Über Marsali Taylor

Marsali Taylor wurde in der Nähe von Edinburgh geboren. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren Katzen und zwei Shetlandponys an der Westküste der Shetland-Inseln.Sie war Sprach- und Theaterlehrerin und Touristenführerin, spielt Theater, schreibt für die Zeitschrift Shetland Life, gibt Segelkurse oder ist mit ihrem Segelboot unterwegs. Im Aufbau Taschenbuch Verlag erschien bisher ihr Roman »Mörderische Brandung«. Mehr Informationen zur Autorin unter www.marsalitaylor.co.uk.

Ulrike Seeberger, geboren 1952, Studium der Physik, lebte zehn Jahre in Schottland, arbeitete dort u.a. am Goethe-Institut. Seit 1987 freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Nürnberg. Sie übertrug u.a. Autoren wie Lara Prescott, Philippa Gregory, Vikram Chandra, Alec Guiness, Oscar Wilde, Charles Dickens, Yaël Guiladi und Jean G. Goodhind ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Auf einem romantischen Weihnachtsspaziergang in den schottischen Highlands entdecken Detective Inspector Gavin Macrae und die begeisterte Seglerin Cass Lynch eine Leiche. Ein Fuhrunternehmer, dem man Unterschlagungen vorwirft, ist seit längerer Zeit verschwunden. Doch offenbar hat jemand etwas dagegen, dass sich Cass nach ihm erkundigt. Ihr Boot wird von den Halteleinen losgeschnitten, in stürmischer Nacht treibt sie hinaus aufs Meer. Nur dank ihrer Segelkünste kann sie sich retten.

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Marsali Taylor

Stürmische Nacht

Ein Shetland-Krimi

Aus dem Englischen
von Ulrike Seeberger

Inhaltsübersicht

Über Marsali Taylor

Informationen zum Buch

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Widmung

Montag, 23. Dezember – Dienstag, 31. Dezember

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Sonntag, 29. Dezember – Dienstag, 31. Dezember

Kapitel 4

Mittwoch, 1. Januar

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Donnerstag, 2. Januar

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Freitag, 3. Januar

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Samstag, 4. Januar

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Montag, 6. Januar

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Mittwoch, 8. Januar

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Donnerstag, 9. Januar

Kapitel 27

Freitag, 10. Januar

Kapitel 28

Kapitel 29

Samstag, 11. Januar

Kapitel 30

Sonntag, 12. Januar

Kapitel 31

Anmerkungen

Impressum

S5.tif

Widmung

Meiner Schwester Joan und meinem Bruder Niall und in Erinnerung an unsere Eltern Margaret und Douglas Gordon Baxter, die uns Jahr für Jahr an Gavins abgelegenen Fjord mitnahmen, in ein Haus, zu dem man nur mit dem Boot kam, das drei Meilen vom Ende der Straße entfernt lag und in dem es weder fließendes Wasser noch Strom gab. So schenkten sie uns die herrlichsten Kindheitserinnerungen: auf Booten herumtoben, Fuchsbaue und Otterrutschen beobachten, unglaublich pelzige Raupen finden, bei Kerzenlicht lesen und an abgelegenen Stränden über einem Lagerfeuer »Fizzy« brauen.

Die Sprichwörter am Anfang jedes Abschnitts stammen aus der wunderbaren Sammlung Shetland Proverbs and Sayings (Sprichwörter und Redensarten aus Shetland), die der verstorbene Bertie Deyell herausgegeben hat. Mein Dank geht an Berties Familie, die mir gestattet hat, diese Auszüge hier zu benutzen.

Montag, 23. Dezember – Dienstag, 31. Dezember

Montag, 23. Dezember

Niedrigwasser Mallaig GMT

03:26

1,7 m

Hochwasser

09:05

4,5 m

Niedrigwasser

15:59

2,2 m

Hochwasser

21:31

4,2 m

Mond: abnehmend, Dreiviertelmond

Sonnenaufgang

09:00

 

Monduntergang

11:14

 

Sonnenuntergang

15:44

 

Mondaufgang

22:52

 

IF I DUNNA SEE DEE IN LEROOK. I’LL SEE DEE IN LIVERPOOL.

Wenn ich dich nicht in Lerwick seh, seh ich dich in Liverpool.

(Spruch von Seeleuten, die das Reisen gewohnt sind)

Kapitel 1

Es war, als segelte ich in eine andere Welt. Den Nordwestwind, der mich von Shetland heruntergeweht hatte, hatte ich nun im Rücken, als ich in den äußeren Fjord einfuhr, und die Chalida legte sich flach, als ich das Großsegel setzte und das Vorsegel gegenüber ausbaumte. Das Klatschen der Wellen verwandelte sich in ein sanftes Rollen. Kater kam aus meiner Kajüte herauf, dehnte seine weißen Vorderpfoten auf meiner lackierten Bank im Cockpit, hockte sich hin und sah sich um. Die Sonne betonte die feinen weißen Streifen, die sich kaum sichtbar durch sein glänzendes graues Fell zogen, und die helleren Eulenpinsel hinter seinen Ohren. Ich nahm das Fernglas zur Hand, um die Lage des Felsens zu überprüfen, dem ich unbedingt ausweichen wollte, suchte mir eine Markierung am Ufer, auf die ich zusteuern konnte, und gähnte aus ganzem Herzen.

Ich war hundemüde. Vorgestern um halb sechs am Morgen waren wir von Scalloway aufgebrochen, hatten gestern Nachmittag zum Schlafen kurz den Anker abgelassen und waren später weiter nach Süden gereist. Jetzt umschlossen uns die Berge eines der dramatischsten schottischen Fjorde; rechts erhob sich der riesige Ladhrbheinn. In den Klüften seines Gipfels hatte sich Schnee gesammelt, und die unteren Hänge waren rostrot von welkem Farn und Heidekraut. Vom Eis überzogener brauner Seetang versilberte den Saum des Wassers.

Es war eine verrückte Seereise in den tiefen Süden, um Weihnachten bei der Familie eines Mannes zu verbringen, der gerade eben ein Freund war. Wir hatten doch bisher nur so wenig Zeit miteinander verbracht, Detective Inspector Gavin Macrae und ich. Er hatte mich in den Süden eingeladen, und ich hatte tief Luft geholt und beschlossen, mich auf das Risiko einzulassen und eine Beziehung anzufangen, die ich kaum zu wünschen wagte. Ich bekam schon kalte Füße, wenn ich nur daran dachte, aber ich hatte es versprochen, und da war ich nun, fädelte mich in einen mir unbekannten Fjord ein, in dem jede Menge nicht markierte Felsen und Sandbänke lauerten, und hatte gegen die Dezemberkälte zwei zusätzliche Pullover übergezogen. Mein einziges hübsches Kleid hing, von einer Plastikhülle geschützt, im Spind. Ich behielt meinen Reiseplan und die Liste mit Kompassrichtungen im Auge, und mein primitives GPS-System piepte jedes Mal, wenn wir uns einem der Wegpunkte näherten, die ich eingetippt hatte. Ich überlegte gerade, dass ich wohl anrufen sollte, um zu melden, dass ich beinahe dort war, als ich irgendwo vor mir das stetige Put-Put-Put eines Außenborders hörte und etwa zwei Meilen von mir entfernt weißes Kielwasser am Ende des Fjordes sah. Ich griff erneut nach dem Fernglas. Es war genau das Boot, das ich von Gavin erwartet hätte: ein altmodisches Dingi in Klinkerbauweise, in der Farbe von Orangenmarmelade lackiert und mit einem Motor am Heck, der wie ein echter Seagull-Außenborder aussah. Gavin war allein.

Ich schaltete meinen Bootsmotor ebenfalls ein und ließ den Autopiloten das Ruder übernehmen, während ich die Segel verstaute. Als ich endlich die Persenning über den Baum gezogen hatte, alle Verbindungen festgezurrt waren und ich am Heck meine Festmacherleine bereithatte, kurvte das lackierte Dingi schon um die Chalida. Gavin hob die Hand und sagte auf Gälisch: »Fàilte!« Willkommen. Dann schaltete er um auf sein weiches Hochlandenglisch mit den präzisen Konsonanten und dem lang anhaltenden s-Laut. »Ich dachte, du hättest vielleicht gern einen Lotsen durch die Engstellen, denn der Wasserstand ist niedrig und die Tide fällt.«

»Genau, was ich mir gewünscht habe«, stimmte ich ihm zu. Wenn es einen Konflikt zwischen Stolz und Seemannskunst gab, ging der Stolz schnell über Bord. »Laut deiner Seekarte habe ich noch weniger als einen Meter Wasser unter dem Kiel.«

»So ungefähr«, antwortete er und fuhr vor mir weg. Eine der herrlichen Eigenschaften der Chalida ist, dass sie sich rückwärts so glatt und geschmeidig bewegt wie vorwärts. Ich wendete, stand mit dem Blick zum Heck da und schaute über die hintere Backskiste auf die Felsen am Grund des klaren Wassers, von denen der Blasentang in Bogen nach oben wehte, und auf den dunkleren Kanal zwischen den Felsen, den das Kielwasser von Gavins Dingi kräuselte. Sollten wir überhaupt etwas berühren, wäre ich vorher gewarnt und könnte mit der gesamten Kraft der Chalida im Vorwärtsgang das Boot wieder freibekommen. Das Ufer war nur fünf Meter entfernt, als Gavin in einer glatten U-Kurve zur nördlichen Seite des Meeresarms schwenkte. Die Chalida folgte in seinem Kielwasser. Große eckige Felsbrocken waren am gegenüberliegenden Ufer zu sehen, als hätte es einen Schrank und einen Konzertflügel an den Strand geschwemmt. Wir fuhren kaum einen Steinwurf entfernt an ihnen vorbei, wendeten schließlich und liefen schräg in das Becken am Ende des Fjords ein. Die Festmacherboje war in der Mitte. Ich fuhr langsam hin, fädelte meine Leine durch die Öse und machte sie fest.

»Ich komme nicht an Bord«, sagte Gavin vom Dingi aus. Er trug auf seinem dunkelroten Haar einen Anglerhut, an dessen Hutband unzählige Fliegen steckten – der Hut hatte seinem Großvater, dem Wildhüter, gehört, darauf würde ich wetten –, und der Wind hatte seine sonnenverbrannten Wangen gerötet und ließ die Falten seines grünen Kilts wehen und die Bänder an seinen Socken flattern.

»Möchtest du gleich mit ins Haus hochkommen und bei einer Tasse Tee alle kennenlernen oder lieber erst schlafen?«

»Schlafen«, antwortete ich. »Gib mir zwei Stunden, und ich fühle mich wieder wie ein Mensch.«

»Ich komme um fünf zurück.« Ohne viel Aufhebens setzte er mit dem Dingi zurück und ruderte ruhig auf die kleine, aus Stein gemauerte Landungsbrücke zu, die vom Ufer in den Fjord ragte. Ich hängte meine Schwimmweste weg, krabbelte in meine Koje und war in fünf Sekunden völlig abgetaucht.

Als ich aufwachte, war der Wind abgeebbt. Die Sonne war verschwunden, der Mond noch nicht aufgegangen, und nur das Sternenlicht, das auf der Wasseroberfläche schimmerte, half mir, das Wasser vom Ufer zu unterscheiden. Ich zog die Ankerlaterne hoch, meinen weißen Stern, der dem gelben Licht zublinkte, das aus Gavins Bauernhaus leuchtete. Ich hatte mich gerade aus meiner Thermo-Segelkleidung gepellt, meine besten Jeans und einen Marinepullover angezogen und Kater in seinem Reisekorb verstaut, als ich das Knarzen und Eintauchen der Ruder hörte. Gavin rief: »Ahoi, Chalida

»Mein Taxi«, sagte ich und reichte Katers Korb nach unten. Während wir hinüberruderten, herrschte leicht betretenes Schweigen, doch als ich auf der Pier stand und geholfen hatte, die Leinen festzumachen, war alles gut. Wir gingen nebeneinander her die dunkle Straße entlang, als spazierten wir an der Uferpromenade von Scalloway. Eine Lampe an der Mauer des Hauses schaltete sich ein, als wir vorüberkamen, und beleuchtete vor uns einen gepflasterten Hof mit breiten Scheunentoren und einem großen Fenster. In einer Ecke lag der Eingang, zu dem zwei Stufen hinaufführten. Die Tür ging auf, als wir uns näherten, und Gavins Mutter streckte mir die Hand entgegen. »Komm rein, Cass. Wenn du den ganzen weiten Weg mit dem Boot angereist bist, musst du ja völlig durchgefroren sein.« Sie winkte mich an sich vorbei. Ihr Tonfall war noch weicher als Gavins und das lange Hochland-S ausgeprägter. »Komm rein ans Feuer.«

Ich war froh, dass er mich gewarnt hatte. »Meine Mutter ist als Mädchen schwer im Gesicht verletzt worden; es war ein Unfall mit einer Dreschmaschine. Sie hat Glück gehabt, dass sie kein Auge verloren hat.« Ihre Narbe war viel schlimmer als meine, selbst nach sechzig Jahren noch, kräuselte eine ganze Gesichtshälfte mit einem Netz aus weißen und roten Linien. Ich lächelte ihr zu, schaute sie geradewegs an. Ich wusste, wie man sich fühlt, wenn man mitbekommt, dass andere die Schussnarbe bemerken, die einem quer über die Wange läuft, und rasch den Blick abwenden. Gavins Mutter war sogar noch kleiner als ich, knapp eins fünfzig. Sie trug das graue Haar in einem Knoten zusammengefasst und hatte sich über das Kleid eine bedruckte Kittelschürze gezogen.

»Danke, dass Sie mich eingeladen haben.« Ich deutete auf den Korb. »Und Kater – ich hoffe, dass es keine Probleme mit Ihren Katzen gibt.«

»Nur Solomon kommt ins Haus.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf Gavin, der gerade sein Ölzeug im Flur aufhängte. »Hat Gavin dir von ihm erzählt? Eine halbe Wildkatze, redet mit sonst niemandem. Er kommt vielleicht nicht einmal rein, wenn Besuch hier ist. Das hier ist mein älterer Sohn Kenny.«

Gavin war nur einen halben Kopf größer als ich und kompakt gebaut, also war ich auf den Berg von einem Mann nicht vorbereitet, der sich nun vom Sofa erhob. Kenny war einiges über eins achtzig, hatte breite Schultern, dunkles Haar, vom Wetter gegerbte Haut und grünbraune Augen mit Lachfältchen. Seine Hand war doppelt so groß wie meine. »Setz dich hin, Cass.« Er deutete auf den Sessel neben dem Kamin. Seine Stimme war klangvoll, geübt durch jahrelanges Dirigieren von Schäferhunden, und sein gälischer Singsang im Englischen war ausgeprägter als bei Gavin. Er zögerte ein wenig zwischen den Wörtern, als müsse er erst aus dem Gälischen übersetzen. »Gib mir deine Jacke.«

Ich zog meine Hausschuhe aus der Tasche, zerrte mir die Stiefel von den Füßen, streifte die Jacke ab und reichte alles Kenny, ehe ich die Schnallen am Katzenkorb aufmachte und den Deckel hob, damit Kater herauskommen konnte. Er stemmte die Pfoten auf die Kante des Korbs und sprang heraus, bereit, in der nächsten halben Stunde überall herumzuschnüffeln, jeden Stuhl zu prüfen und alle Fensterbretter auszuprobieren. Ich setzte mich aufs Sofa und sah mich um.

Es war ein Zimmer genau nach meinem Geschmack. Die Wände waren mit behandeltem Kiefernholz getäfelt, das mit den Jahren zu einem Honiggold gedunkelt war, die beiden Sessel gehörten eindeutig nicht zum Sofa, und auf allen dreien lagen Berge von nicht zusammenpassenden Kissen. Auf dem Kaminsims drängten sich zwei schwarz-weiße Porzellanhunde mit albernen King-Charles-Gesichtern neben Briefumschlägen, Zeitungsausschnitten und Seeigeln – scaddy man’s heids, so nannten wir die in Shetland. Neben dem freundlich prasselnden Feuer standen ein Weidenkorb mit zersägtem Treibholz und ein Kaminbesteck aus Messing. In der Ecke tickte eine Standuhr, und aus der Küche wehte Bratenduft herein. Hier musste ich nicht verstohlen das Hinterteil meiner Jeans abstauben, ehe ich mich hinsetzte, oder mir Sorgen wegen des Teppichs machen. Es war alles heimelig und ein bisschen abgeschabt und freundlich. Es würde alles gut werden.

Kapitel 2

Die Tage vergingen wie im Flug. Ich half Gavins Mutter bei den Vorbereitungen für das Weihnachtsessen. Am Heiligabend schmückten wir alle zusammen den Baum, wobei die Männer sich in Erinnerungen ergingen und gelegentlich darüber stritten, wer in der Grundschule welchen Pappschneemann oder Engel aus Klorollen gebastelt hatte. Ihre Mutter fungierte als Schiedsrichterin. »Ach, nein, Kenneth, du hast den blauen Engel gemacht, Gavin den grünen. Ich weiß es noch ganz genau. Was für ein schlechtes Gedächtnis ihr Jungs doch habt.« Die Christmette fand in einer kleinen Kapelle statt, die eine Autostunde entfernt lag. Die Männer sahen in ihren roten Festtagskilts und den schwarzen Jacken großartig aus, und wir sangen aus voller Kehle Weihnachtslieder. Am Weihnachtsmorgen tauschten wir Geschenke aus: Ich hatte für Kenny ein Buch über Milchvieh in Shetland gefunden und für Mrs Macrae einen Schal aus Wollspitze. Gavin bekam von mir ein lustiges Geschenk, ein Kinderbilderbuch aus Shetland mit dem Titel Der knurrige alte Seemann, und er hatte für mich etwas ebenso Fröhliches: das Kinderbuch The Hunted Head von Olivia FitzRoy in einer Ausgabe aus den vierziger Jahren. Wir vertilgten ein gewaltiges Weihnachtsessen, eine Gans aus eigener Haltung, eingebettet in selbst angebautes Gemüse, und gefolgt von einem selbst gemachten Christmas Pudding, ehe wir vor dem Fernseher auf den Sesseln zusammensackten, uns die Weihnachtsansprache der Königin anhörten und den Festtagsfilm anschauten, Casablanca, wie sich herausstellte. Sogar Solomon war ins Haus gekommen, wahrscheinlich von den Stücken der knusprigen Gänsehaut angelockt. Er war genauso, wie Gavins Mutter ihn beschrieben hatte: ein schmaler rötlich gelber Wildkater mit Haarbüscheln an den Ohren und Augen, die so grün waren wie Meerwasser, das über Sand fließt. Er kam vorsichtig näher, sprang auf die Rückenlehne des Sofas und ließ sich auf Gavins Schulter nieder. Kater sank ein wenig tiefer in die Couch ein und drückte sich näher an mein Bein; Solomon schaute, fauchte kurz und ignorierte Kater danach.

Am zweiten Feiertag wurde ich in die Geheimnisse des Lebens auf der Farm eingeweiht. Mrs Macrae zeigte mir, wie man aus den rosa Eutern der Kuh die süß duftende Milch hervorlocken kann, und ich trug voller Stolz die warme Emailkanne zum Tisch. Ich wanderte mit Gavin und Kenny auf kurzen Spaziergängen knirschend am Kiesstrand entlang und half ihnen Schafe zählen. Wir schleppten volle Futtereimer zu dem langhornigen Hochlandvieh und Netze mit Heu zu den beiden Hochlandponys der Lodge – »garrons« nannte Gavin sie –, die im Herbst bei der Pirsch zum Einsatz kamen. Sie hießen Luchag und Ribe. Luchag war goldbraun wie trockener Farn, Ribe silbern getupft. »Maus« und »Spinnwebe« übersetzte Gavin ihre Namen.

An einem anderen Tag, als wir die abendlichen Heunetze trugen und den Wind in den Gesichtern spürten, berührte Gavin leicht meinen Arm und kauerte sich zwischen den Felsbrocken am Ufer hin. Ich tat es ihm nach und schaute. Zweihundert Yard entfernt kam ein halbes Dutzend Rotwild den Hang hinunter, um am Fluss zu trinken. Ich hatte noch nie schottisches Rotwild in der freien Natur gesehen. Die Tiere waren größer, als ich erwartet hatte, und wirkten sehr elegant mit ihren schmalen Beinen. Sie schritten zwischen den Steinen am Strand einher wie Tänzer. Der Hirsch hatte ein ausladendes Geweih, das er drehte und wendete wie ein Fechter sein Florett, als er vor dem Trinken noch einmal sein Königreich überblickte. Wir beobachteten die Tiere zehn verzauberte Minuten lang, ehe sie sich wieder abwandten und in der Dämmerung verschwanden.

An den Abenden machte sich Kater zwischen Gavin und mir auf dem Sofa breit. Gavin band Forellenfliegen, und die fertigen Fliegen steckten in einer runden Dose wie Löwenzahnschirmchen. Oder er notierte sich in seiner kleinen ordentlichen Schrift das eine oder andere für die Geschichte des Fjordes, die er gerade schrieb. (»Nicht, dass die je fertig würde«, mischte sich Kenny von seinem Sessel beim Kamin ein, »denn sobald er glaubt, dass er alles zusammenhat, taucht wieder ein Brief aus Kanada mit einem völlig neuen Zweig des Familienstammbaums auf.«) Ihre Mutter strickte beim Treibholzfeuer, das mit blauen und grünen Flammen flackerte und den gesamten Raum mit dem Duft von Holzrauch erfüllte. Ich hatte das Bücherregal entdeckt und begann, mich durch Scotts Waverley zu arbeiten, die gemächlich erzählte Geschichte eines jungen Engländers, der in die Jakobiter-Rebellion von 1745 gerät, in drei Bänden, die man niemals mit auf See nehmen könnte: Goldprägung auf samtigem rotem Leder. Ich gesellte mich zu Gavins Mutter und strickte, brachte einen Strampler für ein afrikanisches Baby zustande, mit einem Streifen Fair-Isle-Muster auf der Brust. Ab und zu wurde diese gemütliche, freundliche Stille unterbrochen, wenn jemand eine Neuigkeit verkündete. Endlich verstand ich, warum Gavin gedacht hatte, ich würde hier hinpassen. Ich entspannte mich und hatte das Gefühl, dieses winterliche Landleben könnte ich ertragen.

Vor meiner Ankunft hier waren mir fünf Tage sehr lang vorgekommen. Jetzt, da die Tage so rasch vergingen, schien mir die Zeit zu kurz. Doch über den Atlantik zog ein Tiefdruckgebiet heran, und ich musste nach Hause, ehe es hier eintraf.

»Du musst unbedingt mit mir reiten kommen«, sagte Gavin am vorletzten Tag meines Besuchs. Wir fingen die Ponys ein und zäumten sie auf, ehe mir Gavin auf Luchag half, sich selbst mit wirbelnden Kiltfalten auf den sattellosen Rücken von Ribe schwang und sofort aussah, als sei er Teil des Tiers. Ich wusste inzwischen, dass Luchag verlässlich war, obwohl ich mich auf See bei Windstärke 8 sicherer gefühlt hatte als so gefährlich hoch oben auf dem Rücken dieses Ponys. Auch ich ritt ohne Sattel und konnte mich nur an der Mähne festhalten, doch als wir knirschend den Strand entlanggeritten waren und uns durch das Gehölz aus Rhododendren und harzduftenden Kiefern rings um die Lodge gekämpft hatten, schien mir der Boden nicht mehr ganz so weit unten zu sein, und ich begann mich wohlzufühlen. Mit haarigen Fesseln quatschten die Ponys durch das letzte sumpfige Stück und begannen schließlich den Hang hinaufzuklettern.

»Versuch einfach, aufrecht zu bleiben«, sagte Gavin. Ich schwankte und ruckelte, bis wir oben auf der Anhöhe angekommen waren und der Fjord vor uns lag: das Becken am Ende, wo die Chalida mit der Nase an der orangeroten Boje festgemacht war, dahinter die Z-förmigen Engstellen, hinter denen sich der Fjord von einer Landzunge zur anderen schlängelte, bis er schließlich in den Sound of Sleat mündete. Die Berge der Cuillins auf der Insel Skye ragten auf wie schneebedeckte Orgelpfeifen aus Stein. Die Farben waren herrlich: das glatte Grau des Fjords, die gestreifte Linie des Vorlandes, das Rostrot des Heidekrauts und das Gold des welken Grases, darüber das blendende Weiß der Schneekappen. Ich holte tief Luft und setzte mich zurück, war es zufrieden, einfach nur zu schauen. Luchag senkte den Kopf und begann, an dem olivgrünen Gras zu rupfen.

»Es ist seltsam«, sagte Gavin, »dass man sich nie an die Farben des Sommers erinnern kann, wenn einmal der Winter gekommen ist.«

»In Shetland ist es genauso«, erwiderte ich. »Nur anders herum. Kaum scheint die Sonne, hat man das Gefühl, dass sie schon immer scheint.«

»Ein Schutzgedanke. Sonst würden wir uns alle fragen: ›Warum leben wir an einem Ort, an dem sechs Monate Winter ist?‹, und würden nach Benidorm ziehen.«

Ich verzog das Gesicht. »Ich war schon im Winter am Mittelmeer. Glaub mir, da willst du nicht hin. Außerdem …« – ich spreizte die Hände und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Luchag hob den Kopf, als ich dabei an ihrem Zügel zog, zerrte ihn mir schließlich aus den Händen. Ich beugte mich vor, um ihn wieder zu ergreifen. Ribe blieb reglos wie eine Statue. »Man muss doch einen Winter durchlebt haben, um den Sommer zu genießen. In Benidorm ist es immer wärmer als hier, und sobald man zurückkommt, würde man zu jeder Jahreszeit nur frieren.«

»Ich denke, das hat mit der Reformation zu tun«, meinte Gavin. »Dieser Glaube, man müsse sechs Monate Kälte und Nässe durchleben, um sich den Sommer zu verdienen.«

»Die schottische Psyche«, stimmte ich ihm zu. »Ich frage mich, wie lange die Auswanderer gebraucht haben, um sich an den australischen Sonnenschein zu gewöhnen.«

»Sie haben sich nie dran gewöhnt.« Plötzlich war Gavin ganz ernst. »Jedenfalls die erste Generation nicht. An diesem Fjord« – er deutete mit einer ausladenden Geste auf die Länge des Wasserarms – »hat einmal ein ganzer Clan gelebt. Sechzig Familien, die alle nach Kanada vertrieben wurden. Meine Familie durfte nur dableiben, weil wir Angestellte des Landbesitzers waren, sein Bauer und sein bester Wildhüter.« Zärtlich streiften seine grauen Augen den Fjord. »Die Schwestern meiner Urgroßmutter hatten in Kanada ein gutes Leben, aber ihre Briefe zeigen, dass sie ihre Heimat nie vergessen haben. Ab und zu kommt noch ein kanadischer Macrae hierher zurück, nach Hause. Einer, ein Cousin vierten Grades, war mir so ähnlich, dass ich ihn aus Versehen hätte mitrasieren können.« Seine Stimme wurde nun leichter, neckend. »Am Eingang zum Fjord war eine der am besten belegten Stellen, an denen man Kelpies gesehen hat, bezeugt wurde das von niemand Geringerem als mehreren Pfarrern, einer davon war ein entfernter Cousin von mir.«

»Kelpies?« Ich dachte an die riesigen silbernen Pferde, die in der Nähe des Schiffshebewerks von Falkirk, des Falkirk Wheel, ihre Köpfe in den Nacken werfen.

»Ach, ein Kelpie, das ist ein Meerespferd, ein großer dunkler Buckel im Wasser. Die triffst du in einer finsteren Nacht an, die sehen genauso aus wie die gewöhnlichen Hochlandponys, und sie grasen am Wasser, haben Sättel und Zügel, alles von feinster Qualität, aber wenn du so dumm bist, dich einem auf den Rücken zu schwingen, so reißt es dich in die tiefsten Tiefen des Fjordes hinunter.«

»Oh«, sagte ich, nachdem ich die Beschreibung erkannt hatte. »Ein Njuggle.«

»Und was ist das?«

»Ein Shetlandpony, ganz schwarz, mit silbernem Zaumzeug. Es lebt in Bächen und schubbert sich an den Mühlrädern den Rücken, oder es führt dich durch Sümpfe, bis du ganz schlammverschmutzt und erschöpft bist. Was war das mit diesen Pfarrern?«

»Das war im August 1872. Die Pfarrer waren auf der Yacht Leda unterwegs, als neben ihnen ein Geschöpf auftauchte, dunkel schieferbraun, mit einem langen buckligen Körper und einer Flosse im Nacken. Sie konnten es etwa eine Stunde lang klar und deutlich sehen, bis ein Dampfer, der hinter ihnen angefahren kam, es erschreckte und vertrieb.« Gavin nahm seine Zügel auf, und Ribe hob einen Fuß. »Wir kehren jetzt besser um – bergab geht es immer schwerer. Lass Luchag einfach ihren Weg finden und ruf mich, wenn du dich unsicher fühlst.«

An diesem Abend arbeiteten wir meine Segelroute für den Rückweg aus. Ich breitete die Seiten meines Plans für die Hinreise, meine Seekarten, Gezeitenkarten und Lotsenbücher auf dem Boden aus, lockte Kater unter einer Seekarte hervor und überredete ihn, stattdessen Kennys uralten Schäferhund Luath ärgern zu gehen. Ich musste einfach nur alle Kompasspeilungen von der Hinreise umkehren und meine Zeiten so ausarbeiten, dass sie zu den morgigen Gezeiten passten. Die Rückreise würde einfacher werden, da ich gleich am Anfang durch die schwierigen Meerengen Kyle Rhea und Kyle of Lohalsh segeln würde und anschließend nur noch die lange Strecke vor mir hatte, die an der schottischen Westküste entlangführte. Am zweiten Tag, wenn ich müder sein würde, ging es schnurgerade über die Nordsee nach Shetland, wo ich mir keine Gedanken über Küsten mehr zu machen brauchte, sondern nur über Öltanker, denen ich ausweichen musste (Fischerboote liefen erst wieder im neuen Jahr aus), so dass ich auf der ganzen Strecke ab und an kleine Nickerchen halten konnte. Gerade schrieb ich als Überschrift auf die erste Seite »Zurück nach Shetland«, als Kenny über den Rand seines Rinderzuchtstammbuchs linste.

»Cass, Mädel, du bist total hinter der Zeit zurück. Du solltest einfach Gavins iPad benutzen.« Er warf seinem Bruder ein spitzbübisches Lächeln zu. »Er hat nämlich deine Seereise hierher Schritt für Schritt verfolgt.«

Gavin wurde rot. »Mögliche Seereise«, korrigierte er seinen Bruder. Er zog sein iPad hervor, tippte ein paarmal darauf und reichte es mir. Auf dem Display war eine Seekarte mit meinem Kurs von Shetland hierher zu sehen. Ich schaute auf das Logo.

»Navionics. Diese App ist so leicht zu benutzen, dass es einem schon Angst macht.« Ich tippte auf »Route« und »Zurück«. Sofort kehrten sich alle Wegpunkte um. An der Seite des Displays standen die wirklich nützlichen Informationen: die Kompasspeilungen und die Entfernung von einem Wegpunkt zum nächsten. Ich reichte Gavin das iPad zurück. »Kannst du alle meine Kompasspeilungen, die ich auf dem Papier habe, überprüfen, wenn ich sie vorlese?«

Kenny legte sein Zuchtstammbuch weg und kam zum Sofa, um seinem Bruder über die Schulter zu schauen. »Sieht ja ganz hübsch aus, aber würdest du das tatsächlich benutzen, um deinen Kurs festzulegen?«

»Manche Leute machen das«, antwortete ich. »Allen Ernstes. Die stellen die Route so zusammen und geben einfach dem Autopiloten den Befehl, danach zu fahren. Deswegen habe ich ja vorhin gesagt, es würde einem Angst machen, dass es so leicht geht. Man kann sich auf diese Weise unter Umständen in schreckliche Schwierigkeiten bringen. Sieh dir nur das hier an – durch Kyle Rhea und Kyle Akin ist auf dem Display ein schönes, ordentliches L gezogen, und nirgends steht, wie gefährlich diese Meerengen sind, wenn man die Gezeiten falsch erwischt.«

Gavin blickte auf und lächelte. »Was würde also eine echte Seglerin tun?«

»Entfernung. 270 Seemeilen. Reisestunden bei fünf Knoten. Gefahrenstellen.« Ich wedelte mit der ersten Seite meines Routenplans vor ihnen herum. »Angefangen mit einem nicht verzeichneten und einem verzeichneten Felsen in eurem Meeresarm.«

»Die Untiefe von Ellice«, sagte Kenny und warf Gavin ein Grinsen zu, mir nur verriet, dass einer von den beiden da wohl mal auf Grund gelaufen war.

»Dann alle Hilfsmittel – Leuchtfeuer, Türme, alles, was mir auf der Reise nach Norden mitteilt, wo ich gerade bin. Schlupfwinkel, Orte, wohin ich mich zurückziehen kann, wenn das Wetter scheußlich wird, und die genaue Seite im Lotsenbuch für jeden dieser Orte. Wenn die Lage unangenehm wird, hast du keine Zeit, nach Informationen zu wühlen.«

»Was sind das für Bücher, die du da benutzt?«

Ich hob sie der Reihe nach hoch. »Imrays Yachtman’s Pilot to Skye and Northwest Scotland1. Darin sind alle Leuchttürme und Ankerplätze verzeichnet, dazu noch Ratschläge zu Routen und Gezeiten. Der Tidal Stream Atlas2 des Marineamtes sagt mir, wie die Gezeiten zu jeder Stunde sind, welche Richtung sie haben und wie stark sie sind.« Ich klappte das Buch auf, um ihm die Karten mit den Pfeilen zu zeigen. Eine verblasste Fotokopie fiel heraus. »Das ist aus einem Buch, das vergriffen ist, aber es ist eine wunderbare Anleitung für Kyle Rhea.«

Kenny überlegte. »Wir haben jetzt Springtide.« Er beugte sich über die Karte. »Du willst also rechtzeitig zum Anfang der nach Westen ziehenden Tide am Ausgang des Meeresarmes sein, fünf Stunden nach dem Hochwasser.«

»Viereinhalb Stunden danach«, sagte ich. »Die Stunden werden ab der halben Stunde gezählt.«

Gavin öffnete den Safari-Browser. »Die Tiden in Kyle of Lochalsh am Sonntag. Hochwasser um 3:58 Uhr oder 16:14 Uhr.«

»Perfekt«, sagte ich. »Also dreht sich die Tide um halb neun, fließt danach genau in die Richtung, die ich brauche. Zwei Stunden bis zum Ausgang des Fjords, also geschätzte Abfahrtszeit 6:30 Uhr, und die Tide ist mit mir.« Ich schrieb das auf meinen Zettel. »Bis dahin Navigation nach Sicht. Okay, Gavin, Kyle Rhea bis zur Brücke nach Skye, wie weit ist das laut deiner Maschine?«

»Wegpunkte 5 bis 9. 11,4 Seemeilen.«

Ich drehte meinen Zirkel über die Seekarte und nickte. Kenny grinste. »Du traust der Maschine überhaupt nicht, was?«

»Kein bisschen. Hier, versuch du’s mal.« Ich zeigte ihm, wie man das parallele Lineal an die Linie legte, die ich segeln wollte, und sie anschließend zur Kompassrose auf der Seekarte schob, während Gavin den Winkel auf dem iPad überprüfte. Bis zum Schlafengehen hatten wir den Zeitablauf, die Tiden und die Kompasspeilungen für die gesamte Reise zusammengestellt, dazu noch, wann ich jeden Leuchtturm sichten und was für ein Lichtsignal er blinken würde, alles ordentlich auf drei A4-Seiten geschrieben und für den Gebrauch im Cockpit in eine durchsichtige Plastikhülle geschoben.

»Gar nicht so schwer, diese Navigation, wenn man mal weiß, wie’s geht«, sagte Kenny und gähnte.

»Ich muss den Kurs allerdings immer noch segeln«, erklärte ich ihm.

»Ach, da mache ich mir bei dir keine Sorgen. Wir erwarten also um Punkt 15:36 Uhr den Anruf, in dem du uns deine Ankunft zu Hause mitteilst.«

Nieselregen wehte über uns, als Gavin mich zur Pier begleitete. »Morgen klart es auf«, sagte er voraus. »Hast du Lust, zur Höhle von Bonnie Prince Charlie hinaufzugehen?«

Wir hatten ein paar Abende zuvor über einen Spaziergang zum Wasserfall und zur Höhle von Prince Charlie gesprochen. Gavins Großvaters Urgroßvaters Urgroßvater hatte damals den Prinzen dort hingeführt, als es am Ausgang des Meeresarms vor Rotröcken nur so wimmelte, die rings um die Farm ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Zur Belohnung hatte er einen der Knöpfe von der Jacke des Prinzen erhalten.

»Unser einziges Familienerbstück«, hatte Gavin mir damals erklärt, als er diesen Knopf an dem Festgewand getragen hatte, in dem er mit mir zur Halloween-Party gegangen war, für die man mich als Preisrichterin freiwillig gemeldet hatte. »Und das Herz schlägt mir jedes Mal hoch im Hals, wenn ich meine schwarze Kiltjacke trage, aus Angst, dass ich ihn nicht fest genug angenäht habe. Mutter würde es mir niemals verzeihen, wenn ich ihn verlöre.«

»Ein perfekter Spaziergang für den letzten Tag«, sagte ich.

Kapitel 3

Samstag, 28. Dezember

Gavin kannte seinen Fjord. Bis zur Mitte des Morgens hatte der Wind abgeebbt. Die Sonne war mit einem herrlichen Kranz von Regenbogen hervorgekommen und zeichnete die silbernen Stränge der Bäche nach, die sich über die rostroten Hänge zogen. Die Farbe der unruhigen See war von trübem Grau zu poliertem Zinn umgeschlagen, und am Himmel waren genug blaue Fetzchen, um daraus für einen holländischen Matrosen eine Hose zu nähen.

Wir ließen Kater beim Feuer schlafend zurück, nahmen uns für unser Picknick Scones mit und den von Gavins Mutter gerade frisch zubereiteten Crowdie, einen cremigen, leicht salzigen Quark, und gingen los, zunächst über den knirschenden Kieselstrand.

»Das da drüben ist die Touristenseite«, murmelte Gavin und deutete mit dem Kopf auf den Kiesweg oberhalb des gegenüberliegenden Ufers. »Auf unserer Seite ist das Gelände etwas unwegsamer.« Er suchte sich seinen Weg durch ein Netz schmaler Pfade, bis wir auf der Höhe der Landspitze waren, stieg anschließend wieder hinunter zu den Felsbrocken und ging am Ufer entlang. Unsere Wanderstiefel knirschten im Takt, unser Atem stand in Wölkchen in der klaren Luft. Das Gras oberhalb des Gezeitensaums hatte das gelbliche Grün von frisch gesammeltem Meerjungfrauenhaar, die Kieselsteine am Strand glänzten wie Edelsteine: rosa Granit, milchiger Quarz, grüner Serpentin, vor Glimmer glitzernder Gneis. Die Wedel des Seetangs, die am seeseitigen Ufer des breiten Stroms gerade eben die Wasserfläche durchbrachen, waren mit Eis überkrustet.

Wir gingen durch einen Eichenwald mit bemoosten Felsen zwischen den Bäumen. Schon konnte ich den Wasserfall wie einen fernen Trommelwirbel hören; dann kamen wir plötzlich zu einer polierten Mulde, die randvoll mit schwarzem Wasser war und in deren Mitte eine Strömung die Oberfläche zu schwarz-weißen Streifen kräuselte. An den ruhigen Rändern schwebten kommaförmige kaffeebraune Schaumgebilde um den glatten Felsen. Aus dem fernen Trommelwirbel war nun ein pulsierendes Dröhnen geworden.

»Der Fuß des Wasserfalls«, schrie Gavin mir ins Ohr und deutete nach oben. Eine kurze Kletterpartie durch die harten Stiele des Heidekrauts, eine Wegbiegung, und schon waren wir auf halber Höhe der großartigen Kaskade, die über uns aus einer verdrehten Tülle im Fels beinahe von der Höhe eines Windjammermasts herabstürzte. Der Pfad war glitschig vom Sprühwasser, doch das tief verwurzelte Heidekraut gab uns sicheren Tritt, und die dünnen Baumstämme boten guten Halt für die Hände. Nach einer halben Stunde atemlosen Kletterns waren wir oben angelangt bei dem kleinen See, der den Fluss speiste, und hatten den Wasserfall unter uns. Wir machten Rast und packten unser Picknick aus.

»Eigentlich sollten wir besser weiterlaufen«, meinte Gavin mit einem Blick auf die dunklen Schatten über den Bergen. »Kenny hat gesagt, er würde uns eine halbe Stunde vor der Dämmerung in der Smugglers’ Bay abholen. Wir könnten beim Gehen essen.«

Er benutzte den kleinen Dolch, den er in der Socke stecken hatte, um zwei Scones mit Quark zu bestreichen, und wir kauten einträchtig, während wir wieder auf die Mitte des Hangs herunterstiegen. Der eisverkrustete Farn knirschte unter unseren Füßen, und die Luft war klirrend kalt. Ich war froh über meine besten Segelsocken und Handschuhe. Vor uns, eine Meile entfernt am Berg, lag die Höhle, zu der wir unterwegs waren, eine dunkle Öffnung auf halber Höhe einer Felswand, zu der ein schmaler Heidepfad auf einem Felsvorsprung hinaufführte.

Der Gedanke an die Ankunft dort oben machte mich ein wenig nervös. Obwohl wir in den letzten fünf Tagen eine angenehme Vertrautheit miteinander erreicht hatten, waren wir uns doch körperlich nur so nahegekommen, dass sich einmal unsere Finger berührt hatten, als wir den Baumschmuck aufhängten. Irgendwann würden wir einander näherkommen müssen. Teils wünschte ich mir das: Ich mochte es, wie Gavin sich bewegte, mochte seine sparsamen Handbewegungen, mochte, wie adrett die Falten seines Kilts wirbelten, wenn er sich umdrehte. Seine braunen Hände waren beinahe quadratisch, zum Arbeiten geschaffen und doch zart wie eine Spinne, die ihr Netz webt, wenn er eine seiner winzigen Angelfliegen band. Gleichzeitig hatte ich jedoch eine Heidenangst. Die Konvention schlug über mir zusammen wie kaltes, tiefes Wasser. Munter über einen Bergpfad wandern, das konnte ich, aber es würde doch auch offizielle Feiern bei der Polizei geben, und er würde Kinder haben wollen, und schon bald würde mein ungebundenes Leben mit der Chalida – die Segel gesetzt, bereit zum Aufbruch, wohin der Wind mich wehte – nur noch eine Erinnerung sein. Und die Höhle von Bonnie Prince Charlie, von der aus man einen Blick auf Gavins Reich hatte, das sich unter uns erstreckte, das wäre ein romantischer Ort für einen ersten Kuss …

Wir waren schon fast da, als Gavin die Nase rümpfte. »Totes Wild«, sagte er. Das war’s also mit der Romantik. Ich roch auch schwach den süßen Duft der Verwesung über dem scharfen Frost, als Gavin plötzlich stehen blieb und überrascht etwas auf Gälisch rief. Er hielt mich mit einer Handbewegung zurück. Gehorsam stoppten meine Füße, aber unwillkürlich schaute ich nach vorn.

Den Schädel sah ich zuerst. Er lag in einer Mulde aus welkem Farnkraut unterhalb eines mit grauen Flechten überzogenen Felsens, und die Augenhöhlen starrten uns unter buschigem dunklem Haar direkt an. Der Kiefer war zur Seite verschoben; die Zähne grinsten. Irgendetwas, was vielleicht einmal ein Ohr gewesen war, hing an dem schmutzigen Knochen. Die Rippen, das Rückgrat und das Brustbein lagen in ihrer richtigen Anordnung, mit Überresten schwarzen Fleisches daran. Die Schultern waren noch da, aber die Arme waren fortgerissen worden. Hier in den Bergen gab es Füchse und Dachse, Wildkatzen, Raben und Steinadler. Ein Bein lag gerade ausgestreckt; das andere Knie war ein wenig über das Bett aus trockenem Farn erhoben, als hielten Sehnen es noch am Oberschenkel fest. Der Fuß war nur noch ein Haufen abgenagter Knochen. Der Verwesungsgeruch kam vom Gewirr getrockneter Eingeweide im Brustkorb, das schwarz angelaufenem Tang an einem Strand glich.

Mir wurde speiübel. Ich machte ein paar Schritte zurück und würgte die Übelkeit herunter.

Gavin zog sich mit mir zurück und verwandelte sich augenblicklich wieder in Detective Inspector Macrae von der schottischen Polizei, Standort Inverness. »Die Spurensicherung wird begeistert sein.« Er holte ein Stofftaschentuch hervor und spießte es mit Heidekrautstängeln als quadratische Markierung flach auf den Boden, ehe er mir ein schiefes Lächeln zuwarf. »Bist es du, oder bin ich’s, oder ist es die Kombination von uns beiden, die Mord magisch anzuziehen scheint?«

»Mord?« Nur mit Mühe gelang es mir, meine Stimme zu beherrschen.

»Ein Wanderer, der hier an einem Herzinfarkt oder an Erschöpfung gestorben ist, hätte noch seine Kleidung an.«

Ich schaute auf die blanken Knochen. Keinerlei Anzeichen von Stofffetzen; nur das dunkle, verfilzte Haar.

»Außerdem«, fügte Gavin hinzu, »ist das nicht die von Touristen bevorzugte Gegend des Fjordes. Nur wenige gehen den Pfad hinter der Lodge hoch und den Grat entlang bis Armisdale. Hier wandert beinahe nie jemand.« Er machte einige Fotos mit seinem Handy, trat aber nicht näher an die Leiche heran. »Der letzte Mensch hier war der Mörder. Auch jetzt könnten noch Indizien vorhanden sein. Es ist unglaublich, was die von der Spurensicherung zu finden in der Lage sind.«

Besser die als ich. »Kannst du sagen, wie lange er – oder sie – hier schon liegt?«

»Es war jedenfalls nach dem 21. Juli.« Gavins sonnenbraune Wangen erröteten. »Ich steige immer hier hoch, wenn sich der Tag jährt, an dem sich der Prinz in der Höhle aufgehalten hat. Die Leiche liegt also seit Ende August, vielleicht September dort. Die Forensik kann das sicher noch eingrenzen. Aber was hat der hier oben gemacht?« Er schüttelte den Kopf. »Zur Höhle können wir nicht weitergehen. Da war er vielleicht vorher, oder er war dorthin unterwegs.« Er seufzte. »Oh, damit werde ich mir wirklich Freunde machen. Jeder Mann und jede Frau aus der Polizeitruppe, alle werden sie zwei Tage lang diesen Berghang durchkämmen und außer Farn nichts finden.«

Wir gingen wieder los, im gleichen Tritt, diagonal auf die Bucht zu. Über uns leuchtete das Taschentuch weiß vor dem goldbraunen Blattwerk. »War es vielleicht irgendein Student, der zu einer Wandertour durch die Highlands aufgebrochen ist und nicht genau gesagt hat, wo er hinwollte?«

»Vergiss nicht, dass die Kleidung fehlt. Möglicherweise waren es zwei oder mehr Studenten, wobei die anderen vertuscht haben, dass einer fehlt, oder eine überzeugende Geschichte von einer Tragödie erzählt haben, zum Beispiel, dass er ertrunken ist, so dass man keine Leiche finden konnte. Ich erinnere mich aber nicht an dergleichen Berichte aus dieser Gegend, und ganz sicher hatten wir keine Vermisstenmeldung von hier.«

»Aber warum die Kleidung mitnehmen? Es kann doch nicht einfach gewesen sein, ihn auszuziehen.«

»Um die Verwesung zu beschleunigen. Und damit die Leiche schwerer zu identifizieren ist.« Er verzog das Gesicht. »Zähne nutzen einem nur, wenn man einen Namen kennt. Schauen wir mal, was es an Vermisstenmeldungen aus dem gesamten Vereinigten Königreich gibt.«

Während wir bergab stapften, dachte ich darüber nach, was Kleidung über jemanden aussagen konnte. Gavins Kilt würde auf einen Macrae mit einer bestimmten Taillenweite und Körpergröße hinweisen. Mein T-Shirt hatte ich in Bergen gekauft, und meine Thermokleidung, mein Strickpullover und meine Musto-Jacke würden mich als Seglerin identifizieren. Also konnte man meine Beschreibung bei den norwegischen Yachtleuten durchgeben: Frau, um die dreißig, eins fünfundfünfzig, langes dunkles, zum Zopf geflochtenes Haar. Ich überlegte, dass man so innerhalb von vierundzwanzig Stunden meinen Namen herausfinden könnte.

Bis wir die Bucht erreicht hatten, die Gavin Smugglers’ Bay genannt hatte, war es drei Uhr. Die letzten Strahlen der Sonne ließen die obere Hälfte der Wolken rosig schimmern, die Farben wirkten wie durch Bernstein gefiltert. Das lackierte Dingi leuchtete wie eine rote Katze, als Kenny im großen Bogen auf uns zugefahren kam, den Motor ausschaltete und zum Strand ruderte. Gavin redete in schnellem, eindringlichem Gälisch. Kennys Blick folgte Gavins Handbewegung; er nickte, als er das weiße Taschentuch ausmachte, das nun von den letzten Strahlen der Sonne auf den oberen Berghängen beschienen wurde. Dann stellte er seinerseits eine Frage und deutete zur Höhle hinauf. Gavin nickte und machte eine weit ausladende Handbewegung, gefolgt von einem kurzen Satz, der offensichtlich bedeutete: »Sie werden alles absuchen müssen.« Denn beide Brüder verzogen das Gesicht und ähnelten sich plötzlich sehr: In ihrem privaten Reich würden Eindringlinge herumtrampeln. Ich wusste, wie sich das anfühlt. Als wir uns kennenlernten, hatte Gavin meine Chalida durchsuchen müssen, und ich erinnerte mich noch sehr gut an meine Entrüstung, als seine Handlanger in ihren Raumanzügen über die Reling meines Schiffes kletterten.

Die Männer setzten mich an der Chalida ab, damit ich vor der morgigen Reise noch einmal die Takelage überprüfen konnte. Als ich schließlich beim Bauernhof ankam, hatte Kenny seiner Mutter bereits alles erzählt, während Gavin zwischen Telefon und Computer hin- und herging, um seine Fotos vom Handy hochzuladen und zu verschicken. Schließlich kam er ins Wohnzimmer und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Locken, die er damit glätten wollte, federten zurück. »Cass, ich habe denen gesagt, dass du morgen abreisen musst, also schicken sie den Ortspolizisten von Kyle of Lochalsh her, damit er deine Aussage aufnimmt. Ich darf das nicht machen, weil wir zusammen dort waren.« Er verzog das Gesicht. »Das sind für ihn hin und zurück hundertvierzig Meilen. Mutter, ich habe ihn zum Abendessen eingeladen.«

Als der Ortspolizist kurz nach sechs ankam, stellte sich heraus, dass er von den Orkney-Inseln war. »Die versuchen, uns nicht an unseren Heimatort zurückzuschicken«, erklärte er mit dem mir so vertrauten Singsang, als wollte ein Waliser Scots sprechen. »Ich versuche, Gälisch zu lernen. Viele Wörter sind gleich; die Leute auf den westlichen Inseln sind beinahe so nordisch wie wir auf den nördlichen Inseln.«

»Die Minch3 war ja wohl früher der Korridor der Wikinger«, stimmte ich ihm zu. Ich war schon auf dem Nachbau des Wikingerschiffes Sea Stallion durch diese Meerenge gesegelt. »Es tut mir leid, dass Sie meinetwegen heute Abend hier rausmussten, aber morgen und am Montag ist mein Gutwetterfenster für die Heimfahrt.«

»Nach Shetland, ja, ja, Gavin hat es mir erklärt. In einem Minütchen nehme ich Ihre Aussage auf.«

Es wurde ein ungemütliches Abendessen mit Sergeant Pearson als zusätzlichem Gast auf der einen Seite des Tisches und mit der frischen Erinnerung an die starrenden Augenhöhlen des Schädels. Gavins Mutter hatte es als besonderes Abschiedsessen geplant: Steakpastete mit golden knuspriger Kruste über butterweichem Rindfleisch aus eigener Zucht, Rosenkohl und Kartoffeln aus dem Garten und ein Zitronenbaiser als Nachtisch, das es beinahe geschafft hätte, mich zum Leben an Land zu bekehren. Wir Frauen räumten den Tisch ab und überließen es dann Gavin und Kenny, abzuwaschen und abzutrocknen, während der Sergeant in seinem schwarzen Notizbuch meine Aussage aufschrieb.

»Ich habe mal auf der Wache im Computer nachgesehen«, sagte er, »und du hast ganz Recht, Gavin, hier in der Gegend ist diesen Sommer niemand als vermisst gemeldet worden, nicht in den Bergen und nicht auf See.«

»Aye«, meinte Gavin. »Aber vielleicht hat man ihn da, wo er herkommt, als vermisst gemeldet. Mit der Suche können wir anfangen, sobald uns die Forensik Angaben zum Geschlecht, zur Körpergröße und zum Alter gemacht hat. Kenny, sag mal, kannst du die Leute von der Spurensicherung den Berg hochführen?«

Kenny nickte finster. »Kommen da viele?«

»Die müssen mindestens zweimal da rauf, und dann noch einmal, um die Leiche abzutransportieren.«