Über Gusel Jachina

Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan (Tatarstan), russische Autorin und Filmemacherin tatarischer Abstammung, studierte an der Kasaner Staatlichen Pädagogischen Hochschule Germanistik und Anglistik und absolvierte die Moskauer Filmhochschule. Ihr erster Roman «Suleika öffnet die Augen« wurde in 31 Sprachen übersetzt. Mit »Wolgakinder«, bisher in 14 Sprachen übersetzt, legt die international erfolgreiche Autorin ihren zweiten Roman vor. Gusel Jachina lebt mit ihrer Familie in Moskau.

Helmut Ettinger, Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Polina Daschkowa, Darja Donzowa, Sinaida Hippius, Gusel Jachina, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger und viele andere ins Deutsche.

Informationen zum Buch

»Gusel Jachina fesselt ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite.« Neue Zürcher Zeitung

In der Weite der Steppe am Unterlauf der Wolga siedeln seit dem achtzehnten Jahrhundert Deutsche.1916 führt Jakob Bach in dem kleinen Dorf Gnadental ein einfaches Leben als Schulmeister, das geprägt ist von den Rhythmen der Natur. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er sich in Klara verliebt, eine Bauerntochter vom anderen Ufer der Wolga. Doch ihre Liebe kann sich den Ereignissen nicht entziehen, die die Revolution und die Gründung der Deutschen Republik an der Wolga mit sich bringen.

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Gusel Jachina

Wolgakinder

Roman

Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Inhaltsübersicht

Über Gusel Jachina

Informationen zum Buch

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Die Ehefrau

Die Tochter

Der Schüler

Der Sohn

Die Kinder

Epilog

Jakob Iwanowitsch Bachs Kalender

Jelena Kostjukowitsch: In die Tiefen der Wolga

Anmerkungen

Dank

Impressum

Für meinen Großvater,

den Deutschlehrer einer Dorfschule

Die Ehefrau

1

Die Wolga teilte die Welt in zwei Hälften.

Das linke Ufer war niedrig und gelb; flach lag es da und ging in die Steppe über, aus der jeden Morgen die Sonne heraufstieg. Die Erde schmeckte bitter und war von Zieselmäusen durchwühlt, das Gras wuchs dicht und hoch, die Bäume hingegen waren niedrig und selten. Getreide- und Melonenfelder bis zum Horizont, farbenprächtig wie eine baschkirische Bettdecke. Am Ufer klebten die Dörfer. Der Steppenwind war heiß und würzig, er roch nach den Wüsten Turkmeniens und dem Salz des Kaspischen Meeres.

Wie es am anderen Ufer aussah, wusste niemand. Über der rechten Seite des Flusses erhoben sich mächtige Berge, die senkrecht, wie mit einem Messer abgeschnitten, in den Fluss stürzten. An der Kante rieselte zwischen den Steinen Sand herunter, doch die Berge sanken nicht ein, sie wurden Jahr um Jahr nur steiler und fester – von blaugrünem Wald bedeckt im Sommer und tief verschneit im Winter. Hinter diesen Bergen ging die Sonne unter. Auch dort wuchsen kühle Laub- und finstere Nadelwälder. Dahinter lagen die großen russischen Städte mit ihren weißen Kremlburgen, Sümpfe und glasklare blaue Seen mit eiskaltem Wasser. Vom rechten Ufer her wehte es immer kalt; der Wind musste von der fernen Nordsee kommen. Manch einer nannte sie nach alter Sitte noch immer das Deutsche Meer.

Schulmeister Jakob Iwanowitsch Bach spürte diese unsichtbare Trennlinie, die mitten durch die Wolga lief, wo das Wasser wie Stahl und schwarzes Silber schimmerte. Doch die wenigen Menschen, zu denen er von seinen merkwürdigen Gedanken sprach, schauten ihn befremdet an, denn sie sahen das heimatliche Gnadental eher als Mittelpunkt ihres kleinen, von der Wolgasteppe umschlossenen Universums, nicht als einen Grenzort. Bach stritt nicht mit ihnen, denn jede Unstimmigkeit bereitete ihm seelische Schmerzen. Er litt schon, wenn er im Unterricht einem faulen Schüler die Leviten lesen musste. Wahrscheinlich hielt man ihn deswegen auch nur für einen mittelmäßigen Lehrer. Bach sprach mit leiser Stimme, war spindeldürr und von so unscheinbarem Äußeren, dass niemand darüber je ein Wort verlor. Wie auch über sein ganzes Leben.

Wenn morgens am Himmel noch die Sterne leuchteten, erwachte Bach unter seinem Federbett aus Entendaunen und lauschte den Klängen der Welt. Das Gewirr der Laute fremden Lebens, das um ihn herum und über ihn hinweg strömte, beunruhigte ihn. Um die Dächer fegte der Wind – stürmisch, mit Schnee und Graupel vermischt im Winter, böig, mit Feuchtigkeit und himmlischer Spannung geladen im Frühling, träge und trocken, von Staub und den leichten Flugsamen des Steppengrases durchsetzt im Sommer. Hunde begrüßten ihren Herrn, wenn er vor die Tür trat, mit freudigem Gebell. In tiefem Bass brüllten die Rinder auf dem Weg zur Tränke – ein guter Bauer ließ seinen Ochsen oder sein Kamel niemals abgestandenes Wasser oder getauten Schnee aus dem Eimer saufen, sondern führte sie stets zur Wolga, und das, bevor er sich zum Frühstück niedersetzte oder an andere Arbeiten ging. Hier und da ließ eine Frau auf dem Hof ein gedehntes Lied erklingen, um sich den kalten Morgen zu verschönern oder einfach, um nicht wieder einzuschlafen. Die Welt atmete, ratterte, pfiff, muhte, trappelte mit den Hufen, tönte und sang mit vielen Stimmen.

Die Laute seines eigenen Lebens waren so dürftig und unbedeutend, dass Bach sie gar nicht mehr wahrnahm. Das einzige Fenster seines Zimmers klapperte im Wind. Schon im vergangenen Jahr hätte er die Scheiben besser am Rahmen befestigen und die Ritzen mit Kamelwolle abdichten sollen. In dem lange nicht gereinigten Rauchabzug knackte es hin und wieder. Manchmal ließ eine graue Maus hinter dem Ofen ihren Pfiff hören. Vielleicht war es auch nur die Zugluft zwischen den Dielen, die Maus war längst tot und von den Würmern vertilgt. Mehr gab es von Bach nicht zu berichten. Viel interessanter war es hingegen, dem Leben draußen zu lauschen. Dabei vergaß Bach manchmal, dass er selbst zu dieser Welt gehörte, dass er seine Schwelle überschreiten und sich diesem vielstimmigen Chor anschließen konnte – ein lautes, übermütiges Lied anstimmen wie das von den deutschen Siedlern so geliebte »Ach, Wolga, Wolga!«, seine Tür krachend zuschlagen oder wenigstens einmal geräuschvoll niesen. Doch Bach hörte lieber zu.

Um sechs Uhr morgens stand er, fertig angezogen und gekämmt, bereits an der Schulglocke, die Taschenuhr in der Hand. Wenn die beiden Zeiger genau übereinanderlagen, der kleine auf die Sechs und der große auf die Zwölf zeigte, zog er mit aller Kraft an dem Seil, und weithin hallte der Ton der Bronzeglocke. In all den Jahren erlangte Bach in dieser Übung eine solche Meisterschaft, dass dies genau in dem Augenblick geschah, da der Minutenzeiger den höchsten Stand erreichte. Einen Moment später, das wusste Bach genau, wandte sich jeder Bewohner des Dorfes der Glocke zu, nahm die Kopfbedeckung ab und murmelte ein kurzes Gebet. In Gnadental begann ein neuer Tag.

Zu den Pflichten des Schulmeisters gehörte es, die Glocke jeden Tag dreimal zu läuten – um sechs Uhr morgens, zu Mittag und um neun Uhr abends. Dieses Ritual galt Bach als sein einziger würdiger Beitrag zu der Sinfonie des Lebens, die um ihn herum erklang.

Bach wartete ab, bis auch der letzte Ton der Glocke verstummt war, und lief dann ins Schulhaus zurück. Dieses hatte man aus festen Kanthölzern erbaut, welche die Dorfbewohner den Flößern abkauften, die vom Shiguli-Gebirge oder gar aus dem Gouvernement Kasan die Wolga herunterkamen. Das Fundament bestand aus Steinen, die man für größere Haltbarkeit mit Lehm verschmiert hatte. Das Dach war nach der neuen Mode mit Blech gedeckt, das erst seit Kurzem die ausgedörrten Bretter ersetzte. Fensterrahmen und Tür strich Bach jedes Frühjahr in strahlendem Himmelblau.

Das Schulhaus war langgestreckt und hatte sechs Fenster auf jeder Seite. Der Klassenraum füllte es fast zur Gänze aus; nur an der Stirnseite war für den Lehrer eine kleine Kammer als Schlafraum mit Kochnische abgetrennt. An der Zwischenwand stand der große Ofen. Da er für das Heizen des ganzen Hauses im Winter nicht ausreichte, hatte man an den Wänden drei weitere gusseiserne Kanonenöfchen platziert. Daher roch es im Klassenzimmer ewig nach Eisen – im Winter nach glühendem und im Sommer nach feuchtem. Am entgegengesetzten Ende des Raumes stand das Pult des Schulmeisters, vor dem sich die Bänke für die Schüler aufreihten. In der ersten Reihe, der für die »Esel«, hatten die jüngsten Schüler und jene ihren Platz, deren Verhalten oder geringer Fleiß dem Lehrer Sorge bereiteten. Dahinter gruppierten sich die älteren Jungen und Mädchen. Außerdem gab es im Klassenzimmer eine große Tafel, einen Schrank mit Schreibpapier und Landkarten, ein paar gewichtige Lineale, die in der Regel nicht nach ihrer eigentlichen Bestimmung, sondern für erzieherische Zwecke benutzt wurden. Außerdem ein Bild des Zaren von Russland, das dort hing, weil das Schulamt das angeordnet hatte. Das Bild bereitete nur zusätzliche Scherereien. Seit es in der Schule aufgetaucht war, musste Dorfvorsteher Peter Dietrich eine Zeitung beziehen, um, was Gott verhüte, die Nachricht von einem Wechsel des Herrschers im fernen Petersburg ja nicht zu verpassen und sich vielleicht vor der nächsten Kommission zu blamieren. Zuvor hatten die Geschehnisse im russischen Russland die deutsche Ansiedlung mit einer Verspätung erreicht, als läge sie nicht im Herzen des Wolgagebietes, sondern im letzten Winkel des Reiches, was ein derartiges Vorkommnis durchaus als möglich erscheinen ließ.

Einst hatte Bach davon geträumt, das Klassenzimmer mit dem Konterfei des großen Goethe zu schmücken, aber aus dieser Idee wurde nichts. Müller Julius Wagner, der geschäftlich häufig in Saratow zu tun hatte, versprach ihm, »ein Porträt des Dichters zu beschaffen, falls es denn irgendwo in einem Laden herumliegen sollte«. Da der Müller aber von der Dichtkunst wenig hielt und vom Aussehen des genialen Landsmanns nur eine sehr vage Vorstellung hatte, ließ er sich leicht übers Ohr hauen. Statt Goethe drehte ihm eine verschlagene Krämerseele das zweitklassige Bildnis eines blutarmen Aristokraten mit albernem Spitzenkragen, üppigem Schnauzer und Spitzbart an. Der hätte zur Not als Cervantes durchgehen können, aber auch das nur bei trübem Licht. Der Gnadentaler Kunstmaler Anton Fromm, der mit seinen Arbeiten vor allem Truhen und Geschirrregale schmückte, bot Bach an, beide Bärte zu übermalen und unter dem Spitzenkragen Goethes Namen in Großbuchstaben hinzuzufügen. Aber auf eine solche Fälschung wollte sich Bach nicht einlassen. So blieb das Schulhaus ohne Goethe. Das Unglücksbild überließ Bach dem Maler, der es sich zur Anregung seiner Phantasie erbat.

Nachdem Bach pflichtgemäß die Glocke geläutet hatte, ging er daran, die Öfen zu heizen, damit es die Schüler bei ihrem Eintreffen warm hatten, und lief dann in sein Kämmerchen, um zu frühstücken. Was er des Morgens aß und trank, hätte er selbst nicht recht sagen können, weil er dem nicht die geringste Bedeutung beimaß. Eines stand jedoch fest: Statt Kaffee trank Bach »ein rotbraunes Gebräu, das an Kamelpisse erinnert«. So die Worte von Dorfvorsteher Dietrich, der den Schulmeister vor fünf, sechs Jahren frühmorgens in einer wichtigen Angelegenheit aufgesucht und mit ihm dessen frugales Mahl geteilt hatte. Seitdem war weder Dietrich noch ein anderer je wieder zum Frühstück bei ihm erschienen, aber die Worte hatte sich Bach gemerkt. Betroffen machten sie ihn allerdings nicht, denn für Kamele empfand er eine ausgesprochene Sympathie.

Die Kinder erschienen um acht Uhr morgens im Schulhaus – die Schulbücher in der einen und ein Bündel Feuerholz oder eine Tüte mit einem getrockneten Kuhfladen in der anderen Hand. Neben dem Schulgeld leisteten die Dorfbewohner ihren Beitrag zur Bildung ihrer Kinder auch in Form von Naturalien wie Heizmaterial für die Öfen. Unterricht wurde vier Stunden vor der Mittagspause und zwei Stunden danach erteilt. Der Schulbesuch galt als ernste Angelegenheit. Für das Versäumen eines halben Unterrichtstages hatte die Familie des Schwänzers drei Kopeken Strafe zu zahlen. Die Lehrfächer waren deutsche und russische Sprache, Schreiben, Lesen und Rechnen. Zur Vermittlung von Katechismus und Geschichten aus der Bibel kam der Gnadentaler Pastor Adam Händel in die Schule. Eine Einteilung in Klassen gab es nicht. Die Schüler wurden gemeinsam unterrichtet – in einem Jahr bis zu fünfzig, in einem anderen bis zu siebzig an der Zahl. Zuweilen teilte sie der Schulmeister in Gruppen ein, die er mit unterschiedliche Aufgaben beschäftigte. Dann wieder sprachen oder sangen sie im Chor. Das gemeinsame Lernen war die wirksamste pädagogische Methode für eine so große und ausgelassene Kinderschar wie in der Schule von Gnadental.

In seinen Jahren als Lehrer, da eines dem anderen glich und nichts Besonderes passierte, außer dass man im vergangenen Jahr das Dach erneuert hatte und es nun nicht mehr auf das Pult des Schulmeisters tropfte, hatte sich Bach derart daran gewöhnt, immer wieder die gleichen Worte zu sprechen und die gleichen Rechenaufgaben aus dem Lehrbuch vorzutragen, dass sein Kopf gelernt hatte, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Die Zunge wiederholte eine bekannte Regel der Syntax, die Hand klopfte träge mit dem Lineal auf den Hinterkopf eines allzu schwatzhaften Schülers, die Beine trugen ihn durch den Klassenraum, aber Bachs Gedanken dämmerten vor sich hin, eingelullt von der eigenen Stimme und dem gleichmäßigen Nicken des Kopfes im Takt der schlurfenden Schritte. Ein paar Minuten später hielt er nicht mehr die »Russische Sprache« von Wollner in der Hand, sondern das Rechenbuch von Goldenberg. Und aus seinem Munde strömten nicht mehr Haupt-, Eigenschafts- und Tätigkeitswörter, sondern die Regeln des Rechnens. Bis zum Ende des Unterrichts blieb eine ganze Kleinigkeit, höchstens eine Viertelstunde. War das nicht angenehm?

Das einzige Fach, bei dem seine Gedanken sofort wieder auflebten, war Deutsch. Über die Tücken der Rechtschreibung mochte sich Bach nicht lange verbreiten, ihn zog es zur Dichtkunst hin, zu Novalis, Schiller und Heine. Gedichte ergossen sich über die jungen Wuschelköpfe so reichlich wie Wasser am Badetag.

Die Liebe zur Poesie hatte Bach schon in seiner Jugend gepackt. Bereits damals schien es, als ernähre er sich nicht von Kartoffelpuffern und Melonenkaltschale, sondern allein von Balladen und Oden. Er glaubte, er könnte sie allen nahebringen – deshalb war er Lehrer geworden. Wenn er vor der Klasse die geliebten Verse deklamierte, spürte Bach immer noch ein andächtiges Beben in seiner Brust, irgendwo nahe beim Herzen. »Wanderers Nachtlied« konnte er zum tausendsten Mal aufsagen, und schon erblickte er draußen alles, was der große Goethe beschrieben hatte – die mächtigen dunklen Berge am rechten Wolgaufer und die ewige Ruhe über der Steppe am linken. Und er selbst, Schulmeister Jakob Iwanowitsch Bach, zweiunddreißig Jahre alt, in der vom langen Tragen fadenscheinig gewordenen Uniformjacke mit den geflickten Ärmeln und unterschiedlichen Knöpfen, der vom herannahenden Alter bereits kahl und faltig wurde, wer war er denn, wenn nicht jener Wanderer, zu Tode erschöpft und zugleich bedauernswert in seiner Furcht vor der Ewigkeit?

Die Kinder teilten diese Leidenschaft ihres Lehrers nicht. Ihre Gesichter, die je nach Temperament frech oder aufmerksam dreinblickten, nahmen schon bei den ersten Verszeilen einen apathischen Ausdruck an. Jenaer Romantik und Heidelberger Schule wirkten auf die Klasse wie ein starkes Schlafmittel. Mit Hilfe von Gedichten waren die Rangen offenbar besser zur Ruhe zu bringen als mit den üblichen Ermahnungen und dem Lineal. Höchstens Lessings Fabeln, in denen die Abenteuer von Wesen beschrieben wurden, die den Kindern von klein auf vertraut waren – von Schweinen, Füchsen, Wölfen oder Lerchen –, fanden bei den Wissensdurstigeren unter ihnen Interesse. Aber auch die konnten den Geschichten bald nicht mehr folgen, die in korrektem, gestelztem Hochdeutsch daherkamen.

Die deutschen Siedler hatten die Heimatdialekte ihrer Ursprungsregionen Westfalen und Sachsen, Bayern, Tirol und Württemberg, Elsass und Lothringen, Baden und Hessen mitgebracht. In Deutschland selbst, das längst vereinigt war und sich jetzt stolz Deutsches Reich nannte, kochten die Dialekte seit Langem in einem Topf wie das Gemüse in der Suppe, aus der kunstfertige Köche – Gottsched, Goethe oder die Brüder Grimm – ein exquisites Gericht bereitet hatten: die deutsche Literatursprache. Doch in den deutschen Ansiedlungen an der Wolga gab es niemanden, der sich in dieser Spitzenküche auskannte. Die regionalen Dialekte verschmolzen zu einer gemeinsamen Sprache, die einfach und ehrlich klang, wie eine Zwiebelsuppe mit eingeweichten Brotkrusten. Das Russische bereitete den Siedlern große Mühe. In ganz Gnadental brachte man nicht mehr als hundert russische Wörter zusammen, die man den Kindern schon in der Schule eingetrichtert hatte. Doch um auf dem Markt in Pokrowsk Handel zu treiben, reichten sie vollkommen aus.

Nach dem Unterricht des Tages schloss sich Bach in seinem Kämmerchen ein und verschlang eilig ein spätes Mittagessen. Das hätte er auch bei unverschlossener Tür tun können, aber der vorgeschobene Riegel schien den Geschmack des Gerichts zu verbessern, das in der Regel längst ausgekühlt, genauer gesagt, eiskalt war. Für ein sehr bescheidenes Entgelt brachte ihm die Mutter eines der Schüler einen Topf Erbsbrei oder Milchsuppe mit Nudeln – den Rest der Mahlzeit einer großen Familie vom vergangenen Tag. Natürlich hätte er die gute Frau bitten können, ihm das Essen wenn nicht heiß, dann wenigstens warm zu liefern, aber dafür fehlte ihm immer die Zeit. Erst recht dafür, es selbst aufzuwärmen, denn jetzt kam der wichtigste Teil des Tages, die Stunde der Besuche.

Sorgfältig gekämmt und zum zweiten Mal gewaschen, stieg Bach die Stufen des Schulhauses hinunter und stand bald auf dem zentralen Platz von Gnadental vor der großartigen Kirche mit dem weitläufigen Innenraum, den von Maßwerk umrankten Fenstern und dem Glockenturm, der an einen scharf gespitzten Bleistift erinnerte. Jetzt war zu entscheiden, wohin er sich wenden sollte: an geraden Tagen zum Ufer der Wolga und an ungeraden in entgegengesetzte Richtung. Heute schritt er eilig die Hauptstraße entlang, die breit und schnurgerade war wie ein ausgerollter Ballen guten Tuchs. Vorbei an blitzsauberen Holzhäuschen mit Vorhaus und schmucken Fensterrahmen, die mit ihrem stets frischen Anstrich in Himmelblau, Beerenrot oder Maisgelb besonders adrett wirkten. Vorüber an Zäunen aus gehobelten Brettern mit breiten Toren für Wagen und Schlitten, mit einer kleinen Pforte für die Menschen. Vorbei an kieloben liegenden Booten, die auf das Frühjahrshochwasser warteten. An Frauen, die mit ihren Tragjochen am Brunnen standen. An Kamelen, die vor dem Petroleumladen angebunden waren. Er überquerte den Marktplatz, dessen Mitte drei mächtige Ulmen zierten. Bach schritt so schnell aus, stapfte mit den Filzstiefeln so laut knirschend über den Schnee oder platschte mit den Schuhen durch den Frühjahrsmatsch, dass man glauben konnte, er hätte ein Dutzend unaufschiebbarer Dinge zu erledigen, und das unbedingt an diesem Tag. So war es in der Tat.

Als Erstes stieg er auf den Kamelhügel und umfing die bis zum Horizont reichende Wolga mit einem Blick: Von welcher Farbe und wie durchsichtig waren heute die Wellen? Lag kein Nebel über dem Fluss? Kreisten viele Möwen darüber? Sprangen die Fische weiter draußen oder näher am Ufer? Diese Fragen stellte er sich in der warmen Jahreszeit. In der kalten hingegen: Wie dick war die Schneeschicht auf dem Fluss? Taute sie nicht schon irgendwo, und das blinkende Eis war der Sonne schutzlos ausgesetzt?

Dann ging es durch ein kurzes trockenes Tal über die Kartoffelbrücke zum Soldatenbach, der selbst bei strengstem Frost nicht zufror. Dort musste er einen Schluck probieren: War der Geschmack des Wassers unverändert? Er hatte in die Schweinelöcher zu schauen, wo man den Lehm für die berühmten Gnadentaler Ziegelsteine gewann. Anfangs hatte man dem Lehm nur Heu beigemischt. Einmal probierte einer zum Spaß aus, die Masse mit etwas Kuhmist zu versetzen. Es stellte sich heraus, dass die Ziegel davon hart wurden wie Stein. So entstand die bekannteste Redensart der Gegend: »Ein bisschen Scheiße schadet nicht.« Danach ging es das Süßholzufer entlang bis zum Abhang der Drei Ochsen, wo sich der Schindacker des Dorfes befand. Dann rasch weiter durch die Brombeermulde und die Mückensenke zum Pastorensee, in dessen Nähe das Teufelsgrab lag.

Wenn Bach bei seinem Rundgang etwas entdeckte, das nicht in Ordnung war – einen vom Schneesturm umgeworfenen Pfahl am Schlittenweg oder ein schiefes Brückengeländer, dann litt er an diesem Wissen. Die enorme Aufmerksamkeit machte Bachs Leben zur Qual, denn jede Störung der gewohnten Umwelt versetzte ihn in Aufregung. So gleichgültig seine Seele gegenüber den Schülern im Unterricht war, so leidenschaftlich widmete sie sich während dieser Streifzüge den Gegenständen und Einzelheiten seiner Umgebung. Er sprach mit niemandem über seine Beobachtungen, aber voller Ungeduld hoffte er jeden Tag darauf, dass der Schaden behoben werden und die Welt in ihre geordneten Bahnen zurückkehren möge. Erst dann fand er seine Ruhe wieder.

Wenn Siedler dem Schulmeister mit den ewig eingeknickten Knien, dem steifen Rücken und dem zwischen die Schultern gezogenen Kopf begegneten, dann riefen sie ihn manchmal an und begannen ein Gespräch über die schulischen Leistungen ihrer Kinder. Doch Bach, außer Atem vom schnellen Lauf, antwortete stets unwillig und kurz, denn dafür hatte er überhaupt keine Zeit. Demonstrativ zückte er seine Taschenuhr, warf einen bekümmerten Blick darauf und lief kopfschüttelnd weiter. Das begonnene Gespräch hatte er im Nu vergessen.

Es gab noch einen Grund, weshalb er solchen Situationen so eilig zu entkommen suchte: Bach stotterte. An diesem Gebrechen litt er erst seit einigen Jahren und ausschließlich außerhalb der Schule. Während des Unterrichts funktionierte seine geübte Zunge störungsfrei. Die langen zusammengesetzten Wörter des Hochdeutschen sprach er mühelos aus und gab solche Tiraden von sich, dass mancher Schüler den Anfang vergessen hatte, bevor der Lehrer das Ende erreicht hatte. Doch die Zunge versagte ihm den Dienst, wenn Bach beim Gespräch mit den Dorfbewohnern in den Dialekt wechseln musste. Ganze Passagen aus dem zweiten Teil des »Faust« vorzutragen bereitete der Zunge Vergnügen. Doch der Witwe Koch zu sagen: »Ihr Sohn, der Lümmel, hat sich heute wieder ein Ding geleistet!«, vermochte sie nicht, blieb bei jeder Silbe stecken oder klebte am Gaumen wie ein großer, nicht gargekochter Kloß. Bach schien, dass sein Stottern mit den Jahren immer schlimmer wurde. Doch diesen Verdacht zu prüfen war schwierig, denn seine Gespräche mit den Leuten wurden immer seltener.

Nach diesen Rundgängen, die er zuweilen bei Sonnenuntergang und manchmal sogar erst im Halbdunkel beendete, trottete Bach müde, aber hochzufrieden nach Hause. Oft hatte er nasse Füße, die Wangen brannten vom Wind, doch das Herz schlug freudig in seiner Brust. Er hatte sich den Lohn für die Tagesarbeit verdient: das Lesen in den Abendstunden. Wenn er seine letzte Pflicht erfüllt und exakt um neun Uhr die Glocke geläutet hatte, warf Bach die feuchten Kleider über den Ofen, wärmte die kalten Füße in einer Schüssel mit einem Thymianbad, trank heißes Wasser, um sich nicht zu erkälten, und schlüpfte mit einem Buch ins Bett. Es war uralt, in Pappe gebunden und der Name des Verfassers kaum noch zu erkennen.

Chroniken der Übersiedlung deutscher Bauern nach Russland berichteten von der Zeit, da die ersten Siedler auf Einladung von Zarin Katharina per Schiff in Kronstadt vor St. Petersburg eingetroffen waren. Bach hatte bereits die Stelle erreicht, da die Monarchin persönlich am Kai erschien, um ihre mutigen Landsleute willkommen zu heißen. »Meine Kinder!«, rief sie schallend und paradierte zu Pferde vor den auf der Überfahrt durchgefrorenen Siedlern. »Ihr neuen Söhne und Töchter Russlands! Freudig nehmen wir euch in unsere sichere Obhut, verheißen euch Schutz und elterliche Gunst! Dafür erwarten wir Gehorsam und Fleiß, beispiellose Pflichterfüllung und tapferen Dienst an eurem neuen Vaterland! Wer dem nicht zustimmt, der möge sofort umkehren! Schwächlinge an Herz und Hand werden im russischen Staat nicht gebraucht!«

Doch weiter als bis zu dieser bewegenden Szene kam Bach nicht: Unter dem Federbett wurde sein von dem Kontrollgang erschöpfter Körper weich wie eine mit geschmolzener Butter übergossene Pellkartoffel. Die Arme, die das Buch hielten, wurden schlaff, die Augen fielen ihm zu, und das Kinn sank ihm auf die Brust. Im gelben, trüben Licht der Petroleumlampe schwebten die gelesenen Zeilen davon, mischten sich die verschiedenen Stimmen und verstummten, vom Schlaf überwältigt, schließlich ganz. Das Buch entglitt seinen Fingern und wanderte langsam über die Bettdecke. Selbst wenn es polternd zu Boden fiel, konnte das Bach nicht mehr aufwecken. Und er wäre höchst verwundert gewesen, hätte ihm einer gesagt, dass er in dieser glorreichen Chronik seit drei Jahren las, nicht mehr und nicht weniger.

So floss sein Leben dahin. Ruhig, voller kleiner Freuden und geringfügiger Aufregungen, stellte es ihn durchaus zufrieden. In einem gewissen Sinn empfand er es als glücklich. Man hätte es sogar tugendhaft nennen können, wäre da nicht ein Umstand gewesen: Schulmeister Bach war einer unheilvollen Leidenschaft verfallen, von der er offenbar nicht mehr lassen konnte: Er liebte Gewitter. Nicht wie ein friedlicher Maler oder ein ehrbarer Dichter vom Fenster her dem Tosen der Naturgewalten zuschaut, sich an dem rollenden Donner und den grellen Farben eines Unwetters ergötzt. O nein! Bach war Gewittern verfallen wie ein armer Säufer dem Wodka aus Kartoffelschalen oder ein Morphiumsüchtiger seiner Droge.

Jedes Mal – das passierte alljährlich an zwei, drei Tagen im Frühjahr oder im Frühsommer –, wenn sich der Himmel über Gnadental dunkelviolett färbte und eine solche Spannung in der Luft lag, dass man schon beim Schließen der Augenlider blaue Funken zu sehen glaubte, fing es in Bachs Leib seltsam zu brodeln an. Ob es sein Blut war, dessen besondere chemische Zusammensetzung auf die Turbulenzen in den Magnetfeldern so heftig reagierte, oder ob der Rausch des Ozons kleinste Muskelkrämpfe in ihm auslöste, wusste Bach nicht zu sagen. Doch sein Körper schien ihm plötzlich fremd zu werden. Knochen und Muskeln fanden in der Haut nicht mehr genügend Raum und drohten sie zu sprengen, den Schlag seines Herzens spürte er bis in Hals und Fingerspitzen, in seinem Hirn dröhnte etwas und rief ihn ins Freie. Bach ließ die Tür des Schulhauses weit offen stehen und folgte diesem Ruf in die Steppe hinaus. Während die Dorfbewohner eilig ihr Vieh zusammentrieben und im Pferch unterbrachten, während die Frauen, ihre Säuglinge und die gerade geschnittenen Rohrkolben an die Brust pressend, vor dem Gewitter ins Dorf zurückliefen, ging ihm Bach gemessenen Schrittes entgegen. Am Himmel, der von dicken Wolken so angeschwollen war, dass er fast bis zur Erde reichte, erhob sich ein Rauschen, ein Krachen und ohrenbetäubendes Dröhnen. Dann wurde es plötzlich taghell, und mit dumpfem Stöhnen stürzte eine wahre Wasserflut herab – ein Gewitterguss begann. Bach riss den Hemdkragen auf, entblößte die schmächtige Brust, warf den Kopf zurück und öffnete den Mund. Ströme von Wasser klatschten auf seinen Körper, umspülten ihn ganz und gar, die Füße spürten, wie die Erde bei jedem Donnerschlag erbebte. Blitze – gelbe, blaue und schwarz-violette zuckten immer schneller herab – über seinem Kopf oder tief in seinem Inneren. Das Brodeln in seinen Muskeln steigerte sich zu solcher Heftigkeit, dass ihm war, als müsste der nächste Schlag vom Himmel seinen Körper in tausend winzige Stückchen zerfetzen und in der Steppe verstreuen.

Es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam, am aufgeweichten Boden liegend, mit zerkratztem Gesicht und Kletten im Haar. Das Rückgrat tat ihm weh, als sei es gebrochen. Bach erhob sich und trottete nach Hause. Dabei stellte er fest, dass alle Knöpfe seines Hemdes samt dem Stoff herausgerissen waren. Über ihm erstrahlte ein farbenprächtiger Regenbogen, manchmal waren es auch zwei. Durch die Lücken in den über die Wolga abziehenden Wolken lugte das Himmelsblau. Aber seine Seele war zu ermattet, um sich an diesem friedlichen Bild der besänftigten Elemente zu freuen. Die Löcher in den Hosenbeinen mit den Händen bedeckend und fremden Blicken ausweichend, beeilte sich Bach, das Schulhaus zu erreichen. Die merkwürdige Leidenschaft erschien ihm jetzt abwegig, und er schämte sich ihrer. Sie war nicht nur anstößig, sondern auch gefährlich. Einmal tötete ein unweit von ihm einschlagender Blitz eine Kuh, die ihre Herde verloren hatte. Ein anderer fuhr in eine einzeln stehende Eiche, die niederbrannte wie eine Fackel. Und ruinös war das Ganze auch: Allein die Knöpfe, die er während eines Sommers verlor – welche Verschwendung! Aber sich zurückzuhalten, einem Gewitter aus dem Fenster oder von der Schwelle des Schulhauses her zuzuschauen brachte Bach nicht über sich. Die Einwohner von Gnadental, die wussten, welch wunderliche Dinge mit ihrem Schulmeister im Frühling und Sommer geschahen, nahmen es gelassen. »Was kann man von so einem schon erwarten, einem Gebildeten!«

2

Eines Tages kam es in Bachs Leben jedoch zu einer jähen Wende. An jenem Morgen erwachte er in bester Laune. Das lag nicht nur am tiefen Blau des Maihimmels, der zum Fenster hereinschaute, an der leichtsinnigen Munterkeit, mit der flauschige Wölkchen über diesen Himmel eilten, sondern einfach daran, dass der Frühling da war und die Ferien bevorstanden.

Das Schuljahr endete in Gnadental zu Ostern. Wenn der Gottesdienst in der festlich geschmückten Kirche zu Ende war, die Dorfbewohner sich an dem Glanz der Kerzen ergötzt, einander mit Süßigkeiten und hartgekochten Eiern beschenkt, ihre verstorbenen Verwandten auf dem Friedhof und die lebenden in den Nachbardörfern besucht und sich bei ihnen an glasklarem Magerkäse und bernsteingelber Butter satt gegessen hatten, spannten sie all ihr Zugvieh an und brachen in ganzen Familien in die Steppe zum Pflügen auf. Zu Hause blieben nur die zahnlosen Großmütter mit den unverständigen Kindern und Frauen, die eine so große Hauswirtschaft zu betreuen hatten, dass ihre ständige Anwesenheit erforderlich war. Mehrere Wochen lang sollten die Bauern nun von den letzten Sternen des Morgens bis zu den ersten des Abends mit dem Pflug den Steppenboden aufbrechen. Mittags versammelten sie sich am Lagerfeuer, schlürften Kartoffelsuppe und tranken den Steppentee, den sie aus dreimal ausgekochter Süßholzwurzel mit einer Prise Thymian und einer Handvoll frisch gezupftem Gras brühten.

Als Bach am Morgen zuvor die Schulglocke geläutet hatte, wusste er, dass sie nur wenige hörten. Die Pflüger waren mit ihren Wagen bereits in der Nacht beim fahlen Schein des abnehmenden Mondes aufgebrochen. Gnadental war leer. Auf Bachs exakte Pflichterfüllung hatte das jedoch keinen Einfluss. Im Gegenteil, er spürte jetzt noch größere Verantwortung dafür, dass die Zeit und alle Abläufe in der gleichen Ordnung weitergingen wie bisher.

Gerade wollte er seine Füße unter der Bettdecke hervorstrecken und am Boden nach den bequemen Schaffellpantoffeln tasten, da fiel ein Schatten über sein Kissen. Als er aufblickte, sah er, dass ein Mann mit einem wunderlichen Dreispitz auf dem Kopf das Gesicht gegen die Fensterscheibe drückte und zu ihm hereinschaute. Bach schrie vor Schreck auf, fuhr hoch und warf die Decke von sich. Doch der Unbekannte verschwand so rasch, wie er gekommen war. Sein Gesicht hatte Bach nicht erkennen können, denn das Licht fiel von hinten auf ihn. Er stürzte zum Fenster. An der Scheibe war noch eine Spur vom Atem des Fremden zu sehen. Er zerrte am Flügel und suchte ihn zu öffnen, doch der eiserne Riegel schien über den Winter mit dem Holz des Rahmens geradezu verwachsen zu sein und gab nicht nach. Bach warf sich die Felljacke über und lief zur Tür. Er umrundete das ganze Schulhaus, konnte aber weder am Zaun noch auf dem Hof jemanden entdecken. Die Füße wurden ihm kalt und fühlten sich unangenehm an. Als er auf sie hinabschaute, stellte er fest, dass er in Hausschuhen durch den Frühjahrsmatsch gelaufen war. Noch ganz benommen, schüttelte er den Kopf und eilte ins Haus zurück.

Der seltsame Besuch brachte Bach ziemlich durcheinander. Das hatte seinen Grund: Der Tag begann mit einer ganzen Reihe zweifelhafter Zeichen und Vorgänge.

Als Bach mit einem stumpfen Messer die Reste der Farbe des Vorjahres von den Fensterrahmen des Schulhauses kratzte, um diese frisch zu streichen, schaute er zufällig nach oben und bemerkte am Himmel eine Wolke, die eindeutig die Form des Gesichts eines Menschen hatte, genauer gesagt, einer Frau. Die blies die Backen auf, spitzte die Lippen, schloss dann müde die Augen und löste sich auf. Während er mit dem Pinsel über die hölzernen Fensterrahmen fuhr, hörte er hinter sich eine vorüberlaufende Ziege meckern. Das tat sie mit solcher Inbrunst, als spürte sie ein Unglück nahen. Bach fuhr herum. Da war es gar keine Ziege, sondern ein fettes, geflecktes Schwein, das nur ein Ohr hatte und mit seinem Rüssel eine so abscheuliche Grimasse schnitt, wie sie Bach im Leben noch nicht gesehen hatte.

Nein, er war nicht abergläubisch wie die meisten Bewohner von Gnadental. Schließlich konnte man nicht ernsthaft glauben, dass wegen eines unabsichtlich zerstörten Schwalbennestes statt Milch Blut aus dem Euter der Kuh lief oder dass eine Elster, die auf dem Dach ihr Gefieder putzte, voraussagte, ein Hausbewohner könnte zum Krüppel werden. Doch die Elster war das eine, ein Schwein etwas ganz anderes. Da Bach nun genug von schlimmen Vorzeichen hatte, schloss er das Eimerchen mit der Farbe und zog sich in seine Behausung zurück, ohne sich noch einmal umzuschauen und zufällige Geräusche zu beachten. Er wollte den Rest des Tages im Hause verbringen, seine Kleider ausbessern und dabei über Novalis nachdenken.

Er zog die Tür des Schulhauses fest hinter sich zu und schob den Riegel vor. Sogar in seiner Kammer schloss er sich ein. Dann wurde auch noch die Gardine vor das Fenster gezogen. Zufrieden wandte sich Bach nach dem Tisch um, da sah er vor sich ein längliches weißes Rechteck – einen versiegelten Brief.

Erschrocken blickte er um sich, ob der geheimnisvolle Überbringer nicht vielleicht noch im Raum war. Da er niemanden sah, ließ sich Bach auf dem Stuhl nieder und betrachtete das vor ihm liegende Kuvert mit der krakeligen Anschrift »Herrn Schuhlmeisder Bach« genauer. Das Wort »Schulmeister« wies zwei Rechtschreibfehler auf.

Noch nie im Leben hatte Bach einen Brief geschrieben oder bekommen. Sein erster Gedanke war, das Schreiben zu verbrennen. Ein Schriftstück, das auf so verdächtige Weise zu ihm gelangt war, konnte nichts Gutes enthalten. Vorsichtig nahm er das Kuvert in die Hand. Es war leicht, offenbar lag nur ein Blatt Papier darin. Dann betrachtete er die Schrift. Sie war eckig und gehörte gewiss keinem Menschen, der häufig von der Feder Gebrauch machte. Als Bach an dem Brief roch, spürte er einen schwachen Duft von Äpfeln. Er legte ihn auf den Tisch zurück und bedeckte ihn mit einem Buch. Dann drehte er den Stuhl zum Fenster hin, schlug ein Bein über das andere, verschränkte die Arme und kniff die Augen zusammen. Nachdem er eine Viertelstunde so dagesessen hatte, seufzte er ergeben auf, runzelte in schlimmer Vorahnung die Stirn und öffnete den Umschlag.

Sehr geehrter Schuhlmeisder Bach,

ich grüße Sie herzlich und lade Sie zum Abendesen ein, um mit ihnen eine Angelegenheit zu besprechen. Wenn Sie dazu bereit sind, dann komen sie heute Nachmittak um fünf Uhr zur Anlegestelle von Gnadental. Dort wird Sie ein Mann erwarten.

Mit freuntlichen Grüßen, aufrichtig

Ihr Udo Grimm

P. S.: Haben Sie keine Furcht vor meinem Abgesanten. Er ist äuserlich ungeraten, hat aber ein gutes Herz.

Bei der Unterschrift hatte der Verfasser so stark aufgedrückt, dass die Feder durch das Papier gefahren war.

Bach spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er legte die Oberbekleidung ab und behielt nur die Unterwäsche an. Vom Regal nahm er ein Tintenfass, tauchte die Feder ein und korrigierte schwungvoll die Fehler im Text, von denen er acht feststellte. Seine Hand arbeitete kraftvoll, die Stahlfeder kratzte und die Tinte spritzte. Dann zerknüllte er den befleckten Bogen und warf ihn in den Abfalleimer. Er kroch unter sein Federbett und entschied, bis zur Abendglocke nicht mehr aus dem Haus zu gehen.

Wäre das Dorf nicht so menschenleer gewesen, dann hätte er den Vorsteher Dietrich oder andere Männer nach diesem Grimm fragen oder gar einen von ihnen bitten können, ihn bei dem Besuch zu begleiten. Der Verfasser des Briefes wohnte offenbar in der Nähe in einem der Nachbardörfer den Fluss hinauf oder hinab. Weshalb hätte er ihn sonst aufgefordert, mit dem Boot zu ihm zu kommen? Allein zu fahren bedeutete, etwas Unbesonnenes oder gar Törichtes zu tun. Davon konnte keine Rede sein.

Ob nun bereits die ersten Vorboten eines Gewitters die Luft elektrisiert hatten oder es andere Gründe gab, jedenfalls verspürte Bach urplötzlich Anzeichen jener heftigen Erregung in sich aufsteigen, die ihn dazu zwang, durch den dichtesten Regen zu laufen, um den Mittelpunkt eines Unwetters zu finden. Ihm war, als durchströme eine unwiderstehliche Kraft seinen Körper, die ihn gegen seinen Willen mit sich zog. Das erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen. Dagegen Widerstand zu leisten hatte er weder die Kraft noch den Wunsch. Alles schien vor ihm und für ihn bereits entschieden, er hatte es nur noch auszuführen.

So stand Bach also zur angegebenen Zeit an der Anlegestelle von Gnadental, sorgfältig gekämmt und mit einem frischen Taschentuch in der Westentasche. Das Herz schlug ihm so stark, dass die speckigen Revers des Schulmeisterjacketts sichtbar zitterten. Seine Hand umkrampfte den Stock, den er bei seinen Rundgängen stets bei sich hatte. Er konnte auch zu seinem Schutz dienen.

Der Anlegeplatz von Gnadental war nichts als ein hölzerner Steg, der etwa fünfzehn Meter weit in die Wolga ragte. Daran wurden zu beiden Seiten Flöße, Kähne und flache Boote festgemacht. Am Ende befand sich eine rechteckige, aus Brettern gezimmerte Plattform, aus der weiß gestrichene Pfähle ragten, an denen Taue befestigt werden konnten. Soweit Bachs Erinnerung reichte, hatte noch nie ein größeres Schiff in Gnadental angelegt. An den Pfählen wurden höchstens Schafe festgebunden, bevor man sie in die Boote lud und nach Pokrowsk zum Markt brachte.

Bach ging auf dem knarrenden Steg hin und her, um das Zittern seiner Knie zu überwinden. Dann lehnte er sich an einen der Pfähle und schaute über die riesige leere Wasserfläche der Wolga. Als er auf seine Uhr sah, war es Punkt fünf. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und wollte gerade gehen, als sich direkt unter seinen Füßen, genauer gesagt unter den gesprungenen Brettern des Stegs, mit leisem Plätschern ein kleines Boot herausschob. Ein Mann, der darin gesessen hatte, erhob sich, griff nach oben, zog das Boot geschickt längsseits und schaute Bach erwartungsvoll an.

Das war er, sein morgendlicher Gast – ein hochgewachsener Kirgise in einer Pelzweste ohne Ärmel über dem nackten Oberkörper und einem Dreispitz aus Filz auf dem Kopf, unter dem leicht schräg gestellte schmale Augen ihn misstrauisch musterten. Seine großporige gelbe Haut umspannte das Gesicht so fest, dass man alle Einzelheiten des Schädels oder des Kinns erkennen konnte, aus dem schüttere und harte schwarze Stoppeln sprossen. Der einzige fleischige Teil war eine große Nase, die plattgedrückt und schief im Gesicht stand. Offenbar hatte man sie ihm bei einer Schlägerei gebrochen. Unvermittelt musste Bach daran denken, wie die Mutter ihm als Kind gedroht hatte »Der Kirgise kommt und nimmt dich mit!«

»M-m-m!«, sprach oder brummte der Kirgise, was wohl eine Aufforderung zum Einsteigen sein sollte.

Glauben Sie etwa, ich bin verrückt geworden?, wollte Bach schon rufen. Sie denken doch nicht, dass ich bei Ihnen einsteige?!

Doch sein Körper, der an diesem Tag die Stimme der Vernunft kaum wahrzunehmen schien, stand bereits am Rand des Stegs, die Beine stießen sich ungeschickt ab, und er sprang in das Boot, das davon heftig ins Schaukeln geriet. Dabei fiel ihm der Stock aus der Hand, platschte ins Wasser und versank.

Der Kirgise löste seinen Griff, das Boot drehte sich und wurde sofort von der Strömung erfasst. Der Mann ließ sich auf der Bank gegenüber Bach nieder und ruderte vom Ufer fort. Seine sehnigen Arme mit den kräftigen Muskeln hoben und senkten sich, sein plattes Gesicht näherte sich Bach und zog sich wieder zurück. Dabei ließ der Kirgise sein Gegenüber nicht aus den Augen.

Bach drehte sich zur Seite, um dem durchdringenden Blick zu entgehen, aber in der Nussschale war das kaum möglich. Um sich zu beruhigen, fasste er die Uferlandschaft ins Auge. Erst jetzt bemerkte er, dass der Ruderer das Boot nicht am Ufer entlang, sondern quer über die Wolga steuerte.

Von Ansiedlungen am rechten Wolgaufer wie Balzer, Kutter, Messer, Schilling oder Schwab hatte Bach gehört. Sie alle lagen weiter oben oder unten am Flusslauf, wo das Steilufer den Zugang zum Wasser nicht verwehrte. Aber am hohen Ufer der Wolga war Bach selbst noch nie gewesen. Denn gegenüber von Gnadental war es so steil und unzugänglich, dass selbst im Winter, wenn der Fluss fest zugefroren war, niemand dorthin ging. Witwe Koch hatte einmal erzählt (das wusste sie genau von der verstorbenen Großmutter Fischer, die von der Frau des Schlächters Hauff und jene von der Schwägerin des Pastors Händel), dass der Grund und Boden dort früher oder bis heute einem Kloster gehörte und gewöhnlichen Sterblichen der Zutritt verwehrt war.

»Erlauben Sie«, murmelte Bach hilflos und drehte an den Knöpfen seiner Jacke. »Wohin fahren Sie? Wohin fahren wir?«

Der Kirgise schwieg, ruderte und starrte den Schulmeister weiter unverwandt an. Die Ruderblätter zerteilten die schweren Wellen, die in Ufernähe braungrün schimmerten und sich über tieferem Wasser dunkelblau färbten. Das Boot, von kräftigen Stößen vorwärtsgetrieben, wurde keinen Augenblick langsamer und wich keine Elle vom eingeschlagenen Kurs ab. Das mächtige gegenüberliegende Ufer, eine gelblichweiße Steilwand, die oben dicht mit dunkelgrünem Wald bewachsen war und von Weitem an einen im Wasser ruhenden riesigen Drachen mit gezacktem Rücken erinnerte, kam mit jedem Stoß unerbittlich näher. Einmal schien es Bach gar, als werde das Boot nicht von den starken Armen des Kirgisen bewegt, sondern durch eine Kraft angezogen, die von der gigantischen steinernen Masse ausging. Von oben bis unten, von der Kante bis zum Fuß durchzogen das Steilufer tiefe gewundene Risse. Dort rieselte feiner Sand nach unten und erreichte das Wasser, wodurch die steinerne Fläche wie zum Leben erwacht schien: Die Berge atmeten. Den Eindruck verstärkte das Spiel der Sonnenstrahlen, die von Zeit zu Zeit hinter Wolken verschwanden. Dann füllten sich die Risse mit violetten Schatten und wirkten dadurch tiefer, während sie im Widerschein des Sonnenlichts kaum sichtbar waren.

Schließlich gab es einen kräftigen Ruck, das Boot berührte den Grund, sein Bug stieß zwischen von grünem Schleim bedeckte Steine. Ein Ufer war fast nicht vorhanden. Die Steilwand stieg jäh zum Himmel auf und endete in einer scharfen Kante. Der Kirgise sprang aus dem Boot und forderte seinen Fahrgast mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. Bachs von der Aufregung erschöpftes Herz erbebte, aber müde und unwillig, als füge er sich in dieses unglaubliche Geschehen, blickte er sich befremdet um und kletterte an Land, wobei er auf dem Gemisch von Schlamm und Algen ausglitt. Der Kirgise zog das Boot aufs Trockene – Bach staunte, welche Kraft in diesem ausgemergelten Körper steckte – und brachte es hinter einem großen braunen Steinblock in Sicherheit.

Ganz in der Nähe, am Grund eines der Risse, die das Steilufer von oben bis unten durchzogen, wurde ein kaum erkennbarer Pfad sichtbar. Den kletterte der Kirgise jetzt hinauf. Das geschah federnd leicht, als laufe er den Anstieg nicht hinauf, sondern hinab. Der erwies sich als gar nicht so steil, wie es von fern den Anschein hatte. Bach, der sich wegen seiner Teilnahme an diesem zweifelhaften Abenteuer bereits Vorwürfe machte, kraxelte, mit den Händen nach den wenigen Sträuchern greifend, dem Kirgisen nach. Er kam quälend langsam voran, fiel immer wieder auf die Knie und schluckte den Sand, den die flinken Füße seines Vordermanns aufwirbelten. Als er endlich oben ankam, war er klatschnass, seine Wangen glühten und die Knie zitterten. Er zog Jacke und Weste aus und legte sie über den Arm.

Wo der Wald begann, stieg das Gelände nicht mehr so steil an und ging wahrscheinlich in eine Ebene oder in flache Hügel über. Aber das konnte man nur vermuten, so dicht war der Wald. Und Bach musste sich beeilen, um die Gestalt des Kirgisen nicht aus den Augen zu verlieren. Allein hätte er zwischen den dicht stehenden Ahornbäumen, Eichen, Espen und dem Unterholz aus Buchsbaum- und Heckenrosengestrüpp wohl kaum einen Weg gefunden. Doch schon nach wenigen Minuten öffnete sich der Wald, und auf einer geräumigen Lichtung erblickte Bach ein großes einzelnes Gehöft.

Das Blockhaus schwebte wie ein Schiff über der Lichtung. Es hatte ein langgestrecktes, gewaltiges Fundament aus großen Flusssteinen, und seine Wände bestanden aus so dicken Stämmen, wie Bach sie noch nie gesehen hatte. Die waren mit den Jahren nachgedunkelt und verwittert. Die mit Teer verschmierten Astlöcher, von denen Risse ausgingen, wirkten darauf wie Leberflecke. Die Fensterläden aus glatt gehobelten Brettern standen nur an wenigen Fenstern offen, die übrigen waren fest verschlossen. Das hohe Dach war mit Stroh gedeckt, aus dem zwei dicke Schornsteine ragten.

Hinter dem Haus waren weitere Wirtschaftsbauten zu erkennen – eine Scheune, ein Schuppen, ein geräumiger Stall, ein flaches Eishaus und ein Brunnenhäuschen. Auf dem Hof drängten sich Kistenstapel, Wagen und Wägelchen, Fässer, Brennholz und zersägte Stämme. Dahinter begann offenbar ein Garten mit niedrigen, locker gepflanzten und akkurat gekalkten Obstbäumen. Einen Zaun besaß das Gehöft nicht. Seine Grenze war der Wald, der es umstand. Menschen waren nicht zu sehen. Auch der schweigsame Kirgise war plötzlich verschwunden, als Bach sich einen Moment umschaute.

Dabei wirkte alles so, als sei das Leben an diesem Ort gerade eben zum Stillstand gekommen. Im Hackklotz steckte eine Axt mit langem Stiel, daneben häufte sich gespaltenes Holz. Auf der Vortreppe dampfte es aus einer Schüssel mit frisch zubereitetem Teig, neben der jemandes ausgetretene Schuhe standen. Aus einer umgekippten Gießkanne lief Wasser, im Herd der kleinen Sommerküche glühten Kohlen. Ansonsten – kein Laut und keine Bewegung. Nur am Waldrand flatterte Wäsche an einer Leine, von der ab und zu ein leises Klatschen herüberwehte.

»Guten Tag«, brachte Bach beim Nähertreten nur mit Mühe über die vor Aufregung trockenen Lippen. Er sagte es in Richtung der Tür, die einen Spaltbreit offen stand. »Ich möchte Herrn Udo Grimm sprechen.«

Er wartete ein wenig ab und stieg dann die Vortreppe hinauf. Dort kratzte er lange an der Schwelle herum, um seine Schuhe vom Schmutz zu säubern. Schließlich griff er nach der Türklinke und trat in die schweigende Finsternis ein.