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MUSIK-KONZEPTE Neue Folge

Die Reihe über Komponisten

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Sonderband 2019

Salvatore Sciarrino

Herausgegeben von Ulrich Tadday

Dezember 2019

Wissenschaftlicher Beirat:

Ludger Engels (Berlin, Regisseur)

Detlev Glanert (Berlin, Komponist)

Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)

Birgit Lodes (Universität Wien)

Laurenz Lütteken (Universität Zürich)

Georg Mohr (Universität Bremen)

Wolfgang Rathert (Universität München)

Print ISBN 978-3-86916-823-4
E-ISBN 978-3-86916-825-8

Der Abdruck der Notenbeispiele bzw. Abbildungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Casa Ricordi S.r.l. – Via B. Crespi, 19 – 20159 Milan, Italy und Hal Leonard Europe S.r.l. – Italy.

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: Foto Luca Carrà, © RaiTrade (https://www.salvatoresciarrino.eu/php/ita/photos.html)

Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2019

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Vorwort

Camilla Bork
Hörbare Körper
Rahmung und Transgression in Salvatore Sciarrinos Lohengrin

Jörn Peter Hiekel
Brodelnder Reduktionismus
Salvatore Sciarrinos Musiktheaterstücke Luci mie traditrici und Infinito nero

Marion Saxer
Der verbotene Blick
Anmerkungen zur Scena III in Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici

Sebastian Claren
Das Sujet Macbeth
Textfassung, szenische Dramaturgie und musikalische Realisation bei Salvatore Sciarrino

Regine Elzenheimer
»das vom Leben abgetrennte Leben«
Perspektiven sozialer und politischer Gegenwart in Salvatore Sciarrinos Superflumina

Stefan Drees
Orientierung an der »Logik des Körpers«
Zu einem zentralen Aspekt von Salvatore Sciarrinos Sei Capricci per violino (1975/76)

Julia Kursell
Hören in der Nacht und unter Wasser
Klavierstücke von Salvatore Sciarrino

Lukas Haselböck
Hörbare Stille? Sichtbarer Klang?
Zur »Ökologie der Wahrnehmung« in Salvatore Sciarrinos Streichtrio Codex Purpureus (1983)

Tobias Schick
Klassizität und Aura in der Musik Salvatore Sciarrinos
Allegoria della notte und Recitativo oscuro

Christian Utz
Ausweglose Enden
Die Schlussbildung in Salvatore Sciarrinos Werken und die Semantisierung musikalischer Strukturen

Abstracts

Bibliografische Hinweise

Zeittafel

Autorinnen und Autoren

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[2|3] Vorwort

Wer Salvatores Sciarrinos Website aufruft, erblickt ein Tryptichon: zur Linken den vor einer Partitur sitzenden Komponisten, in der Mitte und zur Rechten zwei farbige Grafiken wie Skizzen oder umgekehrt, die durch ihre Struktur, Linien und Farben einen offensichtlichen Werkzusammenhang begründen. Sciarrino, der im Laufe seines Lebens auch ein besonderes Verhältnis zur bildenden Kunst begründet hat, lässt auf den untergeordneten Seiten seiner Homepage aber keinen Zweifel daran, dass er in erster Linie als Komponist und als Individualist und Non-Konformist angesehen werden will. Seine Biografie lässt er lapidar mit dem Satz beginnen: »Salvatore Sciarrino (Palermo, 1947) si vanta di essere nato libero e non in una scuola di musica.« Das ist witzig und Programm zugleich.

Salvatore Sciarrino ist ein berühmter und vielfach geehrter Komponist der Gegenwart, dessen Entwicklung sich jenseits serieller und postserieller Denkmuster auch in Auseinandersetzung mit historischen Vorbildern vollzogen hat, und dies auf unterschiedlichen Gebieten der Komposition, in unterschiedlichen Gattungen und Genres. Sciarrino knüpft an Traditionen, ohne Traditionalist zu sein. Seine Musik bewirkt eine andere Art des Hörens, eine geänderte Wahrnehmung und ein neues Bewusstsein für die Wirklichkeit wie für sich selbst. Ihren Mittelpunkt bildet im traditionellen Sinn nicht mehr der Autor oder die Partitur, sondern der Hörer. Wie der Komponist die Freiheit seines unkonventionellen Denkens musikalisch ins Werk setzt, ist Thema des vorliegenden Sonderbandes 2019.

Salvatore Sciarrino bedient mit seinen Kompositionen ein breites Spektrum musikalischer Gattungen: Kompositionen für das Musiktheater, Chormusik und Musik für Vokalensembles, Kammermusik, Kompositionen für ein Soloinstrument, Bühnen- und Radiomusik, Elektronische Musik und andere Einzelwerke. Der vorliegende Sonderband beschäftigt sich allerdings nicht mit allen Gattungen, sondern bildet zwei Schwerpunkte, indem er Sciarrinos Kompositionen für das Musiktheater auf der einen und seine Instrumentalwerke auf der anderen Seite thematisiert.

In der ersten Abteilung, die Sciarrinos Kompositionen für das Musiktheater gewidmet ist, folgen die Aufsätze der chronologischen Reihenfolge der Entstehung bzw. der Aufführung der Werke. Camilla Bork beginnt mit einer Betrachtung des Lohengrin nach Jules Laforgue und zeigt, wie Sciarrino in diesem Werk die historische Tradition der »Norm und Transgression« zitiert und dekonstruiert. Die subtile wie suggestive Auseinandersetzung Sciarrinos mit der Tradition reduktionistischen Komponierens, wie sie die Musik des 20. und 21. Jahrhundert geprägt hat, bedenkt Jörn Peter Hiekel am Beispiel von Luci mie traditrici und Infinito nero. In gewisser Weise geht es auch im folgenden Aufsatz von Marion Saxer wieder um Tradition, diesmal aber um [3|4]die Liebe als Passion, die die Geschichte der Oper wie einen roten Faden durchzieht und auch Sciarrinos Opernschaffen nicht unberührt gelassen hat. Während Sebastian Claren mit der Oper Macbeth im Vergleich zu Shakespeare und Verdi einen weiteren Aspekt individueller Aneignung und Überformung von Traditionen im Werk Sciarrinos entdeckt, wendet sich Regine Elzenheimer mit Superflumina einem jüngeren Werk Sciarrinos zu, das innerhalb seiner Kompositionen für das Musiktheater insofern eine Sonderstellung einnimmt, als es Bezug auf die soziale und politische Gegenwart nimmt.

Die zweite Hälfte des Bandes wird von Stefan Drees mit einem Aufsatz über Sciarrinos Sei Capricci per violino eröffnet, ein Werk, das es aufgrund seiner Virtuosität vor der Folie von Niccolò Paganinis 24 Capricci per violino op. 1 zu verstehen gilt. Der sich anschließende Beitrag Julia Kursells behandelt die Klaviermusik Sciarrinos unter dem Gesichtspunkt stark veränderter Wahrnehmungs- und Hörbedingungen, die auch Lukas Haselböck am Beispiel von Sciarrinos Codex Purpureus für Violine, Viola und Violoncello eingehend bedenkt. Wie sich strukturelle Klarheit und geheimnisvolle Klanglichkeit in den Kompositionen Sciarrinos zu einem hochgradig idiomatischen Personalstil verbinden, beschäftigt Tobias Schick, während Christian Utz last but not least die formale Schlussbildung in den Werken Sciarrinos untersucht und auf ihre semantische Bedeutung hin befragt.

Es wurde in letzter Zeit häufiger festgestellt, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen der Bedeutung, die der Komponist Sciarrino besitzt, und dem Schrifttum, dass sich mit seinen Werken und Schriften auseinandersetzt. Es ist das Interesse des vorliegenden Sonderbandes, dieses Missverhältnis ein wenig auszugleichen. Der Herausgeber dankt allen am Band beteiligten Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung sehr.

Ulrich Tadday

[4|5] Camilla Bork

Hörbare Körper

Rahmung und Transgression in Salvatore Sciarrinos Lohengrin

Das Musiktheater der 1960er bis 1980er Jahre lässt sich in wichtigen Zügen als ein Theater der Stimme beschreiben, vor allem der Frauenstimme. Neben Erkundungen aller möglichen Zwischenbereiche zwischen Sprechen und Singen wurden Alltagstonfälle und Geräusche in die Vokalkunst integriert, wie Schluchzen, Gähnen, Schlucken u. Ä., die nun zum Grundvokabular der sogenannten »New Vocality« gehörten. In enger Zusammenarbeit mit Performerinnen wie Cathy Berberian und Martine Viard erforschten Komponisten wie John Cage, Luciano Berio und Georges Aperghis den affektiven Gehalt von Stimme jenseits wortbezogener Semantik. Dabei geht es in vielen dieser Werke bzw. Performances um das Aushandeln von Geschlechterrollen. Und zwar meist unter Bezugnahme auf historische Modelle: sei es als burleskes Spiel mit typischen Gesten der Belcanto-Oper des 19. Jahrhunderts in Berios Recital 1 for Cathy (1972) oder als Erkundungen verschiedener Formen von Bühnenfeminité in Aperghis’ Récitations (1978). Letztere reichen von den Explosionen mechanischer Wiederholungen in Anspielung auf die Rossini’sche Buffo-Oper bis hin zu typischen Tonfällen Pariser Diseusen des Kabaretts.1

Salvatore Sciarrinos Musiktheater der 1980er Jahre scheint auf den ersten Blick denkbar fern von diesem Repertoire. Exzessive Vokalität weicht bei Sciarrino pulverisierten Gesten am Rande des Hörbaren. Die Stimme ist nicht mehr Zentrum, sondern eingebettet in geräuschhafte Instrumentalklänge, mit denen sie manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit verschmilzt. Wie bei Aperghis und Berio aber lässt sich auch bei Sciarrino ein Spiel mit Geschlechterrollen und Operntopoi beobachten, das im Folgenden anhand seines 1983 uraufgeführten Einakters für Frauenstimme Lohengrin in einigen Punkten analysiert werden soll.2 Historischer Bezugspunkt ist dabei weniger Wagners [5|6]Lohengrin, wie man vom Titel her vermuten würde. Abgesehen von einigen harmonischen Anspielungen sind die musikalischen und musikdramaturgischen Anbindungen eher lose. Wichtiger scheint stattdessen das aus der traditionellen Wahnsinnszene der Oper bekannte dramaturgische Muster von Rahmung und Transgression, das hier auf vielfältige Weise dekonstruiert wird.3

Weiblicher Wahnsinn gehört seit jeher zu den großen Themen der Operngeschichte: Donizettis Lucia di Lammermoor, Elvira aus Bellinis I Puritani und Strauss’ Salome – fast immer ist es eine der weiblichen Hauptfiguren, deren Vernunft als Folge sexueller Fantasien oder Exzesse auf dem Spiel steht. Das sollte sich auch im 20. Jahrhundert nicht ändern. Unter dem Einfluss von Jean-Martin Charcots Studien zur Hysterie und der Freud’schen Psychoanalyse entwickelte sich gar eine eigene Gattung des Musiktheaters, die die Traumatisierungen weiblicher Psyche in den Mittelpunkt rückt: das Monodram. Bekannteste Beispiele sind neben Arnold Schönbergs Erwartung (1909) vor allem Francis Poulencs La Voix humaine (1959), in der die Protagonistin am Rande des Selbstmords ihren Geliebten am Telefon zu überzeugen versucht, zu ihr zurückzukehren. Im zeitgenössischen Musiktheater spielt die Auseinandersetzung mit Wahnsinn vor allem im Werk Peter Maxwell Davies eine herausragende Rolle und macht zugleich deutlich, dass die Thematik keineswegs nur Frauen vorbehalten ist.4 In seinen Eight Songs for a Mad King (1969) erkundet er ausgehend von den vokaltechnischen Extremleistungen Roy Harts die Zusammenhänge von Wahnsinn und Gewalt. Seine beiden später entstandenen Monodramen für Frauenstimme Miss Donnithorne’s Maggot (1974) und The Medium (1981) fokussieren hingegen Wahn als Folge enttäuschter Liebeshoffnung bzw. als Erinnerung vergangener Traumatisierung.

Charakteristisch für die Wahnsinnsszenen des 19. Jahrhunderts und zum Teil auch noch für die Monodramen der Avantgarde ist das von der feministi[6|7]schen Kritik immer wieder herausgearbeitete und kritisierte Verhältnis von Rahmung und Transgression: In Lucia di Lammermoor etwa befinden sich auf der Bühne Zuschauer, die Lucias Wahnsinnsanfall kommentieren. Sie und ihre Musik bilden gewissermaßen den »Normalzustand«, von dem sich Lucias Wahnsinn als Überschreitung von Grenzen der Vernunft und der Moral, aber auch des musikalisch Gewöhnlichen abhebt.

Das Verhältnis von Rahmung und Transgression ist in vielen Fällen allerdings alles andere als stabil. Gerade neuere Forschungen, u. a. von Carolyn Abbate, haben gezeigt, wie in der Wahnsinnsszene der herkömmliche, tradierte Dualismus von männlich sprechendem Subjekt und weiblich betrachtetem Objekt immer wieder infrage gestellt wird. Wahnsinn auf der Opernbühne meint im 19. Jahrhundert eben auch eine Explosion weiblicher Kreativität in den Verzierungskünsten der Primadonnen, meint atemberaubende Koloraturen und Virtuosität und in den Monodramen der Avantgarde eine Entfaltung stimmlicher Fähigkeiten und körperlicher Präsenz im Moment der Aufführung, die den Zuhörer betört und in den Bann schlägt und die dramaturgische Rahmung zu unterlaufen droht.5

Auf den ersten Blick reiht sich auch Sciarrinos Lohengrin in die oben skizzierte Tradition des Monodram ein: Wir haben es mit einer Protagonistin (Elsa) zu tun, die zutiefst traumatisiert psychische Extremzustände durchlebt und schließlich im Epilog in der Klinik erscheint. Diese psychischen Extremzustände, so könnte man meinen, bilden für den Komponisten die dramaturgische Motivation, ein hochvirtuoses Vokabular an Geräuschen und Stimmlauten als kompositorisches Material zu entwickeln, das am Schluss, in der Klinik, der Normalität der Musiktheaterbühne, dem Gesang weicht. Aber schon dieser Schluss zeigt, dass diese Deutung nur zum Teil aufgeht. Vor dem Hintergrund zeitgenössischen Musiktheaters wären es wohl eher das Flüstern, Röcheln und Spucken, die zum erwarteten Vokalidiom gehören als das ungebrochene Singen einer volksliedhaften Melodie.

Sciarrinos musiktheatrale Reflexion über weiblichen Wahnsinn vollzieht sich zu einem Zeitpunkt, als »Rahmung« und »Transgression« als Denkmuster über Wahnsinn nicht nur als operndramaturgisches Modell, sondern auch als kulturelle bzw. institutionelle Praktik im Italien der 1970er und frühen 1980er Jahre infrage gestellt wurden. 1978 verabschiedete die italienische Regierung das sogenannte »Basaglia-Gesetz«, das zu einer Schließung aller psychiatrischen Kliniken führte. Es war der Höhepunkt einer jahrzehntelangen Anti-Psychiatrie-Bewegung, die – ganz wesentlich durch den Psychiater Franco Basaglia geprägt – sich gegen Ausschluss psychisch Kranker aus der Gesell[7|8]schaft wandte und darauf drang, die sozialen Ursachen psychischer Erkrankungen ernst zu nehmen.6

Wie verhält sich nun Sciarrinos Lohengrin zum Monodram und den damit verbundenen Weiblichkeitskonzeptionen, und welche Rolle spielen dabei die Setzungen von Rahmung und Transgression? Auf der Ebene des Textes gibt es ganz klar eine Referenz auf diese historische Tradition des Monodramas: So wie bei Lucia die Zuschauer auf der Bühne einen Rahmen bilden und Lucias Wahnsinn als Transgression markieren, so scheint auch die Klinik bei Sciarrino einen institutionellen Rahmen zu konstituieren, der alles vorangehende Geschehen als Wahn entlarvt, es pathologisiert. Allerdings – so die im Folgenden entwickelte These – wirkt das Verhältnis von Rahmung und Transgression hier nur noch als historische Referenz im Text und wird zugleich durch die Musik dekonstruiert. Musikalisch wird der Hörer in Perspektiven geführt, die sich jeder Festlegung von Rahmen und Exzess, von Normativität und Wahn entziehen. Erreicht wird dies u. a. durch eine mehrdeutige Strukturierung musikalischer Zeit sowie durch die Unmöglichkeit, Elsa als klanglichen Charakter klar zu umreißen und von einem wie auch immer gearteten »Außen« abzugrenzen. Zunächst evozierte semantische Bezüge und (Gender-)Identitäten lösen sich im Zusammenspiel von Stimme und Ensemble im Verlauf des Stückes zunehmend auf. Dieser Prozess soll im Folgenden unter den Stichworten »Lektüre«, »Entgrenzung« und »Vielstimmigkeit« an einigen Beispielen verfolgt werden.

I Lektüre

Sciarrinos Lohengrin entstand 1982/83 und wurde am 15. Januar 1983 in der Piccola Scala in Mailand in einer Inszenierung von Pier’Alli uraufgeführt. Gabriella Bartolomei, deren stimmliche Möglichkeiten wesentliche Anregungen zur Konzeption des Vokalparts lieferten, verkörperte die Rolle der Elsa.7 1984 überarbeitete Sciarrino die Partitur und publizierte schließlich die neue, von der RAI in Auftrag gegebene Fassung im selben Jahr bei Ricordi. Er bezieht sich in Lohengrin nicht direkt auf Wagner, sondern auf einen Prosa-Text des französischen Symbolisten Jules Laforgue. Laforgue publizierte diese Wagner-Parodie mit dem Titel »Lohengrin, fils de Parsifal« 1887 in seiner Sammlung Moralités legendaires.8 Er verspottet darin seinen eigenen Wagner- und [8|9]Künstlerkult sowie den seiner Zeitgenossen, indem er das Geschehen der Oper auf einige Kernsituationen reduziert: die Anklage Elsas, die Ankunft Lohengrins, die darauf folgende Hochzeit und die Hochzeitsnacht. Lohengrin ist bei Laforgue weder ein strahlender Held noch ein furchtloser Streiter, sondern ganz im Sinne des Dekadent ein zaghafter, sich dem Körperlichen und Sexuellen verweigernder Intellektueller. In Anbetracht der Schönheit Elsas und ihrer sehr deutlich geäußerten sexuellen Wünsche vermag er sich nur in die Ausrede zu flüchten, schmale Hüften seien nicht nach seinem Geschmack. Als sie weiter insistiert, legt er sich kurzerhand auf sein geliebtes Kissen, das sich prompt in einen Schwan verwandelt und mit ihm ins Reich der Ideen entkommt. Ausgehend von der Brautgemach-Szene bei Wagner, die vor allem in der französischen Wagner-Kritik intensiv diskutiert wurde, rückt Laforgue die sexuelle Verweigerung Lohengrins und seine Angst vor Elsa ins Zentrum. Die körperliche Unnahbarkeit von Wagners Gralsritter konfrontiert Laforgue mit einer sexuell hoch aufgeladenen Sprache.9

Hinter dieser bissigen Parodie verbirgt sich allerdings ein komplexes Sprach- und Textspiel, das die Referenzialität von Sprache immer wieder hinterfragt. Laforgue collagiert eine Vielzahl von Texten, neben Wagner, die Bibel, die katholische Liturgie, aber auch Motivkomplexe aus Texten seiner Zeitgenossen Rimbaud, Verlaine und Mallarmé. Wichtigster Intertext ist dabei Rimbauds Vierge folle, das erste Gedicht aus der Sammlung Délire, das zentrale Motive für die Liebesnacht zwischen Elsa und Lohengrin liefert, etwa das Motiv des kindlichen, schlafenden Liebhabers oder seine »Himmelfahrt« am Schluss.10 Alles, was bei Laforgue erzählt wird, löst sich unter den Augen des Lesers in eine Vielzahl von Referenzen und Allusionen auf.

Diese gleitenden Bedeutungen beziehen sich auch auf die Geschlechtsidentität der Protagonisten. Lohengrin verliert im Verlaufe des Textes mehr und mehr seine männliche Identität und verwandelt sich schließlich in einen entsexualisierten Epheben, dem in Anbetracht Elsas nur noch die Flucht bleibt. Seine Liebe zu Elsa entzündete sich ursprünglich an ihrem schwanengleichen Hals.11 In einer der wenigen zärtlichen Gesten der Liebesnacht streichelt er ihren Hals und verweilt bei ihrem Adamsapfel.12 Dieses Wortspiel ruft den Moment des Sündenfalls auf und lässt zwei konkurrierende Lesarten zu: Elsa ließe sich einerseits als verführerische Eva verstehen und weckt damit bei Lo[9|10]hengrin »schlechte Erinnerungen«. Zugleich ist es aber auch möglich, Elsa mit Adam zu identifizieren und damit das Wortspiel im Kontext ihrer mehrmals betonten Androgynität (mager, schmale Hüften) zu verstehen, gewissermaßen als Tausch der Geschlechterrollen. Diese Doppelbesetzung der Motivkomplexe lässt sich auch im Verhältnis von Elsa und Schwan nachzeichnen. Während der Schwan einerseits Lohengrin vor den sexuellen Wünschen und Avancen Elsas rettet und ihn zurückbringt zu seinem Vater und dem Heiligen Gral, ruft Elsas Schwanengleichheit noch einen anderen mythischen Kontext auf, nämlich den Schwan als Verkörperung Zeus’, der sich bekanntlich in der Gestalt eines Schwans seiner Geliebten Leda nähert. Der Schwan wäre damit gleichermaßen Zeichen der Reinheit wie auch männlichen Begehrens.

Diese Destabilisierung von Bedeutungen vollzieht sich bei Laforgue und Sciarrino in einem nächtlichen Wahrnehmungsraum. Dabei treten Sehen und Hören, visuelle und akkustische Reize in vielfältige Spannungen. Während im ersten Textteil mit der drohenden Blendung Elsas und ihrem pfauenaugengeschmückten Kleid der Fokus auf dem Sehen liegt, entwirft Laforgue die Nacht vor allem durch akkustische Reize: das Flüstern der Pappel, die zwitschernden Nester, das Erschauern der Blätter, das Plick-Plock des Springbrunnens, das Glucksen des Nachtvogels und Kraken der Kröten. Viele dieser Lauteindrücke übernimmt Sciarrino entweder explizit in seinen Text oder als Ausgangspunkt für die Komposition, etwa in den Kr-Lauten Elsas und den vielfachen Manifestationen von Atem bzw. Wind. Dabei handelt es sich nicht um möglichst »naturalistische« Nachahmungen der Natur, sondern um Höreindrücke, gefiltert durch die Perspektive des hörenden Bühnenkörpers. Sie eröffnen darüber hinaus einen Assoziationsraum, indem der Hörer sich an Alltagserfahrungen erinnert und diese zu dem Gehörten in Bezug setzt.

Sciarrino hatte sich bereits ab Mitte der 1970er Jahre intensiv mit ästhetischen Imaginationen des Nächtlichen beschäftigt, zunächst in seinen Tre notturni brillanti (1975) und Ai limiti della notte (1982) für Viola sowie dann vor allem in seinem Orchesterstück Autoritratto nella notte (1982), das in engem intertextuellen Zusammenhang mit Lohengrin steht. 1985 entstand dann ein weiteres Nacht-bezogenes Orchesterstück Allegoria della notte für Violine und Orchester (1985) sowie Ende der 1990er Jahre bis 2001 schließlich sechs Notturni für Klavier.13 Dabei zeichnet sich ein deutlicher Wandel ab: Zu Beginn der 1980er Jahre ebenso wie in den Werken der 1990er Jahre interessiert Sciarrino die Nacht vor allem als ein alternativer Wahrnehmungsraum, dem eine tiefe Ambivalenz eingeschrieben ist, wie Elisabeth Bronfen in ihrer Studie zur Nacht vielschichtig herausarbeitet. Die Nacht ermöglicht in dieser Perspektive

[10|11]»eine Erfahrung einer Ortlosigkeit, die beruhigend, verführerisch oder furchterregend sein kann, in jedem Fall aber eine Verfremdung mit sich bringt. Die Erscheinungen, die man dort antrifft, könnten Täuschungen sein: Chimären der eigenen Phantasie oder listige Betrüger, die sich den Schutz der Finsternis zu Nutzen machen.«14

Sciarrino entwirft seinen Hörraum der Nacht mithilfe eines ganzen Kosmos von Pianissimo-Figuren in hohem Register mit einem großen Geräuschanteil wie etwa sehr schnellen Streichertremoli nahe am Steg, kurzen, abgerissenen Flageolettfiguren oder Atemklängen, die sich häufig über der Klangfläche eines Streicherflageoletts entfalten. Demgegenüber dominieren in seinen späteren Notturni crudeli obsessiv gehämmerte Klavierakkorde im hohen Diskant, die an das Ticken einer Uhr erinnernd kurz abbrechen, um sofort nur umso nervtötender wiederzukehren. Sciarrino schließt damit an ästhetische Konfigurationen des Nächtlichen an, die die Nacht als qualvolle Gewalterfahrung thematisieren.

Doch Sciarrino rückt nicht nur die nächtliche Szenerie Laforgues in den Vordergrund, vielmehr strukturiert er den Text grundsätzlich um, indem er ihn auf einige Kernsätze reduziert und die Szenen neu anordnet.

Laforgue

Sciarrino

Prolog: Durch ein offenes Fenster

Anklage Elsas und Ankunft Lohengrins

Szene I: Im Garten der Hochzeitsvilla

Hochzeit

Szene II: Hochzeitsnacht und Lohengrins Flucht

Hochzeitsnacht

Szene III: Anklage Elsas

Flucht Lohengrins

Szene IV: Ankunft Lohengrins

Epilog: Klinik

Die lineare Handlung bei Wagner bzw. Laforgue weicht bei Sciarrino einer nicht-linearen, traumähnlichen Erzählweise. Auf einen Prolog folgen die Hochzeitsnacht und Lohengrins Flucht, dann die Anklage Elsas, Lohengrins Ankunft und schließlich der Epilog in der Klinik. Der Realitätsstatus der Erzählung bleibt unklar. Es handelt sich scheinbar um Erinnerungsbruchstücke, die willkürlich aneinandergereiht werden. Immer wieder tritt in den endlosen Wiederholungen von Worten wie »No« oder »Elsa« der Sinn der Begriffe zugunsten ihrer Klanglichkeit in den Hintergrund.

Sciarrino überformt diese Textanordnung durch eine mehrdeutige musikalische Zeitlichkeit, wobei sich drei »Schichten« unterscheiden lassen: Ähnlich [11|12]der Anordnung der einzelnen, nicht logisch aufeinanderfolgenden Szenen im Text heben sich die Szenen auch musikalisch deutlich voneinander ab: Die erste Szene ist vor allem durch kurze, sehr hohe, wie von Ferne klingende Tremoloeinwürfe der Streicher grundiert, in der zweiten Szene ist das ohnehin schon sehr sparsam eingesetzte Instrumentalensemble dann nochmals ausgedünnt, und die Sprechstimme erklingt oft unbegleitet. Auch die weiteren Szenen sind klanglich klar abgegrenzt.

Diese Konstellation unterschiedlicher Klangcharaktere, die auf der Mikroebene oft mit einem montageartigen Aneinanderschneiden unterschiedlicher Klangmaterialien korrespondiert und so den Eindruck von Diskontinuität erzeugt, ist zugleich aber durchsetzt von wiederkehrenden Klangeinheiten, insbesondere von Teilen des Prologs15. Neben der Konstellation gegeneinander gestellter Klangcharaktere ergibt sich durch diese Wiederholungen damit auch eine zyklische Zeitstruktur. Schließlich – und das wäre die dritte Schicht – exponiert insbesondere die erste Szene eine Fülle von Tremoloflächen, von Flageoletts in hoher Lage, von Atem- und Geräuschklängen, die modulartigen Charakter besitzen. Ein Beispiel hierfür ist das immer wiederkehrende Atemmotiv (vgl. Abb. 1, S. 13). Es bleibt im Verlauf der Szenen zwar relativ gleich, seine Zusammensetzung und die Abfolge der einzelnen Elemente aber verändern sich.16 Dabei ergeben sich häufig Querverbindungen zwischen vokalem und instrumentalem Material etwa zu den Atemfiguren in den Flöten oder zwischen dem Klicken der Zähne und den klickenden Klappengeräuschen in den Holzbläsern. Auf diese Weise entstehen komplexe zeitliche Beziehungen, indem der Hörer permanent an bereits Gehörtes erinnert wird. Allerdings bleiben diese Erinnerungen aufgrund der Veränderungen unscharf, Erwartungen werden gebrochen, und die Hörerfahrung des Zuschauers nähert sich so dem bruchstückhaften, unscharfen Erinnerungsprozess der Protagonistin an.

Durch diese leicht variierten, wiederkehrenden Motive zeichnen sich musikalisch für kürzere Einheiten immer wieder auch lineare Zeitverläufe ab. Somit ist der lineare Fortgang der Handlung zwar durch die Referenz auf Wagners Lohengrin bzw. Laforgues Parodie präsent, er wird von Sciarrino in seiner kompositorischen Laforgue-Lektüre aber beständig unterlaufen und dekonstruiert, und zwar dadurch, dass wir als Hörer mit mehrdeutigen Hör-Angeboten konfrontiert werden. Wir haben die Möglichkeit, unsere Aufmerksamkeit immer wechselnd auf eine der drei Ebenen zu lenken: auf die Gegenüberstellung von Klangcharakteren, die unscharfen Wiederholungen oder die Variation von Motiven auf der Mikroebene. Damit fehlt aber zugleich jede Hierarchie, die nötig wäre, um musikalisch so etwas wie einen Rahmen zu konstruieren und unsere an den historischen Beispielen orientierte Erwartung von Rahmen und Transgression zu erfüllen.

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Abb. 1a: Salvatore Scarrino, Lohengrin, Prolog, T. 9

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Abb. 1b: Salvatore Sciarrino, Lohengrin, Szene 1, T. 27 f.

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Abb. 1c: Salvatore Sciarrino, Lohengrin, Szene 1, T. 45

II Entgrenzung

Ausgehend von Laforgue entwickelt Sciarrino Klänge, die nicht nur strukturell-gliedernde Funktionen, sondern auch ein reiches semantisches Assoziationspotenzial entfalten. Sie lassen sich vor allem auf Natur- und Körperlaute, aber auch auf emotionale Äußerungen beziehen. All diese Klänge werden von Sciarrino mit der Protagonistin in Zusammenhang gebracht, indem sie von ihr gehört oder direkt von ihr hervorgebracht werden oder auf ihren Körper verweisen. In einem Interview äußerte Sciarrino hierzu, die gesamte Handlung entspringe dem »Mund der Protagonistin«17. Indem sich die Realität »im Mund der Protagonistin« bündelt, bleibt aber gerade das Verhältnis zwischen beiden unklar.

So lassen sich die Tremoloflächen des Beginns mit dem Flimmern einer mediterranen Nacht assoziieren, mit dem Zirpen von Zikaden oder Klängen eines Schwans, die wir als Hörer gewissermaßen durch Elsas Ohren wahrnehmen. Die stimmliche Protagonistin ist dabei aber nicht nur Hörende, sondern immer wieder auch selbst Teil der Naturszenerie, indem auch sie Vokallaute produziert, die Teil dieser Klangatmosphäre sind, wie etwas das Tropfen von Wasser oder das Gurren der Tauben. Dabei bleibt völlig offen, ob sie in diesem Moment aus ihrer Rolle ausbricht und Teil einer »Außenlandschaft« ist oder [13|14]ob es sich nicht bei allen Klängen um eine innere Naturimagination handelt, die sie durch ihre Stimme mit hervorbringt. Häufig ist dieser Kippcharakter den Klangobjekten selbst eingeschrieben. In der Partitur heißt es beispielsweise als Anweisung für die Sängerin »batter di denti come un galoppo lontano« (Szene 1, Z. 43). Damit ist einerseits die Art der Erzeugung eines Klangs bezeichnet, der auf den Körper der Sängerin verweist. Darüber hinaus lässt sich das Zähneklappern aber auch als Reaktion auf die vorangegangene Textzeile »via prenderete freddo« und damit als Zeichen für einen inneren Zustand Lohengrins verstehen (Angst, Kälte). Schließlich nimmt das rhythmisch strukturierte Zähneklappern auch die folgende Textäußerung vorweg (»grazioso cavaliere, vi ho sognato«), indem es den »grazioso cavaliere« gewissermaßen im Mund entstehen lässt. Ähnliches ist auch an anderen Lautäußerungen zu beobachten, etwa den Speichelblasen, die einerseits den konkreten Körper hörbar machen, andererseits aber als widerhallende Tropfen (»bolle di saliva come gocce echeggainti«) auch Teil der Naturszenerie sind. Die Grenzen zwischen äußerer und innerer Erfahrung verflüssigen sich zusehends ebenso wie die zwischen Rolle(n) und Performerin.

Ähnliche Grenzauflösungen lassen sich auch an den Körpergeräuschen nachvollziehen. So scheint zu Beginn der ersten Szene etwa das gesamte Orchester als Hallraum von Elsas Körper. Anders als in Erwartung, wo das Orchester als Echokammer psychischer Erregungen wirkt, vergrößert es hier physiologische Vorgänge akustisch. So nehmen wir Elsa in der ersten Szene (Z. 28) nur als einen artikulierten Atem wahr, wohingegen im Fagott ein rhythmisches Muster zu hören ist, das an »Herzschläge« erinnert. An anderen Stellen hingegen scheinen Atem bzw. Körper und Sprache getrennt, indem die Atemgeräusche im Orchester erklingen, während Elsa spricht. Immer stehen so die Grenzen der Figur Elsas, der Ort ihrer Stimme, ihre Identität infrage. Diese Verwischung von Grenzen, von Figur und Grund wird noch dadurch verstärkt, dass die Sängerin ein Kontaktmikrofon verwendet. Hierdurch werden wie mit einem Vergrößerungsglas Geräusche in den Vordergrund gerückt, die wir normalerweise überhören, wie Atmen, Röcheln, Husten, Schlucken und Speichelfluss. Laute, die – wenn man sie überhaupt bewusst wahrnimmt – eher als störend empfunden werden, werden durch das Kontaktmikrofon nicht nur hörbar gemacht, sondern auch noch zusätzlich delokalisiert. Für den Hörer ist nicht mehr eindeutig nachvollziehbar, woher genau der Laut kommt. Selbst wenn man in einer intimen Aufführungssituation die Mundbewegung oder das Schlucken der Sängerin sieht, steht die minimale körperliche Geste doch in keinem Verhältnis zu dem wahrnehmbaren Klang.18

[14|15]III Vielstimmigkeit

Schließlich entstehen im Munde der Protagonistin nicht nur Klänge, die auf Natur, Körperlichkeit oder auf emotionale Zustände verweisen, sondern auch auf andere Figuren. Insbesondere Lohengrin existiert nur in Elsas Stimme. Über weite Strecken sind beide Figuren durch z. T. übertrieben markierte Genderunterschiede (hohes – tiefes Sprechen) getrennt. Am Ende der Hochzeitsnacht beginnt sich mit Lohengrins sexueller Verweigerung auch seine stimmliche Identität immer mehr aufzulösen. Immer stärker nähert sich sein Wimmern der Sprechtonhöhe Elsas an, bis schließlich kein Unterschied mehr besteht.

Doch sind es nicht nur andere, die im Munde Elsas »entstehen« und wieder verschwinden. Auch Elsa selbst wird im Verlauf des Abends immer mehr zu einer Leerstelle, die nur noch als Name in verschiedenen Intonationen existiert. In der dritten Szene wird über eine längere Strecke hinweg der Name Elsa mal als Frage ausgesprochen, mal als Anrufung, mal mit der Stimme eines Alten, mal mit der Stimme anderer Frauen oder der eines alten Kranken (vgl. Abb. 2). Eine Fülle von Personen scheint sich hinter den verschiedenen Artikulationen von »Elsa« zu verbergen, und sie selbst löst sich unvermeidlich in die Vielzahl dieser Außenperspektiven auf.

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Abb. 2: Salvatore Sciarrino, Lohengrin, Szene 3, T. 37–38

Durch die komplexe Überlagerung widersprüchlicher Zeitstrukturen, durch die Verweigerung einer dramatischen Handlung, durch die Auflösung der Grenzen von außen und innen und damit durch die Auflösung der Identi[15|16]tät der Protagonistin, schließlich durch ihre Vielstimmigkeit entsteht eine Hörszenerie, die kaum verlässliche Zuordnungen erlaubt: Wir sehen zwar eine Frau, die sich aber akustisch unserem festschreibenden Blick immer von Neuem entzieht, indem sie sich ständig in Naturphänomene, fragmentierte Körperteile oder andere Stimmen zu transformieren scheint. Dabei sind durch die Referenz auf Lohengrin (Wagner-Laforgue) und durch die Gattung des Monodram historische Spielarten von Wahn und Weiblichkeit auf der Opernbühne und damit auch von Rahmung und Transgression präsent. Diese Tradition fungiert hier aber nur noch als entfernte Referenz, die von Sciarrino dekonstruiert und mit neuem Ansatz komponiert wird. Wahn ist dabei zwar noch an Weiblichkeit gebunden. Aber er wird nicht mehr durch das Muster von Rahmung und Transgression innerhalb einer dualistischen Geschlechterordnung vom anderen abgegrenzt. Stattdessen wird Weiblichkeit hier ähnlich wie in den Theoriediskussionen der 1980er Jahre anders gedacht. Sie ist im Moment der Aufführung nicht mehr greifbar und löst sich auf in ein »Kaleidoskop von Identitäten« (Kristeva), in ein ständiges Spiel mit Identität und Alterität. Aus dem einen sichtbaren Körper wird akustisch eine Vielzahl hörbarer Körper.

1 Vgl. hierzu Leo Dick, »Stand-up comedy auf zweiter Stufe. Die Form des theatralisierten Solo-Recitals bei Georges Aperghis«, in: Gegenwart und Zukunft des Musiktheaters. Theorien, Analysen, Positionen, hrsg. von Jörn Peter Hiekel und David Roesner, Bielefeld 2018, S. 79–98. — 2 Sciarrinos Lohengrin wurde international vielerorts nachgespielt. In Deutschland hat das Werk mittlerweile auch Eingang ins Repertoire kleinerer Häuser gefunden, wie die Produktionen des Staatstheaters Oldenburg und des Landestheaters Coburg zeigen. Von den zahlreichen Inszenierungen der letzten Jahrzehnte seien nur einige erwähnt: Staatstheater Oldenburg 25.1.2014 Inszenierung: Bodo Busse, Musikalische Leitung: Roland Kluttig, Elsa: Salome Kammer; Staatsoper Berlin 14.6.2014, Regie: Ingo Kerkhof, Musikalische Leitung: Michele Rovetta, Elsa: Ursina Lardi; Osterfestspiele Salzburg 9.4.2017, Regie: Michael Sturminger, Musikalische Leitung: Peter Tilling, Elsa: Sarah Maria Sun. Gegenüber dem Erfolg auf der Opernbühne ist die wissenschaftliche Literatur zu Lohengrin vergleichsweise überschaubar. Verwiesen sei hier einerseits auf Tim Steinkes Ansatz, Sciarrinos Kategorien musikalischer Figuren für die Analyse von Lohengrin nutzbar zu machen (Tim Steinke, »Ekstase und Form. Kompositorische Strategien in Sciarrinos Monodramen ›Infinito nero‹ und ›Lohengrin‹«, in: Die Tonkunst 7 (2013), H. 3, S. 350–359), sowie andererseits auf Carlo Carratellis unveröffentlichte Dissertation, in der er eine wahrnehmungsbezogene Analyse von Lohengrin und Infinito nero entwickelt und damit wichtige weiterführende Perspektiven eröffnet (Carlo Carratelli, L’integrazione dell’estetico nel poietico nella poetica musicale post-strutturalista. Il caso di Salvatore Sciarrino una »compositione dell’ascolto«. Tesi, Università degli studi di Trento/Université de Paris IV Sorbonne 2006). Ein Teil der Dissertation ist publiziert in seinem Artikel »›Evocare lo spazio interiore‹: drammaturgia e simbolica del Lohengrin da Jules Laforgue a Salvatore Sciarrino«, in Drammaturgia musicale 5 (2007), Nr. 3, S. 23–53. — 3 Vgl. hierzu Susan McClary, »Excess and Frame: the Musical Representation of the Madwomen«, in: dies., Feminine Endings: Music, Gender and Sexuality, Minnesota 1991, S. 80–111. Sciarrinos Musiktheaterschaffen nimmt in vielfältiger Weise auf die Tradition Bezug, sei es durch Stoffe wie Macbeth in seiner gleichnamigen Oper aus dem Jahr 2002, durch die Verwendung historischen Materials wie etwa in der Einarbeitung von Claude le Jeunes Elegie »Qu’est devenue ce bel œuil« (1608) in Luci mie traditrici (1998), durch die Einschübe aus Alessandro Stradellas Kantaten und Opern in Ti vedo, ti sento, mi perdo (In attesa die Stradella) (2017) oder durch die Verwendung seines charakteristischen Vokalstils, der sillabazione scivolata, der u. a. auf Stimmkonzeptionen aus dem 17. Jahrhundert zurück geht. — 4 Neben Alban Bergs Wozzeck (1925) wäre hier v. a. Wolfgang Rihms Lenz (1979) zu nennen. — 5 Als eine der Ersten hat Carolyn Abbate diese Zusammenhänge von Dramaturgie, Performance und Geschlecht thematisiert, und zwar in ihrem Text »Opera, or, the Envoicing of Women«, in: Ruth Solie, Musicology and Difference: Gender and sexuality in Music Scholarship, Berkeley – Los Angeles – London 1993, S. 225–258. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext dieser Diskussion vgl. Heather Headlock, »Opera and Gender Studies«, in: The Cambridge Companion to Opera Studies, hrsg. von Nicholas Till, New York 2012, S. 257–275. — 6 Basaglias Buch L’istituzione negata (1968) war in Italien ein Bestseller. Vgl. hierzu John Foot, »Franco Basaglia and the radical psychiatry movement in Italy 1961–78«, in: Critical and Radical Social Work 2 (2014), Nr. 2, S. 235–249. — 7 Vgl. Carratelli, L’integrazione dell’estetico (s. Anm. 2), S. 310. — 8 Auch Sciarrinos 1990 entstandenes Musiktheater Perseo e Andromeda bezieht sich auf einen Text Jules Laforgues aus den Moralités. Vgl. hierzu Marion Saxer, »Aus der Geschichte gefiltert. Zur Gestalt der Andromeda in Salvatore Sciarrinos ›Perseo e Andromeda‹«, in: Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater und MedienKunst, hrsg. von Martina Oster, Waltraud Ernst und Marion Gerards, Hamburg 2008, S. 266–274. — 9 Zur Rolle von Laforgues Text im Kontext französischer Lohengrin-Parodien vgl. Christian Dammann, Bonjour Lolo! Französische »Lohengrin«-Parodien 1886–1900, Stuttgart 2018, S. 189 f. — 10 Zu den intertextuellen Verflechtungen in Laforgues Text vgl. Pierre Brunel, L’imaginaire du secret, Grenoble 1998, S. 173–180 sowie Jennifer Forrest, »Clownesque Poetics in Jules Laforgue’s Moralités legedaires«, in: Dix-neuf 20 (2016), H. 1, S. 81–96. — 11 »… elle se souvient que le premier compliment de l’original chevalier a été pour son col de cygne« Jules Laforgues, »Lohengrin, fils de Parsifal«, in: ders., Œuvres complètes Bd. 2, hrsg. von Maryke de Courten, Jean-Louis Debauve und Pierre-Olivier Walzer, Lausanne 1995, S. 415–429, S. 428. — 12 »Comment appelez-vous ça? Je ne sais; la pomme d’Adam. […] Et ça ne vous rappelle rien? […] Moi, ça me rappelle les plus mauvais jours de notre histoire!«, ebenda. — 13 Notturno Nr. 3 und 4 (1998), Due notturni (1999) und Due notturni crudeli (2001). Zu Sciarrinos Nachstücken zählen ferner die Dämmerungs- bzw. Nachtszenen in Luci mie traditirici (Akt II, Szenen 6, 7 und 8) sowie die beiden mit »Buio« (»Dunkel«) überschriebenen instrumentalen Zwischenspiele. — 14 Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München 2008, S. 167. Zu Sciarrinos Evokationen des Nächtlichen sowie v. a. zu Allegoria della notte vgl. Stefan Drees, »Zur (Re-)Konstruktion kultureller Räume im Schaffen Salvatore Sciarrinos«, in: Die Tonkunst 7 (2013), H. 3, S. 340–349. — 15 Eine ausführliche Diskussion des formalen Verlaufs findet sich bei Steinke, »Ekstase und Form« (s. Anm. 2), S. 357 f. sowie bei Carratelli, L’integrazione dell’estetico (s. Anm. 2), S. 323. — 16 Während das modulartige Komponieren Sciarrinos bisher v. a. für seine späteren Werke untersucht wurde, zeigen sich Ansätze hierzu bereits in Lohengrin. Vgl. Christian Utz, »Statische Allegorie und ›Sog der Zeit‹. Zur strukturalistischen Semantik in Salvatore Sciarrinos Oper ›Luci mie traditrici‹«, in: Die Tonkunst 7 (2013), H. 3, S. 350–359. — 17 »Die Konstruktion der unsichtbaren Sprache, Interview: Gianfranco Vinay. Salvatore Sciarrino über die Dramaturgie seines Musiktheaters«, in: Dissonanz 65 2000, S. 14–19, hier S. 16. — 18 Ähnliche Situationen werden von Hans-Thies Lehmann und Jenny Schrödl für das postdramatische Theater untersucht. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 277–279 und Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, S. 85–95.