Über Elizabeth Harrower

Elizabeth Harrower, geboren 1928 in Sydney, veröffentlichte in den fünfziger und sechziger Jahren vier Romane, für die sie viel Anerkennung erhielt. Als ihre Mutter starb, der sie sehr nahestand, beendete sie abrupt ihre Schriftstellerkarriere. Seit einigen Jahren wird ihr Werk in immer mehr Ländern als literarische Wiederentdeckung gefeiert. Auf Deutsch liegt bislang nur ihr erst 2014 aufgefundener letzter Roman »In gewissen Kreisen« vor.

Alissa Walser, geboren in Friedrichshafen, schreibt und übersetzt in Frankfurt/Main. Zuletzt erschienen ihr Roman »Am Anfang war die Nacht Musik« (2010), die Erzählung »Immer ich« (2011) und »Von den Tieren im Notieren« (2015). Sie übertrug Autorinnen wie Paula Fox und Sylvia Plath ins Deutsche.

Informationen zum Buch

»Ich kann diese brillante Schriftstellerin nicht nachdrücklich genug empfehlen.« James Wood, The New Yorker.

»Elizabeth Harrowers bester Roman: die tragische Geschichte der Schwestern Laura und Clare, die unter den Einfluss des herrschsüchtigen Felix Shaw geraten. Ein Meisterwerk.« James Wood, The New Yorker

Sydney, 1940er Jahre: Anstelle der überforderten Mutter ist es Laura, die für sich und die sieben Jahre jüngere Schwester Clare das Geld nach Hause bringen muss. Als der Chef ihr das Angebot macht, für Clares Schulgebühren aufzukommen, gibt sie seinem Werben nach. Laura wird seine Frau. Dem psychischen Terror, dem beide jungen Frauen fortan ausgesetzt sind, steht Clares langsam wachsender Widerstand gegenüber, ihre Vision von einem selbstbestimmten Leben.

Ein herausragender Roman über die Kraft der Frauen, wie er aktueller nicht sein könnte – das Meisterwerk einer der wichtigsten Autorinnen Australiens, übersetzt von Alissa Walser.

»Was für eine Wiederentdeckung!« The Paris Review

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Elizabeth Harrower

Die Träume der anderen

Roman

Aus dem Englischen von Alissa Walser

Inhaltsübersicht

Über Elizabeth Harrower

Informationen zum Buch

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Teil Eins

Teil Zwei

Teil Drei

Impressum

Teil Eins

»Jetzt, wo euer Vater gegangen ist – «

Stella Vaizey sah in die beiden Gesichter, die sich zunehmend argwöhnisch zusammenzogen. Sie zögerte. Was waren sie doch für Pedanten! Spießer, George Washingtons, Träumer!

»Tot«, korrigierte sie sich mit Nachdruck und einer Spur Boshaftigkeit. »Jetzt, wo euer Vater tot ist, werden wir drei zusammen in Sydney leben.«

Die blassen, gespannten Gesichter, die weit aufgerissenen Augen wanderten zu der Schulleiterin Miss Lambert, die bedauernd nickte.

»Sobald ich das Haus in Sydney verkauft und eine Wohnung in der Stadt gefunden habe«, fuhr die Mutter fort, indem sie die Blicke, die zwischen den Mädchen hin und her gingen, nüchtern zur Kenntnis nahm, »werde ich es Miss Lambert wissen lassen.«

Aus einem Eukalyptusbaum jenseits des Schulgeländes ertönte der ferne Schrei einer Elster, vielleicht war es auch eine Krähe oder einer dieser Wildvögel aus dem Busch, den sie in der Stadt hoffentlich nie hören würden. Es war ein unbekümmerter, bedächtiger Schrei. (Irgendjemand seufzte.) Von den nahe gelegenen Tennisplätzen drangen schwungvolle Geräusche und Gelächter herüber.

»Und ich kann Sie nicht überreden, es sich noch einmal zu überlegen, Mrs. Vaizey? Wenn Laura die letzten Jahre bei uns bleiben könnte – sie ist eine unserer besten Schülerinnen, wissen Sie.« Laura hatte immer gesagt, dass sie wahrscheinlich wie ihr Vater Medizin studieren wolle, auch wenn sie immer wieder signalisiert hatte, dass sie sich auch vorstellen könnte, obendrein Opern zu singen, falls es von ihr gewünscht würde. So lächerlich und unrealistisch solche Vorstellungen auch anmuteten, musste Miss Lambert doch anerkennen: Überall auf der Welt traten Menschen auf Opernbühnen auf, und Laura war musikalisch und besaß eine zauberhafte Mezzo-Stimme sowie eine Begabung für Sprachen. Ihr armer Vater hingegen hatte im zarten Alter von fünfundvierzig – fünf Jahre jünger als Miss Lambert heute – am Steuer seines Wagens einen Herzinfarkt erlitten, als er sich eines Abends auf dem Weg zu einem Patienten befand; und nun war, aus der Perspektive der Schulleiterin, das Leben seiner Tochter in Gefahr. (Natürlich auch das Clares, doch die war erst neun, also in einem weniger kritischen Alter; auf die gut gemeinten Fragen nach ihren Zukunftsplänen antwortete sie meistens »Weiß ich noch nicht«. Andere Mädchen in dem Alter hatten selbstbewusste Antworten parat – was Miss Lambert, um sich selbst zu gefallen, gern dem Einfluss der Schule zuschrieb: »Eine Physiotherapeutin, Miss Lambert« oder »Eine Debütantin, Miss Lambert«. Wohlerzogene kleine, unbeirrbare Mädchen!)

»Lauras berufliche Karriere könnte dann eine völlig andere sein. Es gibt Stipendien – «, murmelte Miss Lambert und wurde zunehmend lauter, denn Stella Vaizey hielt leise und mit beschwichtigender brüskierender Selbstsicherheit dagegen: »Die Mädchen verstehen das. Ihr Vater war nicht besonders praktisch veranlagt.«

Bei dieser Bemerkung warfen die verunsicherten Töchter Mrs. Vaizey einen fragenden Blick zu. Sie konnten nicht fassen, wie wenig ihre Mutter sich aus ihnen machte. Ihr Vater hatte immer wieder versucht, ihnen die Mutter zu erklären; jetzt fiel diese Aufgabe Laura zu. Noch vor Kurzem hatte sie über die Mutter gesagt: »Sie ist wirklich wundervoll, nur dass sie unberechenbar ist. Aber ich glaube, sie ist anders, weil sie keine Australierin ist. Wenn man in Indien geboren wird, muss man einfach anders sein.«

Zwar verharrten Clares Aufmerksamkeit und ihr Finger auf dem blau linierten Hausaufgabenheft, doch ihre hellgrauen Augen schauten zu ihrer Schwester. Nachdem ihr leerer Blick dieses Gesicht abgeschätzt hatte, dessen Gedanken sich auf ein pastellfarbenes Porträt Prinzessin Elizabeths konzentrierten, versenkten sich Clares Augen tief in die tintenschwarzen Probleme von Zügen, die sechzig, achtzig und fünfundneunzig Meilen pro Stunde zwischen drei entfernt liegenden Städten verkehrten.

»Ja«, bestätigte Laura, indem sie die Prinzessin stirnrunzelnd ansah.

»Hm.« Clares Zustimmung hatte den gereizten, abwehrenden Unterton, mit dem man sich dem klingelnden Wecker widersetzt, doch etwas in ihr freute sich über wundervoll, unberechenbar, in Indien geboren.

Vor nur zehn Tagen hatte sich ihr Vater, den sie für so dauerhaft wie die Sonne gehalten hatten, als der unzuverlässigste aller Menschen herausgestellt, die sie je gekannt hatten. Mrs. Vaizey hatte die Nachricht überbracht und war dann verschwunden. Die Freunde der Mädchen hatten sich aus dem Staub gemacht, standen hämisch oder auch mitfühlend tuschelnd am Ende des Flurs und benahmen sich, als hätten die Vaizey-Mädchen die Regeln irgendeiner Geheimgesellschaft verletzt. Miss Lambert und die anderen Lehrerinnen waren freundlich, doch jetzt, als die Mutter Miss Lambert die Hand schüttelte, ihre beiden Töchter küsste und das Schulgebäude verließ, wurde ihnen ihre Hilflosigkeit angesichts der Ereignisse so deutlich wie die Kluft zwischen den Schwestern und den angeblich so liebevollen Familienangehörigen. Langsam tauchte am fernen Horizont ein Gedanke auf: Das Ganze war schlicht eine Geschäftsvereinbarung gewesen, von Anfang an. Die Töchter waren nichts weiter als Posten, Buchstaben und Ziffern auf einer Rechnung.

Während der restlichen Zeit in der Schule starrten die Mädchen meist vor sich hin, zutiefst verstört von der Gestalt, die ihre Welt jetzt annahm. Mit dem Tod hatten sie keine Erfahrung, und durch das Zerbrechen der Freundschaften zu Sheila und Rose, die sie für ewig gehalten hatten, waren sie nun ihrer Mutter, die sie kaum kannten, schutzlos ausgeliefert (so fühlte es sich an). Monumente wie Miss Lambert und die Schule waren offensichtlich so unbedeutend wie die flüchtigen Schöpfungen, die die Bildhauer am Strand von Sydney, den sie einst besucht hatten, aus Sand formten.

Des Vaters – ihres Vaters – konnte man sich so einfach entledigen wie der Zettel, auf denen Laura in Druckbuchstaben Dr. Laura Vaizey geschrieben hatte. Die als selbstverständlich vorausgesetzte schulische Entwicklung – man trat als »Kleine« ein und verließ, nachdem man extrem hart gearbeitet und schwierigste Examen bestanden hatte, die Schule als echte Oberstufenschülerin – fand offenbar nicht zwangsläufig statt.

Laura hatte Bücher gelesen. Mit Ausnahme einiger weniger dramatischer Geschichten, die in anderen Ländern spielten und deren Figuren und Umstände lächerlich weit von ihren eigenen entfernt waren, ging es für die jungen Heldinnen immer gut aus. Auch wenn ihre Pläne durchkreuzt wurden und es keine Hoffnung mehr gab, stellte sich am Ende immer alles als grandioses Missverständnis heraus. Die Mädchen und ihre Liebsten brausten dann lachend in eine regenbogenfarbige Zukunft. War sie keine junge Heldin? Die anderen Tragödien (Miss Lamberts Klassiker) waren natürlich schön und sehr traurig, doch sie hatten keine Ähnlichkeit mit der Realität. Also konnte, was den Vaizeys zugestoßen war, unmöglich tragisch sein; es betäubte nur, machte aus der Zukunft etwas Geheimnisvolles, Unvorstellbares. Es fühlte sich merkwürdig an. Man plante vom Morgen bis zum Nachmittag bis zum Abend, und der nächste Tag und die nächste Woche blieben ein totes Vakuum: Und das nächste Jahr oder die nächsten fünf Jahre ähnelten dem Raum hinter dem Ende der Welt. Es fühlte sich an, als sei ihr eine lebenswichtige Freude, an die sie sich nicht mehr genau erinnern konnte, oder ein Stück von sich selbst abhandengekommen. Es gab nichts zu träumen!

Clare nahm den Abschied von der Schule wesentlich leichter. Sie hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass man sie eigentlich dorthin geschickt hatte, um sie zu bestrafen oder sie los zu sein. An einem lang zurückliegenden Abend hatten ihre Eltern sich gestritten. Sie konnte sich nicht mehr an die Worte erinnern, die sie sich an den Kopf geworfen hatten, und doch hatte sie ihre Bedeutung verstanden und verstand sie in ihrer Erinnerung noch immer. Sie und Laura waren nicht erwünscht. Die Schule war ein Ort, an dem sie verschwinden könnten, für immer.

Auch hatte ihr, seit sie vor Jahren dort eingetroffen war, keiner je erklärt, welches Ziel sie alle eigentlich verfolgten. Vielleicht gab es Orte, an denen die Ziele klar formuliert wurden, vielleicht erzählte man die Geschichten dort von Anfang an – und begann mit dem Grund, warum man überhaupt dort war.

»Ab morgen früh, mein Fräulein, übernehmt ihr das alles, du und Clare.« Stella Vaizey ließ sich in ihr Bett zurücksinken und streckte mit einer entspannten Geste eine kleine beringte und manikürte Hand von sich weg. Auf zwei Kissen gestützt, eine Zigarette der Marke Abdulla rauchend, schaute sie nachsichtig auf Clare, die, mit baumelnden Zöpfen und einer losen dunkelblauen Haarschleife, die Ellbogen auf die Knie gestützt, auf dem Stuhl vor dem Schminktisch saß; und auf Laura, die hinten an den Fenstern stand und mit flinken kurzen Blicken dieses merkwürdige Schlafzimmer samt Mobiliar abschätzte. Laura konnte dieses »Fräulein« nicht ausstehen. Es war nicht nett gemeint.

»Du bist in diesem Berufskolleg eingeschrieben, Clare ist in der Schule angemeldet, und beides ist zu Fuß zu erreichen. Ihr wisst, wo man einkaufen kann, und der Strand ist einmal den Berg runter, also beklagen könnt ihr euch nicht, oder?«

Sie strich sie von ihrer Liste!

»Und jetzt, wo alles erledigt ist, möchte ich, dass ihr zwei ein bisschen Verantwortung übernehmt. Ich bin total erschöpft. Die Zeit mit diesem idiotischen Rechtsanwalt, der alles vermasselt und das Haus verkauft hat, hat mich mitgenommen. Es war ein Riesen…« – ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schnäuzte sich und schnäuzte sich noch einmal, und sie stöhnte inbrünstig, als wolle sie sagen: »Da, bitte! Seht selbst, was man mir angetan hat.«

Sie war eine äußerst attraktive Frau. Ihre straffe cremefarbene Haut bräunte schnell; ihr Gesicht war kurz und breit; ihre dunklen Augenbrauen besaßen eine schöne Ebenmäßigkeit; sie hatte einen hübschen Mund, und ihre sanften Augen galten als faszinierend, da sie von Grauviolett bis Bernsteinfarben changierten. Eine indische Trägheit und die Anmut ihrer Bewegungen, wie sie bei der Nachkommenschaft der Majore der britischen Armee nicht oft zu finden ist, hatten eine Reihe junger Männer bezirzt, ihnen den Kopf verdreht, auch wenn keiner von ihnen für seine Wahrnehmung je berühmt werden sollte: einer von ihnen war David Vaizey. Klar war auch heute noch, auch die Mädchen wussten es, dass sie für weit Besseres als diese Umstände gemacht war.

»Arme Mum!« Clare, draußen in der Küche, tat die Worte ihrer Mutter in eher beiläufigem Ton ab, dabei kippelte sie auf dem weiß gestrichenen Rundholz eines Stuhls und schaukelte vor und zurück.

»Wir machen uns einen Stundenplan, schreiben eine Liste. Du musst mithelfen!« Laura war beeindruckt von ihrer Autorität. Aber es war auch scherzhaft gemeint. Ihr entschiedenes Einbeziehen Clares war mit einem verschwörerischen Zwinkern geäußert. Und doch kam sie sich wie jemand anders vor.

»Klar helfe ich mit«, beteuerte Clare und blickte erwartungsvoll auf das Monopoly-Brett, das sie bereitgestellt hatten. Durch einen unvorsichtigen Ruck mit dem Stuhl landete sie in voller Länge auf dem Fußboden. Sie rang nach Atem. An ihrem Hinterkopf erschien prompt eine Beule.

»Oh, pass doch auf!«, flüsterte Laura, als ihre Mutter aus dem Schlafzimmer rief: »Um Himmels willen, was …?«

Sie kicherten leise, Clare rappelte sich auf, und ihre Mutter schimpfte weiter über den rücksichtlosen Lärm. Einmal mit Kichern angefangen, konnten sie nicht mehr aufhören – es ging um etwas Peinliches im Zusammenhang mit ihrem Vater, den sie auch nicht sonderlich gut gekannt hatten. Es ging um diesen ersten Tag im neuen Zuhause: einem möblierten Apartment in einer unbedeutenden Vorstadt, Manly, in einer riesigen Stadt, Sydney – und morgen würden sie allein zu diesen Institutionen laufen, die sie nicht kannten.

Sie lachten und mussten sich setzen, und sie lachten und bissen sich in die Hände und hielten sich die Bäuche, und kaum dass sie sich beruhigt hatten, stachelten sie sich gegenseitig wieder an. Sie lachten, bis sie sich völlig ausgelacht hatten und auf einmal sehr müde waren. Der Geruch der sauberen, fremden Wohnung stieg ihnen in die Nase – die frische Farbe, die leeren Schränke, dazu der salzige Wind, der durch die Wohnung zog und an den losen Fensterläden rüttelte.

»Morgen wird sie aufstehen oder übermorgen.« Clare fröstelte und gähnte und stand auf, um schlafen zu gehen, geriet aber ohne Grund ins Taumeln und begann wieder zu lachen. Und obwohl sie lachte, stieg eine merkwürdige lautlose Angst in ihr auf, und mit fröhlicher Unnachgiebigkeit dachte sie Ich will nach Hause. Sie war hier gefangen. Sie wollte nach Hause. Laura verriegelte die hintere Tür. Ihre Arme wirkten weiß und schwach. Laura wusste nicht mehr als sie selbst.

Die Schule, ihre Lehrer, ihre Freunde hatten sie fallenlassen. Ihren Vater gab es nicht mehr. Ich will nach Hause, sie klammerte sich stur daran, und der Gedanke widersetzte sich dem Wissen, dass es tatsächlich keinen Ort mehr gab, an den sie hätte hinwollen können. Gefangen, ungeschützt, eiskalt – ohne einen Menschen, auf den man sich verlassen konnte. Das alles war falsch! Sie versetzte dem Stuhl, der mit ihr umgekippt war, einen Tritt.

»Wie war’s in der Schule?« Laura wusch die Koteletts, die wie absichtlich vom Grill auf den Linoleumboden gerutscht waren, sorgfältig ab.

»In Ordnung. Ein Mädchen meinte, ich würde affektiert reden. Ich rede aber überhaupt nicht komisch. Ich habe ihr gesagt, das sei bloß Miss Carrolls Sprecherziehung. Und bei dir?« Sie legte das Besteck für ihre Mutter auf das Tablett.

»Ganz nett.« Laura hatte eine Reihe lohnender Fakten gelernt, die mit Steno und Maschineschreiben nichts zu tun hatten: zum Beispiel dass es mitleiderregend schrecklich war, keinen Freund zu haben; dass es abstoßend war, die Haare zu Zöpfen zu flechten und ungeschminkt herumzulaufen; dass es speziell war, keinen Vater zu haben, aber eine Mutter, die nicht zu arbeiten brauchte; dass es nichts Langweiligeres gab als ein weibliches Geschöpf ihres Alters, das, wenn es um Film- und Musikstars ging, nicht mitreden konnte. »Ich hoffe, mir wird’s gefallen. Wenn ich sie besser kennenlerne.«

Laura saß am Esszimmertisch und übte Stenokringel, ihr gegenüber brütete Clare über dem Atlas.

»Wie lange«, fragte diese, indem sie ihren Blick über die bunte Welt schweifen ließ, »wie lang, meinst du, wird Mum im Bett bleiben? Das geht jetzt schon seit Wochen. Ich glaube nicht, dass sie so krank ist.« Clare schaute hinüber in die Küche, wo sich im Abwaschbecken das schmutzige Geschirr zu trostlosen Bergen stapelte; sie drückte sich die Fäuste ins Gesicht, bis es wie deformiert wirkte, und begann zu schielen.

Laura unterbrach ihre Arbeit und spitzte den Bleistift mit einer Rasierklinge. »Es sind die Nerven«, beharrte sie, sah ihrer jüngeren Schwester in die Augen und senkte dann den Blick. Es war wichtig, zu glauben, dass zumindest die eigene Mutter ehrlich war. Wenigstens sie. Laura war sieben Jahre älter als Clare, also hatte sie dafür zu sorgen –

»Und warum«, fragte Clare bedrückt, nachdem sie die These von den Nerven ihrer Mutter einige Sekunden lang überdacht hatte, »dürfen wir nie raus und auch sonst nichts?«

»Sonntag waren wir schwimmen, und nächsten Samstag dürfen wir nachmittags ins Kino.« Laura drückte die Bleistiftspitze aufs Papier, bis sie abbrach.

»Ja, aber du weißt, was ich meine. Immer nur wir zwei. Warum dürfen wir uns nie mit den anderen Mädchen treffen?«

»Weil sie wissen möchte, wo wir sind und wer bei uns ist, und …« – Laura, die ihren Bleistift anspitzte, schaute auf – »hierher können sie nicht kommen, weil das Haus Mr. und Mrs. Kirby von unten gehört. Die setzen uns vor die Tür, wenn du fünfzig kreischende kleine Freundinnen mit herbringst.«

Clare zuckte mit den Schultern und zog eine Grimasse vor der Weltkarte. »Das alte Indien!«

»Und überhaupt, wann hätten wir denn Zeit?«, fragte Laura unwiderleglich.

Es kam selten vor, dass sie nichts zu tun hatten. Die Nachmittage vertickten in die Abende, Tomaten und Äpfel wurden gekauft, Kartoffeln geschält, Bad- und Küchenböden geschrubbt, Abendessen gekocht, Hausaufgaben gemacht; und samstags hieß es Vorräte einkaufen, Teppiche saugen, Wäsche im Waschraum waschen und aufhängen; dann, sonntags, hieß es bügeln, noch mehr kochen und Hausaufgaben machen. Jetzt allerdings, wo es wieder heiß war, hieß es auch schwimmen.

Clare nahm das Fragezeichen widerspruchslos hin. Ein so unkonventionell geführter Haushalt kostete Zeit, war aber etwas ganz Neues. Keiner kontrollierte sie. Laura ließ jeden Tag ihre angenehme Stimme erklingen. Sie starrte dabei gerne aus dem Schlafzimmerfenster auf die drei riesigen strahlenden Korallenbäume am Hang über dem Kricketplatz, in ihre verzweigten Äste. Clare rutschte das Treppengeländer hinunter bis ins Erdgeschoss. Sie mochte es, zu joggen, zu lesen, zu schwimmen und zu singen.

Sie rannten den steilen Hang hinunter, vorbei an zwei- und dreistöckigen Häusern mit Apartments wie dem ihren – und an der am Hang balancierenden Steinkirche. Sie blieben stehen, um Atem zu schöpfen, und rannten weiter, blieben an der verkehrsreichen Straße stehen, nur um wieder loszurennen. Ihre langen Zöpfe schlugen auf ihre Rücken oder flogen voraus. Schließlich erreichten sie die Promenade: die im Halbkreis gepflanzten Kiefern, der feine gelbe Sand und dahinter nur noch Pazifik. Er war die Grenze, das wussten sie, auch wenn es sonst keine Gewissheiten gab. Er machte sie sprachlos. Jäh hielten sie an, starrten und starrten, bis sie nicht mehr konnten. Sie gaben auf, sahen weg und stiegen mit steifen Knien die Stufen zum Strand hinunter.

»Hast du daran gedacht, neue Bücher zu holen, Laura?«

Stella Vaizey lag auf dem dunkelblauen Samtsofa unter dem Fenster, glättete mit einem winzigen Pinsel ihre Augenbrauen, prüfte das Ergebnis in dem rechteckigen Spiegel aus ihrer Handtasche.

»Ja, ich hab je zwei mitgebracht. Mal sehen, wie die sind.«

Auf Geheiß ihrer Mutter hatte sie sich in der Drei-Penny-Leihbücherei angemeldet und arbeitete sich seither systematisch durch die Regale. Mrs. Vaizey blätterte und las ohne große Lust in den Romanen und banalen Reisebeschreibungen, die Laura aussuchte, doch in der Wohnung blieb es stundenlang still, denn in versteckten Schlupfwinkeln, hinter Kissen und hohen Stuhllehnen oder im Durchgang zwischen dem Backsteinwaschraum und dem Lattenzaun wurden die bedruckten Seiten von ihren Töchtern so eifrig verschlungen, dass alles, was weniger wunderbar war als Wörter, von ihnen auf immer als langweilig empfunden wurde.

»Ich war heute Nachmittag in der Stadt. Mehrere von Daddys alten Freunden aus seiner Heimat waren da.«

Laura setzte sich auf den Stuhl, beugte sich vor, lauschte gespannt. »Wer? Was haben sie gesagt? Haben sie sich an uns erinnert?«

Es überraschte sie nicht mehr wie beim ersten Mal, zu hören, dass ihre Mutter ausgegangen war. Jetzt, wo der Frühsommer morgens von einer unvergleichlichen Transparenz war, einem außergewöhnlichen und vibrierenden Leuchten, schlenderte sie einfach los. Sie sah sich die Schaufenster an, bummelte, trank Kaffee. Sie ließ sich die Haare richten und traf Leute aus aller Welt. Sie setzte sich auf einen der ausgebleichten Regiestühle, die am Strand standen, las das Horoskop der kommenden Woche und schrieb an ihren Bruder Edward in Indien und an entfernte Verwandte in Somerset. Entscheidender aber war, dass sie angefangen hatte, in einer Gruppe von Frauen Bridge zu spielen. Drei- oder viermal pro Woche trafen sie sich in der Wohnung von Mrs. Casson unten im Erdgeschoss.

Stella Vaizey kam allmählich wieder zu Kräften. Sie residierte hier, doch teilte sie ihr Leben nicht mit den Mädchen. Gelangweilt und unbeteiligt ließ sie sich umsorgen. Inzwischen konnte sie sich ohne Risiko hinauswagen, denn es war den Mädchen, auch wenn es nie thematisiert worden war, völlig klar, dass eine so zierliche Person nicht für die Arbeit gemacht war. Sie waren die Australierinnen, Sterbliche von mittlerer Größe. Sie besaßen nicht den exotischen Flair ihrer Mutter, ihre Zerbrechlichkeit. Selbstverständlich hatten sie immer alle Hände voll zu tun und holten sich dabei blaue Flecke an Schienbeinen und Hüften und schnitten sich in die Finger, und allmählich würden sie auch Ringe unter den Augen bekommen, nur damit ihre Mutter und sie selbst versorgt wären.

Außer den Frauen, mit denen sie Karten spielte, kannte Mrs. Vaizey niemanden in der Stadt. Ihr Onkel, der in Australien gelebt und der ihr einst als Vorwand gedient hatte, dieses Land zu besuchen, war gestorben. In seinem Haus hatte sie David kennengelernt. Davids Schwester war in Kanada verheiratet, sein Vater mittlerweile ein alter Mann. Sie hatte ihn nie kennengelernt. Er lebte mit seiner zweiten Frau irgendwo im Norden von Queensland. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sich aus einer dieser Richtungen eine Lösung für die Zukunft auftun würde, und doch –

»Eines Tages wird sich etwas sehr, sehr Schönes ereignen«, versprach sie sich selbst, indem sie es Clare gegenüber laut aussprach.

Wirklich? Clare beobachtete ihre Mutter, wie sie ein Streichholz an der Schachtel anriss und sich eine Zigarette anzündete. Fasziniert, mit fast liebevoller Erwartung verfolgte Clare den sich emporschlängelnden Zigarettenrauch. Sie kannte ihre Mutter. Aber nichtsdestotrotz: Es stand etwas Wundervolles bevor. Ihre Mutter hatte es gesagt.

»Wer weiß? Vielleicht eröffne ich mit dem bisschen Geld, das Dad hinterlassen hat, einen Geschenkeladen unten auf der Promenade oder auf der Hauptstraße. Oder wie wär’s mit Blumen …?«

Sie hob ihr Gesicht zum Spiegel, den sie immer in Reichweite hatte, und musterte ihre glatte, zart beigefarbene Erscheinung. Gewiss hatte das etwas zu bedeuten. Diese feinen Züge. Und auch ihr schweres, glattes Haar sah doch aus, als sei es gemacht für diese Frisur »im Stil einer ägyptischen Skulptur«, wie Miss Lowe aus der Nachbarschaft es ausdrückte. Ein wohlhabender Mann war natürlich die nächstliegende Lösung.

»Ja, ein Geschenkeladen!« Laura unterstützte sie entschieden. »Oder Blumen.«

Sie und Clare hatten schon Dutzenden dieser unverbindlichen Träumereien ihrer Mutter aus vollem Herzen zugestimmt und begeistert applaudiert. Unglücklicherweise jedoch lief es, kaum hatte die Mutter es ausgesprochen und die Töchter geklatscht, immer darauf hinaus, dass die Idee am Ende zu Grabe getragen wurde. Und trotzdem …

Laura bestand, was zu bestehen war und das Berufskolleg als Examen betrachtete, und erhielt von dem Leiter, Mr. Sparks mit dem schwarzen Schnauzbart, Empfehlungsschreiben.

»Als unsere beste Schülerin, Laura, könnten Sie sich aus unserer Kartei jeden Job aussuchen, aber Ihre Mutter will, dass sie in der Nähe bleiben, verstehe ich recht? In der Stadt würden Sie mehr Geld verdienen.« Jim Sparks, der fünfunddreißig Jahre alt war und dafür bestimmt, seine alte behinderte Mutter zu betreuen, zuckte fragend mit dem Schnäuzer.

»Es ist wegen der Fahrtzeit. Ich werde zu Hause gebraucht.«

»Na ja, dann haben wir keine große Auswahl, wissen Sie.« Sein blasser Finger fuhr in einer kreisenden Bewegung durch die Karteikarten. »Shaws Schachtelmanufaktur. Nur ein geringer Einstiegslohn. Samstags frei.«

Am selben Nachmittag ließ Laura ihre hellbraunen, sonnengebleichten Zöpfe abschneiden. Ihr natürlich gelocktes Haar wellte sich lässig um ihre Schultern. Ihre blauen Augen erblickten mit Staunen ihr neues Gesicht. Schwer zu sagen, was genau sie fühlte. Ein wenig schrieb sie es dem Verlust ihrer Haare zu, die bis dahin noch nie geschnitten worden waren. Doch letztlich war es der Sachverhalt, den sie den wenigen Worten entnommen hatte und der sie so tief erschütterte.

Shaws Schachtelmanufaktur. Doktor Laura Vaizey – Laura Vaizey in Covent Garden …

Sie fühlte sich, als hätte sie die Vorbereitungen zu einer OP, die sie ziemlich sicher das Leben kosten würde, tapfer durchgestanden und stelle nun, da die Narkosemaske herabfährt, entsetzt fest, dass alles tatsächlich und unwiderruflich geschieht und jedes Schreien zwecklos ist.

»Na, wenn Mr. Sparks diesen Job vorgeschlagen hat …« Ihre Mutter war mit der Entscheidung völlig einverstanden und wandte sich wieder ihrem Brief an Edward zu. Anstatt sich, wie erwartet, in Luft aufzulösen, blieb Laura anwesend. Durch deren stumme Präsenz leicht verunsichert, schaute Mrs. Vaizey auf und konnte es nicht lassen, hinzuzufügen: »Bald wird sich etwas sehr Schönes ereignen, du wirst schon sehen!«

Vorsichtig strich sie mit der linken Hand ihren Unterkiefer entlang. »Mich hat doch nicht etwa ein Moskito gestochen! – Nein, wenn dein Vater bloß nachgedacht hätte … Aber was soll’s, du bist die geborene Hausfrau, die geborene Ehefrau. Und du hast ein außergewöhnliches Gesichtchen, hübsche Augen und Zähne und eine schmale Taille. Du wirst« – sie strich besorgt über ihr Kinn – »jemanden kennenlernen …« Sie hielt wieder inne. Laura verließ leise den Raum.

Mr. Shaw von Shaws Schachtelmanufaktur war ein dunkelhäutiger, untersetzter Mann von vierundvierzig Jahren, der eher wie fünfzig aussah. Er war kaum größer als Laura, wenn sie ihre hochhackigen Schuhe trug. Meistens im braunen Anzug, das Jackett offen, thronte auf seinem dicken schwarzen Haar in flotter Schräge ein dunkler Hut. Starke, ungepflegte Brauen hingen über den tiefdunklen Augen, in denen der großen Iris wegen kaum Weiß zu sehen war. Nachmittags gegen vier Uhr begann sein Bart zu sprießen, so dass er wie ein Seeräuber aussah, und wer noch nie einen Türken oder Perser gesehen hatte, meinte, er komme aus einem fernen fremden Land.

Die meiste Zeit war er unterwegs, holte Material ab oder lieferte Bestellungen aus. Wenn er in die Manufaktur kam, wanderte seine Aufmerksamkeit starr und konstant wie eine primitive Maschine von einem Objekt zum nächsten. Einem Kassenbuch, einem Hauptbuch, einem Karton voller kleiner Schachteln. Er sprach so gut wie nie und wenn doch, ging es stets um jene Tätigkeit, die ihn gerade beschäftigte. Er hatte eine raue Krächzstimme, als habe er sich heiser geschrien. Es war seine Eigenart, so zu sprechen, dass nicht klar wurde, welche Mitarbeiterin er meinte (indem er sie zum Beispiel ansah), und da er gerne zu artikulierten pflegte, als spreche er zu sich selbst, wurde er häufig gebeten, seine Anweisungen zu wiederholen. Gelegentlich machte es den Eindruck, als ärgere ihn das, meistens jedoch schien er die Anwesenheit der anderen gar nicht zu bemerken.

Die Manufaktur bestand aus einem einzigen Raum; hier saßen auf einer langen Bank, vis-à-vis einer Reihe von Fenstern, fünf Mädchen; auf der Backsteinmauer, die durch das Glas verschwommen zu sehen war, lasen sie tagein, tagaus grüne Buchstaben auf gelbem Grund: TESTEN SIE TRIXIE-TEE! DER IST TIPPTOPP UND BETÖREND!

Schichtweise gepresstes, gefalztes Cellophan, mittels einer Schneidemaschine zu Kreuzen geschnitten, stapelte sich neben der jeweils rechten Hand eines Mädchens. Vier Striche Flüssigkleber und eine Sekunde pressen, und fertig war die Schachtel. So entstanden täglich Türme farbloser Würfel, die Mädchen in ständiger Konkurrenz, welches am meisten verdiente.

Shaws Hauptkunden waren Blumengeschäfte, aber auch Juweliere und Kaufhäuser erteilten zunehmend große Aufträge. Den ganzen Tag lief das Radio. Die Mädchen arbeiteten schnell und sangen dazu mit ihren rauen Stimmen.

Nachdem sie Laura einige Stunden auf die Probe gestellt hatten, begegneten sie ihr, der neuen Bürokraft, die an derselben schmuddeligen Wand, nur ein wenig abseits an einem Tisch saß und tippte, ungezwungen und freundlich. Sie bemitleideten jeden, der stenographieren und Zahlen addieren musste. Vor allem aber weil sie trotz gleicher Arbeitszeit mehr verdienten als dieses Mädchen. Ja, sie hatten jede Menge Sympathie für sie.

»Wie geht’s, Laurie? Was steht heut an?« Sie starrten über ihren Kopf hinweg auf das maschinengetippte Blatt und das Notizbuch und legten ihre warmen Hände auf ihre Schultern. Manchmal machten sie eine kurze Pause und scherzten mit Laura, neckten sie ein wenig gönnerhaft, dabei den Geruch von Gesichtspuder, eingelegten Zwiebeln und Flüssigkleber verströmend.

An Lauras viertem Arbeitstag sah sie hinter den Füßen der Mädchen zwei riesige Ratten, die an der Wandleiste entlang gemächlich auf sie zuliefen, und schrie laut auf.

Aileen und Greta, die ältesten Mädchen, saßen vor ihren Schachteln und versuchten ihr Lachen zu unterdrücken. »Das sind unsere Haustiere! Nicht ganz dein Fall? Die kriegen unsere Brotrinden! Die tun dir nichts! Haben eher Angst vor dir.«

Die Jüngeren, Shirley, Diane und Bernadette, riefen unisono: »Die können sie auch nicht ausstehen, Laurie! Die veräppeln dich bloß. Diese Drecksviecher! – Die Ratten, wir meinten die Ratten!«, schrien sie, Stimmen und Gesichter vom Kichern verzerrt, während die Älteren ihnen durch Gesten Schläge auf den Kopf androhten.

Als Mr. Shaw um drei Uhr nachmittags in die Manufaktur zurückkehrte, fand er auf seinem Schreibtisch eine Blechdose mit Gift. Er las das Etikett, stellte die Dose feierlich auf den Kopf, hob den Blick und schaute Laura an. Zum ersten Mal, wie ihr schien.

»Was soll das? Woher kommt das?« Er sprach langsam und mit belegter Stimme.

Laura berichtete ihm, warum sie es gekauft hatte.

Mr. Shaw begann auf eine erschreckende Art zu lachen. Er sah heiter aus, fand Laura, doch sein fratzenhaftes Lachen erinnerte sie an einen Pantomimen, er lachte, als höre er sich selbst dabei zu. Laura spürte, wie sie blass wurde, und setzte ihr übliches Lächeln auf. Die Überlegung, ob es ihr überhaupt zustand, das Gift tatsächlich auszulegen, ließ sie zusammenfahren.

»Nun ja! Nun ja!« Überraschend abrupt hielt Mr. Shaw inne und warf Laura einen äußerst ernsten, düsteren Blick zu, als hätte sie spontan das Thema gewechselt und ihn gebeten, die Hälfte seiner Vermögenswerte zu verschenken. Sie spürte, und dafür schämte sie sich, dass sie ihn um einen großen Gefallen gebeten hatte. Schließlich gehörten die Ratten ja irgendwie ihm.

Ihr Selbstvertrauen geriet ins Wanken; sie verstand mit einem Mal gar nichts mehr. Als er sah, dass sie zitterte, begann Mr. Shaw erneut zu lachen. Er hatte eigentlich vorgehabt, sie zu beruhigen, es wollte ihm aber nicht recht gelingen.

»Okay!«, erklärte er stolz, indem er alle weiteren Überlegungen abkürzte. »Also weg mit ihnen! Ich werde es selbst auslegen.« Dieses Mädchen hatte tatsächlich ihr Geld investiert, um seine Ratten loszuwerden. Ein Sachverhalt, der ihn nachhaltig beeindruckte. Nein, das ließ ihn keineswegs kalt. »Sparen Sie sich die Mühe«, fügte er hinzu.

Seither war Laura dem Mann treu ergeben. Sie stand in seiner Schuld.

Mrs. Vaizey saß auf dem winzigen rückseitigen Balkon in der Sonne. Vom Müllschlucker, der direkt mit der Verbrennungsanlage verbunden war, drang ein leicht unangenehmer Geruch nach versengtem Papier herauf. Sie starrte verärgert in den blauen Himmel und auf die roten Backsteinwände der umstehenden Gebäude, die genauso aussahen wie das, in dem sie wohnte, sowie auf zwei Paar gestreifte Pyjamahosen, die auf der benachbarten Wäscheleine im Wind flatterten und einen klassischen Seemannstanz aufführten.

Sie schrieb an ihren Bruder Edward: »Es muss bald etwas geschehen. So geht es nicht weiter. Alle Verwandten und Bekannten sind in England. Ein Leben hier in der Vorstadt kommt nicht in Betracht. Den Mädchen macht es nichts aus. Sie sind ihres Vaters Töchter.«

Ihres Vaters Töchter drängten sich am frühen Samstagmorgen durch die Menschenmengen in den Einkaufsstraßen, und es gab kaum ein Hindernis, an das ihre Netze nicht schlugen oder das sie nicht wenigstens streiften. Sie bahnten sich ihren Weg zur Metzgerei, standen zwischen Frauenrücken und Rinderhälften und warteten.

Als sie aus dem Geschäft kamen, strahlte Clare. »Laura, das Mädchen dadrin, die in den blauen Shorts, hat mich angelächelt. Laura, sie hat freundlich geschaut. Ich dachte, sie würde mich ansprechen. Laura? Ich wünschte – «

Laura studierte ihre Liste. Sie sah sich suchend nach Clare um. »Wo warst du?«

»Hier. Ich habe dir erzählt – «

Niemand hörte je zu. Wozu hatte man eine Stimme. Sie liefen nebeneinanderher. Eine sanfte Bräune überzog Clares schönes Gesicht, und durch die Hitze war es feucht wie eine Grünpflanze. Und wieder sprudelte es über von Lebendigkeit, Mitteilungsbedürfnis, Begeisterung. »Laura! Laura! Hör zu. In der Milchbar dahinten war ein Mann, der genauso aussah wie Dad. Und er hat uns auch gesehen. Vielleicht hätte er was gesagt, wenn wir nicht so schnell gelaufen wären.«

Die beiden mussten immer wieder ein- und ausscheren, um die Langsamen zu überholen, und Laura begann zu spötteln.

»Wahrscheinlich wollte er sagen, du sollst ihn nicht so anstarren. Du kannst es einfach nicht lassen.«

»Das wollte er keineswegs. Stimmt nicht«, verteidigte sich Clare, trottete weiter und blickte eine Weile zu Boden. Sie wusste, dass sie die Leute andauernd … nein, nicht dass sie sie anstarrte, sie beachtete sie, ja beachtete sie.

»Tja, Schicksal.« Laura blickte auf den vor ihnen auftauchenden Zebrastreifen. Um nach Hause zu kommen, mussten sie die belebte Straße überqueren. Laura blickte herab auf ihre jüngere Schwester mit den dicken blonden Zöpfen, die ihr über die Schultern hingen. Mit unterdrücktem Zorn sagte sie: »Man kann nicht einfach so Leute auf der Straße ansprechen, wenn man sie nicht kennt, Clare.«

»Wieso nicht? Was soll schon passieren?«

Im Kino, in den Samstagsmatineen, redeten ständig Fremde miteinander. Sie tanzten auch auf den Tischen und sangen im Freien, und keiner wunderte sich. Einfach freundlich sein – was sollte schon dagegensprechen, den nächstbesten Entgegenkommenden anzuquatschen.

»Warum denn nicht?«

»Schon gut«, sagte Laura widerwillig, indem sie ihre schwere Tasche von der rechten in die linke Hand wechselte. »Achtung, der Bus, Clare!« Dem Verkehr ausweichend, überquerten sie die Straße und folgten einer dunklen Allee Großblättriger Feigen. Sie hat recht. Wenn man niemanden kennt, dachte Laura, und keinen ansprechen darf, solange man ihn oder sie nicht kennt, wie soll man da jemals einen kennenlernen? Schließlich war man ja selbst unbekannt und durfte auch nicht angesprochen werden.

Sie seufzte.

»Laura, wir sind jetzt schon ziemlich lange in Sydney, oder? Ich habe eine Idee.«

Laura nickte, während ihre Gedanken um die Manufaktur kreisten. Die Sonne brannte stechend herab. Sie schleppten sich den steilen Hang hinauf, starrten stumm in die von Bienen umschwärmten apricot- und blassrosafarbenen Hibiskusbüsche, die die Straße säumten.

Laura lag wach in ihrem Bett. Sie hörte den Lieferwagen um die Kurven quietschen. Dann landeten vier straff gerollte Zeitungen – es hörte sich lieblos an – im Windfang aus Marmorimitat.

Clare schlief noch, unsichtbar unter dem Laken. Laura schlich vorsichtig aus dem Zimmer, schwebte die Treppe hinab, schwebte wieder nach oben, und in der Küche auf dem leberfarbenen Tisch schlug sie den Sydney Morning Herald auf und suchte nach den Ergebnissen der Abschlussklassen. Sie fand ihre Schule und ging die Liste merkwürdig beschwingt durch. Sie begann, die fehlenden Namen in ihrem Kopf zu verbuchen. Jacqueline Smith hatte es nicht geschafft, auch Paula und Ruth nicht. Ja, nicht nur Lauras Name fehlte.

Sie sprang auf. In ihrem Zimmer schepperte wie wild der Wecker. Wenn sich keiner darum kümmerte, tanzte er womöglich noch vom Schminktisch, und das würde die Stimmung kippen. Ihr Herz machte einen Satz. Als es abrupt still wurde, atmete Laura aus, fuhr mit den Händen geistesabwesend über die Zeitung, versuchte sie zusammenzufalten.

Nachdem sie geduscht hatte, kehrte sie in die Küche zurück, um Frühstück zu machen und das Tablett für ihre Mutter vorzubereiten.

Auch Geld kann nicht alles kaufen.

Der Gedanke querte ihren rachsüchtigen Kopf, während sie harmlose Frühstücksflocken in die drei bereitgestellten Schälchen schüttete. Sie hielt inne, richtete die Packung auf, hielt den Flockenstrom an.

Geld kann nicht alles kaufen.

Der Gedanke kehrte zurück mit einem Gefühl des Triumphs. Nicht gerade nett. Laura war schockiert. Hastig stellte sie die Packung ab, schaltete Radio und Kaffeemaschine ein, schnitt Weißbrot in Scheiben und lauschte tief erschüttert einer Zigarettenwerbung.

Manche dieser Mädchen, Jackie Smith zum Beispiel, bekamen regelmäßig doppelt so viel Taschengeld wie das, was Laura verdiente und zur Haushaltskasse beisteuerte. Paula war eine von mehreren, denen man ein Auto versprochen hatte, vorausgesetzt, sie bestand das Examen. Und es war ihr nicht gelungen, sich durchzumogeln!

Geräuschvoll kaute Laura ihr Frühstück, um die Stimmen im Kopf zu übertönen. Sie saß Clare gegenüber und tat, als lauschte sie der Werbung für verführerische Büstenhalter und ein unschlagbares Kopfschmerzmittel. Es folgte die Zeitansage, dann Sänger, die sangen.

»Und jetzt hören Sie John Charles Thomas mit The Bluebird of Happiness. Ein hübsches Stück.« Die Stimme des Ansagers aus dem kleinen gelben Radio gab zu verstehen, dass es sich um eine außergewöhnlich großzügige Geste seinerseits handelte.

Clare, die von ihren Geschichtshausaufgaben erzählt hatte, war sofort ganz Ohr. Beide Mädchen bestrichen ihren Toast mit Butter und Marmelade und kauten vorsichtig, um kein Wort zu verpassen.

Sei wie ich, trag den Kopf hoch oben,

Bald wirst du finden die Drossel des Glücks.

Stimmte das? Ernst blickten sie einander über ihre großen Kaffeetassen hinweg an.

Siehst du den Lichtstrahl, der sich Bahn bricht.

Vergiss nicht, das Leben ist kein Abgrund.

Und irgendwo ist sie, die Drossel des Glücks.

Wirklich?

Sie hatten dieses Märchen schon so oft gehört – fast täglich – und mit solcher Inbrunst gesungen, dass es vielleicht wahr würde. Wenn es so wäre und sie gar nicht anders konnten, als irgendwann die Drossel zu finden, warum klang es dann so … wehmütig? Es folgte ein weiterer bei den Radioredakteuren sehr beliebter Song über eine Drossel, die im Garten wohnt. Eher heiter.

Gesegnet mit der Gabe, an Wunder und Magie zu glauben, hatte Clare über die backsteinerne Balkonbrüstung in den kleinen betonierten Hinterhof hinabgeschaut, dorthin, wo die Wäsche hing. In Erwartung einer echten, magischen Drossel – vorausgesetzt, sie würde sich zeigen. Laura war weniger flexibel veranlagt, doch hatte sie, als sie Laken und Kleider über die Leine gehängt hatte, ein-, zweimal phantasiert, was genau sich in diesem kleinen Hinterhof noch abspielen würde, was sich womöglich abspielen könnte, um ihr Leben zum Besseren zu wenden. Oder auch direkt in der Wohnung. Was wäre nicht alles möglich?

War ihr Vater vielleicht in Wirklichkeit gar nicht gestorben?

Aber daran bestand kein Zweifel. Sie und Clare waren nach dem Begräbnis einen Tag lang zu Hause geblieben, und alle Nachbarn waren mit entsetzlichen Gesichtern auf Zehenspitzen herein- und wieder hinausgetippelt.

Das Glück, nur so ist’s zu schauen,

Liegt direkt vor deinen Augen,

Unten im eigenen Hinterhof.

Oder sollte sie sich weniger eigennützig um ihre Familie kümmern? War das der Sinn? Laura war hin- und hergerissen, doch wollte sie auf jeden Fall alles richtig machen, um ihre Mutter zufriedenzustellen. Und so sog sie, genau wie Clare, die Songtexte weiter mit heimlicher Begeisterung auf. Wie Bücher und Filme enthielten sie Botschaften der Welt, gerichtet an sie und ihre Schwester, von objektiven Erwachsenen, die sie nicht persönlich kannten. Abgesehen von diesen mysteriösen übermenschlichen Personen, die ihnen wichtige Mitteilungen über das Leben machten, kannten sie nur ihre Mutter, Mr. Shaw, die alten Nachbarn und Clares Lehrer – darunter, genau genommen, kein einziger guter Gesprächspartner und auch was Geisteskraft und Phantasie anbelangte, keine Schwergewichte.

Clare ließ die Toastkrusten liegen und holte das leere Tablett ihrer Mutter; Laura räumte eine weitere Kaffeetasse ab, danach huschten die beiden mit Staubwedel und Besen durch die Wohnung.

In der Fabrik begann der Tag um acht Uhr, also verließ Laura die Wohnung immer als Erste. An diesem Morgen, als sie den Hang hinunterlief, begann sie unerklärlicherweise zu weinen. Das merkwürdige tiefe Schluchzen, das aus ihrer Brust drang, irritierte sie. Sie hätte nicht geglaubt, dass man an einem derart exponierten Hang mitten in der prallen Sonne überhaupt weinen konnte. Zum Glück waren kaum Leute in der Nähe. Sie folgte den Serpentinen des Pfades und brachte dieses entsetzliche unheimliche Stöhnen hervor.

Laura würde niemals wissen, was sie nicht wissen wollte, und deshalb verwirrte sie dieser Schmerz und dieses eigenartige, in ihrem Innersten bohrende und zermürbende Gefühl, das sich wieder eingestellt hatte. Tränen tropften auf den Asphalt und hinterließen kleine Tupfen; Laura schnäuzte sich die Nase und richtet ihren Blick verzweifelt auf die Aussicht.

Sie war wundervoll – wie Blicke aus der Vorstadt eben sind. Drei ineinander verästelte Korallenbäume und rechts ein grasbewachsenes Oval, wo wochenends Männer in weißen Flanellhosen Cricket spielten. Vor ihr, am Fuße des Abhangs, sah sie die Norfolktannen und das Meer, und rechts davon, in der Ebene zwischen Hafen und Meer, begann das Einkaufsviertel mit den Geschäften, fast ausnahmslos zweistöckigen Gebäuden.

Einheimische nannten Manly gern »das Dorf«. Für Laura klang das einfach niedlich, Clare jedoch hasste die Bezeichnung aus irgendeinem Grund und schrie Laura deshalb jedes Mal an.

»Hey-ya, Laurie!« Bernadettes raue Stimme begrüßte sie am Eingang der Manufaktur.

Tatsächlich begann auch dieser Tag wie alle anderen, nur dass sie ihn nie vergessen sollte.

»Na, Sie hängen ja nun hier schon eine ganze Weile herum.« Mr. Shaw studierte das Gehaltsbuch und sprach mit Laura, ohne sie anzusehen. »Ich glaub, jetzt steht mal ’ne Erhöhung an, oder nicht?« Um einen fröhlichen Ton bemüht, klang seine Stimme krächzend. Seit Monaten hatte er diesem Mädchen mehr bezahlen wollen. Er wollte unbedingt großzügig sein und als großzügiger Mann gelten. Er wollte so gern etwas geben und dann auch wieder nicht – schlimm, schlimm. Allerdings stand Laura, gesetzlich gesehen, sowieso mehr Geld zu, und so wurde die Erhöhung kurzerhand ausgesprochen. Laura hoffte, sie könnte einen Teil davon für sich behalten, ihre Kleidung war ziemlich abgetragen.

Clare war ein Platz in einer weiterführenden Schule in der Stadt zugewiesen worden, und die Kosten für die Fähre sowie die neue Schuluniform und die Arbeitsmaterialien stiegen und stiegen. Laura sprach darüber mit ihrer Mutter, als Clare das Haus verlassen hatte, um Eier und Butter zu kaufen.

»Du hast es nicht leicht, Laura.« Mrs. Vaizey schaute von ihrem Magazin auf und legte ihren Arm auf die Rückenlehne des Sofas.

»Ich habe mich gefragt«, Laura stützte sich auf den Wischmopp und zupfte an einem grünen Lacksplitter, der sich vom Griff löste, »ich habe mich gefragt, ob du nicht aus dem, was Daddy hinterlassen hat …«

Stella Vaizey schüttelte den Kopf und warf ihrer Tochter ein seltsam berechnendes Lächeln zu. »Ich habe dir gesagt, wie es um uns steht. Du weißt genauso gut wie ich, wie dein Vater war.« Kopfschüttelnd nahm sie die zierliche Porzellanteetasse (sie war vor dem Verkauf verschont geblieben) von dem kleinen Tisch neben sich.

Laura ließ von dem Farbsplitter ab und sah ihre Mutter beharrlich an, ihr Gewicht noch immer voll auf den Mopp gestützt.

»Der geht noch kaputt, Laura! Nein, ich schlage vor, wir melden es dem Schulamt, dass Clare auf die hiesige Oberschule muss.« Mit ihren kleinen weißen Zähnen zerbiss sie ein Kokosnussplätzchen in zwei Hälften. Sie aß die eine in verstörender Langsamkeit, dabei fixierte sie Laura unablässig. Ein wachsamer, ausdauernder, kalter Blick.

Laura atmete tief durch den Mund ein, presste die Lippen zusammen, machte mit dem Mopp einen Satz und begann ihn auf den lackierten Dielen um den smaragdgrünen Teppich hin und her zu schieben. »Nein. Hier bieten sie nur Hauswirtschaftslehre an. Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen. Das kriegen wir schon hin.«

»Hätte dein Vater nur einmal daran gedacht statt immer nur an seine blöden Investitionen – « Sie schob sich die zweite Kekshälfte in den Mund und schüttelte die Krümel von den Fingern. »Schau, jetzt habe ich sie auf deinem sauberen Boden verstreut.«

Im September begann ein Krieg.

»Wozu das alles?«, fragte Clare, und ihre Mutter sagte: »Du kannst lesen. Hier ist die Zeitung. Mach dich schlau.« Und sie fand die Gründe aufgezählt in der Reihenfolge ihrer Stringenz.

Es starben Menschen.

»Durch Töten soll alles wieder gut werden? Wie soll das gehen? Wer findet Gefallen daran, Menschen umzubringen?«

»Ach, labere nicht rum, Clare!«, sagte ihre Schwester.

»Sei nicht kindischer, als du bist!«, sagte ihre Mutter.

»Aber ich – «

Clare kam es vor wie uraltes Hexenwerk. Unbekannte rannten in die Nacht hinaus, um einander abzuschlachten. Ihr Blut versickerte im Erdboden. Wer profitierte davon? Wie sollte totes Fleisch Unrecht wiedergutmachen?

Du bist halt noch ein Kind, hieß es. Sei still. Spaß macht das keinem.