cover
Daniel Ziepke

Der Herr des Hauses

So nehmen Sie doch Platz


Nicht für Nicole. Es würde deine zarte Seele brechen.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Start

 

 

Daniel Ziepke

 

 

Der Herr des Hauses

 

So nehmen Sie doch Platz!

 

 

 

 

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2018 Daniel Schmidt, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 9781790744923

 

 

 

 

 

 

Nicht für Nicole.

Es würde deine zarte Seele brechen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Das Haus

 

Es lag nahe einer kleinen Straße, dieses Haus, für das die Sonne niemals erwachte, da es von hohen Nadelhölzern, die ihre Strahlen aufsogen und nur dunkle Schatten spuckten, umgeben war. Der graue Putz, einst Schutz des roten Mauerwerks, lag abgeplatzt, gesprengt von den zerstörerischen Kräften der Zeit, am Boden. Einer gehäuteten Schlange gleich stand es da, das nackte rote Fleisch, ohne Kraft, ohne Willen eine neue schützende Schicht zu formen.

Das Glas der Fenster gab seinen Zustand von außen her nicht preis. Es fristete sein Dasein des Tages und der Nacht hinter den moderigen Holzläden, die bei jedem Hauch des Windes klapperten und dunkel pfiffen, wie die kranken, um Luft flehenden Lungen eines Sterbenden.

Auch das Dach gab sich alle Mühe, dieses mit dem Pinsel des Verderbens gemalte Bild zu vollenden. Erdrückend lastete es, nur überhöht von einem kleinen Türmchen an der Seite, auf den beiden Stockwerken. Den tönernen Pfannen war längst die Sicht vom Moos genommen. Ein Knarren im Gebälk. Noch hielt es stand.

Nur das Türmchen, sein Dach war mit schimmerndem Kupfer beschlagen, der Putz leuchtend weiß und das Fensterchen streifenfrei, ließ erahnen, wie es hier wohl vor vielen Jahren zugegangen war.

Nur dieses kleine Türmchen betrachtend und dann die Augen schließend, bot sich dem Träumer ein Bild, in das einzutreten lohnte:

Die aus der Zarge brechende Tür oberhalb der Treppe, passgenau mit Blumenschmuck. Die Stufen nicht gesprengt vom Wurzelwerk, stattdessen fein gekehrt, die oberste mit Fußmatte „Herzlich Willkommen“. Das Geländer nicht zerbrochen am Boden, sondern festen Halt bietend an beiden Seiten. Der Stacheldraht, geschlagen an modernde Holzpfosten, ein weißgetünchter Lattenzaun, der die ballspielenden Kinder vor den Gefahren der Straße bewahrt. Kein Geruch aus einer Welt, in der es keinen Wohlgeruch gibt. Es duftet nach Apfelkuchen. Er ist noch warm. Die Mutter stellt ihn auf die Fensterbank, der weiße Marmor nicht zerbrochen, fest am Sims.

 

Ein schönes Bild, und selig der, der träumen konnte.

Ein elender Schrei, mit allen Sinnen wahrzunehmen, nicht schönzudenken, ließ die Augen des Träumers aufspringen und vom Türmchen herab zu einem der gesperrten Fenster hasten.

Schnell! Dem Haus den Rücken zeigen! Ein letzter Blick. Die Füße schneller und schneller in den lehmigen Grund stoßen. Immer die Angst im Nacken, eine knochige Hand würde hungrig aus der Erde springen und nach dem Schuh schnappen.

„Weg! Nur noch weg von hier! Gleich habe ich es geschafft. Ja, da ist es schon! Das Schild! Nur noch ein paar Schritte. Nur schnell auf die andere Seite, hinter das Schild mit seiner perfiden Aufschrift.“

 

So hätte wohl ein Träumer diesen Ort erlebt. Und Träumer gab es viele im nahen Dorf, vor allem abends in der Schänke ‚Gute Stube‘. Und von Runde zu Runde, die Wolfgang der Wirt ausschenkte, wurden es mehr.

 

 

 

 

 

2. Die Gute Stube

 

So auch an jenem Abend. Draußen tobte der Sturm. Drei Gäste saßen am Tisch. Jeder von ihnen hatte sich damals als Kind, meist nur einmal, neugierig auf den Weg zum Haus gemacht und war froh gewesen, völlig außer Atem und mit verdrecktem Schuhwerk, das perfide Schild wieder von der anderen Seite her sehen zu dürfen, ohne von der schnappenden Hand gefasst worden zu sein.

Doch sie redeten nicht darüber, schon viele Jahre nicht mehr, Bauer Claas, der alte Krämer Sauder und Schutzmann Zacharias, der meist nur Zach gerufen wurde. Es lag ja schon so lange zurück und ihnen kam es wahrhaft vor, wie ein böser Traum aus Kindertagen.

Ein Vierter, Isching, lehnte an der Theke und beäuge argwöhnisch das Treiben der Gesellschaft. Die anderen kümmerten sich nicht um ihn. Warum auch? Er war halt ein Sonderling, und was er den ganzen Tag über sonst so trieb, das wusste niemand. Er war einfach da, jeden Abend, jeden Mittag, oft schon morgens und trank. Schnaubend blickte Isching unter seiner tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze hervor, trank Glas um Glas, zahlte irgendwann die Zeche und verschwand wortlos durch die Tür. Die anderen blickten einfach durch ihn hindurch zum Tresen.

„Wolfgang! Mach nochmal drei!“

Die Tür flog auf. Es stürmte nun auch drinnen. Der Regen, der bislang nur am Fenster gedroht hatte, flutete die Flucht des Eingangs der Guten Stube.

„Zu das Ding! Zu das Ding!“, fauchte Wolfgang der Wirt, durch den Gastraum. Eine zitternde Gestalt, die Kleider nass und verdreckt, das rechte Bein lahm, schleppte sich zum Tisch der drei und versah dabei den Boden mit schmierigem Lehm, der ihr in großen Klumpen von den groben Stiefeln fiel.

„Jetzt sieh aber mal zu, dass die Schweinerei da wieder wegkommt! Hier…“, brüllte der Wirt und warf dem vom Regen Gepeitschten einen nassen Lappen ins Gesicht.

„Nun mach mal halblang, Wolfgang. Du siehst doch wie das Wetter spielt. Und der junge Stoffelns mittendrin. Setz dich doch zu uns, Bursche!“

Bauer Claas holte einen vierten Stuhl herbei, der abseits stand.

„Aber der Boden! Und wie das stinkt! Der soll das sofort wegwischen oder ich vergesse mich!“

„Ja, lass gut sein, Wolfgang. Mach dem Jungen erst mal einen heißen Grog, der richtig schön in der Kehle brennt. Also spar nicht wieder am Rum! Der ist ja völlig durch. Und mir mach auch einen.“

„Mir auch“, „Mir auch“, klang es aus zwei weiteren Kehlen am Tisch und einer dritten vorn am Tresen.

„Ich muss euch da mal was erzählen. Schauderhaft!“, Stoffelns Hände umklammerten zitternd das heiße Glas. „Ich bin gerade mit dem Traktor in Richtung Wald gefahren, um eine Fuhre Holz zu holen. Die enge Straße an der Lichtung bei der alten Eiche war so nass und glatt, und dann lag der verdammte Schlepper auch schon im Graben.“

„Ja, die Lichtung.“, erinnerte sich Krämer Sauder. „Die Menschen hier in der Gegend nennen jenen Ort so, doch eigentlich ist es gar keine Lichtung. Nicht mehr, sondern nur der Eingang in den dunklen Wald. Damals sah es dort draußen noch anders aus. Die alte Eiche stand mitten im Kiefernwald. Neben ihr lag ein grasbewachsener, schöner Platz auf den die Sonne schien. Eine Lichtung halt. Als junger Mann war ich oft dort und habe Eicheln gesammelt, für das Schwein meiner Eltern. Eines Tages kamen dann die Holzfäller, um den Wald zu roden. Und fleißig waren sie. Ich habe ihnen damals oft zugeschaut. Doch eines Morgens waren sie verschwunden, einfach weg. Bis zur alten Eiche hin hatten sie sich vorgearbeitet, jeden Baum gefällt, aber keinen Meter weiter. Ihr Lager hatten sie zurückgelassen, auch die teuren Äxte. Die Zelte standen auch noch da. Und was ganz merkwürdig war: Ihre Schuhe lagen auch dort. Verstreut, etwas weiter weg vom Lager. Die Holzfäller mussten sie verloren haben, als sie weggerannt sind und hatten wohl keine Zeit mehr, sie wieder anzuziehen. Harte, unerschrockene Burschen waren das. Aber irgendetwas musste sie…“

„Lass es gut sein, Sauder! Immer diese Schauergeschichten. Und jetzt zu dir, Junge. Au, au, au! Mit dem Traktor gefahren? Heute am Abend noch? Du warst doch schon am Nachmittag hier bei Wolfgang und hast ordentlich einen gehabt.“, Schutzmann Zacharias rümpfte seine Nase, die offensichtlich noch im Dienst war. „Puste mich mal an, Bursche! Oder… ne, lass mal. Betrunken gefahren und dann in den Graben!“, der Zeigefinder des Schutzmanns wedelte drohend in der Luft. „Das wird nicht billig! Das wird…“

„Also wenn die Sache so liegt,…“, unterbrach Stoffelns beschwichtigend. „…dann geht der Grog wohl auf mich.“

„Ich will mal sagen, das wird wohl reichen. Nicht wahr, Zach?“, meinte Bauer Class und zwinkerte dem Schutzmann und Stoffelns wohlwollend zu.

„Natürlich. Der Junge zeigt Reue.“, pflichtete Krämer Sauder bei.

Und so beließ es Zacharias bei der Lokalrunde, der, Stoffelns wollte sichergehen, eine zweite folgte.

„Warum zitterst du denn immer noch, Stoffelns? Hier bei Wolfgang in der Guten Stube ist es doch stets angenehm warm und um eine Strafe musst du dir auch keinen Kopf machen.“, Bauer Class prostete dem Schutzmann zu, der seine Milde bereuend, grimmig in die Runde starrte. „Nun sag mal, Junge. Ist sonst noch was?“

„Ein Schrei. Und dieses Haus. Ein schönes, weißes Türmchen.“, Stoffelns blickte gegen die Wand, durch sie hindurch, tief in sein Innerstes hinein und betrachtete seine Erinnerungen. „Dieser Schrei! Ich bin nur noch gerannt, konnte nur noch laufen. Eine Hand! Ja, eine Hand im Lehm. Sie schnappte nach meinem lahmen Bein.“

Wieder wehte der Wind das Unwetter hinein. Nur kurz, ein paar Tropfen. Ischings Platz war verwaist, das Glas auf dem Tresen noch halb gefüllt, daneben fein abgezählt die Zeche. Niemand kümmerte sich darum.

„Ja wir kennen dieses Haus, das Türmchen, die Schreie.“

„Lass es gut sein, Zach! Das ist so viele Jahre her. Wir waren doch noch Kinder und wollten seit dem Tag nicht mehr darüber sprechen“, wies Bauer Class, die gesellschaftlichen Rollen vertauschend, den Schutzmann zurecht.

„Ja, besser nicht. Lasst das Haus Haus sein. Auf jenem Stück Erde liegt kein Segen.“, der alte Krämer Sauder zwängte sich, mehr als leicht berauscht, umständlich in seinen Mantel. „Aber dort tut sich gewiss schon lange nichts mehr. Wenn dort wirklich jemand leben sollte, so hätte er mich doch bestimmt schon mal im Laden beehrt. Und jetzt redet über etwas anderes. Ich wünsch euch was!“

„Aber so glaubt mir doch!“, Stoffelns umklammerte das Glas fester und fester. Das Weiß der Sehnen seiner Hände trat ebenso hervor, wie der Wahnsinn, die grauenvolle Erinnerung an wahrhaft erlebten Wahnsinn, in seinen Augen. Er stieß es heftig auf den Tisch. Das Glas hielt Stand, der Grog schwappte nur leicht über.

„Dort war jemand! Dieser Schrei! Und ich habe am Fenster des Türmchens eine Gestalt gesehen. So glaubt mir doch!“

„Hast doch gehört, was der Sauder gesagt hat. Einem Trugbild bist du auferlegen, Stoffelns.“

„Oder dem Schnaps. Konntest ja nicht mal mehr mit dem Traktor geradeaus fahren.“

„Nun lass mal, Zach. Bestimmt nur ein Vogel. Ja, ein Falke! Die können nämlich auch ganz schön laut kreischen.“

„Nein!“, brüllte Stoffelns, der energisch auf seinem Standpunkt beharrte, durch die Gute Stube. „Ein Vogel?! Ich lache!“, doch er tat alles andere. „Ein Mensch hat dort geschrien, krank und alt. Ein Mensch! So hörte sich das an.“

Krämer Sauder, der bereits, die Klinke in der Hand, auf dem Absatz stand, drehte den Kopf zum Tisch. „Isching. Vielleicht treibt sich der Isching dort am Haus herum.“

Diese Worte, als Frage in den Raum geworfen, bereiteten Kopfzerbrechen. Isching? Was wussten Zacharias, Class und der junge Stoffelns eigentlich über ihn? Nichts. So gut wie nichts. Ja. Man traf ihn jeden Abend in der Guten Stube. Nein. Man traf ihn nicht. Man sah ihn am Tresen sitzen. Ohne ein Grüß Gott oder gar einem Schulterklopfen ging man wortlos an ihr vorbei, dieser großen, hageren Gestalt, die seit eh und je, Sommer wie Winter, in den selben grauen Mantel gehüllt war. Man ignorierte Isching.

Viele Jahre war er fortgewesen, von jetzt auf gleich, und vor drei Jahren ebenso plötzlich wieder aufgetaucht. Und die Gerüchte, ja Legenden, die sich um ihn rankten, wollten kein Ende nehmen. War die eine kaum vergessen, wuchs die nächste, genährt von den einfachen Menschen des Dorfes, deren Horizont nicht weit reichte und so der Fantasie nicht enden wollende Räume bot. Wo er schon überall gewesen, was er getan, verbrochen und gesehen haben sollte. Zu viel für nur ein Menschenleben, erst recht für so eines.

Brachte aber jemand den Mut auf, mit ihm einige Worte zu wechseln und schaute dabei in seine Augen, machte Isching den Eindruck eines Mannes, dessen Alter um die Dreißig anzusiedeln war. Vielleicht stimmten ja die Legenden über einen Seefahrer, der alle Kontinente bereist hatte. Sein markiges, wie vom Salzwasser der Meere gegerbtes Gesicht sprach dafür, die schmächtige Statur eher dagegen. Wer wusste schon genaueres? Zacharias, Sauder, Class oder der junge Stoffelns gewiss nicht. Ihnen fehlte dieser Mut, der einigen frommen, älteren Damen und dem Pfarrer des Dorfes vorbehalten war. Und diese waren überrascht, welche Freundlichkeit und Wärme ihnen Isching, gefragt nach Belanglosigkeiten, lächelnd entgegenbrachte. Die schmalen, rissigen Lippen taten sich auf, verstanden es ausgezeichnet zu beschreiben, mit schönen Worten auf jenes Belanglose einzugehen und zogen es somit aus dem dunklen Schatten des Banalen hinaus ans helle Licht. Doch viel zu schnell stand er wieder alleine am Tresen in der Guten Stube und missbrauchte seinen Mund, der zu so schönen Dingen fähig war, mit dem Hineinschütten, dem Betäuben seiner Schmerzen. Hier war er stumm.

Ja, diesen Isching, der dort mit nichtssagendem Blick am Tresen hing, den kannten die drei, und nur den.

Isching lebte in einer alten Hütte mitten im Wald, dort wo er am dichtesten war, ganz in der Nähe jener Gabelung, die den Weg in einen guten und einen unheilvollen teilte.

„So wird es wohl sein. Der Isching war’s.“, raunte es durch die Gute Stube. „Heute er und damals der Alte. Pack! Elendes Gesindel. Das muss weg!“

Wolfgang stand völlig unbeteiligt hinter der Theke, spuckte auf ein im trüben Wasser gespültes Glas und verlieh ihm mit seiner schmierigen Schürze einen fettigen Schleier, der den berauschten und undurchsichtigen Gedanken seiner Gäste entsprach. Auch Wolfgang war vor vielen Jahren einmal am Haus gewesen. Er hatte aber keinen Schrei vernommen, der ihn aus Angst, eine hungrige Hand hätte zuschnappen können, schnell zurück auf die andere Seite des Schildes rennen ließ. Ihn plagten andere Erinnerungen an damals, und sie brannten dem Wirt bis zu jenem Tag auf Hinterteil und Seele.

 

Fröhlich, zu allen Abenteuern bereit, hatte er damals dagestanden, bereit loszumarschieren, der kleine Wolfgang. Lederhose, ein keckes Käppchen auf dem Haupt, was bedurfte es denn mehr für ein abenteuerlustiges Kind, um die Welt zu erobern?

Seiner Mutter hatte er ein altes Holzmodel stibitzt, um leckere Plätzchen backen zu können. Doch auf dem großen Sandhaufen hinter der Gastwirtschaft lag sein betrunkener Vater, den der Junge keinesfalls aufwecken wollte, da er Prügel befürchtete. Und schlagen, ja, das konnte sein Alter. Also wanderte der kleine Wolfgang, Eimerchen mit Schaufelchen in der Hand und mit geschultertem Model, hinaus auf die Felder.

Der Junge hatte es nicht eilig, da er genau wusste, dass sein Vater erst wieder am Abend bei guter Laune sein würde, wie immer, wenn er zapfend, lachend und vor allem trinkend hinter dem Tresen der Guten Stube stand. Und so wanderte und wanderte der Junge über die Felder, doch Sand, etwas feucht musste er sein, um damit wirklich gute Plätzchen backen zu können, fand er dort nicht. Die heiße Sonne der letzten Tage hatte nichts weiter zurückgelassen, als hier und da ein paar staubige Fleckchen am Wegesrand. Sie brannte, die Sonne, an jenem Julitag, und Wolfgang war froh gewesen, den kühlen Schatten der alten Eiche zu erreichen. Sehr angenehm war es dort. Ab und an jedoch kitzelten seine Nase Sonnenstrahlen, die grell und heiß durch die Krone des mächtigen Baumes stachen. Ja, hier ließ es sich aushalten. Und dort hinten vielleicht noch viel besser? Im nahen Nadelwald drang kein brennender Strahl bis hin zum Boden, der seine Nase hätte röten können. Also machte er sich auf. Und dann lag er vor ihm. Feuchter, glänzender Sand. Matschiger Lehm, mit dem Wolfgang endlich den alten Model bestreichen konnte. Und er glitt so fein hinein, in jede noch so kleine Ritze der hölzernen Form.

„Oh! Mama wird sich bestimmt über die Kekse freuen. Es sind Spekulatius. Die mag sie doch so.“

Zwar roch es an jenem Ort sehr streng und niemand öffnete die moderigen Holzläden, um dem kleinen Wolfgang beim Spielen zuzusehen, aber dennoch war er glücklich. Kekse für die geliebte Mutter hatte er gebacken und für die nächsten Tage einen Vorrat an Plätzchenteig in sein Eimerchen geschaufelt. Aber die harten, stinkenden Zweige sortierte der Junge sorgsam aus, und es waren viele.

Am Abend daheim angekommen hatte Wolfgang nicht den Ruhm eines Zuckerbäckers geerntet, den er glaubte für sich in Anspruch nehmen zu können. Nein. Seine Mutter, die kurz an den frisch gebackenen Plätzchen gerochen hatte, übergab sich in die Gute Stube, direkt vor dem Tresen. Wolfgangs Vater eilte hinter der Theke hervor und verpasste dem Kind die Lektion seines Lebens. Die Lederhose völlig verschmiert, ein stinkender Haufen Dreck, mit dem der Kleine die Gute Stube besudelt hatte und die sich übergebende Mutter. Und alles vor den Gästen. Das kostete, vor allem Wolfgangs Hinterteil und schlimmer noch die kindliche Seele.

 

Lang, lang war es her, doch es schmerzte ihn immer noch.

„Ach das alte Haus. Der Sauder hat es doch gesagt. Da liegt gewiss kein Segen drauf. Wenn es das überhaupt noch gibt, dort draußen im Wald. Ist doch wurscht. Ich mach noch mal ‘ne Runde.“

Und Wolfgang machte drei.

 

Ein dumpfes Grollen, wie Stunden zuvor der Donner des Unwetters, zog drohend heran. Kurz blickte es, noch aus der Ferne, mit seinen brennenden Augen schattenwerfend durch die Fenster der Guten Stube. Niemand nahm Notiz davon, schauderte oder schreckte gar auf. Niemand außer Stoffelns. Er sprang auf und hastete zum Lichtschalter neben der Eingangstür.

„Verdunkeln! Verdunkeln!“, schrie seine von Todesangst erfüllte Stimme, erst laut kreischend, dann leiser werdend und schließlich nur noch wimmernd.

„Verdunkeln“, flüsterte er flehend. „Und Ruhe. Sie können uns sehen und hören, auch durch die Hülle hindurch.“

„Jetzt reiß dich doch mal zusammen, Stoffelns!“, Bauer Claas’ Hand schob sich suchend über den Tisch, bis sie etwas ertastete das umfiel und schließlich zerbrach. „Mist! Jetzt hab ich den Grog auf dem Tisch verschüttet und die ganze Suppe läuft mir auf die Hosen. Heiß!“

„Jetzt reicht es mir aber mit dem Zirkus hier! Lampe an, sonst bricht sich noch einer die Haxen bei dem kargen Dämmerlicht vom Kamin. Nicht mit mir! Nicht in meiner Guten Stube! Ich sehe ja gar nicht, wo ich wische.“

„Oh nein! Das Feuer! Zu hell! Zu heiß! Sie können das Rot der Wärme sehen.“

Stoffelns stolperte auf Wolfgang zu, riss ihm den Eimer zwischen den Knien hinfort und schleuderte den kargen Inhalt auf die nur schwach lodernden Flammen im Kamin. Sie fauchten, wehrten sich, heißen Dampf spuckend, gegen das drohende Nass. Ein Kampf auf Leben und Tod, den sie schließlich gewannen.

Auch Stoffelns kämpfte, dem Sieg um viele Meilen ferner, gegen das, was er einst erleben musste, tief drinnen in der Röhre, eingeschlossen, ganz weit unten.

„Jetzt benimmst du dich hier oder fliegst raus!“, Wolfgang machte Licht.

„Raus?“, Stoffelns sank auf seinem Stuhl zusammen und war auch innerlich nur noch ein Häufchen Elend. „Raus? Sind wir denn schon wieder oben, Herr Kapitän? Hören sie denn nicht? Er ist genau über uns! “, Stoffelns legte den Kopf tief in seinen Schoß und schütze ihn so gut es ging mit den zitternden Händen. „Ganz nah ist er!“

Der Lastwagen passierte die Gute Stube, blickte mit seinen beiden grellen Augen noch einmal kurz hinein und verschwand in der Dunkelheit.

Auch Stoffelns, nun wieder mit allen Sinnen in der Realität angekommen, wandte sich, mit geneigtem Haupt und voller Pein über sein Verhalten, zum Gehen.

„Nun bleib doch, Junge. Das trägt dir schon keiner nach. Wir wissen doch alle, was du schreckliches erlebt hast. Und wegen deinem Traktor mach dir mal keine Sorgen. Den ziehen wir morgen aus dem Graben raus. Morgen, hier bei Wolfgang in der Guten Stube, so um 16 Uhr?“

Da seine Worte gesprochen waren, bevor die Tür ins Schloss fiel, sah Bauer Claas die Verabredung mit Stoffelns als gültig an.

Für ihn handelte es sich um mehr als nur eine Selbstverständlichkeit, dem jungen Mann zu helfen. Bauer Claas tat diese gebrochene Gestalt, die mit einem verkrüppelten Bein aus dem Krieg zurückgekehrt war, mehr als nur leid. Er kannte noch den alten jungen Stoffelns, der, wie so viele andere, voller Übermut und siegesgewiss ins Gefecht gezogen war. Und Bauer Claas erinnerte sich so gern und wehmütig an die Zeit zurück, als Stoffelns mit seinem Gesang und dem gekonnten Gitarrenspiel die Gute Stube zum Leben erweckt hatte.

‚Hoch auf dem gelben Wagen, sitz ich beim Schwager vorn…‘

Auf jedem Tanzabend war Stoffelns der Prinz, auf jedem Schützenfest der König gewesen, auch ohne nur einen Schuss auf den Vogel abgefeuert zu haben. Er konnte herrlich streiten und noch herrlicher schlichten, fleißig sein Tagewerk verrichten und anschließend noch den Freunden zur Hand gehen, Sorgen nehmen und Zuversicht schenken.

Ein ärmliches Haus, die alte Scheune, fünf Milchkühe und ein klapperiger Wagen, der von zwei betagten Gäulen gezogen wurde. Dazu ein paar Morgen Ackerland, die der Familie ein nur karges Leben schenkten. Doch sie waren glücklich und zudem unendlich reich. Vater und Mutter hatten ihr Christinche, dessen Lächeln weder mit Gold aufzuwiegen, noch mit Ländereien zu bezahlen war.

Dann war der Brief gekommen. An Vater und Sohn am selben Tag. Der Junge kehrte Jahre später versehrt zurück, der alte Stoffelns blieb im eisigen, roten Schnee, sehr weit weg im Osten. Das war der zweite Grund für Claas, dem Jungen stets die Hand zu reichen.

„Au, au, au! So schlimm habe ich es ja noch nie erlebt.“, Schutzmann Zacharias saß mit kreideweißem Gesicht auf seinem Stuhl und orderte, dem Wirt Zeige- und Mittelfinger entgegenstreckend, die nächste Runde. „So jung und schon so gezeichnet. Der Krieg hat sie alle gefressen.“

„Was? Der alte Sauder war auch noch im Krieg?“, stutzte Schutzmann Zacharias. „ Der war doch die ganze Zeit über hier im Dorf. Sein Laden hatte doch auf.“
„Nein, natürlich nicht mehr im letzten. Ich rede vom Ersten. Und als Sauder zurückkam… Ich kann nur vom Hörensagen sprechen, war ja noch ein Kind, damals. Aber schlimm muss es gewesen sein. Arger noch als bei Stoffelns.“

„Und das lässt du ihm einfach so durchgehen, Zach? Besoffen auf dem Traktor, nun ja…“, meinte Bauer Claas, der mit wedelnden Händen das Eine gegen das Andere abwägte. „Aber ihn mit einer Pistole durchs Dorf laufen lassen? In dem Zustand? Wohl ist mir nicht dabei.“

Der Wirt schlurfte gemächlich heran und stellte zwei Gläser auf den Tisch.

„ Jetzt schon? Noch was vor, Wolfgang?“