Über Julie Peters

Julie Peters, geboren 1979, arbeitete einige Jahre als Buchhändlerin und studierte ein paar Semester Geschichte. Anschließend widmete sie sich ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie im Westfälischen. Im Aufbau Taschenbuch ist bereits der Roman »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg« von ihr erschienen.

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Zauberhafte Inselweihnachten.

Frieke zählt die Tage bis Heiligabend, sie kann gar nicht mehr aufhören, das alte Kapitänshaus oder die Buchhandlung zu schmücken. Nur warum liegt jeden Adventstag ein Briefchen vor ihrer Haustür? Was hat dieser besondere Adventskalender zu bedeuten? Und warum ist Bengt so abweisend, seit sie im Überschwang der Schwangerschaftshormone darüber gesprochen hat, dass sie ja heiraten könnten?

Warmherzig und humorvoll: Frieke findet das Glück zwischen verschneiten Dünen.

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Julie Peters

Der kleine Weihnachtsbuchladen am Meer

Roman

Inhaltsübersicht

Über Julie Peters

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Impressum

Kapitel 1

Frieke warf einen letzten Blick in den Badezimmerspiegel. Sie war zufrieden mit dem, was sie da sah. Okay, die Wangen wirkten irgendwie voller, aber da das aktuell auf ihren ganzen Körper zutraf – sogar die Zehen lagerten fröhlich Wasser ein, als wären sie im Wettbewerb mit den zu kleinen Stummelwürstchen angeschwollenen Fingern, – und es, wie ihre Hebamme Meike immer wieder versicherte, nur ein vorübergehendes Phänomen war, versuchte sie, sich damit zu arrangieren.

Soweit das eben möglich war, wenn man sich in ein teures, enges Kleid zwängte, weil man auf einer Hochzeit eingeladen war.

»Vor einer Woche hat es noch gepasst«, murmelte Frieke deprimiert. Ihre Hand ruhte auf dem Bauch, der offensichtlich schon wieder gewachsen war.

»Ist ja nicht mehr lang.« Bengt schob sich in das kleine Badezimmer und küsste ihren Nacken. Frieke hatte die dunklen Locken in mühsamer Kleinarbeit gebändigt und hochgesteckt. Als Krönung hatte sie eine alte, petrolfarbene Federbrosche mit Pailletten hineingesteckt und das Ganze mit so viel Haarspray fixiert, dass sich garantiert kein Härchen hervorwagen würde.

Bengt rümpfte die Nase. »Hast du gerade das Ozonloch über dem Südpol um drei Prozent vergrößert?«

Spielerisch versetzte sie ihm einen Klaps auf den Unterarm. »Manchmal bist du mit deinem Ökobewusstsein ein bisschen arg Achtziger!« Sie betrachtete ihn zärtlich. Sie konnte gar nicht glauben, dass dieser unglaublich attraktive Mann mit den Wuschelhaaren und dem gepflegten Dreitagebart wirklich zu ihr gehörte.

Bengt trug einen schlichten, grauen Anzug und eine rote Krawatte zu dem weißen Hemd. Der Anzug war schon etwas älter und zu weit geschnitten, wie es vor zehn Jahren nun mal Mode gewesen war. Auch bei der Krawatte hatte er nicht mit sich reden lassen. Friekes Vorschlag, er könnte doch eine Krawatte wählen, die zu ihrem Kleid passte, hatte er abgeschmettert. »Die geht noch«, hatte er behauptet. Und so richtig unpassend war sie nicht zu dem cremefarbenen Empirekleid mit Spitzenrock, der zum Glück bis zum Boden reichte. Dadurch wurde der Bauch zwar noch mehr betont, aber zugleich wurden die ziemlich unpassenden und leider auch sehr unstylischen Birkenstocks kaschiert, die sie anhatte, die Riemen bis auf das äußerste Loch geschnallt. In Schuhe mit Absätzen hätte sie heute definitiv nicht gepasst. Da hätte Bengt sie auch zur kleinen Inselkirche tragen können, und nein, das würde er nicht tun. War ja nicht so, als hätte sie ihn nicht danach gefragt.

»Ich habe extra eins genommen, das im Ökotest gut abgeschnitten hat«, verteidigte sie ihre Betonfrisur. »Und ich mache es ja nur dieses eine Mal. Ja?«

Bengt brummelte etwas vor sich hin. Er hielt seinen Kamm unter kaltes Wasser und begann, die gewohnt krausen Haare zu bändigen. Ja, wenn sie so kurze Haare hätte, dann hätte sie auch kein Problem, sich eine Frisur zu zaubern. Feuchter Kamm durch, zack, fertig.

Damit Bengt sich in Ruhe fertig machen konnte, verließ Frieke das Badezimmer. Im Flur standen die Birkenstocksandalen neben einem Paar flachen Ballerinas, die sie letzte Woche im Secondhandladen auf dem Festland gefunden hatte. Sie passten perfekt zu der petrolfarbenen Schleife über ihrer Babykugel und dem Kleid. Darüber würde sie ihren Mantel tragen, denn es war nach einem traumhaften Sommer und einem goldenen Herbst in den letzten Wochen empfindlich kalt und feucht geworden.

Manchmal fand sie es anstrengend, dass sie auf einer Insel lebte. Und ja, gelegentlich fand sie sogar Bengt anstrengend, der ein Leben mit möglichst wenig Müll und einem Augenmerk auf Nachhaltigkeit führen wollte. Er war in der Hinsicht ein Perfektionist. Frieke war alles Mögliche. Gut zwei Jahre an der Seite von Bengt hatten sie sicher in Bezug auf ihre eigene Ökobilanz zu einem besseren Menschen gemacht, wenn besser bedeutete, dass man weniger konsumierte, mehr über den Konsum nachdachte und vieles gebraucht kaufte und keine Flugreisen mehr unternahm. Aber es blieb für sie anstrengend, während Bengt scheinbar mühelos bei jeder Konsumentscheidung zielstrebig die für die Umwelt beste Möglichkeit herauspickte und dann auch umsetzte.

Tja. Es fiel ihr eben an einigen Tagen verdammt schwer, mit einem Umweltengel zusammen zu sein.

»Haben wir alles?« Bengt kam aus dem Badezimmer. Obwohl der Anzug etwas aus der Zeit gefallen schien, obwohl seine braunen Lederschuhe an den Spitzen etwas angestoßen waren und sein Gürtel nicht exakt den Braunton der Schuhe traf – er sah zum Anbeißen aus. Frieke würde dasselbe gern von sich behaupten. Aber sie war wohl eher ein Fall für die Walfänger, sonst biss hier keiner an.

»Das Geschenk!« Sie lief ins Wohnzimmer. Dort stand der Karton, den sie in eine alte Zeitung eingewickelt hatte. Bengt hatte es irgendwie geschafft, diese alte Ausgabe aufzutreiben, von dem Tag, an dem das Brautpaar sich das erste Mal geküsst hatte. Es hatte einige Nachfragen gekostet, und selbst jetzt war Frieke nicht sicher, ob das Datum stimmte. Nach über fünfzig Jahren konnte das Gedächtnis einen ja schon mal im Stich lassen.

Aber ihre Freundin Johanne, die zugleich auch eine gute Kundin in Friekes kleinem Inselbuchladen war, hatte sehr überzeugt geklungen, als sie den ersten Kuss auf einen Tag im Mai 1968 datierte. Und Frieke hatte das Datum an Bengt weitergegeben, der die Zeitung bestellte, die dann per Post geliefert wurde. Ob das jetzt so nachhaltig war? Hätte es da nicht auch die Zeitung von letzter Woche getan?

Lieber nicht darüber nachdenken oder gar diskutieren. Sie sollte sich vielmehr darüber freuen, dass Bengt in diesem Fall über seinen Schatten sprang.

In dem Paket steckte dann auch wieder etwas Gebrauchtes. Eine aus alten Porzellantellern zusammengesetzte Étagère. Die Teller hatten Goldrand, waren aus verschiedenen Service entnommen und doch sah das Ergebnis dieses Kunsthandwerks, das aus einer kleinen, ostwestfälischen Manufaktur stammte, einfach perfekt aus. Es passte auf jeden Fall zu Johanne und Oltmanns Kruse, die verschiedener kaum sein konnten.

»So eine übereilte Hochzeit hätte eher zu uns gepasst.« Bengt gab Frieke einen Kuss auf die Wange. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, das Geschenk in den Händen.

Eine übereilte Hochzeit.

»Wie meinst du das?«, fragte sie wider besseres Wissen. Denn das Thema heiraten, so viel wusste sie inzwischen, war eben kein Thema für ihn. Zumindest hatte er das neulich so gesagt, als sie mit der Hochzeitseinladung nach Hause kam. Er freute sich für das Brautpaar, aber als sie durchblicken ließ, dass sie es auch schön fände, wenn sie beide heirateten, hatte er sie nur flüchtig auf den Mund geküsst und sagte: »Ach was. Wir haben es doch gut, so wie’s ist.«

Und Bengts nächste Worte bestätigten ihr, dass er übereilte Hochzeiten vielleicht bis zu einem gewissen Grad romantisch fand, aber doch nicht für sie beide!

»Du siehst wunderschön aus«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Thema abgehakt.

Dann klemmte er sich das Paket unter den Arm und verließ hastig das Haus.

Frieke schlüpfte in den Mantel, der sich leider nicht mehr zuknöpfen ließ. Musste sie eben frieren. Zum Glück waren die Wege kurz im Spiekerooger Inseldorf, und bis zur Kirche waren es gerade mal drei Minuten zu Fuß. Sie wickelte sich rasch noch einen dicken Schal um den Hals, den ihre Freundin Sonja gestrickt hatte. Dann trat sie hinaus in das stille Grau des Novembers und folgte Bengt.

Am Gartentörchen wartete er auf sie.

»Hey«, sagte er. »Ich habe das vorhin nicht so gemeint.«

»Was denn?« Sie bemühte sich um ein Lächeln.

»Das mit dem Heiraten.«

»Du hast doch gar nichts gesagt.«

Er musterte sie prüfend. Aber dann ließ er es auf sich beruhen, und sie ging auch nicht auf diese Steilvorlage ein. Sie wollte nicht streiten, und sie spürte, wie es tief in ihr grummelte und grollte.

Heute war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. Heute ging es doch nur ums Brautpaar.

Bengt und sie waren seit gut zwei Jahren ein Paar, und in ihren Augen waren sie glücklich. Das Baby würde im Februar zur Welt kommen. Es war nicht geplant gewesen, aber sobald Frieke wusste, dass sie ein Kind erwartete, hatte sie sich uneingeschränkt darauf gefreut. Auch weil Bengt der Richtige war, um mit ihm eine Familie zu gründen. Was sich spätestens dann bestätigte, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Auch er freute sich vom ersten Augenblick an und riss sogleich den Nestbau an sich.

Aber heiraten? Das passte irgendwie nicht zu ihm, und Frieke war zu stolz, um ihn ständig daran zu erinnern, dass sie es ganz schön fände, nachdem sie länger darüber nachgedacht hatte. Nicht zwingend, aber schön, weil sie damit zeigten, dass sie zusammengehörten. Vielleicht, nein, ganz bestimmt war das sehr altmodisch.

Aber alle taten es! Sogar ihre Freundin Emma, die aktuell noch mit dem Vater ihrer Zwillingssöhne in Scheidung lebte, hatte Frieke in einem stillen Moment verraten, dass Raik und sie ernsthaft darüber nachdachten, ob sie heiraten sollten, wenn die Scheidung erst mal rechtskräftig war. Und die beiden waren doch erst seit dem Spätsommer ein Paar! Wie konnten sie sich schon jetzt so sicher sein?

Bengt beobachtete sie aufmerksam. Frieke hakte sich bei ihm unter. »Ach«, sagte sie leichthin. »So eine Pralinenhochzeit muss es ja nicht sein.«

Bevor Bengt darauf etwas erwidern konnte, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie hatte Sonja entdeckt, die an dem Törchen wartete, das in den Kirchhof führte.

Die kleine Spiekerooger Inselkirche stand mitten im Dorf. Frieke hatte manch schöne und wehmütige Erinnerung an diesen kleinen Backsteinbau, der sich im Schatten der Linden und Kastanien duckte. Die Dachschindeln waren verwittert, die Holztür klemmte, verzogen von Wind und Wetter. Im Innern war es zu dieser Jahreszeit empfindlich kalt. Normalerweise wurde nur im Sommer hier Gottesdienst abgehalten; im Winter konnte die Kirche schlicht nicht beheizt werden.

Doch für Johanne und Oltmanns machte die Gemeinde eine Ausnahme, und damit die Hochzeitsgäste nicht an den Holzbänken festfroren, lagen cremefarbene Decken und dazu passende Sitzpolster auf den Bänken.

Der Bräutigam war schon da, als Frieke und Sonja die Kirche betraten. Bengt stellte das Geschenk im Eingangsbereich ab. Zu spät fiel Frieke ein, dass sie es auch in aller Ruhe nach der Trauung hätten holen können, bevor es zum Mittagessen in Oltmanns’ Hotel Spiekerooger Liebe ging.

Frieke und Sonja gingen nach vorne, wo bereits Johannes Familie vollzählig versammelt war – ihre Kinder und Enkel, sogar ihre Schwester hatte den Weg aus Aurich auf sich genommen. Außerdem zwei Freundinnen aus Neuharlingersiel.

Auf Oltmanns’ Seite saßen nur zwei seiner Nichten, die eine war mit ihrem Freund gekommen. Er war bisher kein ausgeprägter Familienmensch gewesen.

Umso schöner, dass er mit Johanne gleich eine ganze Familie heiratete.

Während Frieke von Johannes Kindern begrüßt wurde, spürte sie Oltmanns’ Blick in ihrem Rücken. Sie schob Bengt in die Richtung des Bräutigams. »Hier, walte deines Amtes«, flüsterte sie.

Bengt verzog keine Miene, und das rechnete sie ihm hoch an, denn in den vergangenen Tagen hatten sie sich mehrfach gehörig in die Haare gekriegt, sobald es um diese Hochzeit ging. Bengt war kein großer Freund von Oltmanns Kruse. Er nahm ihm immer noch übel, dass dieser den Inselrat ausgetrickst und ein riesiges Hotel am Norderpad errichtet hatte. Viel zu groß für die Insel, fand Bengt. Frieke hatte sich inzwischen an die Dimensionen des Hotels gewöhnt, und zudem merkte sie, dass Johanne einen mäßigenden Einfluss auf Oltmanns ausübte. Außerdem hatte der alte Hotelier sie vergangene Woche in der Buchhandlung aufgesucht und ihr vorgeschlagen, sie könne doch regelmäßig die Hotelbibliothek mit neuen Büchern bestücken. Eine Aufgabe, der Frieke sehr gerne nachkam.

Da Oltmanns bis auf die Nichten niemanden hatte, war er bei der Suche nach seinem Trauzeugen ins Straucheln geraten. Johanne hatte sich Frieke in einer stillen Minute anvertraut, weil ihr dieser Umstand durchaus auf dem Herzen lag. »Er hat einfach niemanden. Mir tut es so leid, wenn er ganz allein da vorne steht.«

Und weil Frieke nun mal war, wie sie war, hatte sie Bengt dazu verdonnert, sich zu Oltmanns zu stellen und als Trauzeuge zu fungieren. Bengt hatte gegrollt und gefaucht, aber als sie ihn fragte, ob er denn allein da vorn stehen und auf seine Braut warten wollen würde, gab er schließlich nach.

Sonja befestigte nun ein Sträußchen Schleierkraut mit einer winzigen Rose in der Mitte an Bengts Revers. Oltmanns trug bereits ein ähnliches am Aufschlag seines modernen, hellen Anzugs. Er zog gerade ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über die Nase.

Na also. Ein Stofftaschentuchbenutzer. Das sollte Bengt doch für ihn einnehmen.

Frieke lächelte ihrem Liebsten noch mal aufmunternd zu, bevor sie nach draußen ging. Sonja kümmerte sich derweil um Oltmanns’ Verwandte und setzte sich zu ihnen. Später würde auch sie dort Platz nehmen.

Nach und nach kamen noch ein paar weitere Insulaner – allesamt Freunde von Johanne, die sich aber, um das Gleichgewicht zu wahren, auf die Seite des Bräutigams setzten.

Frieke stand fröstelnd vor der Kirche und blickte nervös auf ihr Smartphone. Hoffentlich war nichts passiert …

Doch da kam auch schon die Braut.

Raik und Emma hatten sich von Frieke das Lastenrad der Buchhandlung geliehen, das vorne eine große Wanne mit Sitzbank hatte. Diese hatten sie mit Girlanden geschmückt. Die letzten Zweige Sanddorn aus den Dünen hatten dran glauben müssen, dazu Schleierkraut und orange Rosen, die am Morgen frisch vom Festland geliefert worden waren, zusammen mit dem wunderschönen Brautstrauß.

Johanne saß auf der Bank des Lastenrads, das Raik fuhr. Emma und ihre zweijährigen Zwillingsjungs liefen hinterher. Wie sehr Johanne diese Art des Transports gefiel, konnte man an ihrem strahlenden Lächeln erkennen. Sie zog den Kragen ihres orangefarbenen Ponchos aus Wollwalk enger um den Hals. Dazu trug Johanne ein tiefblaues Kleid mit cremefarbener Spitze und nachtblaue Samtschuhe, die sie seit über vierzig Jahren besaß. Der Poncho war neu, das Kleid blau, die Schuhe alt … Frieke hatte für etwas Geborgtes gesorgt, indem sie Johanne die blaue, mit Pailletten besetzte Clutch geliehen hatte, die noch aus einem anderen Leben stammte. Einem, von dem sie sich meilenweit entfernt hatte.

»Da seid ihr ja!« Frieke winkte. Das Lastenrad kam zum Stehen, und Raik half Johanne heraus.

»Oh, das war aufregend!« Johanne strahlte und hakte sich bei Frieke ein. »Sind schon alle da?«

»Alle da. Er auch«, fügte Frieke mit einem Augenzwinkern hinzu. »Keine Angst, unsere Männer lassen ihn jetzt nicht mehr entkommen.«

Johanne lachte. »Darum mache ich mir keine Sorgen.« Sie wirkte so glücklich, dass Frieke nicht anders konnte – sie musste sich kurz abwenden und ein Tränchen verdrücken.

Die Schwangerschaft, redete sie sich ein. Die machte komische Dinge mit ihr.

Es musste wunderbar sein, wenn man nach über fünfzig Jahren die große Liebe heiraten durfte.

In Friekes Augen war Johanne die schönste Braut, die sie je gesehen hatte. Und sie hatte früher, als sie noch in Hamburg lebte und einen großen Freundes- und Kollegenkreis besaß, viele Hochzeiten besucht. Aber dieses innere Leuchten, das sogar den trüben Novembertag erhellte – das hatte sie bei bisher keiner Braut erlebt.

Das Ja-Wort war gegeben, der Reis geworfen, das Brautpaar mit der Hochzeitsgesellschaft auf dem Weg zum Hotel, in dem in Kürze ein Empfang stattfinden sollte, dicht gefolgt von einem üppigen Hochzeitsmahl. Frieke schickte Bengt mit den anderen Gästen voraus. Sie blieb im Kirchhof stehen. Der alte Friedhof, auf dem seit Jahrzehnten niemand mehr bestattet wurde, zog sie magisch an.

Sie wusste, warum das so war.

Auf einer Steinbank setzte Frieke sich hin und blickte in das bunte Laub der Bäume hinauf. War es wirklich schon zweieinhalb Jahre her, dass sie hier zum ersten Mal mit ihrem Vater Ole gesessen hatte? Unvorstellbar. Damals hatte sie nicht mal geahnt, dass die Insel sie so schnell nicht loslassen würde.

Aber genau so war es gekommen. Erst hatte sie ihr Herz an die Insel verloren, dann an den grummeligen, aber doch so liebenswerten Vogelkundler Bengt Gerjets, der die besten Kuchen von hier bis Norden buk und nicht nur ihr Leben auf den Kopf stellte, sondern auch das alte Kapitänshaus, in das sie nach dem Tod von Ole einzog. Dass sie ihren Vater vorher über dreißig Jahre nicht gesehen hatte und stets den zweiten Ehemann ihrer Mutter als Papa angesehen hatte, änderte nichts daran, dass sie Wurzeln verspürte, wann immer sie das von Ole geerbte Haus betrat. Dort gehörte sie hin.

Dass ihr eine glückliche Fügung auch gleich eine Existenzgrundlage in Form der Inselbuchhandlung in den Schoß gelegt hatte, war nur das dritte Puzzleteil, das an seinen Platz fiel. Die Insel ließ Frieke nicht mehr los. Und sie war nicht die Einzige. Ihrer Freundin Emma war es im vergangenen Sommer ganz ähnlich ergangen.

»Na? Worüber denkst du nach?«

Es war nicht Emma, die sich neben Frieke auf der bemoosten Steinbank niederließ, sondern ihre Inselfreundin Sonja. Sie trug einen dunkelblauen Mantel über dem grünen Kleid, das ihre hellgrünen Augen perfekt zur Geltung brachte. Die winzigen Sommersprossen auf Nase und Wangen verblassten langsam, obwohl der Herbst sonnig und warm gewesen war. Sie hatte sich etwas Schleierkraut in das rote Haar geflochten, das vielleicht beim Kränzen übrig geblieben war.

Sonja war die Zupackende. Diejenige, die nie die Hände stillhalten konnte. Immer war sie mit irgendwas beschäftigt – sei es kochen oder backen, stricken, schreiben, mit ihren drei Kindern basteln, nähen oder einfach als Juniorchefin in der Ferienwohnungsverwaltung ihres Vaters, der auch Bürgermeister von Spiekeroog war, ihre Frau zu stehen. Sie war das, was man wohl als Powerfrau bezeichnen würde. Nur dass Sonja davon nichts hören wollte.

»Ich mache nur, was getan werden muss«, pflegte sie zu sagen. Und seit sie mit den Kindern allein war, musste sie eben alles tun.

»Wie schafft man das?«, fragte Frieke sie jetzt. »Dass man nicht ständig zurückblickt und sich fragt, ob man vielleicht doch falsch abgebogen ist.«

»Das fragst du dich?« Sonja klang nicht ungläubig oder kritisch, sie fragte es ganz neutral.

Frieke zuckte mit den Schultern. Ihre Hand ruhte auf dem Bauch, sie spürte das Baby, das unter ihren Rippenbogen trat. Na, wenigstens lag es mal wieder mit dem Kopf nach unten. In den letzten Wochen hatte es sich immer wieder hin und her gedreht, und Frieke, die eine große, irrationale Angst vor einem Kaiserschnitt hatte, war jedes Mal erleichtert, wenn sie die Tritte so weit oben spürte.

»Bist du denn falsch abgebogen? Oder fühlt es sich so an?«

Sonja schaffte es außerdem, ganz wertfrei die richtigen Fragen zu stellen.

Frieke dachte an Bengt, der nicht heiraten wollte. War das wirklich so schlimm? Konnten sie das nicht in fünfzig Jahren noch nachholen? Das Heiraten lief ihnen nicht davon. Und wenn sie es nie taten, wäre das auch nicht so schlimm. Sie hatte bei Sonja und bei Emma erlebt, dass Scheidungen, selbst wenn sie einigermaßen einvernehmlich verliefen, immer auch Schmerzen für alle Beteiligten bedeuteten. Besonders, wenn Kinder mit im Spiel waren.

Wäre es da nicht klüger, wenn man gar nicht heiratete?

»Johanne ist so eine hübsche Braut.« Frieke seufzte. Sie brachte es nicht übers Herz, ihre wahren Gedanken auszusprechen.

Warum fragt er mich nicht? Wieso heiraten wir nicht? Was ist denn falsch daran, wenn ich einmal im Leben gefragt werden möchte, ob ich für immer bei ihm bleiben möchte – selbst wenn es irgendwann zerbricht? Bin ich so eine Romantikerin, dass ich mir etwas wünsche, das gar nicht zu uns passt? Oder passe ich nicht zu Bengt, weil wir doch gänzlich unterschiedliche Vorstellungen vom Zusammenleben haben?

»Ich kann da nur für mich sprechen. Ja, sie ist eine wunderschöne Braut. Und du wärst das auch. Die allerschönste Braut von allen.«

Sonja drückte Friekes Arm. Eine tröstliche Geste, und ihre Worte taten ihr gut. Bevor sie protestieren konnte, fügte Sonja hinzu: »Ich verstehe dich so gut. Ich habe damals auch gedacht, dass ich ›falsch abgebogen‹ bin. Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Die Hormone machen das mit einem.« Sie lachte. »Ich hätte Bosse während allen drei Schwangerschaften liebend gern zum Mond geschossen.«

»Das hätte dir einiges an Ärger erspart.«

Sonja wurde wieder ernst. »Das stimmt. Aber damals war alles gut. Es hat ja erst später nicht mehr funktioniert.«

Sie schwiegen. Schließlich stand Sonja auf. »Wollen wir? Nicht, dass sie ohne uns essen.«

»Das wäre fatal«, pflichtete Frieke ihr bei. Sie hatte schon wieder einen Bärenhunger. Als hätte sie nicht ausgiebig gefrühstückt.

Sie hakten sich unter und verließen den Friedhof. »Versprichst du mir was?«, fragte Sonja.

»Klar.«

»Bevor du Bengt auf den Mond schießt, frag ihn doch bitte nach dem Rezept für seinen Kirschkuchen mit Kokosstreuseln. Wäre zu schade, wenn das verloren ginge.«

Frieke lachte. »Abgemacht«, versprach sie. Das Herz war ihr schon ein bisschen leichter. Und als sie fünf Minuten später den kleinen Festsaal des Hotels Spiekerooger Liebe betraten und sie Bengt unter den anderen Gästen entdeckte, weitete sich ihr Herz.

Ich liebe ihn so, dachte sie. Wozu brauche ich denn einen Trauschein, um das mit absoluter Sicherheit zu wissen?

Kapitel 2

»Willst du nicht in die Buchhandlung?«

Bengt kam noch mal ins Schlafzimmer gestürmt. Er war auf dem Weg zum Fährhafen. Heute verließ er für ein paar Tage die Insel, um in Kiel an einer Konferenz zum Thema Zugvögel teilzunehmen, die seine Fakultät ausrichtete. Fünf Tage lang würde er nicht da sein.

Sie vermisste ihn jetzt schon.

Darum zog Frieke sich die Bettdecke über den Kopf. »Emma macht den Laden für mich um zehn auf«, murmelte sie in ihren warmen Kokon. Bengt setzte sich auf die Bettkante und zog die Decke weg.

»Und du bleibst den ganzen Tag im Bett?«

»Ich bin müde«, verteidigte Frieke sich. Gestern auf der Hochzeit war es erstaunlich spät geworden. Sie hatte sich selbst gewundert, wie lange sie es ausgehalten hatte, aber nach Mittagessen und Kaffeetrinken fand keiner der Gäste den Weg nach Hause, weshalb Oltmanns noch ein üppiges Abendessen bei der Küche orderte und sie bis spät in die Nacht aßen, tranken und sogar tanzten. Erst spätabends kam Bengt dazu, seinen Koffer zu packen, und da war ihr bewusst geworden, dass sie mindestens bis Mittwoch allein im Kapitänshaus sein würde.

Frieke tat immer noch alles weh vom Tanzen. Ein bisschen auch das Herz, weil diese wunderschöne Feier vorbei war, weil sie Bengt schon vermisste, obwohl er noch da war, und weil an diesem Morgen düstere, graue Novemberwolken vor dem Fenster hingen. Es war allerhöchste Zeit für einen anständigen Herbststurm, damit der Himmel wieder blank geputzt wurde.

Bengt beugte sich zu ihr runter und küsste sie auf den Mund. »Dann bleib ruhig noch liegen. Wird im Buchladen schon nicht so viel los sein, oder?«

Sicher nicht. November war nicht gerade die typische Urlaubszeit auf Spiekeroog, obwohl es einige unermüdliche Fans der Insel gab, die auch im Spätherbst und im Winter herkamen. Trotzdem war die Arbeit überschaubar; Emma würde das auch mal für einen Vormittag allein schaffen.

Andererseits begann bald das Weihnachtsgeschäft. Vor dem konnte sie sich nicht drücken.

Etwa eine halbe Stunde später wühlte Frieke sich unter dem Deckenberg hervor und schlurfte im Bademantel in die Küche. Auf dem Tisch stand ein Brotkorb, mit einem Geschirrhandtuch abgedeckt. Darauf klebte ein kleiner Post-it, auf den Bengt geschrieben hatte: »Hoffentlich reicht das bis zu meiner Rückkehr.«

Unter dem Geschirrtuch fand sie ein Dutzend noch ofenwarme Quarkrosinenbrötchen. Frieke juchzte leise. Das würde nicht bis zu Bengts Rückkehr reichen, doch es würde ihr die ersten zwei, na ja, vielleicht anderthalb Tage versüßen. Sie aß das erste Brötchen direkt im Stehen vor dem Tisch, während auf dem Herd die kleine Bialetti einen Espresso zubereitete.

Sie war zwar seit Beginn der Schwangerschaft immer wieder ängstlich, ob es dem Baby gut ging – doch auf ihren morgendlichen Milchkaffee konnte sie nicht verzichten. In einem Kännchen wärmte sie die Milch auf dem Herd und schäumte sie anschließend auf. Sie nahm gerade den ersten Schluck Kaffee, als ihr Handy klingelte.

Frieke zog es aus der Gesäßtasche. Wer auch immer sie anrief, hatte Glück, weil sie bereits einen Schluck Kaffee intus hatte. Vorher war sie allenfalls für Bengt in der Lage, einigermaßen freundlich zu sein.

»Guten Morgen, Lieblingsinsulanerin.«

Sonja am anderen Ende der Leitung lachte. »Du meine Güte! Du bist schon wach und so gut gelaunt?«

»Der Kaffee macht’s. Und du klingst auch sehr munter, oder?«

»Ja, aber ich habe drei Kinder, die ich vor acht draußen in den Regen jagen muss, damit sie pünktlich zur Schule kommen. Mein Haushalt ist fast fertig und ich könnte mich jetzt den schönen Dingen widmen.«

»Angeberin«, murmelte Frieke.

»Es sind nicht mal mehr vier Wochen bis Weihnachten.«

»Hm hmmm.«

»Hast du dir schon überlegt, was ihr über die Feiertage macht?«

Bevor Sonja ihr einen Vorschlag unterbreiten konnte, erklärte Frieke: »Ich weiß, dass es unser letztes Weihnachten zu zweit ist.«

»Was hat das denn mit euren Plänen zu tun?« Sonja klang ehrlich verblüfft.

»Das kriege ich schon seit Anfang Oktober beim wöchentlichen Telefonat von meiner Mama zu hören. ›Kind, es ist euer letztes Weihnachten zu zweit, da müsst ihr doch was Besonderes machen wollen.‹ Jede Woche. Weißt du, wie anstrengend das ist?«

Sonja lachte. »Ich kann’s mir vorstellen.«

»Als wüsste sie mehr als ich.«

»Liebes, sie weiß mehr als du. Sie hat bereits ein Kind großgezogen. Und ja, auch wenn du das nicht hören willst, auch wenn du jetzt die Augen verdrehst – es wird definitiv alles anders. Wunderschön, aber eben anders. Und, auch kein Geheimnis: Sehr viel anstrengender. Also hast du noch keine Pläne?«

»Ich weiß nicht.« Wenn Frieke ehrlich war, führte diese ständige Diskussion darüber, was man denn an Weihnachten machen könnte – und dass es unbedingt dieses Mal etwas Besonderes sein musste! –, bei ihr zu einer wachsenden Weihnachtsmüdigkeit.

»Es sind noch fast vier Wochen!«, sagte sie bockig.

»Ich kann dir ja mal erzählen, was bei uns geplant ist.« Frieke hörte, wie Sonjas Löffel im Kaffeebecher klirrte. Sie nahm auch einen Schluck Kaffee, steckte das zweite Quarkrosinenbrötchen in den Mund und lief ins Wohnzimmer, wo der Kachelofen noch etwas Wärme von dem Feuer abstrahlte, das sie gestern Nacht geschürt hatte. Mit einer Kuscheldecke mummelte Frieke sich auf dem Sofa ein.

»Heiligabend hat sich Bosse angekündigt. Und stell dir vor, er bringt die Next mit. Reizend, nicht wahr? Es ist übrigens schon die Über-Next, Marianne hat er abserviert. Er meinte, ihre Haushaltsführung ließe zu wünschen übrig.«

»Du meine Güte. Das hat er dir erzählt?«, murmelte Frieke.

»Offenbar müssen sich die jungen Dinger alle an mir messen lassen. Als wäre es hier so super ordentlich.« Frieke sagte dazu lieber nix, denn bei Sonja war es tatsächlich recht ordentlich. »Es kommt noch besser. Die Next ist Hauswirtschafterin. Keine Ahnung, wo er die aufgetrieben hat, auf jeden Fall ist sie auch zehn Jahre älter als Bosse und ihre Kinder sind schon aus dem Haus. Worum wetten wir, dass sie an Weihnachten ihre Verlobung verkünden?«

»Du bist böse«, sagte Frieke und lachte. Sonja scherzte immer gern, dass Bosse am Liebsten seine Mutter geheiratet hätte oder zumindest eine Frau, die möglichst viel Ähnlichkeit mit ihr hatte. Umso verwunderlicher, dass er zuletzt lieber junge Freundinnen gesucht hatte.

»Im Ernst, Frieke. Das ist so gruselig. Erst sucht er sich so ein Küken, und dann, als er merkt, dass sie vielleicht doch irgendwann mit ihm Kinder will, als es also ernst wird, kneift er den Schwanz ein. Er will einfach keine Verantwortung übernehmen. Marianne war ja nicht die Erste. Schlimm genug, dass ich auf so einen Lappen reingefallen bin.«

»Aber du hast die drei Kids. Ohne den Lappen gäbe es die nicht.«

»Stimmt. Und was leider auch stimmt: Der Sex mit ihm war der beste meines Lebens.«

Sie schwiegen ein bisschen. Frieke dachte nach. Nicht über Sex, denn Sex war so ziemlich das Letzte, woran sie dachte, wenn ihr alle Knochen im Leib wehtaten. Obwohl, waren das ihre Knochen? Sie horchte in sich rein. Hm. Da war so ein ziehender Schmerz im Bauch. Als würde ein Schraubstock ihn zusammendrücken …

»Können wir später weiterreden?«, fragte sie. Ihr war die Plauderlaune vergangen. Sie runzelte besorgt die Stirn.

»Klar. Aber nur, wenn du bis dahin weißt, was du an Weihnachten machst.«

»Ich überleg mir was«, versprach Frieke. Sie legte auf. Ein paar Minuten saß sie einfach da, lauschte in sich rein. Da, schon wieder. Nicht direkt schmerzhaft, ihr Bauch fühlte sich nur so … hart an. Das war unangenehm. Gar nicht schön.

Sie wählte eine Nummer aus dem Kurzwahlspeicher.

»Meike? Hi, hier ist Frieke. Kannst du sofort herkommen? Ich glaube, ich krieg mein Baby.«

»So schnell kriegt man kein Baby.«

Mit kühlen, geschickten Fingern tastete Meike Friekes Bauch ab. Sie nickte zufrieden, als wäre alles in bester Ordnung.

»Aber das sind doch Wehen, hast du gesagt?« Frieke konnte nicht verhindern, dass Panik in ihrer Stimme mitschwang. Klar, sie fühlte sich total unförmig, und schon jetzt geriet sie nach wenigen Metern aus der Puste. Aber zwei Monate sollte das Baby noch in ihrem Bauch bleiben. Und hier auf der Insel war es ja nicht so leicht als werdende Mutter; wenn sie frühzeitig Wehen bekam, musste man sie unter Umständen mit dem Hubschrauber aufs Festland fliegen.

»Was du hast, sind Übungswehen. Dein Körper probt für den Ernstfall. Meist merkt man davon nichts, aber gerade nach einer großen Anstrengung meldet sich der Körper, weil er jetzt mal Ruhe braucht. Also, heute gilt: Füße hoch, ein gutes Buch lesen und Bengt kochen lassen.«

»Bengt ist heute früh nach Kiel gefahren, zu dieser Konferenz.«

Meike klappte ihre Tasche zu und stand auf. »Na, wie gut, dass du Freundinnen hast, die sich kümmern. Wenn du magst, koche ich uns was. Emma ist heute im Buchladen, ihre Zwillinge sind auf dem Isländerhof bei Conny. Ich wäre also auch allein heute Mittag.«

Bevor Frieke protestieren konnte, war Meike schon in der Küche verschwunden. »Die Quarkrosinenbrötchen sind meine«, murmelte Frieke bockig. »Die teile ich nicht.«

Offensichtlich hatte Meike keinen Hunger auf süße Brötchen – oder sie wusste dank ihrer Arbeit als Hebamme ganz genau, was schwangere Frauen nicht brauchten. Brötchen mopsende Hebammen gehörten definitiv dazu.

Nach zwei Minuten tauchte Meike wieder in der Küchentür auf. »Bandnudeln mit Kürbis und Feta?«, fragte sie.

Friekes Magen knurrte laut, obwohl er ja eigentlich noch mit den Brötchen beschäftigt sein müsste. Meike lachte und verschwand wieder in der Küche.

Eine Stunde später saß Frieke immer noch im Sessel, die Füße auf einem Hocker. Meike war noch mal losgefahren, weil ihr irgendwelche Zutaten fehlten und um aus der Apotheke für Frieke Magnesium zu holen. Der Bauch hatte sich inzwischen etwas beruhigt. Vermutlich schlief das Baby. Friekes Blick ging zu dem Bücherstapel, den Meike ihr noch aus dem Schlafzimmer hergebracht und auf dem Tischchen neben den Sessel deponiert hatte. Eine Tasse Tee dampfte daneben, auf einem Tellerchen lagen ein paar Kekse und Nüsse. Das Feuer im Ofen flackerte fröhlich und verströmte Wärme.

Es war also einfach nur gemütlich und wunderbar. Aber Frieke fühlte sich gar nicht so. In ihr war es novembergrau.

Sie kannte das. Sobald die Tage kürzer wurden, übermannte sie diese Stimmung. Meist half dagegen mehr Bewegung (durfte sie gerade nicht), eine ausgiebige Bücherkauftour (machte sie ohnehin immer), viel Schokolade (erstaunlicherweise hatte sie seit der Schwangerschaft keinen Schokohunger mehr …) und ein leckerer Grog. Letzterer verbot sich von selbst.

Frieke zog den Bücherstapel vom Tisch. Drei Titel, die sie sich in den vergangenen Tagen herausgepickt hatte. Immerhin wollte sie spätestens Weihnachten in den Mutterschutz gehen, und dafür sammelte sie schon Bücher. Denn dank Bengts Übereifer war für ihren Nestbautrieb nicht mehr viel zu tun.

Sie hatte aber weder auf Kai Meyers neuesten Roman aus dem Bücherversum Lust noch auf die Autobiografie von Michelle Obama. Und Dörte Hansen? Nein, irgendwie auch nicht.

»Ach, ach«, seufzte sie.

»Wer seufzt denn hier?« Unbemerkt war Meike zurückgekommen. Sie stellte einen Stoffbeutel mit Einkäufen in der Küche auf den Tisch. »Ich habe uns auch noch was fürs Abendessen mitgebracht.« Sie kam ins Wohnzimmer.

»Ich weiß auch nicht.« Frieke legte das dritte Buch zurück aufs Tischchen. »Irgendwie ist alles so … grau.«

»Hm«, machte Meike. Sie hatte sich auch einen Tee eingegossen und hockte sich mit angezogenen Knien auf das Sofa. »Möchtest du darüber reden? Oder soll ich einfach heute ein bisschen bei dir sein und meine Klappe halten?«

Frieke lachte. Das mochte sie an Meike. Sie hatte etwas so Unkompliziertes. Es schien ihr unvorstellbar, dass man mit Meike nicht zurechtkommen könnte.

Meike schaute kurz aufs Handy und versenkte es dann wieder in der Tasche ihrer überdimensionierten Strickjacke. Sie trank einfach ihren Tee und ließ Frieke genug Raum, damit sie sich öffnen konnte.

Wenn sie denn wollte.

Aber Frieke hatte keine Lust, von ihren Problemen zu erzählen, die doch gar keine waren. Sie war müde. Die Schwangerschaft nervte sie. Was war denn bitte schön so toll daran, neun Monate lang den eigenen Körper zu teilen? Die ersten Wochen schlief, kotzte und futterte sie abwechselnd. Dann kam diese angenehme Zeit, in der es den meisten Frauen blendend ging. Frieke ging es immerhin besser als zu Beginn der Schwangerschaft. Und zum Ende hin wurde es zunehmend beschwerlich. Besonders, wenn das Baby meinte, ihre Blase als Trampolin missbrauchen zu müssen.

Blase als Trampolin war übrigens das richtige Stichwort. Wie diese winzigen Babyfüßchen diese offenbar auf die Größe einer Rosine geschrumpfte Blase trafen, war Frieke ohnehin ein Rätsel. Auf jeden Fall musste sie wieder mal auf die Toilette. Sie zählte schon gar nicht mehr mit, wie oft sie jede Nacht davon wach wurde.

Frieke stemmte sich aus dem Sessel und watschelte Richtung Badezimmer. Meikes Handy summte hinter ihrem Rücken. Komisch. Sie kannte von Meike gar nicht, dass sie ständig am Handy hing. Aber vermutlich hatte sie auch was Besseres zu tun, als für Frieke die Babysitterin zu spielen. Dass sie es trotzdem machte, konnte Frieke ihr gar nicht hoch genug anrechnen.

Nun fiel ihr Blick auf eine Zeitschrift, die sie noch gar nicht kannte.

Sie bekamen hier auf der Insel zweimal in der Woche eine Zeitung, weil Bengt trotz seines ökologischen Bewusstseins nicht auf die Papierausgabe der SZ am Wochenende verzichten wollte. Freitags und samstags lagen dicke Papierstapel vor ihrer Tür, die dann teilweise auf dem Klo rumlagen, wo Bengt dann stundenlang drin schmökerte. Frieke hasste diese Marotte. Aber sie ließ ihn gewähren, weil er die Zeitungen erst entführte, nachdem sie selbst die für sie interessanten Zeitungsteile durchhatte. Dazu gehörte das SZ-Magazin.

Und dieses hier kannte sie noch gar nicht. Hatte Bengt es ihr etwa absichtlich vorenthalten? Ach nein, es war das neueste. Vermutlich hatte er es heute früh aus dem Briefkasten gezogen und direkt auf dem Klo deponiert. Wie nett.

Auf dem Titel war ein Glitzerelch vor einer kitschigen Waldkulisse mit viel funkelndem Kunstschnee. »Es glitzern lassen« stand darüber. Offensichtlich gab es im Heft eine ganze Bilderstrecke zur Inspiration, wie man Weihnachten schöner machen könnte. Im SZ-Magazin. Vermutlich war das dann irgend so ein Luxus-Glitter, den man für teures Geld bestellen konnte.

Unter normalen Umständen hätte Frieke das Heft weggelegt. Oder dieses Titelbild schlicht ignoriert. Aber ihre Umstände waren nun mal nicht normal, und dieser Glitzerschnee sprach sie irgendwie an. Als wäre es ein Lichtstreif am novemberigen Horizont …

Meikes Handy piepte. Wieder mal.