Über Sabine Fisch

Sabine Fisch, geboren 1970, arbeitet seit fast 30 Jahren als Journalistin mit dem Spezialgebiet Medizin. Sie liebt spannende Geschichten, egal ob Biographien, historische Romane oder blutrünstige Thriller. Fisch ist verheiratet und lebt und arbeitet in Wien. »Die Ärztin – eine unerhörte Frau« ist ihr erster Roman.

Informationen zum Buch

Sie will Leben retten, um jeden Preis.

Berlin, 1908: Amelie, Tochter eines Arztes und einer Hebamme, hat seit jeher einen Traum: Sie will Ärztin werden. Mit achtzehn nimmt sie als erste Frau in Berlin das Studium der Medizin auf. Schon bald ist sie – begabt und ehrgeizig – den Anfeindungen ihrer Kommilitonen ausgesetzt. Dennoch gibt sie nicht auf. Als dann jedoch einer ihrer Neider versucht, den Ruf ihrer Familie zu schädigen, wird die Liebe zur Medizin für Amelie auf eine harte Probe gestellt.

»In Sabine Fischs Roman wird Geschichte lebendig.« Petra Hartlieb

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Sabine Fisch

Die Ärztin

Eine unerhörte Frau

Roman

Inhaltsübersicht

Über Sabine Fisch

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Intermezzo

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Intermezzo

Kapitel 25

Intermezzo

Kapitel 26

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Intermezzo

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Intermezzo

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Intermezzo

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 41

Intermezzo

Kapitel 42

Epilog

Danksagung

Historische Anmerkungen

Impressum

Für Walter, immer

In memoriam:
Emil, best Beagle Buddy in the world
(23. Januar 2006–19. Mai 2018)

Amelie von Liebwitz ist eine erfundene Figur. Allerdings wurden Frauen, die ab 1908 in Berlin Medizin studierten, eine Menge Steine in den Weg gelegt. Viele der von mir geschilderten Geschehnisse haben sich auch in Wirklichkeit wie berichtet abgespielt. Dazu zählen etwa der erste Hörsaalbesuch Amelies sowie die Ansichten vieler damaliger Professoren zum Frauenstudium dieser Zeit. Das Klima in der Ärzteschaft und an der Universität Anfang des 20. Jahrhunderts war massiv frauenfeindlich. Die Diskussion rund um das Medizinstudium von Frauen wurde sehr intensiv – und meist in ablehnender Haltung geführt. Wer mehr darüber wissen möchte, findet einige zusätzliche Infos über diese Zeit am Ende des Buches.

Prolog

WIEN, 1950

Dr. Amelie von Liebwitz stieg mit raschen Schritten die wenigen Stufen zum Haupteingang des Unterrichtsministeriums in Wien hinauf. Gekleidet in ein schlichtes schwarz-weißes Tweedkostüm, die silbergrauen Haare zu einem eleganten Knoten aufgesteckt, betrat sie das ehrwürdige Bauwerk am Wiener Minoritenplatz, das – obwohl das Ende des Zweiten Weltkriegs erst fünf Jahre zurücklag – keinerlei Bombenschäden mehr erkennen ließ. Ein rundlicher Portier, der links vom Eingang in einem Glaskabuff saß, grüßte freundlich. »Guten Morgen, gnädige Frau, kann ich Ihnen helfen?« Amelie, die den Mann in seiner dunklen Ecke nicht gesehen hatte, drehte sich um. »Guten Morgen«, grüßte sie ebenfalls. »Ich bin für neun Uhr zum Herrn Unterrichtsminister bestellt.«

»Deutsche, was?«, brummelte der Portier nun deutlich weniger devot. »Wie bitte?« Amelie überwand die kurze Distanz zum Pförtnerhäuschen mit wenigen Schritten. Lediglich mittelgroß, dafür überschlank, stand sie mit geradem Rücken vor dem älteren Herrn in seiner Portiersuniform.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ach gar nichts, gnädige Frau«, der Portier griff nach dem großen schwarzen Telefonhörer. »Ich melde Sie gleich an.« Er drehte die Wählscheibe. »Ja, guten Morgen, Gusti«, sagte er. »Da ist eine …« Er hob den Blick. »Dr. Amelie von Liebwitz«, sagte Amelie. »… eine Frau Dr. Amelie von Liebwitz, die zum Herrn Minister möchte.« Der Portier lauschte kurz, nickte dann und legte auf. »Die Treppe hier gleich hoch, im ersten Stock, Zimmer 325«, schnarrte er.

»Danke«, erwiderte Amelie immer noch unerschütterlich höflich, wandte sich von der Portiersloge ab und der Treppe in den ersten Stock und dem Ministerbüro zu.

Nur wenige Wochen war es her, dass Amelie, aus den USA zurückkommend, ein Schreiben in ihrem Haus am Berliner Alexanderplatz vorgefunden hatte. Darin hatte es geheißen, man wolle sie als Ordinaria für das Fach chirurgische Frauenheilkunde an die Wiener Universität berufen. Amelie, noch erschöpft von der langen Reise, hatte sich in einen Sessel in ihrem Wohnzimmer gesetzt und sich erst einmal eine Zigarette angezündet. »Erstaunlich«, dachte sie, »die wollen wirklich eine Frau, noch dazu eine Deutsche auf den Lehrstuhl berufen.«

Eigentlich hatte sie ihrer Heimatstadt lediglich einen Besuch abstatten wollen, um danach nach Boston zurückzukehren. Berlin, ihre geliebte Heimatstadt, lag nach dem Krieg immer noch in Trümmern, wenn auch die ungebrochene Lebenslust der Berliner schon wieder zu spüren gewesen war, kaum, dass sie den Flughafen Tempelhof verlassen hatte.

Amelies Elternhaus am Alexanderplatz, gleich neben der Georgskirche gelegen, hatte den Krieg erstaunlicherweise unbeschadet überstanden. Aus der Ferne hatte sie dafür gesorgt, dass ein Hausmeister regelmäßig nach dem Rechten sah und kleinere Schäden reparierte. Das Haus war – viele Jahre zuvor – auf gotischen Mauern erbaut worden. Am Alexanderplatz gelegen, hatte es für Amelie eine geborgene Kindheit und immer ihre Heimat bedeutet. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und betrachtete den Raum, in dem sie sich eben niedergelassen hatte. Es war das Wohnzimmer ihrer Mutter gewesen. Nun, mit geschlossenen Samtportieren, die Möbel mit weißen Tüchern verhüllt, wirkte der Raum verlassen. Amelie erhob sich, ging zum Fenster und öffnete die schweren roten Vorhänge. Sonnenlicht flutete herein. Es war ein schöner Tag, dieser 23. April 1950 in Berlin. Es klopfte an der Tür. »Herein«, rief Amelie. Der Hausmeister, Egon Schalke, stand in der Tür und drehte seinen Hut zwischen den Händen. »Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte er. »Willkommen in Berlin.«

»Vielen Dank, Herr Schalke, schön, dass Sie noch immer so gut auf mein Elternhaus aufpassen«, erwiderte Amelie. »Was gibt es denn?«

»Na ja«, begann Schalke, »ich habe mich gefragt, wie lange Sie wohl bleiben wollen?«

»Das weiß ich selbst noch nicht«, antwortete Amelie. »Aber ein paar Wochen werden es wohl werden.«

»Dann sage ich meiner Frau Bescheid. Die richtet alles wieder wohnlich her und kocht für Sie, wenn es Ihnen recht ist.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, freute sich Amelie. »Ich werde den Tag in der Stadt verbummeln und erst abends wiederkommen.«

»Bis dahin ist bestimmt alles fertig«, versprach Schalke, »möchten Sie hier zu Abend essen?«

»Ja, gerne, und machen Sie bitte am Abend hier im Salon Feuer im Kamin.« Zwar lachte seit einigen Tagen eine wärmende Frühlingssonne über Berlin, die Abende dagegen waren noch kühl.

Amelie nahm Hut, Mantel und Handschuhe und verließ das Haus. Zuerst einmal wollte sie frühstücken. Das Essen im Flugzeug war ungenießbar gewesen, sie starb vor Hunger. Eine üppige Mahlzeit würde ihre Lebensgeister wieder wecken. Und sie wusste auch schon, wo sie hingehen wollte. Das berühmte Café Kranzler war ihr Ziel, das schon kurze Zeit nach dem Krieg im Jahr 1946 wiedereröffnet hatte.

Dr. Amelie von Liebwitz war 60 Jahre alt und blickte auf eine erfolgreiche Karriere als Frauenärztin und Chirurgin zurück. Im Bostoner Brigham-Frauenkrankenhaus hatte sie in den vergangenen zehn Jahren die neuesten Eingriffe und Therapien zur Behandlung der unterschiedlichsten Frauenkrankheiten erlernt und umgesetzt. Auf dem Weg ins Café überlegte sie nun, dass ein Lehrstuhl, noch dazu an der renommierten Wiener Universität, die Krönung ihrer erfolgreichen Karriere sein könnte.

Amelie hatte das Kaffeehaus erreicht, hier hatte sich – trotz des erst fünf Jahre zurückliegenden Kriegsendes – scheinbar gar nichts verändert. Als sie es betrat, umwehte ein herrlicher Duft von Kaffee und frischem Gebäck ihre Nase. Sie suchte sich einen Platz am Fenster, bestellte ein großes Frühstück und lehnte sich zurück. Der Kellner stellte eine Tasse heißen Kaffees vor sie hin, verneigte sich leicht und enteilte wieder. »Ah«, murmelte Amelie vor sich hin. »Wie ich echten Bohnenkaffee vermisst habe.« In Boston war sie auf Tee umgestiegen, mit der amerikanischen Kaffeevariante hatte sie nichts anfangen können. Sie nahm die Tasse in beide Hände, sog das Aroma des Kaffees ein und lehnte sich entspannt in ihren Stuhl zurück. Sie schloss kurz die Augen und erinnerte sich an lange zurückliegende Zeiten hier in ihrer geliebten Heimatstadt. Bis 1909 wanderten ihre Gedanken zurück, in die Zeit, als sie im ersten Jahr ihres Medizinstudiums gewesen war. Es war ein Frühstück mit ihrer Mutter gewesen, an das sie sich erinnerte, am Tag ihrer Anatomieprüfung. Amelie lachte leise in sich hinein. Damals war sie unvorstellbar jung und so voller Tatendrang gewesen.

Kapitel 1

BERLIN, 15. OKTOBER 1909

Amelie von Liebwitz saß gähnend und zusammengekauert in ihrem Stuhl am Frühstückstisch. Ihre langen Haare waren zerrauft, in ihrem blassen Gesicht zeichneten sich dunkle Ringe unter den Augen ab. Sie griff nach der Kaffeekanne und füllte ihre Tasse bis zum Rand. Eigentlich war der schwarze Zaubertrank noch zu heiß, aber sie nahm trotzdem einen Schluck, verbrannte sich die Zunge, fuhr sich erschrocken mit der Hand an den Mund – und gähnte erneut. »Mein liebes Kind«, sagte ihre Mutter, Luise von Liebwitz, besorgt, »du siehst furchtbar aus. Bist du wieder die ganze Nacht über deinen Büchern gesessen?«

Amelie stellte ihre Kaffeetasse ab, richtete sich ein wenig weiter in ihrem Stuhl auf und blickte ihre Mutter an. »Ich habe die ganze Nacht gelernt«, sagte sie leise. »Und trotzdem habe ich schreckliche Angst vor der Anatomieprüfung.«

Amelie von Liebwitz gehörte zu den ersten weiblichen Studenten an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Seit knapp einem Jahr besuchten sie und ihre beste Freundin Felicitas die ehrwürdige Lehrstätte – und dieses Jahr hatte es in sich gehabt. Nicht nur die Herren Studiosi machten ihnen das Leben schwer, sondern auch viele Professoren. Einer davon war Professor Anton Wronski, ein berühmter Anatom und ausgewiesener Feind des Frauenstudiums.

»Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe«, gestand Amelie, griff nach dem Brotkorb und fischte eine frische Schrippe heraus, die sie dick mit Butter bestrich und mehrere Scheiben Schinken darauflegte. »Vor Wronski und seinen Prüfungsmethoden oder vor der Möglichkeit, dass er sich weigert, mir und Felicitas die Prüfung überhaupt abzunehmen.« Tatsächlich hatte Wronski damit gedroht, Felicitas und sie gar nicht zur Prüfung antreten zu lassen.

Ihrem Appetit tat allerdings die Angst vor der Prüfung keinen Abbruch. Sie biss herzhaft in ihr Brötchen und vertilgte es innerhalb kürzester Zeit. Dann führte sie die Tasse mit dem nun abgekühlten Kaffee zum Mund. »Ohne Frau Hallers Kaffee hätte ich die vergangenen Tage wohl nicht durchgestanden«, sagte sie und fuhr sich mit den Händen über die Haare, im vergeblichen Versuch, die rötliche Flut zu bändigen.

»Ich weiß wirklich nicht, wo du das hin isst, mein Kind«, Luise lächelte. Amelie war dünn wie ein Spargel, verdrückte bei jeder Mahlzeit allerdings Portionen, die einem Schwerarbeiter zur Ehre gereicht hätten.

»Lernen macht hungrig«, lachte Amelie und gähnte wieder. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Außerdem dauert die Prüfung fast den ganzen Tag. Ich habe keine Ahnung, ob ich dazwischen zum Essen kommen werde.« Ihr Lachen erstarb. »Oder ob ich heute überhaupt zur Universität gehen soll.« Ihre Miene verdüsterte sich.

»Amelie«, hob ihre Mutter an. »Ich weiß, dass du Angst hast, und ich meine, du hast auch allen Grund dazu.«

»Danke, Mutter für deine aufmunternden Worte«, Amelie funkelte ihre Mutter an.

»Aber es hat inzwischen eine Reihe von Situationen gegeben, vor denen du Angst hattest, seit du an der Uni bist – du wirst auch diese meistern, davon bin ich überzeugt.« Lächelnd lehnte Luise sich zurück und nahm ebenfalls einen Schluck von ihrem Morgenkaffee.

Amelie war versöhnt. »Danke, Mama«, sagte sie. »Du hast ja recht, es wäre dämlich, aus Angst jetzt die Waffen zu strecken.«

»Gut so, mein Kind«, sagte Luise zufrieden. »Und heute Abend erwartet dich ein feines Essen und sehr netter Besuch, Eberhard hat sich angesagt.«

»Onkel Eberhard kommt? Wie schön!«

»Ja«, antwortete ihre Mutter. »Er ist ebenso neugierig auf den Ausgang wie der Rest der Familie.«

»Na danke, Mama, es ist schön, dass du so gar keinen Druck auf mich ausübst.« Aber Amelie lächelte ihre Mutter dabei an. »Ich werde pünktlich hier sein, darauf kannst du dich verlassen.«

Als Amelie sich eben vom Frühstückstisch erheben wollte, klopfte es an der Tür. »Herein!«, rief Luise, die breite Flügeltür wurde geöffnet und die Haushälterin, Isabella Haller, trat ein. Ein Sonnenstrahl aus dem Fenster fiel auf ihren silbernen Haarknoten und ließ ihn aufglänzen.

»Guten Morgen, Fräulein Amelie«, sagte sie nun mit ihrer leisen, ein wenig rauen Stimme.

»Guten Morgen«, erwiderte Amelie den freundlichen Gruß. Erst dann erblickte sie die kleine Torte mit der einzelnen Kerze, die Frau Haller in Händen hielt. »Haben wir etwas zu feiern?« fragte Amelie.

»Noch nicht«, antwortete Frau Haller. »Aber ich dachte, die Torte könnte Sie auf Ihre heutige Prüfung einstimmen. Es ist Ihre Lieblingstorte, Amelie, Schokolade mit Sahne.«

Amelie lächelte: »Das ist wunderbar, Frau Haller. Ich nehme das mal als gutes Zeichen für die Prüfung heute.«

»Bitte, setzen Sie sich doch und essen Sie ein Stück Torte mit uns«, forderte Luise Frau Haller auf, die sich nicht lange bitten ließ, die Torte auf dem Frühstückstisch abstellte, Platz nahm und die Tortenstücke verteilte.

Amelie verschlang auch ihr Tortenstück mit drei schnellen Bissen. Luise und Frau Haller blickten sich an und brachen in Gelächter aus. »Das wird sich wohl nie ändern«, prustete Luise. »Niemand vernichtet Schokoladentorte so schnell wie du.« Auch Frau Haller lächelte, nahm einen sehr sittsamen Bissen von ihrer Torte und sagte dann: »Franz lässt Sie auch schön grüßen und wünscht Ihnen viel Glück für die Prüfung heute.«

Franz, das war Isabella Hallers siebzehnjähriger Sohn und der Grund für die Tätigkeit von Frau Haller als Haushälterin im Haushalt derer von Liebwitz. Luise hatte die blutjunge, schwangere Frau eines Abends in einer Hausecke entdeckt, als sie von ihren Hausbesuchen im Scheunenviertel zurückgekommen war. Hochschwanger und halb verhungert hatte Isabella Haller in der Hausecke gekauert und versucht, ein paar Pfennige zu erbetteln. Luise hatte sich ihrer erbarmt und sie mit nach Hause genommen. Isabellas Eltern hatten das siebzehnjährige Mädchen vor die Tür gesetzt, als sie festgestellt hatten, dass ihre Tochter ein uneheliches Kind erwartete. Der Vater des Kindes, ein Soldat der Leibgarde Kaiser Wilhelms, hatte sich aus dem Staub gemacht, als er von seinen bevorstehenden Vaterfreuden erfahren hatte. Isabella stand mittellos in der Welt. Luise hatte das junge Mädchen aufgepäppelt, ihren Sohn auf die Welt geholt und ihr Arbeit und ein neues Zuhause gegeben, etwas, für das Isabella Haller ihrer Ersatzfamilie auf ewig dankbar war. Isabellas Sohn, Franz, der mittlerweile siebzehn Jahre alt war und bei einem Schuster in die Lehre ging, war wie ein zweites Kind im Hause aufgewachsen. Für Amelie, die drei gewesen war, als Isabella Haller ins Haus gekommen war, war Franzi zuerst ein lebendes Spielzeug und dann der geliebte kleine Bruder geworden. Und Franz vergötterte seine große Schwester.

»Wisst ihr noch?«, fragte Luise in die plötzliche Stille hinein, »als wir dachten, jemand wolle Franz ermorden, weil er wie am Spieß geschrien hat?« Die drei Frauen blickten einander an und brachen in lautes Gelächter aus. Die Geschichte hatte sich zugetragen, als Amelie fünf Jahre alt gewesen war. Frau Haller hatte in der Küche das Abendessen vorbereitet, Luise von Liebwitz war eben von ihrer Abendrunde im Scheunenviertel zurückgekommen, als plötzlich markerschütterndes Geschrei das Haus erbeben ließ. Luise hatte Mantel und Hut in die Ecke geworfen, Frau Haller war aufgeschreckt aus der Küche gestürzt. Die beiden Frauen liefen die Treppe in den ersten Stock des Hauses hinauf. »Das Geschrei kommt aus Amelies Zimmer«, sagte Frau Haller, während Luise gleichzeitig sagte: »Das ist doch Franz, der da so brüllt.« Frau Haller stieß die Zimmertür auf und erstarrte bei dem Bild, das sich ihr bot. Luise schob ihre Haushälterin vorsichtig zur Seite und betrat Amelies Zimmer. Mitten auf dem Fußboden saß der dreijährige Franz mit tränenverschmiertem Gesicht und brüllte aus vollem Hals. Frau Haller trat nun ebenfalls ins Zimmer, eilte auf ihren Sohn zu und nahm ihn in ihre Arme. »Aber Franz, was ist denn nur?«, fragte sie besorgt.

»Die Amelie will mich mit der Nadel piksen«, heulte der Kleine. »Sie will mich stechen!« Franzi barg sein tränenverheertes Gesichtchen am Busen seiner Mutter und schluchzte erbarmungswürdig.

»Was soll das heißen – du wolltest ihn mit der Nadel stechen?«, erkundigte sich Luise, an ihre fünfjährige Tochter gewandt, die sich eine riesige weiße Schürze umgebunden hatte und tatsächlich eine Injektionsspritze in der Hand hielt. »Kind, wo hast du denn die Spritze her?« Luise war entsetzt.

»Na, aus Papas Zimmer«, antwortete die Kleine. »Ich wollte Franzi doch nur heile machen, er hat sich das Knie aufgeschlagen.« Amelies Zöpfe hatten sich halb aus ihren Zopfbändern gelöst, die Schürze schleifte über den Fußboden, aber das Kind richtete sich so hoch wie möglich auf und deutete auf den noch immer schluchzenden Franz. »Der Papa gibt immer Spritzen, und dann werden die Leute gesund«, krähte sie. »Und ich will doch ein Arzt werden wie Papa und den Franz heile machen.« Luise musste sich ein Lachen verbeißen. Jetzt galt es, erzieherisch tätig zu sein und sich nicht etwa über die Kapriolen ihrer kleinen Tochter zu amüsieren.

Sie trat zu ihrer Tochter, kniete sich neben sie auf den Fußboden und zog sie in ihre Arme. »Aber Amelie«, sagte sie und strich dem erhitzten Kind ein paar Locken aus dem Gesicht. »Wenn sich jemand das Knie aufgeschlagen hat, gibt Papa ihm keine Spritze, sondern wäscht die Wunde aus und verbindet sie.« Amelie hatte sich ihrer Mutter zugewandt und lauschte aufmerksam. »Außerdem hat Papa dir doch ausdrücklich verboten, in sein Sprechzimmer zu gehen, wenn er nicht da ist, oder?«

Amelie nickte. »Ja, das stimmt«, gab sie leise zu. Luise entwand ihrer Tochter vorsichtig die überdimensionierte Spritze, die eigentlich zur Schmerzmittelinjektion verwendet wurde, und reichte sie Frau Haller. »Tragen Sie die Spritze bitte zurück«, bat sie ihre Haushälterin. Diese eilte, ihren kleinen Sohn noch immer im Arm, aus dem Raum. Luise wandte sich wieder ihrer Tochter zu. »Du hast Franz sehr erschreckt«, meinte sie dann, »du musst dich bei ihm entschuldigen.«

»Ich wollte doch nur sein Knie gesund machen«, begehrte Amelie auf. »Das ist doch kein Grund, gleich ein solches Geschrei anzustimmen.« Offen blickte sie ihrer Mutter ins Gesicht. »Ich muss doch üben, wenn ich eines Tages ein Arzt so wie Papa werden will.«

Luise musste sich schon wieder ein Lachen verkneifen. »Also gut, du hattest gute Gründe für dein Tun«, sagte sie dann leise. »Aber, du hast dem Kleinen Angst gemacht und das ist nicht gut. Schau, ein Arzt soll kranke Menschen beruhigen und sanft zu ihnen sein, damit sie Vertrauen zu ihm fassen. Du hast Franz mit deiner Spritze so erschreckt, dass er dir vorläufig sicher nicht mehr vertraut.«

Amelie dachte eine Weile mit gesenktem Kopf nach. »Das stimmt«, sagte sie dann. »Die Patienten von Papa fürchten sich nicht vor ihm.«

»Nein, das tun sie nicht«, schmunzelte Luise. »Und wenn du einmal eine Ärztin werden willst, dann darfst du deine Patienten nicht erschrecken.«

Amelie war schon als sehr kleines Kind fasziniert von der Tätigkeit ihres Vaters gewesen. Wann immer sie konnte, hatte sie sich in sein Sprechzimmer geschlichen, sich unter dem Schreibtisch versteckt und den Gesprächen zwischen Arzt und Patient gelauscht. Für sie stand fest: Sie wollte Arzt werden, genau wie ihr Papa.

Isabella Haller wischte sich die Augen, die vor Lachen tränten. »Schon erstaunlich, oder?«, meinte sie dann. »Damals haben wir Sie gar nicht ernst genommen – und jetzt sind Sie auf dem besten Weg, tatsächlich eine Ärztin zu werden.« Die Haushälterin erhob sich. »Ich muss wieder an die Arbeit – viel Glück für Ihre Prüfung heute«, sagte sie noch und verschwand durch die Tür in Richtung Küche.

Luise beugte sich vor und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Ich muss mich anziehen«, hatte Amelie gesagt und sie am Frühstückstisch allein gelassen. Das kleine Speisezimmer im Haus der Familie von Liebwitz am Berliner Alexanderplatz war ostseitig gelegen, so dass die Morgensonne den ganzen Raum erhellte. Der Mittelpunkt des Raumes war der runde Esstisch, der auch heute, wie jeden Tag, liebevoll zum Frühstück eingedeckt war. Ein weißes Leinentuch war über den Tisch gebreitet worden. Der Kaffee wurde in einer verschnörkelten Silberkanne serviert. Im Körbchen warteten frische Brötchen, dazu gab es gekochte Eier, Schinken und frische Butter. »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!«, pflegte Dr. Michael von Liebwitz, der städtische Armenarzt des neben dem Alexanderplatz gelegenen Scheunenviertels, zu sagen – jetzt allerdings war von dem viel beschäftigten Arzt nichts zu sehen. Vor Tau und Tag war er aufgestanden, hatte nur schnell eine Tasse Kaffee getrunken – und seine Aussage damit Lügen gestraft – und war zu den ersten Krankenbesuchen im ärmsten Armenviertel von Berlin, eben dem Scheunenviertel, aufgebrochen. Michael war zwar in einem adeligen Haus aufgewachsen, hatte als junger Mann allerdings mit den Traditionen seiner Familie gebrochen und war zum Medizinstudium nach Berlin gegangen. Nach der Promotion zum doctor medicinae universae, zum Arzt der gesamten Heilkunde also, hatte er sich zum einen einen sehr ungewöhnlichen Wohnort gesucht und zum anderen begonnen, als Armenarzt für das Scheunenviertel zu arbeiten.

Am berühmten Berliner Platz fanden sich nur wenige Wohnhäuser. Michael allerdings hatte ein sehr hübsches, noch aus dem Mittelalter stammendes Häuschen neben der Georgskirche erworben und ebendort mit Luise eine Familie gegründet. »Ich will dort sein, wo auch meine Patienten sind«, hatte er damals gesagt. Und da er sich für seine Tätigkeit das ärmste Berliner Viertel ausgesucht hatte, das Scheunenviertel nämlich, das direkt neben dem Alexanderplatz gelegen war, hatte sich dieser Hauskauf als sinnvolle Investition erwiesen. Im Scheunenviertel lebte eine Unzahl unterschiedlicher Menschen, die es aus den verschiedensten Gründen nach Berlin, in die aufstrebende Hauptstadt Preußens, gezogen hatte. Sie alle waren bitterarm und versuchten, im Scheunenviertel ihr Dasein zu fristen. Eine Mietskaserne reihte sich hier an die nächste, fast jedes Haus wies drei bis vier Hinterhöfe auf. War es im Vorderhaus wenigstens meistens noch hell, so wurden die Wohnungen, je weiter sie im Hinterhof lagen – und von denen gab es bis zu sieben je Mietshaus – immer düsterer. Fließendes Wasser gab es in diesen Wohnungen nicht. Die Aborte befanden sich jeweils im Halbstock, wurden von sehr vielen Menschen benützt und verströmten außerordentlich widerwärtige Gerüche. Die engen Höfe dienten kleinen Geschäften als Domizil, sogar in den Kellern lebten Menschen. Es waren jene, die wirklich am Ende waren und ihr – oft nur kurzes – Leben in feuchten, dunklen Kellern fristen mussten. Nicht selten hatten die Mieter der Zimmer-Küche-Wohnungen die eigenen Betten noch an sogenannte »Bettgeher« vermietet, die sich nicht einmal eine eigene Behausung leisten konnten und – um wenigstens eine Schlafstatt zu haben – Betten in den beengten Wohnungen mieteten. Zwischen den Häusern des Viertels verliefen enge Gässchen, die Straßen waren nicht gepflastert, jeglicher Abfall wurde einfach auf die Straße geworfen, was im Konzert mit den wenigen Toiletten und den Abfällen der kleinen Lädchen rundherum zu einer unbeschreiblichen Geruchsmischung führte.

Michael von Liebwitz schreckten aber weder Enge noch Dreck oder Gestank. Tag für Tag und nicht selten bis in die Nacht hinein suchte er seine Patienten im Armenviertel auf. Zusätzlich hielt er noch Ordinationsstunden in der Praxis, die sich im Erdgeschoss seines Hauses am Alexanderplatz befand. Und Michael hatte viel zu tun. Die schlechten Licht- und Luftverhältnisse, die geteilten Betten und die unzureichende Kost der Bewohner führte zu einer ganzen Reihe von Erkrankungen, von denen die Schwindsucht und andere Atemwegserkrankungen die häufigsten waren. Aber auch Geschlechtskrankheiten, wie etwa die Syphilis, kamen sehr oft vor. Und nicht zuletzt war die Kindersterblichkeit im Viertel extrem hoch. Luise, Amelies Mutter, tat als Hebamme im Scheunenviertel, was sie konnte. Dennoch war auch sie gegen die Umstände in diesem ärmlichen Stadtgebiet Berlins nicht selten machtlos. Heute aber konnte sie dem Tag einigermaßen entspannt entgegensehen.

Luise lehnte sich gemütlich in ihren Stuhl zurück. Ausnahmsweise war heute keine Geburt im Scheunenviertel angesagt, sie hatte ein wenig kostbare Freizeit. Sie hatte wie ihr Ehemann Michael den Konventionen ihrer adeligen Landjunkersfamilie getrotzt und sich zur Hebamme ausbilden lassen. Ebenso wie er tat sie im Scheunenviertel Dienst, half Kindern auf die Welt und stand den vielen Frauen, die dort in Armut lebten, mit Trost, Medizin und – wenn nötig – auch tatkräftiger Hilfe zur Seite. Nicht selten wurde sie natürlich in der Nacht im Scheunenviertel gebraucht. Kinder – so hatte die Erfahrung sie gelehrt – kamen ausgesprochen gerne nachts, besonders gern bei üblem Wetter und am liebsten bei Vollmond auf die Welt. Aber nicht nur Geburten führten Luise in das Viertel. So manches Mal hatten auch andere hilflose Geschöpfe ihre Hilfe als Heilerin benötigt. Luise erinnerte sich an eine Nacht vor vier Jahren, in der sie gegen zwei Uhr morgens aus dem Bett geholt worden war.

Alles begann mit einem lauten, lang anhaltenden Läuten an der Haustür. Robert, der Kutscher, der seine Kammer neben dem Vestibül hatte, stand verschlafen aus seinem Bett auf, zog sich den Bademantel an und ging öffnen. Es läutete durchaus nicht selten nachts an der Tür des Hauses. Meist handelte es sich um einen medizinischen Notfall, der dringend die Hilfe von Dr. von Liebwitz erforderte, oder ein Baby wollte schneller als geplant auf die Welt kommen – was dann Luises Eingreifen erforderlich machte.

Doch die Gestalt, die nun vor der Tür stand, gab sogar dem sturmerprobten Robert Rätsel auf. Klein, verhutzelt und von Kopf bis Fuß in einen dunklen Mantel gehüllt, stand die alte Frau vor der Tür. »Was wollen Sie denn von uns zu dieser unchristlichen Zeit?«, brummte Robert die Alte an. »Sie muss kommen, die Hebamme!«, verlangte eine dünne, heisere Stimme. »Das Kind stirbt sonst.«

»Welches Kind?«, fragte Robert. »Und wer stirbt?«

Aber der Alten war nicht mehr zu entlocken. Den Kopf hatte sie tief gesenkt, eine kleine Laterne beleuchtete nur unzureichend ihr zerfurchtes Gesicht und den schneeweißen Haaransatz. Robert seufzte, drehte sich um und stieg die Treppe zum Schlafzimmer des Armenarztes und seiner Frau hinauf. Leise pochte er an die Tür. »Ja«, erklang es sogleich von drinnen. Das Ehepaar von Liebwitz hatte schon berufsbedingt einen leichten Schlaf und war daran gewöhnt, auch zu ungewöhnlichen Stunden aus dem Schlaf geholt zu werden. »Da ist jemand an der Tür, Herr Doktor«, sagte Robert leise. »Eine alte Frau, die nach Ihrer Gemahlin verlangt.« Nur wenige Minuten später öffnete sich die Schlafzimmertür, und das Ehepaar von Liebwitz trat, vollständig bekleidet, auf den Treppenabsatz. »Ich gehe mal nachschauen«, sagte Luise und begab sich zur Haustür. Die alte, verhüllte Frau lächelte erleichtert, als sie Luise sah. »Aber Bergerin, was machen Sie denn hier mitten in der Nacht?«, wollte sie wissen, als sie die Alte erkannt hatte.

»Sie haben ein Kind gebracht, ganz zerschlagen und vergewaltigt«, berichtete die alte Frau. »Sie wurde ums Eck gefunden, bei der Mulackritze. Sie wissen ja, das ist die Stammkneipe vom Ringverein.« Luise erschrak, fasste sich aber rasch wieder. Der sogenannte Ringverein war eine Verbrecherorganisation, die im Scheunenviertel ihr Unwesen trieb. Die Polizei war machtlos gegen die Bande, die nicht nur alles schmuggelte, was sich zu Geld machen ließ, sondern auch Mädchenhandel und Zuhälterei betrieb. »Wo hat man das Mädchen hingebracht?«, fragte Luise.

»Sie ist bei mir«, flüsterte die Alte. »Ich wohn ja gleich gegenüber.«

»Ist gut, Bergerin. Ich komme sofort.« Luise wandte sich wieder um und schritt in die Praxis ihres Mannes, in der sie ihren Hebammenkoffer aufbewahrte. »Michael«, rief sie, als sie mit dem Koffer in der Hand wieder ins Vestibül trat, »komm bitte mal.«

Michael von Liebwitz trat zu seiner Frau und blickte sie an. Rasch berichtete Luise ihm, was sie erfahren hatte. »Da ist es wohl besser, wir gehen gemeinsam«, sagte er dann. »Das wollte ich dir auch gerade vorschlagen«, antwortete Luise, als plötzlich Amelie die Treppe herunterrannte, die erstaunlicherweise ebenfalls vollständig bekleidet war.

»Was ist denn hier los, mitten in der Nacht?«, forderte das Mädchen zu wissen.

»Ein Notfall«, beschied sie ihr Vater kurz. »Deine Mutter und ich müssen sofort los.«

»Ich möchte mitkommen und helfen«, verlangte Amelie, deren langer Zopf über ihre rechte Schulter hing.

»Das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte ihr Vater. »Um diese Stunde ist das viel zu gefährlich.«

Amelie bockte. »Aber vielleicht kann ich euch helfen, worum geht es denn?«, verlangte sie zu wissen.

»Das erzählen wir dir, wenn wir zurück sind«, sagte nun Luise. »Bitte halte uns nicht auf, wir haben es wirklich eilig.« Mit diesen Worten durchschritt das Elternpaar von Liebwitz die Haustür.

»Jetzt wartet doch mal«, rief Amelie von drinnen.

»Bleib hier und warte auf uns, das ist mein letztes Wort.« Streng blickte Michael seine Tochter an. Und weil er das nur selten tat, tat dieser Blick auch seine Wirkung. Amelie nickte, drehte sich um und verschwand wieder in ihrem Zimmer.

Das Scheunenviertel war nachts keineswegs ein stiller Ort. An jeder Straßenecke befand sich eine Kneipe, aus der auch um drei Uhr morgens die Zecher lärmten, Huren boten in Hauseingängen ihre Dienste an, und sogar in Lumpen gehüllte Kinder konnte man sehen, die jedem unvorsichtigen Passanten nachliefen und anbettelten und, wenn möglich, auch bestahlen. Luise und Michael folgten raschen Schrittes der alten Frau, die sie zu ihrer Behausung führte.

Wohnung war ein zu hochtrabender Begriff für das Gelass gegenüber der verrufenen Mulackritze. Ein feuchtes Kämmerchen im Erdgeschoss eines windschiefen Holzhauses war es, in das die alte Bergerin das Ehepaar führte. Auf dem gestampften Lehmboden standen ein Bett, ein winziger Holzofen und ein einziger Stuhl. In dem schmalen Bett, dessen gräulich verfärbte Bettwäsche wenig einladend wirkte, lag eine schmale Gestalt, die vom Kopf bis zu den Füßen in ein angeschmutztes Laken gewickelt war. Nur ein weißblonder Haarschopf war zu sehen.

Luise und Michael näherten sich der Gestalt im Bett, die zu schlafen schien. Als Luise das Bettlaken, in das das Mädchen eingewickelt war, vorsichtig wegzog, wurde das ganze Ausmaß der Tragödie sichtbar. Das Mädchen war unbekleidet und vom Hals bis zu den Knöcheln mit Schrammen und blauen Flecken übersät. Beide Augen in dem ausgehungerten Gesichtchen waren blau geschlagen worden. Das Schlimmste aber war die Blutlache, in der die Kleine, sie konnte kaum älter als dreizehn sein, lag. Luise wurde blass, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken. Sie öffnete ihre Tasche und entnahm ihr ein Spekulum. »Glücklicherweise ist die Kleine ohnmächtig«, flüsterte sie. »Ich werde sie jetzt untersuchen, halte bitte ihre Hand«, bat sie ihren Ehemann. Michael von Liebwitz ging neben der niedrigen Bettstatt in die Hocke und umfasste die schmale, kleine Hand des Mädchens.

Luise untersuchte die Kleine vorsichtig. Es gelang ihr, die Vaginalblutung zu stillen, das Mädchen zu waschen und es in ein abgetragenes Nachthemd zu hüllen, das die Bergerin ihr reichte. Luise lächelte die alte Frau an. »Danke, Bergerin, vielen Dank, dass du sie aufgenommen hast. Das hat ihr mit Sicherheit das Leben gerettet. Aber sag doch mal, wer ist die Kleine überhaupt? Und wo sind ihre Eltern?« Die Bergerin war im ganzen Scheunenviertel bekannt. Sie galt als weise Frau, die jeden kannte, alles wusste, was im Viertel passierte, und ein Auge auf die vielen Kinder hatte, die sich Tag und Nacht auf den Straßen des Viertels herumtrieben.

»Dit Mädchen is ne Waise«, erklärte die alte Bergerin. »Lebt mit ihrm Bruder in so nem Verschlach neben die Mulackritze. Und der beese Kerl hat heute die Jungfernschaft von dit Kind versteijert. Dit Deern is doch kaum dreizehn.«

Luise kannte das Problem. Der Ringverein, der das Scheunenviertel fest im Griff hatte, ging immer wieder in Waisenhäuser, versprach hübschen Mädchen Stellungen als Hausmädchen oder Wäscherin in der großen Stadt, nur um sie dann an den Meistbietenden zu versteigern. Der Verkauf einer Jungfernschaft war dabei ein besonders beliebtes, weil ausgesprochen einträgliches Geschäft.

Das verletzte Mädchen begann sich leise zu regen, als Michael begann, Wundpuder auf die vielen Schrammen aufzutragen und die schlimmsten Verletzungen zu verbinden. Plötzlich riss sie die Augen auf, sah Michael, der sich gerade über sie beugte, zuckte zusammen, kauerte sich in Windeseile in die hinterste Ecke der Bettstatt und begann erbarmungswürdig zu wimmern.

»Bleib nur ganz ruhig«, Luise war ans Kopfende des Lagers getreten und begann vorsichtig, den Rücken des Mädchens zu streicheln. »Du bist in Sicherheit, hier kann dir niemand etwas tun.« Doch das Mädchen war in seinem Schock gefangen. Es wimmerte, kauerte sich so eng wie möglich zusammen und versuchte, den streichelnden Händen Luises zu entfliehen. »Am besten nehmen wir sie zu uns nach Hause mit«, schlug Luise schließlich vor. »Da kann sie sich in einer ruhigen Umgebung erholen.«

Michael nickte zustimmend. »Dann werden wir sie aber sedieren müssen«, sagte er und suchte in seiner Arzttasche nach dem Injektionsbesteck. Er zog das Beruhigungsmittel Veronal auf und bat Luise, das Mädchen festzuhalten. Diese setzte sich auf das Bett und zog das sich sträubende Mädchen an sich. Michael ergriff den mageren Arm der Kleinen, die sich in den Armen Luises wand.

»Psst«, machte diese. »Bleib ganz ruhig, gleich wirst du tief und fest schlafen.« Es schien, als ob die Stimme Luises schließlich doch zu der Kleinen durchdrang, sie wurde schlaff in ihren Armen, und Michael konnte die Spritze mit dem Schlafmittel injizieren. Rasch schlief das Mädchen ein.

Am nächsten Morgen erwachte die unbekannte Kleine zum ersten Mal in ihrem Leben in einem sauber bezogenen, weichen Bett. Sie schlug die Augen auf und blickte neugierig um sich. Luise, die neben dem Bett gewacht hatte, nahm vorsichtig ihre Hand. »Guten Morgen«, sagte sie leise und reichte dem Mädchen ein Glas Wasser. »Trink einen Schluck, du musst durstig sein.«

Mit großen Augen nahm das Mädchen das Glas und trank es durstig aus. »Wo bin ick?«, fragte sie dann mit heiserer Stimme.

»Du bist im Haus von Dr. Michael von Liebwitz.«, antwortete Luise freundlich und neigte sich dem Kind zu. »Mein Mann und ich haben dich gestern Nacht hierhergebracht.«

»Aber wat soll dit denn … Wieso bin ick … Ick …«, stotterte die Kleine und begann zu zittern.

Rasch erklärte Luise ihr die Situation. »Die Bergerin war es, die uns alarmiert hat«, sagte sie. »Kannst du mir sagen, wie du heißt?«

Das Mädchen blickte Luise aus verschwollenen Augen an. »Klara hees ick«, sagte sie dann. »Klara Werder.«

»Und weißt du noch, was dir passiert ist?«, fragte Luise. »Woher deine Verletzungen stammen?«

Klara verzog das Gesicht. »Det hat sich meen Bruder ausklamüsert«, begann sie zu erzählen. »Der hat dit janze Jeld versoffen. Da hat der mich inne Stampe jeschleift, wo der mich versteijern hat lassen.« Klara stiegen wieder Tränen in die Augen. Sie schniefte und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ihres Nachthemdes ab. »Meen Bruder hat den Männern dort jesacht, se könnten mir habn, wenn se Jeld uff den Tisch lejen. Eena hat dann jenug bezahlt.« Sie schluchzte auf. »Dit Schwein hat mir dann so weh jetan.« Klara hatte die letzten Worte nur geflüstert. Luise nahm sie tröstend in die Arme.

»Schon gut«, murmelte Luise, »hier kann dir nichts geschehen, und du wirst auch wieder ganz gesund. Mein Mann und ich haben dich gestern verarztet.« Klara nickte, während weiter Tränen über ihre Wangen rollten. Sie schniefte. Luise reichte ihr ein Taschentuch. »Leg dich wieder hin«, sagte sie dann. »Ruh dich aus, und später kommst du hinunter, dann frühstücken wir zusammen und besprechen, wie es mit dir weitergehen soll, in Ordnung?«

»Ja«, sagte Klara, sich die Tränen und den Schnodder mit dem Taschentuch aus dem Gesicht wischend. »Aba, ick hab nix zum Anziehn.«

»Das ist kein Problem«, Luise war bereits an der Tür. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter, die wird dir etwas bringen.«

Luise klopfte an Amelies Zimmertür. »Guten Morgen«, sagte sie und trat ein, als sie das »Herein« ihrer Tochter hörte. »Wie geht es dem Mädchen?«, fragte Amelie als Erstes.

»Viel besser, aber sie hat natürlich nichts anzuziehen. Ich habe mir gedacht, vielleicht suchst du etwas von dir heraus und schenkst es ihr, was meinst du?«, fragte Luise.

»Aber natürlich.« Amelie, die bereits angekleidet war und gefrühstückt hatte, öffnete ihren Kleiderschrank und suchte Unterwäsche, Bluse, Rock und Strümpfe heraus, um sie dem Mädchen zu bringen.

Als sie Klaras Zimmer betrat, lag die Kleine immer noch im Bett, die Decke bis an die Nasenspitze gezogen und mit geschlossenen Augen. Amelie trat zu ihr und sagte leise: »Aufwachen, du Schlafmütze, ich hab dir etwas zum Anziehen mitgebracht.« Klara riskierte ein Auge, sah das junge, freundlich lächelnde Mädchen neben dem Bett stehen und setzte sich auf. »Dit is aber lieb«, sagte sie. »Dit Se mir von Ihrem Gewand abgeben.« Flink sprang Klara aus dem Bett. Amelie zeigte ihr die Waschschüssel und nach einer Katzenwäsche schlüpfte Klara in die geborgte Kleidung. »So scheen is det«, staunte sie, als sie sich vor dem deckenhohen Spiegel bewunderte. »Komm, ich frisiere dir die Haare«, bot Amelie an. Klara nahm fast ehrfürchtig auf dem Hocker vor dem Spiegel Platz. Klaras Haar war ungewaschen und verfilzt. Amelie nahm eine Bürste in die Hand und begann vorsichtig, die einzelnen Haarzotteln auszukämmen. »Aua, det ziept«, quietschte Klara. »Entschuldigung«, Amelie dachte kurz nach, dann läutete sie nach Else. Das Hausmädchen klopfte. »Else, bitte sei so nett und bring mir eine große Kanne Wasser und Seife für Klaras Haare«, bat Amelie sie. Else nickte, lief die Treppe hinunter und war wenige Minuten später mit einer großen Kanne heißen Wassers und einer Zinkwanne zurück. »So«, meinte Amelie. »Dann wollen wir mal. Beug dich bitte mit dem Kopf über die Waschschüssel.« Klara zögerte erst, tat dann allerdings wie geheißen. Ihre Haare waren lang und stark verschmutzt. Es dauerte eine Weile, bis der Waschprozess erledigt war. Amelie reichte der Kleinen, die ihr viel jünger schien als sie, obwohl sie doch ungefähr gleichaltrig sein mussten, ein Handtuch. Anschließend ging sie ans Werk, noch vorsichtiger diesmal. Endlich hatte sie den weißblonden Haarschopf halbwegs entwirrt und zu einem langen Zopf geflochten. Klara strahlte sich im Spiegel an. »Schön is dit«, meinte sie. »Na dann komm«, Amelie schritt zur Tür. »Wir wollen hinuntergehen und besprechen, wie es mit dir weitergehen soll.« Klara folgte gehorsam. Gemeinsam stiegen sie die Treppe ins erste Stockwerk hinunter, wo sich Ess- und Wohnzimmer sowie Luises Salon befanden.

Am Nachmittag dieses Tages schließlich versammelten sich das Ehepaar von Liebwitz, Amelie und Klara in Luises Salon, um das weitere Schicksal der kleinen Klara zu besprechen. Das Mädchen sah in Amelies Sachen sehr nett aus, und nach einer kurzen Untersuchung durch Amelies Eltern und einem ausgiebigen Mittagessen sah sie schon viel fröhlicher in die Welt, wenn auch die verschwollenen Augen und die Schrammen im Gesicht deutlich davon kündeten, dass ihr Gewalt angetan worden war. Blass und zart kauerte sie auf einer Sesselkante und blickte Luise an. »Nun«, begann diese. »Am besten wird es wohl sein, wir gehen zur Polizei und zeigen den Mann an, der dir das angetan hat. Weißt du, wie er heißt?« Klara erbleichte bis an die Haarspitzen, auf ihren Wangen erschienen hochrote Kreise. »Nee, nee, bitte, dit dürfen Sie nicht«, Klara begann zu weinen. »Wenn de Plempe mir hochnimmt, muss ick in dit Waisenhaus. Und dort isset furchtbar.« Luise blickte Michael an. »Aber«, sagte sie dann, »wir können das doch nicht einfach auf sich beruhen lassen?« »Das werden wir aber müssen«, gab Michael zurück. »Klara hat recht, wenn die Behörden mitbekommen, dass das Mädchen erst dreizehn Jahre alt ist, wird sie wieder ins Waisenhaus gebracht.«

Amelie mischte sich ins Gespräch ein. »Was ist, wenn wir Felicitas fragen, ob sie nicht ein Dienstmädchen im Haus Wallersdorf gebrauchen können?«, fragte sie. »Vielleicht nimmt Frau von Wallersdorf sie sogar als Zofe auf?«

Klara merkte auf. »Eine Zofe?«, fragte sie dann. »Die Haare machen darf und schöne Kleider herauslegen?«, fragte sie neugierig. Vor lauter Aufregung verfiel sie ins Hochdeutsche.

»Das ist gar keine schlechte Idee«, sagte Luise. »Ich rufe Elaine gleich einmal an.« Elaine von Wallersdorf, eine Irin, die von ihrem deutschen Mann nach Berlin verpflanzt worden war, war für ihre Exzentrik bekannt. Nur wenige Minuten später kam Luise in den Salon zurück. »Elaine hat zugestimmt, sich Klara einmal anzuschauen«, erklärte sie. »Ich habe ihr aber gesagt, dass du«, sie wandte sich an Klara, »dich noch ein paar Tage bei uns ausruhen musst, bis deine Blessuren abgeklungen sind.« Klara lächelte Luise dankbar an. »Kümmere dich ein bisschen um sie, ja?«, bat Luise ihre Tochter. »Aber klar«, antwortete diese, fasste Klaras Hand und zog sie mit sich in ihr Zimmer.

Kapitel 2

BERLIN, 1908

Ich gratuliere Ihnen, Fräulein von Liebwitz, Sie haben die Maturitätsprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg bestanden.« Professor Udo Heimersdorf, Rektor des Schillergymnasiums in Charlottenburg, reichte einer überglücklichen Amelie die Hand und schüttelte sie kräftig. »Sie haben so manchen Abiturienten hier an dieser Knabenschule hinter sich gelassen«, fuhr Heimersdorf fort. »Ich wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute.« Amelie dankte und verließ das Schulgebäude. Am Vorplatz wartete ihre ganze Familie, nebst Dienstboten und ihrer Freundin Felicitas, die ihr nun abwechselnd um den Hals fielen und sie zu ihrem Erfolg beglückwünschten.

Am gleichen Abend fand in ihrem Elternhaus eine kleine Feier statt. Die Tafel im Esszimmer prunkte mit glänzendem Porzellan, Silberbesteck und mehreren großen Blumensträußen, mit denen das Mädchen zu seinem Erfolg beschenkt worden war.

»Aber wisst ihr«, sagte Amelie schließlich, als der Nachtisch abgetragen und die kleinen Gläser mit Portwein gefüllt waren, »jetzt habe ich Abitur, aber studieren darf ich in Berlin noch immer nicht.«

»Geh nach Zürich«, schlug ihr Vater vor. In der Schweiz waren Frauen schon seit den 1860er Jahren regulär zum Medizinstudium zugelassen. Auch Amelies Mutter war dieser Idee durchaus nicht abgeneigt. Amelie allerdings wehrte sich dagegen. Sie liebte Berlin, den Lärm, die Farben und die vielen unterschiedlichen Menschen. Das Reisen hingegen liebte sie nicht.

Schon als Kind hatte sie es verabscheut, wenn die ganze Familie zu Familienfesten aufs pommersche Landgut reiste. In der Kutsche wurde ihr prinzipiell sofort schlecht, ebenso wie im ruckelnden Eisenbahnwaggon. Außerdem dauerten die Fahrten immer ewig, man saß eng, es war entweder zu kalt oder zu heiß und ganz bestimmt hatte man jedes Mal etwas Wichtiges vergessen. Nein, sie war mit Leib und Seele Berlinerin – woanders hinzugehen, kam nicht infrage. Nicht einmal für ihren Herzenswunsch.

Außerdem ärgerte sie der Gedanke, nicht in ihrer Heimatstadt das tun zu dürfen, was jedem Mann, der ein Abitur vorweisen konnte, erlaubt war.

»Versteht ihr denn nicht«, sagte sie nun zu ihren Eltern, »es macht mich wahnsinnig, nicht hier in Berlin studieren zu dürfen, nur weil ein paar gelehrte Köpfe«, sie zeichnete sarkastische Anführungszeichen in die Luft, »meinen, Frauen wären zu dämlich für den Arztberuf.«

Sie schüttelte verärgert den Kopf, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Ich glaub aber«, sagte sie dann an ihre Eltern gewandt, »ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, bis Kaiser Wilhelm die Frauen in Preußen endlich zum Medizinstudium zulassen wird.«

»Dein Optimismus in allen Ehren, mein Kind, aber was verleitet dich zu dieser optimistischen Annahme?«, hatte Michael von Liebwitz gefragt. Amelies Vater saß, zufrieden nach dem gelungenen Abendessen, mit der Pfeife in der Hand am Esstisch. »Du warst es doch, der mir berichtet hat, immer mehr im Ausland ausgebildete Ärztinnen ließen sich in Berlin nieder. Und du«, sie wandte sich ihrer Mutter zu, die – ebenfalls rauchend – bequem in ihrem Sessel lehnte.

»Ich?« Luise gab sich erstaunt. »Und wie habe ich das angestellt?«

»Du hast mir doch erst vor ein paar Tagen erzählt, dass eine ganze Reihe von Berliner Ärztinnen beim Kaiser eine Petition eingereicht haben, die fordert, Frauen zum Medizinstudium zuzulassen, oder?«

»Das stimmt«, antwortete Luise nachdenklich. »Ich glaube, ich habe darüber etwas im ›Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine‹ gelesen.«