist … es ist so, dass Claire ein Wochenende mit uns zusammen verbringen möchte.«

Alex brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. »Mit uns?«

»Ja, mit uns. Uns allen. Du und ich. Sie und Patrick. Mit Scarlett als Ehrengast.«

Alex starrte Matt an. Sie deutete zum Küchentisch und ließ sich auf einem knarrenden Küchenstuhl nieder. Dies war kein Gespräch, das Alex im Stehen führen wollte. Am liebsten wollte sie dieses Gespräch gar nicht führen, aber wenn es ihr nicht erspart blieb, sollte es nicht zwischen Tür und Angel sein.

»Claire möchte mit uns einen gemeinsamen Ausflug in das Happy Forest Resort machen. Nach North Yorkshire.« Matt stützte sich mit den Handflächen auf die Rückenlehne eines Stuhls, als sei er zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. »Da muss es super sein. Tolle Natur und Angebote für die ganze Familie. Und Weihnachtswichtel wandern durch den Wald und singen Weihnachtslieder.«

Alex warf einen Blick auf den Weinständer, zwang sich dann jedoch, woanders hinzusehen. Sie weigerte sich, verärgert zu reagieren. Ärger führte zu Unvernunft, und Unvernunft brachte fast immer persönliches Scheitern mit sich.

Sie holte Luft. »Dieses Weihnachten? Du meinst das Fest, das in einem Monat ansteht?«

Matt setzte sich auf den Stuhl neben Alex. Er beugte sich vor, ergriff einen ihrer Füße, die in gepunkteten Socken steckten, und legte ihn auf sein Knie. »Wir haben doch schon darüber gesprochen, weißt du nicht mehr?« Er streichelte ihren Fuß. »Wie schön es für Scarlett wäre, Weihnachten gemeinsam mit mir und ihrer Mutter zu verbringen.«

»Aber so haben wir es nicht besprochen. Doch nicht so, als hätten wir wirklich vor, das zu tun.«

Matt betrachtete ihren Fuß. »Aber worüber haben wir uns denn dann unterhalten?«

»Es war doch nur so Geplauder darüber, wie ach so erwachsen wir sind und wie vernünftig wir mit eurer Situation umgehen. Es war doch kein ernsthaftes Gespräch darüber, wie man etwas grundsätzlich handhaben möchte.«

»Für mich schon.«

Alex spürte, wie sie weich wurde. Ihr süßer, wunderbarer Matt, der es allen Ernstes für eine gute Idee hielt, so etwas in Erwägung zu ziehen. Der zwar zwei Jahre vor seinem vierzigsten Geburtstag eingesehen hatte, dass aus ihm niemals ein Superstar-DJ würde, der sich aber trotzdem gerade ein neues Skateboard gekauft hatte und plante, im Garten eine Halfpipe zu bauen – ein Vorhaben, gegen das Alex allein deswegen keine Einwände erhoben hatte, weil sie wusste, dass er es ohnehin nie zustande brächte.

Der meinte, es würde dieses Gespräch weniger kompliziert machen, wenn er ihren besockten Fuß streichelte und ihr dabei liebevoll in die Augen sah.

Alex wandte den Blick ab. »Vielleicht meinte sie, dass wir mal zusammen essen gehen sollten? Ich bin mir sicher, niemand hat an einen gemeinsamen Wochenendausflug gedacht.« Sie schnipste zwei Fingernägel gegeneinander. »Unmöglich, dass Claire das wirklich vorschlägt. Sie ist doch eine vernünftige Frau.«

»Sie sagt, wir würden alle bestens miteinander auskommen. Sie mag dich.«

»Ich mag sie auch«, sagte Alex hastig. Wenn möglich, versuchte sie, Aussagen dieser Art immer als Erste anzubringen. »Aber hast du ihr etwa gesagt, dass ich einverstanden wäre?«

Matt schien sich intensiv auf Alex' Fuß zu konzentrieren. Er ließ den Kopf nach vorn sinken. Seine Ponyfransen folgten. Gesichtsvorhang, dachte Alex. So hatte man die Frisur in den frühen Neunzigern genannt. Bloß dass sie damals von Leuten getragen wurde, zu deren Alter und Ära sie auch passte.

»Mag sein, dass ich dir wirklich nichts von dem Ausflug erzählt habe, tut mir leid. Aber wir finden doch leicht eine Ausrede. Zu viel Arbeit. Ärger mit der Familie.« Matt hob fragend den Kopf. »Eine Großmutter, die plötzlich gestorben ist?«

»Mich interessiert gerade nur, ob du ihr wirklich gesagt hast, dass ich einverstanden wäre?«

Matts Lächeln sprach Bände. Ups, sagte es.

»Und was hält Patrick davon, Weihnachten nicht in Nottingham zu verbringen? Möchte er denn nicht bei seinen Kindern sein?«

»Die sind doch schon Teenager. Claire sagt, dass sie ihn sowieso nie sehen wollen.«

Alex atmete tief durch. »Soso. Ist der Trip denn schon gebucht?«

»Ich bin sicher, wir könnten stornieren. Aber du kennst doch Claire und weißt, wie sie ist. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr zu bremsen.« Matt schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Sie hat wahrscheinlich sogar schon gepackt.«

Alex presste die Lippen aufeinander. »Machen andere Leute auch so was? Die Ferien mit ihren Verflossenen und deren neuen Partnern verbringen?«

Matt zuckte mit den Achseln. »Spielt das etwa eine Rolle für dich?«

»Wenn wir jetzt aussteigen, bin ich doch für alle der Buhmann.«

»Ich werde dich zu nichts überreden, Alex.« Matt hob ihren Fuß von seinem Bein und stellte ihn auf dem Boden ab. Dabei versetzte er ihm einen leichten Klaps, als würde er ein zudringliches Haustier abwimmeln. »Wenn du wirklich nicht fahren möchtest, werde ich auch nicht fahren.« Er hielt inne. »Ohne dich würde ich nicht fahren – das wäre doch etwas sonderbar.«

»Sehr sonderbar sogar.«

»Aber du hast immer gesagt, wenn du Claire unter anderen Umständen kennengelernt hättest, wärt ihr vielleicht sogar Freundinnen geworden.«

Hab ich, entsann sich Alex. Hab ich gesagt. Aber es war unfair von Matt, ihre Worte aus dem Zusammenhang zu reißen. Man vermischte keine ernsthaften und sehr konkreten Gespräche mit wolkigem Hätte-könnte-vielleicht-irgendwann-Geplauder.

Matt legte die Hände auf den Tisch. »Ich möchte nicht noch ein weiteres Weihnachtsfest mit meiner Tochter verpassen. Sie ist sieben, Alex, und als ich letztes Mal zusehen konnte, wie sie ihren Geschenkstrumpf geöffnet hat, war sie vier.«

»Ich verstehe doch, wie wichtig Scarlett dir ist. Das ist doch klar. Aber könnte sie dieses Jahr nicht einfach bei uns feiern?«

»Claire ist ihre Mutter. Zu Weihnachten will sie mit ihrer Tochter zusammen sein. Sich ihr da in den Weg zu stellen wäre nicht richtig.«

Alex schloss die Augen. Das war Matt, wie er leibte und lebte. Verstörend respektvoll und wollte es immer allen recht machen.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf das schmutzige Geschirr im Spülbecken. Vielleicht wollte er es nicht in jeder Beziehung allen recht machen. Aber wenn es um die Familie ging, wollte er es. Allerdings fühlte sich das für sie in diesem Moment trotzdem verkehrt an.

Alex musterte Matt aufmerksam. »Bist du dir sicher, dass das wirklich eine gute Idee wäre? Hast du dir das auch gut überlegt?«

Er verzog den Mundwinkel. »Was gibt es da zu überlegen?«

»Ach, ich weiß nicht. Ob so ein gemeinsamer Ausflug völlig unkompliziert wäre? Ganz und gar problemlos? Nichts dabei könnte heikel werden?«

»Warum sollte es?«

Alex schaute aus dem Fenster. Das Licht der Alarmanlage blinkte in ihrem Garten in kurzen Abständen auf und tauchte ihn in Stroboskoplicht.

Lichtblitz. Vom Regen wieder schmutzig gewordene Wäsche auf der Leine. Lichtblitz. Rostiger Gartenstuhl mit Wackelbein. Lichtblitz. Tiger-Handpuppe mit Umhang achtlos auf dem Kies, durchnässt, verdreckt und verschlissen, vergessen nach dem Besuch einer Freundin mit Kleinkind.

Alex wandte sich wieder Matt zu. Sie war von jeher fest entschlossen, ihren Freund nicht zu bevormunden, nicht so zu werden wie viele ihrer Freundinnen, die ihre Partner wie die tölpelhaften und nichtsnutzigen Mannsbilder behandelten, die in den Fernsehwerbespots für Haushaltsprodukte mit zwei linken Händen hilflos herumfuchtelten. Aber er machte es ihr manchmal nicht gerade leicht. Und sie hasste es, wenn er sie in die Rolle der perfekten, neunmalklugen Frau aus der Werbung drängte, die allzu vernünftig über die Vorzüge einer bestimmten Küchenrolle oder eines Familienkonzepts doziert.

Alex lehnte sich auf ihrem Stuhl vor und hielt Blickkontakt. »Wie fühlst du dich – ganz ehrlich – bei dem Gedanken, Weihnachten mit deiner Ex zu verbringen?«

»Diese Dinge sind nur dann kompliziert, wenn man sie dazu macht, Alex. Reine Kopfsache.«

»Keinerlei unklare Gefühle, keine schwelenden Konflikte?«

Matt neigte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Nichts, auch nicht die winzigste Kleinigkeit, die zwischen euch ungesagt geblieben ist? Die Sache mit eurer Ehe ist bereinigt, keine Altlasten? Alles ist in Butter?«

Matt lehnte sich zurück.

»Ich denke dabei nur an dich«, fügte Alex hinzu. »Vielen Menschen würde es schwerfallen, mit einer solchen Situation umzugehen.«

Mir zum Beispiel, dachte sie, mir würde es schwerfallen.

Matt ließ sich Zeit, und man sah ihm an, dass er überlegte. »Ich empfinde keine Abneigung gegenüber Claire. Ich liebe sie nicht, aber ich hasse sie auch nicht«, sagte er schließlich. »Sie ist nur noch … die Mutter meiner Tochter. Und wir müssen einen Weg finden, damit klarzukommen, denn das wird sie immer bleiben.«

»Natürlich.« Alex' Bein rüttelte am Tisch. »Und Patrick? Bist du dir sicher, dass du mit ihm ein Wochenende verbringen willst?«

»Ich bin mir sicher, er ist ganz okay.«

Alex lehnte sich vor. »Du findest also nicht, dass er ›so viel Persönlichkeit hat wie ein schwarzes Loch‹?«

»Ach, das war nur so dahergeredet. Claire mag ihn, und sie hatte schon immer einen guten Männergeschmack.« Matt sah Alex ins Gesicht und hob sofort abwehrend die Handflächen. »Okay, es reicht. Tut mir leid, Alex. Für heute keine Witze mehr.« Er stand auf. »Überleg es dir in Ruhe. Du wirst bestimmt die richtige Entscheidung treffen. Ruf mich einfach, wenn es so weit ist.«

Er hastete die Treppe hinauf und überließ Alex nicht nur ihren Gedanken, sondern auch dem Abwasch.

***

Alex ließ das schmutzige Wasser ablaufen und füllte das Spülbecken aufs Neue.

Obwohl das Wasser zu heiß war, mischte sie kein kaltes dazu. Das brennende Unbehagen beim Hineintauchen der Hände lenkte sie von dem weitaus weniger greifbaren Unbehagen ab, das in ihrem Magen rumorte.

Alex wünschte sich, in diesem Augenblick bei der Arbeit zu sein. Im Universitätslabor, wo es stets Vorträge anzuhören und Zellkulturen zu studieren gab, ließ sich vieles aus ihren Gedanken tilgen, was sie sonst nicht loswurde. Im Labor konnten Stunden vergehen, bis sie den Kopf hob und durchs Fenster auf die Bäume blickte. Erst dann sah sie hinab auf ihre Turnschuhe, hörte die blechernen Töne des kleinen Radios und erinnerte sich, dass jenseits der Zellkulturen von Diabetespatienten noch eine andere Welt existierte.

Zu Hause war es anders. Zu Hause gab es nur Alex und ihre Gedanken.

Sie konnte sich weigern, bei diesem Ausflug mitzufahren – natürlich. Aber das wäre wohl auch nicht zufriedenstellend.

Sie wollte nicht mitreisen – aber sie konnte auch nicht nicht mitreisen. Sie käme sich in einer Weise engstirnig und kleinkariert vor, wie sie es ganz gewiss nicht war und wie sie schon gar nicht wirken wollte. Alex hatte immer Verständnis dafür gehabt, dass Matt gut mit seiner Ex auskam, was andere Leute – nämlich die kleinkarierten – wohl nur schwer hätten nachvollziehen können.

Womöglich hatte Alex zu viel des Guten getan. Hatte Claire zur Begrüßung auf die Wange geküsst, wenn sie Scarlett bei ihr abgaben oder abholten. Hatte immer etwas Nettes zu Claires Rock oder ihrer Frisur zu sagen gehabt. Jeder hatte seine Vergangenheit, warum sollte man das dem anderen übelnehmen? Alex war nicht die Art Frau, die alles auf sich bezog.

Alex kratzte den verkrusteten Teig vom Rand der Auflaufform.

Obwohl es nur noch einen Monat bis Weihnachten war, hatte Alex kaum über die logistischen Ansprüche der Festtage nachgedacht. Sie hatte angenommen, sie würden ihre oder vielleicht Matts Eltern besuchen – wie auch immer. Alex lag nichts an Weihnachten. Für sie war es ein Tag, an dem das Labor geschlossen war, mehr nicht.

Aber das jetzt – das war etwas anderes.

Und Matt hatte es seit Ewigkeiten gewusst, ihr jedoch kein Sterbenswörtchen davon gesagt.

Alex konnte sich nicht erklären, wie er es anstellte, so etwas auszublenden. Wie vermochte er es nur, solch missliche Notwendigkeiten mental abzuschotten? Oder schob er das Unvermeidbare einfach immer weiter auf?

Keine dieser Hypothesen ließ sich von Alex empirisch überprüfen, und das machte die Situation umso frustrierender. Matt besaß die erstaunliche Fähigkeit, sie immer wieder zu manipulieren, so dass sie am Ende Dingen zustimmte, von denen sie nichts hatte wissen wollen. Vielleicht war genau dies die Eigenschaft, die Matt dazu verhalf, in seinem Job im Vertrieb so erfolgreich zu sein, wenngleich er eine meist, wie Alex fand, ausgesprochen fragwürdige Arbeitsmoral an den Tag legte.

Alex spülte einen Teller und stellte ihn zum Trocknen auf den Ständer. Sie hörte von oben ein Schrammen: Ein Stuhl wurde über den Fußboden geschleift.

Matt ließ ihr den Raum, den sie brauchte, um ihre Entscheidung zu fällen. Gab ihr zu verstehen, dass er oben beschäftigt war. Oder ging er ihr nur aus dem Weg?

***

Nach dem Geschirrspülen sah Alex sich im Netz die Fotos dessen an, was sie inzwischen den Märchenwald nannte.

Nicht, dass dieser Ort auf den Fotos besonders märchenhaft gewirkt hätte. Es mochte dort zwar das ganze Jahr über bunte Lichterketten geben, aber wegen der vielen Absperrungen und Warnhinweise hatte der Happy Forest wenig Ähnlichkeit mit einem bewaldeten Wunderland.

Alex schob ihren Laptop beiseite. Abermals bemühte sie sich, nicht aufs Weinregal zu sehen.

Sei nicht albern, hatte sie gesagt, als Matt vorschlug, sämtliche alkoholischen Getränke aus dem Haus zu verbannen. Wir werden auf keinen Fall zu den Leuten gehören, die von niemandem gern besucht werden, weil sie nichts Ordentliches zu trinken im Haus haben. An manchen Abenden fühlte sie sich von dem nicht ausquartierten Weinregal jedoch intensiver angezogen als an anderen. Wie etwa heute Abend. Die subtil fordernde Anziehungskraft des Weines wurde verstärkt vom dumpfen Nachhallen des abgebrochenen Gesprächs.

Matt würde erwarten, dass sie sich noch heute Abend zu seinem Vorschlag äußerte. Obwohl er diese Unterhaltung seit Wochen vermieden hatte, würde er davon ausgehen, dass sie zu einem Entschluss käme. Denn während der zwei Jahre, die sie zusammen waren, lebten sie in der unausgesprochenen Übereinkunft, dass es in ihrer Beziehung Alex' Rolle war, das letzte Wort zu sprechen.

Nun denn. Sollten sie wegen des Ausflugs einen Streit anfangen? Zumindest würde das Alex für eine Weile vom Wein ablenken. Aber sich über etwas in die Haare zu kriegen, das mit Matts Ex zu tun hatte, passte nicht zu dem Bild, das Alex von sich selbst hatte. Und letztlich hätte es vermutlich nur eine grundsätzliche depressive Verstimmung zur Folge.

Nein. Keinesfalls würde sie sich mit Matt deswegen streiten. Undenkbar.

Was wohl bedeutete, dass sie diesen Ausflug tatsächlich mitmachen musste.

Kapitel 2

Nachdem er Claire gesagt hatte, er müsse früh ins Büro, um ein paar dringende Fälle zu bearbeiten, fuhr Patrick um halb sechs Uhr morgens ins Fitnessstudio. Und um die Mittagszeit noch einmal.

Zweimal am Tag, das war eine gute Bilanz. Morgens Gewichte, zur Lunchzeit Cardio-Training. Er erledigte sogar eine Konferenzschaltung mit Anwaltskollegen, während er auf dem Laufband war.

So war er: ein erfolgreicher Rechtsanwalt, dreiundvierzig Jahre alt, Vater von zweieinhalb Kindern (zweier eigener und eines angenommenen).

Er trug noch immer Slim-fit-Hemden, die er bei jungen Männern mit sorgfältig gepflegten Augenbrauen in Geschäften kaufte, die sich eigentlich an eine jüngere Klientel richteten.

***

Im September hatte Patrick beschlossen, sein Trainingspensum zu erhöhen. Er hatte am Tresen eines Coffeeshops am Fenster gesessen und seinen Superfood-Smoothie getrunken, als direkt vor ihm die wohlvertraute Frisur eines Exkollegen auf dem Gehweg vorbeihuschte.

Es war ihm nicht gelungen, rechtzeitig wegzusehen.

»Patrick!« Tom legte kurz darauf seinen Aktenkoffer vor ihm ab. »Wie geht's, wie steht's?«

Patrick rang sich ein Lächeln ab. »Hi Tom. Ich habe höllisch viele Fälle. In der neuen Kanzlei stopfen sie mir den Terminkalender gnadenlos voll.«

»Mistkerle.«

»Bin inzwischen mit Claire zusammengezogen.« Patrick fragte sich, warum er das Tom überhaupt erzählte. »Du kennst doch Claire Petersen, die Rechtsanwältin?«

»Claire Petersen, tatsächlich?« Tom schüttelte den Kopf. »Dass du dich da ranwagst! Ist die Kleine nicht 'ne Nummer zu groß für dich?«

Patrick wusste, dass es als Kompliment gemeint war, aber es gefiel ihm gar nicht, daran erinnert zu werden, an wen er sich zuletzt »rangewagt« hatte. Und daran, dass Tom in seiner Kanzlei Patricks Exfrau Lindsay tagtäglich begegnete.

Tom warf einen Blick auf Patricks Superfood-Smoothie. »Warum trinkst du eigentlich diese Komposthaufensuppe?«

Patrick rührte mit dem Trinkhalm in seinem Saft und spürte mit Genugtuung Klumpen des pürierten Gemüses. »Ich werde nächstes Jahr meinen ersten Ironman machen.«

Bis zu diesem Moment hatte Patrick selbst noch nichts davon gewusst. Und dennoch spürte er, als Tom sich verabschiedete, wie viel mehr Raum er am Tresen einnahm.

***

Zwei Monate später war Patrick sich immer noch nicht darüber klargeworden, wie er es Claire sagen sollte. Ihm war bewusst, dass sie übermäßiges körperliches Training für eine besonders geistlose Form der Eitelkeit hielt.

Und so wusste er seinen Plan gut zu verbergen, bis er eines Abends annahm, dass sich Claire im Obergeschoss aufhielt, und etwas auf seinem Tablet recherchierte. Als sie plötzlich hinter ihm auftauchte und fragte: »Patrick, hast du die große Steckdosenleiste irgendwo gesehen?«, zuckte er zusammen und schaltete den Bildschirm aus.

Sie griff nach dem Tablet. »Was versteckst du da?«

»Claire, also bitte. Etwas Respekt wäre nett.«

»Lass mal sehen, auf welchen Pornozug du aufgesprungen bist.«

»Ein wenig Privatsphäre wirst du mir doch wohl lassen?«

Claire schaltete den Bildschirm frei und betrachtete ihn.

Patrick konnte nicht anders – er musste ihrem immer strengeren Blick folgen. Die aufgesetzt lächelnden Sieger. Die Neoprenanzüge, die Schwimmbrillen. Das Bild eines Mannes mit Sonnenbrille, der seine übertrieben muskulösen Arme in die Höhe reckte.

Claire ließ das Tablet sinken. »Du willst bei einem Ironman mitmachen?«

»Ich spiele mit dem Gedanken.«

»Dan Smith hat bei einem mitgemacht.« Claire hob fragend eine Augenbraue, als müsse er verstehen, was das bedeutete.

Patrick wusste, dass er nicht immer der beste Zuhörer war. »Und?«

»Erinnerst du dich nicht mehr, was Heather gesagt hat? Sonnabends ist er den ganzen Tag Rad gefahren. Sonntags den ganzen Tag geschwommen. Die Kinder bekamen ihn kaum mehr zu Gesicht, und wenn sein Oberkörper sich in einer Schaufensterscheibe spiegelte, konnte er sich nicht daran sattsehen. Irgendwann hat ihn die ganze Familie nicht mehr ertragen.«

Claire hielt inne, damit Patrick sich besinnen konnte.

Doch das war nicht das, was Patrick im Sinn hatte. »Wir sind alle verschieden«, sagte er.

»Heather hat gesagt, sie konnte nicht mit jemandem schlafen, der verliebter in sich selbst war als in sie.« Claire ließ seinen Blick nicht los. »Am Ende zog er ins Travel Inn an der Umgehungsstraße und nahm ein halbes Jahr Urlaub.«

»Ich habe das Gefühl, dass ich einfach mal Abwechslung brauche.«

»Und was ist mit Amber und Jack?«, sagte Claire. »Lindsay macht es dir schwer genug, die beiden zu sehen.«

»Es war nur so eine Idee.«

Eine gute Idee, dachte Patrick.

Aber das heimliche Training wäre bald nicht mehr nötig. Denn als sie vor ein paar Tagen in ihren dick gefütterten Jacken im Park standen und Scarlett zuschauten, wie sie auf dem Klettergerüst turnte, wurde Patrick von Claire mit dem goldenen Gewinnlos beschenkt.

Sie wünschte sich einen Wochenendausflug. Mit ihrem Exmann.

Patrick erkannte die günstige Gelegenheit auf Anhieb.

»Tatsächlich?« Claire wandte sich ihm zu. »Wirklich?«

»Ich sagte doch ›schön‹, oder?«

Claire machte große Augen. »Du hast wirklich nichts dagegen?«

Patrick schob die Hände in die Taschen. »Mir liegt genauso wie dir daran, dass Scarlett glücklich ist.«

Sie hakte sich bei ihm ein. »Ich bin angenehm überrascht. Das ist alles.«

»Was hast du denn erwartet? Es ist doch offensichtlich, dass du es dir wünschst.«

»Ich dachte, du würdest es für eine unsägliche Idee halten.«

Patrick hielt es für eine unsägliche Idee. »Ich unterstütze dich doch in allem, was du vorhast. Selbst wenn es bedeutet, dass ich zu Weihnachten meine Kinder nicht werde sehen können.« Er hielt inne. »Und diese Feriendörfer haben doch immer gute Schwimmbäder, oder?«

In der Nacht nach diesem Gespräch hatten sie sich ausgesprochen leidenschaftlich geliebt.

Claire mochte von Patricks sportlichem Vorhaben und dem dazugehörigen Trainingsaufwand nicht besonders angetan sein. Aber wenn er das hier mitmachte … Die nächste Diskussion über den Ironman dürfte wohl glimpflicher verlaufen. Und Patrick musste sich bald anmelden, wenn er den nächsten Ironman mitmachen wollte.

Wichtiger war jedoch, dass er in ihrem Wohnzimmer einen anderen Stammplatz fand. Sein jetziger war zweifellos schlecht gewählt: zu dicht an der Tür. Denn da war sie schon wieder und linste über seine Schulter hinweg auf sein Tablet.

»Unterricht im Bogenschießen? Wieso das denn …?« Claire verstummte.

Patrick rückte den Untersetzer auf dem Beistelltisch zurecht. »Ich möchte erfahren, wie es sich anfühlt, etwas abzuschießen.«

»Wir wollen Weihnachten feiern.«

»Ich habe noch nie etwas geschossen.«

Claire lachte. »Wenn du versuchen möchtest, zu Weihnachten Konkurrenzkämpfe auszufechten, solltest du dich mit Matt nicht anlegen.«

Im Laufe der beiden vergangenen Jahre hatte Patrick eine ganze Menge über Matt erfahren. Die Xbox, die T-Shirts. Die alberne neue Leidenschaft für Skateboards. Und mit jeder neuen Information, die er über seinen Vorgänger bekam, wunderte Patrick sich umso mehr und beobachtete Claire umso genauer, Claire mit ihrer florierenden Kanzlei und den ausdrucksstarken Augenbrauen, eine Frau, deren Persönlichkeit einer Festung glich. Er verstand es nicht.

»Du hast sowieso keine Chance, der beste Schütze zu werden, selbst dann nicht, wenn du Unterricht nimmst.« Claire grinste. »Pech gehabt, mein Lieber. Ich habe in meiner Kindheit auf dem Bauernhof jede Menge Viecher abgeschossen.«

Claire knuffte sein Knie und ging aus dem Zimmer. Patrick wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

Er entschied sich gegen eine Denkpause, rief die Ironman-Webseite auf und klickte auf Jetzt anmelden.

Kapitel 3

Alex beschloss, Claire vor dem Ausflug anzurufen, um sich ein Bild davon machen zu können, was geplant war. Bei Informationen, die über Matt zu ihr gelangten, gab es ein allzu großes Risiko für Missverständnisse.

Wie damals, als sie auf einem Fest von Matts Familie erschienen war und feststellen musste, dass es sich um eine Poolparty handelte – ein Detail, das Matt vergessen hatte zu erwähnen, ebenso wie die Tatsache, dass er einer so vermögenden Familie entstammte, dass sie einen Swimmingpool besaß. Was Alex noch mehr überraschte.

Matt ließ sich natürlich nicht lumpen und sprang in seiner Hose ins Wasser. Alex dachte an die Unterwäsche, die sie trug, und beschloss, an Land auszuharren.

***

Alex wählte Claires Nummer. Sie betrachtete ihre Fingernägel, schnippte gegen eine brüchige Stelle und fragte sich, wem gegenüber sie in dem leeren Zimmer Nonchalance simulierte.

Als Claire sich meldete, geriet Alex ins Stocken.

»Hier Alex. Alex Mount.« Sie stockte abermals. »Matts Freundin.« Dann noch, unter Qualen: »Matt Cutler.«

»Ach, du bist es! Wie schön, von dir zu hören! Wie geht's?«

»Alles schön. Also … ich freue mich wirklich auf unseren Ausflug.«

»Ist das wahr?« Claires Stimme klang amüsiert. »Du findest nicht, dass es etwas übertrieben ist?«

»Ich bin sicher, dass es uns gefallen wird.«

»Nun, ich hab mir auch meine Gedanken gemacht, nachdem Matt den Happy Forest vorgeschlagen hatte. Aber wenn so übergeschnappte Royals wie Prinz Andrew und Fergie es hinkriegen, sich zu verstehen, sollte es bei uns doch auch klappen. Wir sind doch alle erwachsen.«

»Stimmt.«

Claire zögerte. »Und wenn es eine Katastrophe wird, sprechen wir einfach nie wieder davon.«

Alex gab sich optimistisch. »Es wird sicher großartig.«

»Ich weiß«, sagte Claire. »Ich sollte nicht immer so skeptisch sein.«

»Wird uns Posey eigentlich auf den Ausflug begleiten?«

Claire hielt inne, dann seufzte sie. »Daran geht leider kein Weg vorbei. Hätte man mir vorher gesagt, wie viel Mühe es kostet, sich das Leben mit einem imaginären Kaninchen einzurichten, hätte ich es nicht geglaubt.«

»Das habe ich auch schon gemerkt.«

»Findest du, dass wir es unterbinden sollten?«

»Ich finde … das wirst du am besten wissen.« Wenn Alex inzwischen etwas klargeworden war, dann dass der Umgang mit imaginären Kaninchen ein überraschend hohes Maß an Diplomatie erforderte.

»Patrick meint, wir sollten es unterbinden«, sagte Claire. »Aber Matt und ich haben uns darauf geeinigt, dass wir uns Sorgen machen würden, wenn Scarlett fünfunddreißig wäre. Aber sie ist erst sieben.«

»Hoffen wir, dass es nicht so lange anhält.« Alex war bemüht, möglichst neutral zu klingen. »Posey scheint sich auf jeden Fall entwickelt zu haben, seit ich ins Spiel gekommen bin. Sowohl in seinem Wesen als auch in seiner Präsenz.«

»Wohl wahr«, seufzte Claire. »Aber es hat ja noch viel früher mit ihm angefangen. Ursprünglich war er einfach ein Kuscheltier, ein lila Kaninchen, das Scarlett überall mit sich herumschleppte. Sie war am Boden zerstört, als Matt ihn auf Teneriffa in einem Mietwagen vergaß. Und dann kehrte Posey zurück, zumindest in Scarletts Vorstellung. Offenbar sieht er genauso aus wie zu Kuscheltierzeiten, ist aber hundertmal größer. Und natürlich unsichtbar.«

»Richtig.« Wieder total neutral. »Also, um noch mal auf den Ausflug zu sprechen zu kommen … Gibt es einen Plan, wie das ablaufen soll? Matt hat nicht viel Konkretes gesagt – du kennst ja Matt.«

»Keine Pläne, wir wollen uns einfach nur ausruhen und die Zeit dort genießen. Wir werden natürlich ein paar Unternehmungen im Voraus buchen müssen, aber darum kümmert sich Patrick. Und ich werde ab und zu kochen – ich koche für mein Leben gern, vor allem in den Ferien ist es für mich die pure Entspannung –, aber wir können natürlich auch mal essen gehen. Hauptsache, wir kommen ein bisschen zur Ruhe.«

»Matt sagte, du seist sehr gut organisiert.«

Claire lachte. »Hm – nein. Im Vergleich zu ihm natürlich schon. Aber wenn du Patrick fragst, wird er dir sagen, dass ich den Tag verbummle. Scheint wohl eine Frage des Standpunkts zu sein.«

»Kann ich irgendwie behilflich sein?«

Behilflich. Alex hatte das Wort gar nicht aussprechen wollen. Und prompt hatte sie sich in die ihr verhasste Rolle einer unmündigen Erwachsenen manövriert, die offensichtlich nicht in der Lage war, eigene Entscheidungen zu treffen, und nur Anweisungen entgegennehmen konnte – und sie waren noch nicht einmal in der Hütte angekommen. In Gegenwart von Eltern passierte das immer wieder. Als seien nur diese rechtmäßige Erwachsene und hätten allein zu bestimmen, was von allen zu tun sei. Als sei Alex nicht mehr als eine Zweitbesetzung in der Erwachsenengarde, an Reife kaum entfernt vom Kindertisch, wo es noch erlaubt war, Plastikspeckscheiben und Holztomaten auf einen Mini-Spielzeugherd von Fisher-Price zu trümmern.

»Alles schon organisiert, Alex. Kümmre dich nur ums Entspannen. Du hast es dir verdient.«

Alex blickte auf ihre Füße, die in kuscheligen, rutschfesten Socken steckten und auf dem Polsterhocker ruhten. Als sie um sieben von der Arbeit gekommen war, hatte sie sofort ihren Schlafanzug angezogen. »Wenn du meinst. Ich komm mir irgendwie nutzlos vor.«

»Ist alles gut, Alex. Du könntest den Weihnachtskuchen backen, wenn du willst. Oder auch nicht. Ganz wie du möchtest.«

»Gut, dann mache ich den Kuchen. Wenn du sicher bist, dass sonst nichts gebraucht wird.«

»Alex, entspann dich einfach. Du musst dich nicht mit dem mühsamen Elternkram abgeben. Du arbeitest hart genug.«

Sie verabschiedeten sich, und Alex betrachtete die Spielkonsole auf der anderen Seite des Zimmers. Die Tasten der Controller waren schon abgenutzt, weil sie und Matt abends oft Tennis oder Bowling spielten.

Arbeitete sie hart?

Claire meinte es sicherlich nett, aber Alex war sich nicht sicher, ob diese Aussage wirklich zutreffend war. War es nicht einer dieser Gemeinplätze, die von denjenigen kommen, die sich anbiedern wollen? So wie Politiker ständig von den hart arbeitenden Familien sprachen, weil alle Welt das Gefühl hatte, mehr Schlaf zu brauchen?

Wollte Claire ihr etwa schmeicheln?

Alex fand Matt im Schlafzimmer vorm Fernseher. »Matt, würdest du dich als jemand bezeichnen, der hart arbeitet?«

»Welchen Hintergedanken ahne ich da?« Er löste den Blick vom Bildschirm: Es lief ein Programm, bei dem die Kandidaten sich um die Wette die Bäuche vollschlugen. »Was habe ich vergessen zu erledigen?«

»Es ist einfach das, was man so sagt, oder?«, sagte Alex. »Jeder denkt, dass er hart arbeitet.«

Matt rollte sich auf seine Bettseite. Er blickte zu ihr hoch. »Ich bin ein Faulpelz, Alex, das weißt du doch. Wenn ich am Wochenende zur Mittagszeit schon angezogen bin, klatsch ich mich selbst ab.«

»Du scheinst eher stolz darauf zu sein. Aber du weißt immerhin, dass du damit als Geisterfahrer unterwegs bist.«

»Ich versteh nicht, warum so viel Theater darum gemacht wird. Warum jeder immer davon reden muss, wie beschäftigt er ist. Ich meine, wofür glauben denn alle Buße tun zu müssen?«

Das genau war es: eine der Eigenschaften, deretwegen Alex ihren Freund einfach toll fand. Wenn er so etwas sagte, kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob er eigentlich der einzige Mensch war, der eine Ahnung vom Leben hatte.

Matt rollte sich zurück und deutete auf den Fernsehapparat. »Komm her und sieh dir das an. Der Typ hat schon zwei Tablettladungen Würstchen gegessen. Er muss sich bestimmt gleich übergeben.«

Alex setzte sich neben Matt, worauf dieser sie mit einem liebevollen Würgegriff zu sich aufs Bett zog. Sie sah, wie der Mann im Fernsehen sich mühte, weitere Würstchen zu verspeisen. An den Mundwinkeln hervorquellende Flüssigkeiten tupfte er sich mit einer Serviette ab.

»Claire hat gesagt, wenn ich behilflich sein wollte, könnte ich einen Weihnachtskuchen backen.«

»Cool.«

»Ich mag keinen Weihnachtskuchen.«

»Ich auch nicht, die schmecken immer so erdig.«

»Mag Claire ihn?«

»Kann ich mir kaum vorstellen. Weihnachtskuchen mag doch keiner.« Matt deutete auf den Bildschirm. »Der Typ platzt gleich. Hoffentlich haben sie ein paar Eimer bereitstehen.«

Alex sagte nichts. Sie dachte an das Gespräch mit Claire.

Du musst dich nicht mit dem mühsamen Elternkram abgeben.

Was hatte das zu bedeuten? Handelte es sich um eine ernstgemeinte, großzügige Aussage, oder zeugte es von jener falschen Bescheidenheit, mit der manche Leute sich wichtigmachten?

Oder dachte Claire etwa, Alex sei nicht in der Lage, den mühsamen, aber doch wohl superwichtigen Elternkram zu bewältigen?

Wenn ja, lag sie gar nicht so falsch. Alex wusste, dass sie kein besonderes Händchen für Kinder hatte. Sie wurde von Scarlett zwar nicht offensichtlich gehasst, aber das Mädchen behandelte sie wie Luft. Wenn sie einander begegnet waren, hatte Scarlett stets entweder mit ihrem imaginären Kaninchen geflüstert oder auf Matts iPhone Spiele gespielt, deren Sinn sich Alex nicht erschloss, da es anscheinend darum ging, Verliese für Hühner zu bauen.

Zwei Jahre war Alex mit Scarletts Vater zusammen, und dennoch war sie sich nicht sicher, ob das Mädchen sie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung erkennen würde.

Alex versuchte, sich auf den Fernseher zu konzentrieren. Gerade wurde gezeigt, wie viel sich der Würstchenmann schon einverleibt hatte.

Nachdem Matt den Happy Forest vorgeschlagen hatte …

»Claire hat erzählt, du hättest den Vorschlag gemacht«, sagte Alex. »Für den Ort, wo wir hinfahren.«

Matt nickte dem Fernseher zu.

»Aber gemeinsam Weihnachten zu feiern war Claires Idee?«, fragte Alex. »Ursprünglich?«

»Genau. Ich hab ihr nur beim Ort unter die Arme gegriffen. Du kennst mich doch: Ich hab einfach immer so gute Ideen.« Matt deutete auf den Bildschirm. »Gleich ist es aus – ha! Vorbei!«

Kapitel 4

Eine Woche vor dem Ausflug saß Scarlett zusammen mit Posey hinten im Auto. Mum fuhr mit ihnen in das riesige Einkaufszentrum, aber sie hatten bereits zwanzig Minuten für das Stück vom letzten Kreisverkehr bis zum ersten Parkplatz gebraucht. Es waren einfach zu viele Autos auf den Straßen unterwegs.

»Es ist zum Kotzen. Zum Kotzen!« Mum schlug mit der Hand gegen das Lenkrad. »Dieser Kommerz. Schlimm!«

Mum sagte oft zu Scarlett: »Geduld ist eine Tugend«, und Scarlett fragte sich manchmal, ob sie das wohl auch zu sich selbst sagte.

Mum drehte sich auf ihrem Sitz nach Scarlett um. »Dieser Ort ist die Verkörperung all dessen, was auf der Welt schiefläuft.«

Als Mum sich wieder nach vorn wandte, blickte Scarlett zu Posey hinüber und verdrehte die Augen. Posey tat es ihr nach.

Sie waren beide gleich groß (wenn man von Poseys Ohren absah), dennoch saß Scarlett auf dem Rücksitz ein Stück über Posey. Mum sagte, dass Posey keinen Kindersitz brauche. Scarlett hätte gern einen für ihn gehabt, wollte deswegen aber keinen Streit anfangen. Es wären zwei gegen einen gewesen – Posey wollte nämlich auch keinen Kindersitz. Die gekrümmten Spitzen seiner lila Ohren stießen schon jetzt an den Fahrzeughimmel.

Mum schlug abermals mit der Hand gegen das Lenkrad. »Finden die Leute denn nicht, dass sie genügend Krempel haben?«

Scarlett ahnte Böses. »Aber wir gehen doch trotzdem rein, Mum?«

»Ich würde es am liebsten lassen. Aber du hast ja noch kein Geschenk für Alex.«

Das erschien Scarlett ein überaus belangloser Grund. Sie kannte Alex doch kaum. Aber sie wollte gern einkaufen gehen, also behielt sie das lieber für sich.

***

Im Einkaufszentrum nahm Mum sie fest an die Hand und hastete los. Scarlett wurde unentwegt angerempelt, schien von den Menschen geradezu vorangestoßen zu werden. Sie hielt Poseys Hand ebenso fest wie Mum die ihre, denn die Leute wichen vor ihm nicht aus. Sie wichen ja nicht einmal vor Scarlett aus. Oder vor Mum.

»Diese Leute … wie halten die das nur aus?« Die Strähnen ihres blonden Ponys klebten Mum an der Stirn, wie immer, wenn sie sich aufregte. »Warum tun die sich das an?«

Scarlett fragte nicht: Warum tun wir uns das an? Das brauchte sie nicht. Schließlich ging es um Weihnachten.

Zurzeit dreht sich alles um Weihnachten.

»Es ist nur leider so, dass du für Alex nicht einfach Handschuhe oder so was besorgen kannst«, sagte Mum. »Es muss etwas Besonderes sein, sie soll merken, dass sie dir wichtig ist.«

»Ist sie aber nicht.«

Mum funkelte sie an.

Scarlett wusste, dass sie besser den Mund gehalten hätte. Doch sie konnte nicht anders. »Und Alex macht doch auch nur blöde Geschenke. Weißt du noch, was ich letztes Jahr von ihr bekommen habe? Diesen Pulli!«

»Ein sehr nettes Geschenk.«

»Es war nicht mal ein schöner Pulli. Er war grün. Und vorn drauf war ein Raumschiff.«

»Ich dachte, du wolltest etwas für sie besorgen.« Mums Stimme hatte etwas Beunruhigendes. »Ich dachte, deswegen haben wir uns durch den Stau hinterm Kreisverkehr gequält.«

Scarlett schwieg.

Posey ließ ihre Hand los. Er deutete mit dem Kopf auf einen Laden. »Da geh ich mal kurz rein. Warte nicht auf mich.«

»Posey!« Scarlett drehte sich der Magen um. »Du wirst zwischen all den Menschen verlorengehen!«

Posey ignorierte sie. Sein lila Pelzkörper drängte sich zwischen die vielen Menschen, und Scarlett sah nur noch seinen weißen Puschelschwanz wedeln, als er verschwand. Posey war von Kopf bis Fuß lila, bis auf den Schwanz und den weißen Fleck auf dem Bauch. Andersfarbig war nur das kleine Etikett mit der Aufschrift Made in China, das seitlich an seinem Hintern flatterte.

»Mum! Wir müssen auf Posey warten!«

Mum ließ sich nicht aufhalten. »Dafür hab ich heute keine Zeit. Ihm passiert schon nichts.«

»Ich hab Posey gesagt, er soll bei mir bleiben. Er gehorcht einfach nicht!«

»Er ist ein großes Kaninchen.«

Eine Sekunde später war Posey zurück. »Wie sehe ich damit aus?«

Scarlett sah nach unten. Bisher hatte sie Posey nur nackt gesehen, aber jetzt trug er ein Paar silberne Moonboots.

Wieder drehte sich Scarlett der Magen um. Diesmal in die andere Richtung. Das waren dieselben Stiefel, die Scarlett sich von Mum wünschte, die jedoch gesagt hatte, Scarlett könne sie als Hauptgeschenk zu Weihnachten bekommen oder gar nicht. Aber Scarlett verschwendete ihr Hauptgeschenk doch nicht an etwas zum Anziehen.

Manchmal war sie eifersüchtig darauf, dass Posey Sachen einfach so bekommen konnte. Für ihn galten andere Regeln.

Scarlett sah, wie Poseys Stiefel blitzten, während er ging. »Ich dachte, du stehst nicht auf Anziehsachen.«

Posey zuckte mit den Achseln. »In China trägt jeder solche Stiefel.«

»Meinetwegen, aber lauf nicht wieder weg.« Scarlett war es manchmal leid zu hören, wie toll alles in China war. »Zwischen all den Leuten hier finden wir dich nicht wieder.«