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Foto: Privat

Günter Detro, Jahrgang 1950, Studium der Anglistik und Geographie in Aachen, 1977–2014 Lehrer in Hückelhoven und Rheinbach, lebt mit seiner Frau gerne in der Schul-und Glasstadt in der Nähe von Bonn; Verfasser zahlreicher Kurzgeschichten und Gedichte. SoKo Schlafsack ist sein erster Roman.

Günter Detro

SoKo Schlafsack

Rheinland-Krimi

Zweite unveränderte Auflage

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018–2019 by cmz-Verlag
An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach
Tel. 02226-9126-26, info@cmz.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat:
Beate Kohmann, Bonn

Schlussredaktion:
Clemens Wojaczek, Rheinbach

Satz
(Aldine 401 BT 11 auf 14,5 Punkt)
mit Adobe InDesign CS 5.5:
Winrich C.-W. Clasen, Rheinbach

Papier (90g Lux Creamy mit 1,8f. Vol.):
Arctic Paper S.A., Poznań/Polen

Umschlagfoto (Sleeping Bag; 2017):
Zach Dischner Photography, pxhere.com

Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg

Gesamtherstellung:
Bookpress.eu, Olsztyn/Polen

eISBN 978-3-87062-321-0

301–500 • 20181225

www.cmz.de

Für Happy

Inhalt

Die Hauptpersonen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Die Hauptpersonen

Jost Brecht, Kriminalhauptkommissar und Sonderermittler – stellt sich ein schlagkräftiges Team zusammen

Ludmilla Przyleck, Kriminalkommissarin – arbeitet eigentlich bei der Spurensicherung, wird aber von Brecht angeworben und umworben

Knips, Fotograf der Spurensicherung – wird in Brechts Team fast nur mit seinem Spitznamen angeredet, nur KK Przyleck verwendet seinen Vornamen Jonas

Arne Federkern, Beamter der Polizeiwache Rheinbach – fährt gerne schnell und entwickelt in der Sonderkommission erstaunliche Analysefähigkeiten

Haase, Oberstaatsanwalt – schickt gerne das Sondereinsatzkommando los

Dr. Ina Fedder, Gerichtsmedizinerin – hat den Ruf, mit ihren Leichen umgänglicher zu sein als mit ihren Kollegen

Dr. Sören Bauerfreund, Gerichtsmediziner – hat ein Herz für Hunde

Dennis Schneider, Beschäftigter einer Entsorgungsanlage – ist kein unbeschriebenes Blatt, sondern bereits aktenkundig

Erik Klein, Freund von Dennis Schneider – macht Polizisten ungern die Haustür auf

Viktor Petzold, Fahrer bei der Müllabfuhr – verschenkt auch Blumen

Nonnleitner, Unternehmer – unternimmt viel

Friedhelm Bregen, Unternehmer – ist aus dem Tennisclub ausgetreten und verschenkt Kugelschreiber

1

Wie viele?«, fragte Brecht ungläubig und runzelte die Stirn. »Ölf«, wiederholte die Frauenstimme.

Brecht wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte, über die große Menge, die ihm da gerade mitgeteilt wurde, oder über die ungewöhnliche Aussprache des Zahlworts. Grundsätzlich legte er Wert auf die korrekte Verwendung von Sprache, gerade auch im Alltag, vielleicht, weil er stets mit Sorgfalt ermittelte und auf Genauigkeit achtete. In seinem Beruf kam es auf Gewissenhaftigkeit an! Vielleicht war ihm aber auch eine angemessene Sprache so wichtig, weil er in seiner Freizeit Gedichte schrieb. Bei dieser Betätigung spielte jedes Wort eine Rolle, jedes einzelne Wort musste bewusst gewählt werden!

Aber seitdem sogar seine Tochter ihre Briefe mit LG anstatt mit Liebe Grüße beendete, konnte ihn eigentlich nichts mehr erschüttern.

Ölf statt elf, das erinnerte ihn an die Sprache von Professor Crey in der Feuerzangenbowle. Jäder Schöler nor einen wenzigen Schlock, oder so ähnlich hieß es da. In Spoerls Roman hatte ihn das amüsiert. Aber jetzt …

Brecht schüttelte unwirsch den Kopf, obwohl die Gesprächsteilnehmerin am anderen Ende der Leitung diese Geste, die sein Missfallen ausdrückte, natürlich nicht sehen konnte.

»Wo?«, fragte Brecht einsilbig, mit der Befangenheit desjenigen, der seine Missbilligung nicht gänzlich unterdrücken kann.

»Hier in der Kürche!«

Kürche! Brecht schnappte nach Luft. Das wurde ja immer schlimmer! Kürche und ölf!

»Ölf in der Kürche?«, äffte Brecht die Stimme am Telefon fragend nach, ohne groß zu überlegen. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verzählt haben? Ölf Leichen?« Brecht steigerte sich in etwas hinein. »Sind es nicht vielleicht doch nur zöhn? Oder sogar zwelf?« Brecht genoss die kurze Pause, die entstanden war. Jäder nor einen wenzigen Schlock, dachte er belustigt.

»Wie bitte?«, fragte die Dame am Telefon, offensichtlich verwirrt, aber auch mit einem leicht ärgerlichen Unterton.

»Schon gut«, antwortete Brecht beschwichtigend, »ich komme! Um welche Kirche handelt es sich?«

Wieder entstand eine Pause.

»Jonas, hat die Kürche einen Namen?«, hörte Brecht die Stimme fragen. Irgendjemand im Hintergrund gab eine Antwort, die Brecht aber nicht verstehen konnte.

»Wir sind in Wormersdorf, Stadtteil von Rheinbach«, gab die Dame an Brecht weiter, »aber das sagte ich ja anfangs bereits.«

»In Wormersdorf gibt es zwei Kirchen, soviel ich weiß«, erwiderte Brecht in ruhigem Ton. Er war sich da ganz sicher, aber er bemühte sich, nicht unfreundlich zu klingen. Wegen seiner …, er wog kurz ab, welches Adjektiv sein Verhalten am besten beschrieb, … ungewöhnlichen Reaktion vorhin regte sich doch sein schlechtes Gewissen ein wenig.

Pause.

Brecht versuchte zu helfen: »Ist es eine große oder eine kleine Kirche?« Er bemerkte sofort selbst, dass Ungeduld in seiner Stimme mitschwang.

Diesmal kam die Antwort spontan: »Kleiner als der Kölner Dom, aber größer als die Bruder-Klaus-Kapelle bei Wachendorf.«

Brecht war verblüfft. Die Dame konterte. Und gar nicht mal so schlecht! Natürlich war seine Frage nicht sehr sinnvoll gewesen. Groß und klein waren relative Begriffe. Sie brauchten immer einen Bezug. Da die Dame die andere Kirche nicht kannte, konnte sie nicht wissen, ob sie größer oder kleiner war. Aber die Antwort gefiel ihm. Dass der Kölner Dom riesig ist, wusste jeder. Und kleiner als die Bruder-Klaus-Kapelle bei Mechernich in der Eifel konnte ein Gotteshaus kaum sein, zumindest was die Grundfläche anging. Der Betonturm des Schweizer Stararchitekten Peter Zumthor wies innen nur eine kleine Holzbank auf, und es konnten sich nur wenige Personen gleichzeitig in dem Gebäude aufhalten. Raffinierte Antwort!

Brecht versuchte es erneut: »Liegt die Kirche mitten im Ort oder am Rand?« Mit dieser Frage müsste eine Identifizierung eigentlich gelingen.

»Eindeutig am Rand«, lautete die Antwort.

»Dann ist es die Ipplendorfer Kirche«, erklärte Brecht, zufrieden, dass er das Kommunikationsproblem gelöst hatte.

»Wenn Sie meinen«, erwiderte die Dame mit skeptischem Unterton, »wir sind aber in Wormersdorf.«

»Schön, dass Sie das sicher wissen«, schoss Brecht zurück, »und ich weiß, dass die Ipplendorfer Kirche in Wormersdorf liegt. So, ich bin schon unterwegs!« Damit beendete er das Gespräch und drückte einfach auf das Feld mit dem roten Hörersymbol.

Elf Leichen auf einmal?

Brecht wollte es nicht glauben. So viele hatte er gerade mal in seiner gesamten bisherigen Dienstzeit zusammengebracht, wenn überhaupt, und die betrug immerhin schon dreißig Jahre. Und nun elf auf einen Schlag? Eine komplette Fußballmannschaft? Brechts Phantasie war nicht mehr zu bremsen. Vielleicht vom Blitz getroffen? Aber was war mit dem Schiedsrichtergespann? Und der gegnerischen Mannschaft?

Was hatte die Kollegin gesagt? Nicht an der Kirche, sondern in der Kirche? Dann schieden der Blitzschlag und die Fußballmannschaft schon einmal aus. Wie schnell die Polizei doch heutzutage arbeitete! Noch nicht einmal am Tatort angekommen, und schon lagen erste Ergebnisse vor!

Brecht stöhnte über sich selbst. Wie gut, dass niemand seine Gedanken lesen konnte! Man hätte ihn für verrückt erklärt! Aber wie könnte man einen solchen Beruf sonst ertragen? Man musste ein bisschen verrückt sein, auf alle Fälle aber Humor haben, schrägen Humor.

Er kannte die Kollegin nicht, die ihn angerufen hatte, zumindest hatte er ihren Namen nicht verstanden, und ihre Stimme war ihm auch fremd. Fremd, aber angenehm, wie er zugeben musste. Wenn nicht die ölf Leichen in der Kürche gewesen wären, hätte er ihr noch länger zuhören können. Eine weiche, angenehme Stimme. Mit der konnte man bestimmt einen potenziellen Selbstmörder vom Sprung aus dem Hochhaus abhalten. Aber dann?

Na ja, in dem vorliegenden neuen Fall war es offensichtlich ohnehin zu spät. Auch eine angenehme Stimme konnte elf Leichen nicht zum Leben erwecken! Wenn es denn wirklich elf Leichen waren. Brecht hatte da einfach seine Zweifel. Das klang doch eher nach einem schlechten Krimi!

Er schwang sich auf sein Fahrrad und strampelte los. Er fuhr zwischen den Häusern des Neubaugebietes hindurch, in das er vor ein paar Jahren gezogen war. Wohnpark Weilerfeld war die offizielle Bezeichnung. Er selbst sprach immer vom Neubaugebiet. Wie lange blieb ein Neubaugebiet eigentlich neu? Für ihn vermutlich immer, denn er hatte die Rohbauten erlebt, die noch nicht fertig gestellten Straßen, die Baumaterialien, um die man herum kurven musste. Aber das gehörte der Vergangenheit an. Das Neubaugebiet war fertig. Doch für ihn würde der Name bleiben! Basta!

Brecht trat kräftig in die Pedale. Er befuhr den Worringer Weg. Jedes Mal, wenn er den Straßennamen auf dem Schild sah, erfasste ihn kurz seine Heiterkeit von damals, als man das Schild austauschte. Es müsste doch Worringener Weg heißen, hatte jemand beanstandet. Nach der Schlacht von Worringen, die den Rittern von Rheinbach das Recht gab, die Siedlung an ihrer Burg auszubauen, und damit letztlich auch zur Errichtung des Neubaugebietes geführt hatte, des Wohnparks Weilerfeld. Worringen plus Endsilbe -er. Der Schildertausch wurde in der Presse als Schildbürgerstreich gehandelt. Es gab eine ironische Nachfrage, ob man denn jetzt auch von den Bremener Stadtmusikanten sprechen müsste. Nach kurzer Zeit wurde das alte Schild wieder montiert.

Brecht ließ den Worringer Weg und seine Geschichte hinter sich und bog nach rechts ab. Zum Glück waren die Temposchwellen, mit denen man hier die Straße versehen hatte, fahrradfreundlich. Die wie Kissen auf der Fahrbahn liegenden Erhöhungen fielen nach links und rechts ab, so dass direkt an den Bordsteinkanten schmale Durchlässe geblieben waren, die man als Fahrradfahrer nutzen konnte, ohne sich wie auf einer Holperstrecke vorzukommen. Oder hatte man den Radlern gar nichts Gutes tun wollen, sondern dabei nur an das Regenwasser gedacht, das ungehindert abfließen sollte? Jedenfalls wäre er nur widerstrebend über die Kissen gefahren, denn er hatte davon gehört, dass Fachleute ein solches Bremskissen auch schlafender Polizist nannten. Einen Polizisten hätte er nur ungern überfahren, kollegial wie er war!

Sein Blick fiel auf das kleine Display am Lenker. Sollte er nicht den Motor einschalten? »Nur bei starkem Gegenwind oder am Berg«, hatte sein Arzt gemahnt. »Tun Sie etwas für Ihre Gesundheit, die Bewegung tut Ihnen gut, der Elektromotor soll nur extreme Anstrengungen vermeiden helfen.« So früh am Morgen kam ihm das Fahren eigentlich schon wie eine extreme Anstrengung vor. Und Gegenwind? Brecht steckte den Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und hielt dann den Finger wie eine Fahne in die Luft. So hatten sie das als Kinder gemacht, wenn sie Drachen steigen ließen und die Windrichtung prüfen wollten. Der Finger wurde an der Seite, die in Fahrtrichtung zeigte, kalt.

»Aha! Gegenwind!«, rief Brecht laut aus. Er wollte schon den Elektromotor einschalten, als eine dieser inneren Stimmen, die sich ab und zu bei ihm meldeten – meist zu unpassender Zeit –, das Wort ergriff: »Quatsch, Brecht, das ist kein Gegenwind, das ist bloß Fahrtwind! Ein Windchen!« In der Tat spürte er, wie ihm ein leichter Windstoß von der Seite und nicht von vorne eine Strähne seines ergrauten Haupthaares in die Stirn blies. Von der Seite! Seine Hand, die eben noch das entsprechende Feld seines Displays betätigen wollte, zog sich zurück und wischte die Haare aus dem Gesicht. »Aber nach der nächsten Rechtskurve«, sagte er der inneren Stimme, »dann ist es Gegenwind!«

Nach einer Weile bog er nach links auf einen geteerten Feldweg ab, dessen Einmündung mit einem großen Findling dekoriert war. Ein Schild wies darauf hin, dass der Weg für Kraftfahrzeuge und Motorräder gesperrt sei, ein anderes auf die Entfernung von drei Kilometern bis nach Wormersdorf.

Dann nahm er die Querverbindung zur Parallelstraße, den Ahrweg. Dieser verlief wirklich bergauf, eindeutig, und Brecht schaltete mit gutem Gewissen den Rückenwind ein. Er befand sich jetzt zwischen Feldern und Wiesen, links wurde der Weg von Hecken gesäumt, rechts von Wald. Wenn Brecht nicht das unschöne Ziel, nämlich angeblich eine beträchtliche Anzahl an Leichen, vor sich gehabt hätte, wäre die Fahrt ein Wochenendvergnügen gewesen.

Vor ihm tauchte ein weiterer Fahrradfahrer auf, ein sportlicher, mit enger Radlerhose, engem Trikot und Käppi. Wie eine Leberwurst mit Kopfbedeckung! Brecht drückte das Feld auf dem Display, das die elektrische Leistung erhöhte. Sein Rad ruckte nach vorne, trotz des Anstiegs. Die Distanz zwischen ihm und der Leberwurst verringerte sich zusehends, da schaute das Käppi nach links und bog auch in diese Richtung ab. Schade, dachte er. Den Triumph hätte er sich gerne gegönnt, die Leberwurst zu überholen und in das verdutzte Gesicht zu grinsen. Er reduzierte die Leistung wieder. Strom sparen. Aber jetzt war das Fahren deutlich anstrengender. Brecht schnaufte. Warum musste die Kirche auch auf einer Anhöhe liegen! Oder überhaupt in seiner Nähe! Hätte man die elf Leichen nicht auch in einer anderen Kirche finden können? Weiter weg, dann hätte er das Auto genommen.

Brecht fuhr zwischen einem Sportplatz und Tennisplätzen hindurch und befand sich wieder in bewohntem Gebiet. Nachdem er zwei Straßenkreuzungen überquert hatte, überwogen links und rechts freistehende Einfamilienhäuser mit Garagen und gepflegten Vorgärten. In einem fiel Brecht eine riesige Uhr auf einer verzierten Säule ins Auge, die auf den Bahnsteig eines altehrwürdigen Bahnhofs gepasst hätte. Ob sie sogar die Zeit richtig anzeigte, entging ihm, denn er musste einer Autotür ausweichen, die in den Fahrweg hineinragte.

»Tun Sie etwas für Ihre Gesundheit. «Diese Mahnung kam ihm wieder in den Sinn.

Wahrscheinlich besaß sein Arzt gar kein Fahrrad, sonst wüsste er, wie gefährlich so eine Drahteselfahrt sein konnte. Der Transporter mit der offen stehenden Beifahrertür war auch noch entgegen der Fahrtrichtung geparkt worden. Zum zweiten Mal an diesem jungen Tag schüttelte Brecht den Kopf, ohne dass der Adressat es sehen konnte, denn das Fahrerhaus war leer.

Er schaffte es dann doch, sein Ziel ohne Verschnaufpause zu erreichen. Vor ihm blockierte ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht die enge Straße. Er stieg vom Rad, lehnte es an eine Hausmauer und ging auf die kleine Kirche zu. »Sie können hier nicht durch!«, rief eine Stimme. Sie gehörte einem Polizisten in Uniform.

»Ich kann«, antwortete Brecht, mit starker Betonung auf dem ersten Wort, und zog seinen Ausweis.

»KHK Brecht, Sonderermittler!«

Brecht genoss die Situation, wie jedes Mal. Was so eine kleine Plastikkarte ausmachte, dazu seine Position, selbstbewusst vorgetragen. Ähnlich hatte sich vermutlich der Polizist gefühlt, mit seinem Streifenwagen, dem Blaulicht, seiner Uniform und dem »Sie können hier nicht durch.« Eine Machtposition! Pech gehabt, dass er es nicht mit einem normalen Passanten zu tun hatte. Der Polizist tat ihm fast leid.

»Das ist natürlich etwas anderes!«, sagte dieser gelassen. »Hallo, Kollege, da drin wartet man schon auf Sie.« Er zeigte mit dem Daumen hinter sich, in Richtung Kirche.

Brecht war fast neidisch auf die ruhige, umgängliche Art des Polizisten. Der machte das gut. Hatte offensichtlich kein Problem damit, dass er, Brecht, sich gerade vielleicht ein bisschen arrogant gegeben hatte.

»Danke!«, sagte Brecht. Danke war immer gut. Das kam an. Damit waren sie quitt. Er nickte dem Uniformierten noch einmal zu und ging weiter. In Filmen wurde den Ermittlern, die mit einem BMW oder einem Mercedes angerauscht kamen und aus dem Fahrzeug sprangen, das Absperrband hochgehalten, so dass sie sich nur wenig bücken mussten. Hätte ihm auch gefallen. Zu blöd, dass es hier kein Absperrband gab. Brecht besann sich und drehte sich noch einmal um.

»Wenn Sie ein Auge auf mein Rad werfen könnten«, rief er dem Uniformierten zu. »Pedelec!«, gab er noch als kurze Erklärung hinterher. Zweitausendfünfhundert Euro, dachte Brecht, wollte den Preis aber nicht durch die Gegend posaunen. Hätte angeberisch wirken können.

Die dunkle, schwere Holztür in der Mitte des Kirchturms stand offen, Brecht betrat das Gebäude. Seine Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Zwei Personen in weißen Schutzanzügen, eine mit einer Kamera in der Hand, knieten im Gang zwischen den Bankreihen auf dem Boden. Von Leichen aber keine Spur! Was war das jetzt? Brecht ging auf die beiden Schneemänner zu und räusperte sich. Der Weiße mit der Kamera blickte auf. Es war Knips von der SpuSi. Brecht kannte seinen richtigen Namen nicht, alle nannten ihn Knips, trotzdem zögerte Brecht, ihn mit Knips anzureden. Ob er von seinem Spitznamen überhaupt wusste?

Brecht deutete auf den Fleck am Boden, vor dem die beiden hockten. »So kleine Leichen? Elf Ameisen vielleicht?« Was für ein blöder Scherz, schoss es Brecht sogleich selbst durch den Kopf. Aber nun war er raus.

»Herr Brecht, grüße Sie!«, sagte Knips und richtete sich auf. »Ich überlasse Ihnen gleich das Feld, ich habe schon fast alles geknipst.« Auf den blöden Scherz ging er nicht ein, Brecht war erleichtert.

»Nein, keine ölf Ameisen, ölf ausgewachsene Leichen«, sagte eine Stimme neben ihm, eine sehr angenehme Stimme. Der zweite Schneemann war eine Schneefrau, die sich jetzt die Kapuze von ihrem Kopf zog und ihr blondes Haar schüttelte. Brecht sah den Mittelscheitel mit den dunklen Ansätzen auf beiden Seiten. Aha, The Voice färbt ihre Haare, kombinierte er messerscharf. Hätte sie eigentlich nicht nötig, bei der Stimme.

The Voice hielt ihm ihre Hand hin. »KK Przyleck«, sagte sie, »wir haben vorhin miteinander telefoniert.« Pschüleck? Brecht überlegte, wie man den Namen wohl schreiben würde, während er ihre Hand schüttelte. Fester Händedruck, angenehm.

»Angenehm!«, sagte Brecht höflich. »Gut, dass Sie mich informiert haben, bei elf Leichen.«

»Der O-S-t-A Haase hat das angeordnet«, antwortete The Voice, wobei sie die Abkürzung der Dienstbezeichnung in einzelnen Buchstaben wiedergab.

»Der Osterhase leitet die Ermittlungen?« Brecht war nicht begeistert. Er konnte den Osterhasen, wie fast alle Kollegen Oberstaatsanwalt Haase intern nannten, nicht leiden. Ein unangenehmer Mensch! KK Przyleck lachte. Offenbar hatte sie den Spitznamen noch nicht gehört.

»Seit wann sind Sie denn schon hier?«, fragte Brecht, der sich wunderte, dass die Organisation des Einsatzes anscheinend sehr schnell gegangen war.

»Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete KK Przyleck, »das muss der Gerichtsmediziner feststellen.«

Missverständnis, dachte Brecht belustigt, wollte es aber nicht aussprechen, aus Sorge, eine seiner Äußerungen könnte wieder arrogant rüberkommen. Er hatte da schon seine Erfahrungen gemacht. »Nein, ich meine, wie lange Sie schon hier sind, also die SpuSi, nicht die Leichen.«

The Voice lachte wieder und schaute dabei reflexhaft auf ihr linkes Handgelenk. Ihre Uhr war aber fest in dem Ärmel des Schutzanzuges verpackt.

»Schätze, über eine Stunde«, sagte sie dann und ließ ihren Arm wieder sinken.

»Und wo sind die Leichen?« Brecht ließ das Zahlwort bewusst weg. Knips zeigte in beide Richtungen auf die Bankreihen neben sich. Brecht trat näher an die Bank zu seiner Rechten heran. Auf der Sitzfläche lag ein längliches Paket, heller Leinenstoff. Die Umrisse deuteten auf einen menschlichen Körper. Davor lag halb auf dem Boden, halb auf der Kniebank ein weiteres, anscheinend identisches Paket. Brecht drehte sich um. In der Bank auf der anderen Seite des Ganges das gleiche Bild.

Da waren es schon vier, dachte Brecht und spürte einen Schauder, der ihm den Rücken hinab lief. Er machte einen Schritt nach vorne, schaute nach links und rechts, wieder vier Pakete. Noch zwei Schritte, rechts Nummer neun und Nummer zehn, links nur ein Paket. Machte elf. Sicherheitshalber kontrollierte Brecht auch noch die Bankreihe davor, ging zurück und schaute auch in der letzten nach. Die waren wirklich leer, paketfrei.

»Habt ihr schon alle …«, Brecht zögerte, »hm, Pakete überprüft?«

»Nein«, antwortete Knips, »das sollen die Medizinmänner machen.«

»Und wo sind die?«

»Heute ist Samstag!«, sagte Knips in belehrendem Ton.

»Ach so!«, rief Brecht aus und täuschte Überraschung vor. Ich bin doch auch schon hier, dachte er, sagte es aber nicht. Er würde jetzt auch viel lieber die Zeitung lesen, bequem in seinem Sessel sitzend, mit übereinandergelegten Beinen, einen Kaffee dabei trinken und einen geruhsamen Morgen verbringen. So, wie es sich seine Frau immer gewünscht hatte … vor der Trennung. Brecht schüttelte sich, um den Gedanken loszuwerden. »Ihr seid doch auch schon hier!«, sagte er dann.

»Ja, wir!«, antwortete Knips und zog dabei das Personalpronomen in die Länge. Mehr sagte er nicht. Brecht grübelte nur kurz, was Knips damit wohl ausdrücken wollte. Dann trat er wieder an die vorletzte Bank heran und beugte sich über das Paket. »Wie sind die verschlossen?«, fragte er laut, ohne aufzublicken.

»Alle ölf zugenäht«, sagte The Voice, »verlängert und zugenäht.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte er zurück. Er hörte, wie KK Przyleck auf seine Frage hin näher an ihn herantrat.

»Es sind Schlafsäcke, am Kopfende um ein Stück Leinentuch verlängert und zugenäht.« Brecht verstand, musste sich aber konzentrieren, um sich nicht nur dem Klang der Stimme direkt hinter ihm hinzugeben. Er spürte ein Kribbeln im Rücken. Nicht unangenehm!

»Schlafsäcke?« Er drehte sich um.

KK Przyleck hatte ein iPad in der Hand. »Ja, einfaches Modell einer dänischen Firma. Cottoninlet. Mummy beige, zwölf Euro neunzig.«

Brecht verwarf seine spontane Idee, The Voice mit der Frage »Zwölf Euro, keine ölf?« zu necken. »Mummy?«, fragte er stattdessen, »wie Mutti?«

»Vielleicht«, antwortete KK Przyleck, »oder wie Mumie.«

»Ach du liebe Zeit«, rief Brecht aus, »wer benutzt denn so was?«

»Als wir noch jung waren und in unserer Sturm-und Drang-Zeit in den Jugendherbergen der Welt zu übernachten pflegten, hatte ich immer so einen einfachen Schlafsack dabei«, erklärte Knips. »Das war hygienischer, als in obskurer Bettwäsche zu schlafen. Man wusste ja nie, wer da vorher drin gelegen hatte. Einmal habe ich tatsächlich erlebt …«

Brecht hörte nicht weiter zu, denn routinemäßig setzte bei ihm die Planung der Ermittlungsschritte ein. Sie mussten alle Jugendherbergen in der Umgebung überprüfen, am besten auch die Campingplätze, dazu Geschäfte, die Schlafsäcke führten, also diese Outdoorläden. Die verkauften sicher nicht jeden Tag elf von diesen Dingern auf einmal. Da müsste man sich doch an den Käufer erinnern. Zu dumm, dass es auch noch das Internet gab. Wenn die Schlafsäcke darüber gekauft worden waren …

»Also die Todesursache habt ihr nicht?«, hakte Brecht noch einmal nach.

»Nein!«, antworteten Knips und KK Przyleck wie aus einem Munde.

»Wie viele habt ihr geöffnet?«

»Drei«, sagte Knips und zeigte es auch mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand an. »Sie sind unbekleidet, blass.«

»Männlein oder Weiblein?«

»Sowohl als auch.«

»Oh, Knips, komm, kann es nicht etwas genauer sein?«, entfuhr es Brecht unkontrolliert.

»Was höre ich da?«, fragte Knips belustigt nach.

»Entschuldigung!«, erwiderte Brecht. »Der Name ist mir so rausgerutscht.«

»Nein, kein Problem, alle nennen mich Knips, aber seit wann duzen wir uns?«

»Seit eben«, knurrte Brecht, »ich heiße Jost.«

»Ist okay, Bert«, antwortete Knips, während er an seiner Kamera fummelte.

Brecht schaute ihn verwundert an, was Knips aber nicht mitbekam.

»Zwei Männer, eine Frau«, schaltete sich KK Przyleck ein, »die Frau um die fünfzig, die Männer zwischen sechzig und siebzig, vermute ich mal. Ein Mann ohne Haare, also glatzig, der andere die Haare kurz geschnitten, die Frau mit langen braunen Haaren. Aber wieso nennt er Sie Bert?«

»Danke für die Informationen«, sagte Brecht. »Einer also glatzköpfig«, konnte er sich als Korrektur nicht verkneifen, fuhr dann aber sogleich fort: »Bert, na ja, ich vermute, er nennt mich Bert, weil es mal einen Schriftsteller gab, der so hieß.«

»Einen Schriftsteller namens Bert? Muss man den kennen?«

Knips fingerte weiter an seiner Kamera herum. Er schien das Gespräch nicht zu verfolgen, jedenfalls zeigte er es nicht.

Brecht hielt einen Seufzer zurück. »Nein, Bert mit Vornamen, Bert Brecht.«

»Ach so, Bertolt Brecht, meinen Sie. Machen Sie sich nichts draus. Wir haben ja fast alle Spitznamen hier.«

»Und welchen haben Sie?«

»Blacky!« KK Przyleck lachte.

»Blacky?«, wiederholte Brecht verwundert. Blondie wäre treffender, dachte er.

»Ja, früher hatte ich schwarze Haare.« KK Przyleck senkte den Kopf und zeigte auf ihren Scheitel. »Sehen Sie?« Sie lachte wieder und schüttelte ihr Haupt.

»Und nun warten wir auf den Gerichtsmediziner!«, stellte Brecht fest, um wieder zum eigentlichen Thema zu kommen.

»Die Fedderina kommt bestimmt nicht, die hat noch Urlaub, das weiß ich«, warf Knips ein.

»Hoffentlich weiß Osterhase das auch«, sagte Brecht. »Jedenfalls muss er sich darum kümmern. Wir kommen hier sonst nicht weiter.« Er zog sein Handy aus der Tasche und begann zu telefonieren. Den Oberstaatsanwalt erreichte er nicht, aber immerhin jemanden, der einen Gerichtsmediziner verständigen wollte. »Oder besser zwei«, riet Brecht, »wir haben elf Leichen hier.«

Bei Brecht meldete sich der Morgenkaffee. Er schaute sich um. Gab es in einer alten Kirche eigentlich auch eine Toilette? Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Er ging auf eine Tür zu, hinter der sich vermutlich die Sakristei befand. Falls die kleine Kirche so etwas überhaupt besaß. Die Tür war unverschlossen, dahinter war es dunkel. Brecht tastete nach einem Lichtschalter an der Wand, fand aber keinen. Er tappte zwei Schritte in die Dunkelheit hinein. Der Schlag auf seinen Hinterkopf war heftig. Klang nach Metall, dachte er noch, das würde zwei Beulen geben, eine an seinem Kopf, die andere im Metall. Dann wurde es ganz dunkel.

2

Der Uniformierte langweilte sich ein wenig. Er hatte sich mit dem Unterarm auf die geöffnete Tür des Streifenwagens gestützt und schaute die beiden Straßen hinunter, die direkt vor ihm aufeinander trafen. Die Ipplendorfer Straße fiel von ihm aus gesehen steil ab, die andere, die Floßstraße, blieb auf seiner Höhe. Hier oben war wenig Betrieb, samstagmorgens wahrscheinlich noch weniger als sonst. Keine Kinder, die zur Schule gebracht werden mussten, die meisten Menschen blieben etwas länger in ihren Betten. Weiter vorne ragte noch eine gerollte Zeitung aus einem Briefkasten. Der Austräger hatte die offene Tür der Kirche bemerkt und die Polizei verständigt. Es war dort schon einmal eingebrochen worden, daran hatte er sich erinnert. Wenn nur alle Bürger so aufmerksam wären!

Der Polizist beugte sich in das Fahrzeug und schaltete das Blaulicht ab. Er war nach dem Anruf sofort losgefahren, froh, der schlechten Luft in der Wache zu entkommen. Autoverkehr hatte es so gut wie keinen gegeben, so schnell war er schon länger nicht mehr gefahren. Hatte ihm richtig Spaß gemacht, was man natürlich nicht laut sagen durfte. Das war das Erste, was man den Neulingen beibrachte, sich bloß keinem Geschwindigkeitsrausch hinzugeben, kühlen Kopf zu bewahren, Blaulicht war kein Freibrief, Sicherheit ging vor Schnelligkeit. Aber er war schnell gewesen! Der Zeitungsausträger hatte ihn verdattert angeschaut. »Sind Sie geflogen?« Der Uniformierte lächelte in sich hinein.

Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung, die ihn aus seinen Gedanken riss. Der Sonderermittler hatte sich auf sein Fahrrad, sein Pedelec, geschwungen und fuhr schon wieder weg. Seine Jacke flatterte im Wind. Diese Jacke! Sie war ihm schon aufgefallen, als der KHK ihm seinen Ausweis gezeigt hatte. Trugen Holzfäller in Kanada nicht solche Jacken? Peggy würde ihn so nicht herumlaufen lassen, seine Frau achtete auf geschmackvolle Kleidung. Aber der Sonderermittler schien ihm kleiner geworden zu sein. Der Uniformierte lachte. Vermutlich in der Kirche geschrumpft, durch den Stress. Da waren Leichen in den Säcken, das hatte er sofort gewusst. Allerdings waren sie wahrscheinlich weniger schrecklich anzusehen als die verstümmelten Unfallopfer, mit denen er es bisweilen zu tun hatte. Na ja, jedem das Seine. Vielleicht musste der KHK auch nur dringend. Selbst Sonderermittler müssen mal! Soviel er wusste, gab es in der kleinen Kirche keine Toilette. Aber da wäre der Herr Ermittler besser in die andere Richtung gefahren, am Friedhof und der Aussegnungshalle vorbei in die offenen Obstplantagen hinter ihm. Da war Platz in Hülle und Fülle. Der Polizist lachte wieder. Mit welchen Gedanken er sich die Zeit vertreiben musste! Schade um den Samstagmorgen!

3

Brecht wunderte sich, dass er auf dem Boden lag. Was machte er da? Mit der Erinnerung kehrte auch der Schmerz zurück. Er wollte sich an den Hinterkopf fassen, aber seine Arme waren merkwürdig verdreht. Er hatte das Gefühl, dass er sie erst einmal wieder einrenken musste. Vorsichtig machte er leichte Bewegungen. Dabei bemerkte er, dass er keine Jacke mehr trug. Man hatte sie ihm ausgezogen, während er auf dem Boden lag! Daher die verdrehten Arme! Brecht war erleichtert, dass seine Kombinationsgabe nicht verloren gegangen war. Mühsam rappelte er sich hoch. Doch noch zu schnell, vor seinen Augen tanzten Sterne. Er wischte sich über die Augen. Etwas zu trinken käme ihm jetzt gerade recht. Ach ja, er befand sich in einer Kirche. Er wäre auch mit einem Schluck Messwein zufrieden. Brecht machte vorsichtig ein paar kleine Schritte auf die Türöffnung zu, die sich etwas heller in der Dunkelheit abzeichnete. Er stieß mit dem Fuß gegen irgendetwas, das schepperte. Bloß nicht bücken, sagte eine Stimme in ihm. Er hob den rechten Fuß und ließ ihn nach vorne schwingen, dann noch einmal, etwas mehr nach links. Getroffen! Wieder schepperte es, und er sah in der Türöffnung auf dem Fußboden etwas liegen. Es schimmerte in dem schwachen Licht aus der Kirche. Ein Pokal, glänzte wie Messing, ein Kelch, ein alter Weinkelch! Vorsichtig ging Brecht in die Knie, hob den Kelch auf. Er fuhr mit der Hand um die Wandung, war fast ein wenig enttäuscht, dass er keine Beule entdecken konnte. Der hatte ihn schachmatt gesetzt? Er tastete nach dem Fuß des Gefäßes. Sehr solide, der hatte ihn wohl getroffen! Er setzte den Kelch einfach wieder ab, indem er langsam in die Knie ging, und bewegte sich vorsichtig weiter nach vorne. In der gesamten Kirche war niemand zu sehen, aber er hörte Geräusche, die aus der Bankreihe links vor ihm kamen. »Hallo!«, rief Brecht, und sofort erschienen über den Bänken zwei Köpfe mit weißen Kapuzen in den Nacken.

»Bert«, sagte Knips verwundert, »hast du nicht gerade die Kirche verlassen?«

»Davon wüsste ich, Knips«, antwortete Brecht, der sich langsam wieder fing. »Aber sah ich gut aus, wie immer, und hatte meine Jacke an? Als ich gerade scheinbar die Kirche verlassen habe, meine ich.« Er liebte es, sarkastisch zu sein.

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Knips, während KK Przyleck ausrief: »Sie meinen …?«

»Ja, genau«, erwiderte Brecht, »das meine ich. Ein Kerl hat mich niedergeschlagen, meine Jacke angezogen, um euch zu täuschen und sich so aus dem Staub gemacht, unter euren Augen.«

»Wir waren hier zwischen den Bänken beschäftigt«, sagte Knips entschuldigend, »hatten die Kapuzen auf und haben uns unterhalten. Außerdem ist deine Jacke …« Er brach ab und suchte nach Worten.

»Ja?«, forderte Brecht ihn auf, weiterzureden.

»Na ja, sehr …«, Knips stockte wieder, »sehr auffällig. Man kann ja nicht ahnen, dass ein anderer drinsteckt. Aber wie sah er aus? Kannst du ihn beschreiben?«

»Knips, da drin ist es stockdunkel.« Brecht wies hinter sich in Richtung des kleinen Raumes. »Außerdem hat er mich von hinten erwischt, der Feigling.«

»War das jetzt Zufall?«, fragte KK Przyleck nachdenklich. »Hat ein kleiner Dieb die Gelegenheit genutzt, um etwas zu klauen, als er die offene Tür gesehen hat? Oder hat der Typ etwas mit den ölf Leichen zu tun?«

»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte Brecht. »Das war der Kerl, der hier die Leichen deponiert hat. Ein einfacher Dieb schlägt nicht derart zu!« Vorsichtig tastete er nach der Beule an seinem Hinterkopf.

»Sollte sich darum nicht besser ein Arzt kümmern?«, fragte KK Przyleck mitfühlend.

»Der Rechtsmediziner müsste jeden Augenblick eintreffen«, sagte Knips sachlich.

Brecht holte tief Luft. »Noch bin ich keine Leiche!«, protestierte er. »Nein, ich glaube, es geht schon. Es ist noch nicht einmal eine Platzwunde, nur eine fette Beule.«

»Keine Gehirnerschütterung?«, fragte KK Przyleck und bewegte ihren aufgerichteten Zeigefinger vor Brechts Gesicht hin und her.

»Mein Gehirn lässt sich so leicht nicht erschüttern!«, sagte Brecht. »Und ehe Sie mich abfragen: Heute ist Samstag, mein Name ist Jost Brecht und zwischen Frühling und Herbst liegt der Sommer!«

»Sollte der Sommer liegen«, korrigierte ihn Knips, »bisher ist er ja noch nicht aufgetaucht in diesem Jahr.«

»Deine Kollegin macht sich wenigstens Sorgen um mich«, tadelte Brecht ihn. »Du denkst anscheinend nur ans Grillen oder was du sonst im Sommer machen willst.«

»Was war denn in deiner Jacke?«, fragte Knips pflichtschuldigst, um auch seine Anteilnahme auszudrücken. »Etwas Wertvolles? Deine Papiere?«

»Nein, Gott sei Dank nicht, das ist der Vorteil, wenn man mit dem Rad unterwegs ist, da braucht man keine Papiere, da kann einem auch nichts geklaut werden. Bis auf meinen Ausweis, den habe ich aber in der Hosentasche.«

»Höchstens das Fahrrad selbst, das einem geklaut werden kann, ha ha!«, scherzte Knips. Brechts Miene verdüsterte sich, die Bemerkung seines Kollegen beunruhigte ihn. Der Unbekannte hatte die Kirche durch die Eingangstür verlassen. Wenn er sich nach rechts gewandt hatte, war er auch an seinem Fahrrad, das an der Hausmauer lehnte, vorbeigekommen. Und das könnte bedeuten …

»Bin gleich wieder da«, sagte er und eilte hinaus.

Vor der Kirche blieb er wie angewurzelt stehen. Der schlimmste Fall war tatsächlich eingetreten!

»Tut mir leid«, sagte der Uniformierte, »ich dachte, das wären Sie auf dem Fahrrad gewesen. Er hatte aber auch eine Jacke an, die sehr ähnlich aussah wie …« Er stockte und schaute an Brecht herunter.

»Nicht nur sehr ähnlich«, presste Brecht zwischen den Zähnen hervor, »das war meine Jacke! Können Sie eine Fahndung veranlassen? Also, weniger nach meiner Jacke als nach meinem Pedelec und dem Dieb natürlich. Er hat mich niedergeschlagen.«

Ein Mann tauchte hinter der Reihe der geparkten Autos auf, näherte sich schnellen Schrittes und ging auf die Kirche zu. »Sie können da jetzt nicht rein!«, schnarrte Brecht, eine Spur zu unfreundlich, wie er selbst sofort empfand. Schuld war sein Ärger über das gestohlene Rad, unter den Augen der Polizei entwendet.

»Ich kann«, erwiderte der Mann genauso forsch, »ich komme von der Rechtsmedizin, Uni Bonn.«

Was für ein Scheißtag, fuhr es Brecht durch den Kopf, aber immerhin war jetzt jemand für die Leichenschau da!

»Das ist natürlich etwas anderes«, versuchte Brecht die Freundlichkeit zu imitieren, die der Uniformierte bei seiner eigenen Ankunft an den Tag gelegt hatte. Der Tonfall misslang aber. Brecht bemühte sich weiter: »Schön, dass Sie endlich da sind!« Natürlich hätte er sich das Wort endlich verkneifen sollen!

»Ich bin gekommen, so schnell es möglich war«, konterte der Rechtsmediziner, »und eigentlich habe ich frei heute!«

»Wie wir alle«, seufzte Brecht. »Kommen Sie, es gibt viel zu tun!«

4

Während sich der Rechtsmediziner die Leichen anschaute, setzten sich Brecht, Knips und KK Przyleck auf eine Kirchenbank und nahmen ihre Überlegungen wieder auf.

»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte Brecht.

»Ich rekapituliere«, sagte Knips, »der Leichenlieferant befindet sich in dem kleinen Raum dort, den er unbemerkt nicht verlassen kann, weil wir hier in der Kirche unsere Arbeit tun. Als KHK Brecht den Raum betritt, schlägt der Mann ihn nieder, verkleidet sich mit dessen Jacke und entkommt aus der Kirche. Er benutzt das Fahrrad von KHK Brecht zur weiteren Flucht.«

»Womit wir vor einem Berg von Fragen stehen«, setzte Brecht ein. »Erstens, wenn der Mann etwas mit den Leichen zu tun hat, wie hat er sie hierhin geschafft? Elf Leichen trägt man nicht auf dem Rücken! Zweitens, warum bringt er sie in die Kirche? Drittens, hat er etwas mit deren Tod zu tun …?«

Brecht wurde von Knips unterbrochen: »Wir wissen ja noch nicht einmal, wie die elf Menschen zu Tode gekommen sind. Wir müssen abwarten, was die Obduktion ergibt. Tatsache ist aber, dass sie hier sind, und ich denke, der Transport kann nur mit einem Lastwagen oder einem Lieferwagen erfolgt sein.«

»Richtig«, schaltete sich KK Przyleck ein, »wir sollten vor der Kürche nach Spuren suchen. Wenn ich ölf Leichen in eine Kürche bringen wollte, würde ich so nah wie möglich an die Türe heranfahren.«

»OK«, sagte Brecht, »Tatsache ist aber auch, dass kein Fahrzeug vor der Kirche stand, obwohl der Kerl noch in der Kirche war. Wie bringen wir das zusammen?«

»Hm«, machte KK Przyleck nachdenklich und überlegte dann laut, »ich fahre den Wagen, sagen wir, einen Transporter, vor die Kürche vor, natürlich rückwärts, um besser ausladen zu können, öhm, ich bin nicht allein, wir laden also zu zweit aus, ich steige wieder in den Transporter und vergesse, meinen Kumpel mitzunehmen.«

Brecht und Knips lachten. »Klingt eher unwahrscheinlich«, sagte Knips, »auch wenn man ab und zu in der Zeitung lesen kann, dass ein Mann seine Frau auf dem Autobahnrastplatz vergessen hat und erst nach vielen Kilometern auf dem nächsten Parkplatz anhalten kann …«

»Der Lieferwagen!«, rief Brecht aus. Knips und KK Przyleck schauten ihn verständnislos an.