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Mami Bestseller
– Staffel 3 –

E-Book 21-30

Bettina Clausen
Jutta von Kampen
Rosa Lindberg
Karina Kaiser
Silva Werneburg
Eva-Maria Horn
Isabell Rohde

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-144-3

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Warum lügt ihr alle?

Chris weiß nicht mehr ein noch aus

Roman von von Kampen, Jutta

Die Silhouette der mittelalterlichen Stadt Rothenburg ob der Tauber tauchte auf. In dem vollbesetzten Bus ertönte ein vielstimmiges »Ah!« und »Oh!« aus Kinderkehlen. Das Kinderheim »Alpenblick« befand sich auf einem Jahresausflug.

Munter und aufgeregt schnatterten die Kinder durcheinander. Nur ganz hinten saß ein kleines Mädchen, das sich an der allgemeinen Aufregung nicht beteiligte.

Blaß und zart, zu klein für ihr Alter, ewig verträumt und deshalb von den anderen Kindern immer unterdrückt und nie für voll genommen, fristete Veronika ein kümmerliches Dasein am Rande der fröhlichen Gesellschaft.

Die Vergißmeinnichtaugen sahen sehnsuchtsvoll in die Ferne. Mit einer verlorenen Geste strich Veronika die krausen, immer ungekämmt wirkenden Zottelhaare aus dem Gesicht.

»Wir steigen gleich aus!« ertönte die Stimme der Kindergärtnerin. »He, Veronika, wach auf!«

Das kleine Mädchen zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Es reckte den Hals.

»Wir steigen aus, habe ich gesagt! Hast du das gehört?«

Das Kind nickte verstört, und die Kindergärtnerin seufzte vernehmlich. Bei diesem Kind wußte man nie, ob es begriffen hatte. Deshalb wandte sie sich an zwei größere Mädchen: »Rosi und Petra, ich lege euch noch einmal ans Herz: Paßt mir bloß auf das Schäfchen auf!«

»Ja, Tante Anni!« ertönte es wie aus einem Mund.

Der Bus hielt und das Aussteigen begann. Die großen Mädchen versetzten der kleinen Veronika ein paar Püffe.

»Los, mach schon!«

»Wegen dir alten Trödelliese sind wir immer die letzten!«

Veronika war diese Behandlung gewöhnt. Sie verhielt sich wie ein Esel, der durch Schläge angetrieben wird: Sie beeilte sich erst recht nicht.

Endlich standen alle auf dem Marktplatz. Die berühmte Uhr begann gerade zwölf zu schlagen. Zwei Fenster öffneten sich. Der Feldherr Tilly erschien an dem einen und der Bürgermeister Nusch am anderen. Der Bürgermeister hob einen gewaltigen Humpen an den Mund und leerte ihn in einem Zug. Durch diese beachtliche Trinkleistung hatte er die Stadt vor der Plünderung bewahrt. Jeden Tag um diese Stunde erinnerte die Rathausuhr an das historische Ereignis.

Die Kinder jauchzten, lachten und klatschten begeistert Beifall. Nur Veronika stand mitten in der Menge und sah nur die Röcke der Großen. Niemand dachte daran, sie hochzuheben oder nach vorn zu lassen.

Der Zug der Kinder setzte sich wieder in Bewegung. Die beiden großen Mädchen, Rosi und Petra, nahmen die Kleine in ihre Mitte. Immer wieder versuchte Veronika, einen Blick in die herrlichen bunten Schaufensterauslagen zu werfen. Sie mußte dazu natürlich einen halben Schritt zurückbleiben und erntete jedesmal einen Knuff.

Die Gruppe erreichte die alte Stadtmauer. Eine enge Treppe mußte erstiegen werden, und die strenge Ordnung löste sich zwangsläufig auf. Mit Hurra und Gepolter rannten die Kinder den hölzernen Wehrgang entlang.

Die beiden Mädchen, die auf Veronika achten sollten, vergaßen die lästige Pflicht.

Durch die schmalen Schießscharten in der Mauer konnte man weit über das Tal sehen. Auf der anderen Seite blickte man auf die leuchtendroten verwinkelten Dächer, auf kleine Höfe und Gärten, in denen Gartenzwerge, Förster und Rehe ein gipsernes Dasein fristeten.

Die Kinder waren hinreichend beschäftigt, dies alles zu bewundern. Und als Veronika Rosi am Kleid zupfte, reagierte das größere Mädchen reichlich unwirsch. »Was willst du denn schon wieder?«

Veronika trat von einem Bein auf das andere. »Ich muß mal!«

»Hier geht das nicht!«

Unbekümmert lief Rosi weiter, und Veronika geriet in größte Nöte. Ratlos sah sie sich um. Was tun?

Sie erreichten einen Turm, durch den der Wehrgang führte. Veronika sah sich um. Die anderen waren voraus…

Die Angelegenheit war schnell erledigt. Aber nicht schnell genug. Denn die anderen Kinder waren nicht mehr zu sehen.

An der nächsten Treppe stieg sie von der Stadtmauer. Sie lief über das Kopfsteinpflaster. Die Mittagssonne brannte heiß. Plötzlich entdeckte Veronika einen sprudelnden Brunnen. Das kristallklare Wasser lief durch ein Rohr in einen Holztrog. Bei diesem Anblick verspürte das kleine Mädchen Durst. Es stellte sich auf die Zehenspitzen und erreichte den Strahl mit dem Mund. Es schmeckte herrlich!

Dann steckte Veronika ihre Hände in den Trog und spielte mit den Strohhalmen, die auf der Wasseroberfläche schwammen, Schiffchen. Wenn sie nicht gestört wurde, hielt sie es bei einem Spiel lange aus.

Endlich hatte sie es doch satt. Sie schlenderte weiter. Aus einem Laden roch es herrlich nach frischem Brot. Veronika spürte ihren leeren Magen. Ihre hellblauen Augen verdunkelten sich.

Wenn man sie nicht fand – ob sie dann verhungern mußte?

Kurz entschlossen betrat Veronika das Geschäft, in dem viele Leute waren. Veronika bemerkte, daß sie alle möglichen Dinge in den Korb packten, ohne zu bezahlen. Doch die meisten Sachen interessierten das kleine Mädchen nicht. Nur vor dem Korb mit knusprigen Brötchen blieb sie stehen. In Gedanken biß sie in eins der goldgelben Brötchen; ihr lief das Wasser im Munde zusammen.

»Na, Kleine, du hast wohl großen Hunger?« fragte plötzlich eine Verkäuferin.

Veronika zuckte zusammen – wie immer, wenn sie aus ihren Träumen gerissen wurde. Dann nickte sie heftig.

»Wo ist denn deine Mutter?« wollte die freundliche Verkäuferin wissen.

Veronika machte ein völlig ratloses Gesicht. Was sollte sie darauf antworten? Sie kannte nur Tanten.

»Sie ist wohl schon ’rausgegangen«, meinte die Verkäuferin. »Dann aber schnell hinterher!«

»Darf ich…?« fragte Veronika und erschrak über ihren eigenen Mut.

»Na, wenn der Hunger so groß ist, daß du sogar trockene Brötchen magst! Greif nur zu!«

Veronika wußte nicht, wie ihr geschah. Sie griff nach einem Brötchen und biß gierig hinein. Herrlich! Kein Kuchen hatte jemals so gut geschmeckt.

»Nun lauf aber!« Die Verkäuferin schob das kleine Mädchen aus der Tür.

Veronika fühlte sich nun, da der ärgste Hunger gestillt war, bedeutend wohler. Sie bummelte von Geschäft zu Geschäft. Wundervolle Sachen gab es da! Veronika war in einem Zauberreich. Und niemand störte sie. Niemand wollte etwas von ihr.

Doch plötzlich bemerkte sie, daß es kühler wurde. Der Hunger meldete sich wieder. Hatte sie denn im Bus keiner vermißt? Eigentlich war sie froh darüber. Aber bald kam die Nacht. Wo sollte sie schlafen? Sie merkte, daß sie sehr müde war.

Am Ende der Straße entdeckte sie ein Tor. Durch so ein Tor war der Bus vorhin auch gefahren. Ob der Bus dort unten wartete?

Veronika begann zu laufen. Immer schneller gerieten ihre Füßchen in Trab. Als sie das große Tor hinter sich gelassen hatte, stand sie auf einer Landstraße. Sie stürmte weiter. Von einem Bus war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht an der nächsten Biegung? Veronika lief über eine große Brücke. Nichts!

Ein Hund kam bellend auf sie zu. Veronika erschrak ein bißchen. Doch als sie ihn ansprach, wedelte er mit dem Schwanz.

»Tu mir nichts! Ich mag dich leiden, du bist ein hübscher Hund!«

Der Wolfsspitz beschnupperte das Kind, und als es ihm das Fell kraulte, war die Freundschaft geschlossen.

»Hast du nicht einen großen Bus gesehen?« fragte Veronika.

Der Spitz sah sie verständnislos an.

»Wo soll ich bloß hin heute abend?« Veronikas Augen wurden dunkel. Krampfhaft verschluckte sie die aufsteigenden Tränen.

Der Spitz lief ein Stück voraus die Straße entlang. Veronika ging mechanisch hinterher. Der Hund wollte spielen, aber das kleine Mädchen war schon viel zu müde.

Plötzlich sah es vor sich ein seltsames Haus. Es war hoch und schmal mit spitzem Dach, beinah wie ein Turm.

»Ist das aber ulkig!« staunte Veronika. Durch eine Pforte in der Mauer betrat sie den Garten. Unter einem Dach aus Weinlaub entdeckte sie einen Tisch aus Stein und davor eine Bank.

Veronika setzte sich erschöpft auf die Bank und ließ das Köpfchen auf den Tisch sinken. Müde blinzelte sie in das grüne Dämmerlicht. Es war hier so herrlich still und warm. Die steinerne Tischplatte strahlte die Sonnenwärme des Tages wieder.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war Veronika im Garten des Toppler-Schlößchens eingeschlafen.

*

In Würzburg hatten die Kinder ein Museum besichtigt. Dies war die letzte Station ihres Ausflugs. Alle waren schon ein bißchen müde und fingen an, herumzualbern.

An der Tür des Busses stand die Kindergärtnerin und zählte ihre Schäfchen. Nachdem alle eingestiegen waren, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß eins fehlte.

Sie hoffte, daß sie sich nur verzählt hatte, ging durch den Mittelgang und wiederholte die Prozedur mit ausgestrecktem Zeigefinger. Doch es blieb dabei: Einer ihrer Schützlinge fehlte.

»Wer ist es denn, der sich wieder einmal verbummelt hat?« fragte sie streng und blickte in die Runde. Und als niemand antwortete, forderte sie die Kinder energisch auf: »Schaut euch eure Sitznachbarn an! Nun, wer fehlt?«

»Veronika«, kam endlich eine leise Stimme.

»Veronika, natürlich! Unser Traumsuschen!« Die Kindergärtnerin wandte sich mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln an den Busfahrer, stieg wieder aus und eilte ins Museum zurück. Sie fragte die Aufsichtsbeamten nach dem kleinen blonden Mädchen, erhielt aber nur Kopfschütteln als Antwort.

Die junge Frau eilte wieder zum Bus und fragte heftig: »Rosi, Petra, warum habt ihr auf Veronika nicht aufgepaßt?«

»Aber wir haben doch…«

Die beiden Mädchen sahen sich schuldbewußt an. Beide dachten in diesem Moment das gleiche: Wir werden bestraft, wenn es herauskommt, daß wir die Kleine schon lange aus den Augen verloren haben!

Sie antworteten fast wie aus einem Mund: »In Rothenburg war Veronika aber noch da!«

»Und unterwegs?« forschte die Kindergärtnerin. Ihr Gesicht rötete sich vor Ärger. »Unterwegs haben wir doch auch noch einmal gehalten.«

»Da war Veronika auch noch da!« behaupteten die Mädchen.

Niemand widersprach. Veronika verhielt sich immer so still und unauffällig, daß man ihre Anwesenheit völlig vergessen konnte. Niemand wußte genau, ob er das kleine Mädchen noch gesehen hatte oder nicht.

»Dann kann sie ja nur hier verlorengegangen sein, während wir das Museum besichtigt haben! Einen Moment, bitte, noch!« Die Kindergärtnerin warf dem Chauffeur einen raschen Blick zu und verließ den Bus erneut.

Nachdem noch einmal alle Räume und Gänge des Museums durchsucht worden waren, rief die inzwischen schon völlig verzweifelte Kindergärtnerin die Polizei zu Hilfe. Sie sagte den Beamten gegenüber aus, daß Veronika nur hier in Würzburg verschwunden sein könnte.

So geschah es, daß niemand auf die Idee kam, das verlorene Schäfchen in Rothenburg zu suchen.

*

Professor Buss, ein weißhaariger Gelehrter, betrat tief in Gedanken versunken die Gaststube des »Oberen Felsenkellers«.

»Grüß Gott, Herr Professor!« begrüßte ihn die Wirtin.

Der Gelehrte schreckte aus seinen Gedanken. »Ah ja, guten Abend, Frau Eckstein.« Sie lächelten sich beide an. »Bitte, das Übliche.«

»Den Schlummertrunk, schon recht!« Die Wirtin beeilte sich, aus dem Felsenkeller den genau temperierten Frankenwein zu holen, den ihr Gast fast jeden Abend nach seinem ausgedehnten Spaziergang bei ihr trank.

Die Wirtin verließ den Raum, ohne daß es dem Gelehrten auffiel. Der Wolfsspitz nutzte die Gelegenheit und huschte auf leisen Pfoten hinein. Er stieß seine Nase gegen das Bein des alten Herrn, der daraufhin mechanisch das dichte graue Fell des Hundes streichelte. »Na, Teddy, du alter Stromer!« Der Hund streckte sich zu Füßen des Mannes aus. Nur das langsame Tick-Tack der Uhr und Teddys zufriedenes Schnaufen unterbrachen die Stille.

Genießerisch schlürfte der Alte den edlen Tropfen, der seine Gedanken zum Höhenflug trieb.

Schließlich erhob er sich und meinte: »Gehen wir, Teddy.«

Dem grauen Spitz war es zur Gewohnheit geworden, seinen Freund jeden Abend bis zum Toppler-Schlößchen zu begleiten.

Der Professor hatte das ehemalige Sommerschlößchen für einige Monate gemietet. Er fühlte sich in der altertümlichen, etwas versponnenen Atmosphäre sehr wohl, obwohl das Haus nichts von den Errungenschaften der modernen Technik enthielt. Es gab weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Nicht einmal einen Herd gab es, sondern nur einen offenen Kamin mit stählernem Dreifuß.

In dieser Umgebung gelang dem Gelehrten am ehesten die geistige Versenkung in die Geheimnisse der Natur.

Teddy stürmte durch die Gartenpforte und stutzte. Er stemmte die Vorderpfoten gegen den Steintisch.

Ohne den Hund zu beachten, ging der Professor gedankenversunken zur Haustür des Schlößchens. Teddy aber lief ihm nach und stieß ihn mit der Nase an. Dann machte er kehrt und blieb erwartungsvoll stehen. Als der alte Mann noch immer nicht begriff, gab der Spitz Laut.

Jetzt endlich entdeckte der Gelehrte das schlafende Kind.

»Das ist ja wie im Märchen vom Goldtöchterchen!« murmelte er verblüfft, griff sich in den dünnen weißen Bart. Er hatte keine Ahnung vom Umgang mit Kindern. Sein eigener Sohn war längst erwachsen, und früher hatte er mit dem kleinen Jungen nicht viel anzufangen gewußt. Ihm fiel ein, daß die Mutter das Kind sicher vermissen würde.

Vorsichtig rüttelte er an der Schulter des schlafenden Mädchens.

Veronika grunzte nur unwillig.

Der Professor rüttelte stärker. »He, du!«

Das Kind schlug für ein paar Sekunden die Augen auf und ein schlaftrunkenes Lächeln huschte über das Gesichtchen.

»Opa!« sagte es, kuschelte ihren Kopf auf dem Arm zurecht und setzte seinen Schlaf fort.

»Opa hat sie gesagt! Teddy, hast du das gehört? Opa! Da kann ich doch nicht so roh sein und sie wachrütteln!« Wieder kämmte der alte Gelehrte mit den Fingern ratlos seinen Bart. »Weißt du, Teddy, ich trage sie erst einmal einfach ins Haus. Später werden wir dann zu Frau Eckstein gehen und uns erkundigen, wem das kleine Mädchen gehört. Die Mutter kann es dann bei uns abholen.«

Teddy kniff das rechte Auge zu.

»Offenbar bist du auch meiner Meinung. Also dann!« Der Alte stöhnte ein bißchen, als er das schlafende Kind auf die Arme nahm und ins Toppler-Schlößchen trug.

Leise ächzend stieg er mit seiner leichten Last die enge steile Treppe hinauf. Behutsam ließ er das kleine Mädchen auf den alten Diwan sinken und deckte es sorgfältig mit einer Wolldecke zu.

Lächelnd blickte er in das gelöste Gesichtchen. Wirr hingen die krausen blonden Locken in die Stirn und ringelten sich über die Wangen.

»Goldtöchterchen!« murmelte der Gelehrte – dann waren die Gedanken schon wieder bei seinen speziellen Problemen, die ihn Tag und Nacht beschäftigten.

Er stieg noch eine Treppe höher und ließ sich an dem über und über mit Folianten und Zetteln übersäten Tisch nieder.

Mechanisch entzündete er eine Kerze. Im Schein des flackernden Lichtes nahmen aufgespießte Insekten und Falter, die in flachen Holzkästen aufbewahrt wurden, gespenstisches Leben an. Gepreßte Blüten und Blätter auf weißen Bögen zeugten von der Sammelleidenschaft des Gelehrten.

Als er endlich zu Bett ging, weil die Kerze heruntergebrannt war, hatte er die kleine Schläferin, die eine Etage tiefer dem neuen Tag entgegenschlummerte, völlig vergessen.

*

Die Sonne stand schon hoch, als Veronika erwachte. Sie rieb sich schlaftrunken die Augen. Als sie die fremde Umgebung wahrnahm, setzte sie sich mit einem Ruck auf. Ihr war ein bißchen unheimlich zumute.

Rasch schlug sie die Decke zurück und rutschte auf den Fußboden. Zögernd ging sie zur Tür. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube, Hunger! Darüber vergaß sie ihre Scheu.

Veronika erinnerte sich, daß sie in einem Garten eingeschlafen war. Das Zimmer, in dem sie jetzt stand, sah merkwürdig aus, beinahe wie in einem Puppenhaus.

Das kleine Mädchen ging schüchtern zur Tür und rief mit dünner Stimme: »Hallo!«

Sie überlegte, ob sie höher oder tiefer steigen sollte. Da erschien am oberen Treppenabsatz ein Kopf mit weißem Haar und Bart. Ein Gesicht, wie Veronika es ähnlich in ihrem Märchenbilderbuch gesehen hatte! Und plötzlich erinnerte sie sich dunkel an gestern abend.

»Opa!« sagte sie, und ein fragender Ton schwang in dem Wort mit.

»Dich hatte ich ja völlig vergessen, Goldtöchterchen!« Im Gesicht des alten Herrn stand wieder Ratlosigkeit.

Veronika erlöste ihn, denn sie sagte: »Ich habe solchen Hunger!«

»Hunger hast du? Das hätte ich mir denken können! Komm rasch zu mir!«

Veronika beeilte sich, die Treppe hinaufzuklettern. Sie mußte ordentlich die Beinchen recken.

Als sie das Zimmer betrat, standen bereits ein Becher Milch und ein Teller mit dicken Weißbrotschnitten auf der Tischkante. Der übrige Tisch blieb mit Büchern und Papieren beladen. Veronika folgte der auffordernden Handbewegung und machte sich über das Frühstück her.

»Schmeckt’s?« fragte der alte Gelehrte zwischendurch.

»Hm!« machte Veronika mit vollen Backen. Nachdem sie den Teller leergegessen hatte, rutschte sie vom Stuhl und sah sich unschlüssig um.

»Bist du satt, kleines Mädchen?«

Veronika nickte.

»Na, dann lauf mal schnell zu deiner Mutter. Die wird schön schimpfen, vermute ich. Sicher hat sie große Angst um dich ausgestanden.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Jetzt erst kam ihm zu Bewußtsein, was er da angerichtet hatte. Die Mutter mußte ja annehmen, das Kind sei buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden!

Veronika ging schweigend zur Tür.

»Darf ich wiederkommen, Opa?« fragte sie schüchtern.

Ein Lächeln huschte über das durchgeistigte Gesicht des Gelehrten. »Aber natürlich, Goldtöchterchen! Wenn du Lust hast, darfst du mich zu jeder Zeit besuchen kommen!«

Da war dem Kind schon leichter ums Herz. Aber wohin jetzt?

Sie verließ das kleine Haus und blinzelte in die Sonne. Im Moment wußte sie nichts Rechtes mit der sonst so ersehnten Freiheit anzufangen. Aber sie fühlte sich ausgeschlafen und satt – also sehr wohl. Sie trippelte durch den romantischen kleinen Garten und trat auf die Straße. Ob sie wieder in die Stadt gehen sollte? Dort gab es viel zu sehen. Aber dort suchte man sie vielleicht schon – nein, sie hatte vorläufig noch keine Sehnsucht nach dem Kinderheim. Sie hatte überhaupt keine Sehnsucht nach dem Kinderheim. Sie hatte überhaupt keine Sehnsucht danach, wieder von den anderen geknufft zu werden!

In diesem Moment kam Teddy die Straße entlanggefegt. Freudig begrüßte er das kleine Mädchen wie eine alte Bekannte. Das war willkommene Ablenkung und der richtige Spielgefährte!

Der Spitz suchte ein Stöckchen und brachte es ihr. Veronika begriff sofort. Sie warf es, so weit sie nur konnte. Teddy stürmte begeistert davon und war im Nu wieder bei ihr. Sie liefen auf eine an der Straße liegende Wiese und fingen an, sich um das Stöckchen zu raufen. Übermütig kugelten sie durch das hohe Gras.

So kamen sie an den Fluß. Er war flach und rauschte über die Steine. Veronika warf den Stock ins Wasser. Lustig tanzte er davon.

Teddy kannte keine Hemmungen, er sprang hinterher. Als er mit dem Stock im Maul zurückkehrte, schüttelte er sich heftig, und ein Sprühregen funkelnder Tropfen ergoß sich über das kleine Mädchen. Es lachte hell auf – und hielt sich die Hand vor den Mund, als wäre es über seine eigene Fröhlichkeit erschrocken.

»Nun bin ich sowieso schon naß, nun gehe ich ins Wasser! wandte es sich an den Spielgefährten, zog Schuhe und Söckchen aus und setzte den Fuß auf einen großen Stein.

Zu spät bemerkte Veronika, daß der Stein glitschig war. »Huh!« Und schon lag sie im flachen Wasser.

Verdutzt rappelte sie sich hoch. Was jetzt? Verlegen drückte sie das Wasser aus dem Röckchen. Dann fiel ihr ein, daß niemand in der Nähe war, der schimpfen konnte, und sie fand ihre sorglose Unbekümmertheit wieder.

»Die Sonne wird es trocknen!« tröstete sie sich. Sie nahm Strümpfe und Schuhe in die Hand und watete die Tauber aufwärts.

Das glitzernde Wasser, die warme Sonne, der lustige Spielgefährte – Veronika fand das Leben schön wie nie zuvor!

Plötzlich ertönte ein scharfer Pfiff. Teddy spitzte die Ohren und setzte sich in Bewegung.

»Ooooch!« machte das Kind bedauernd. »Geh doch nicht fort!« Teddy blieb einen Moment stehen, blickte zurück und wies mit der Schnauze nach vorn.

Komm doch mit, hieß das – und Veronika verstand sofort.

Zögernd folgte sie dem grauen Hund.

Am Rand der Straße stand die Wirtin des »Oberen Felsenkellers«.

»Na, du Stromer!« wandte sie sich leicht tadelnd an den Spitz. Dann entdeckte sie das Kind. Die hellen Vergißmeinnichtaugen sahen sie hilflos und ein wenig ängstlich an.

»Na, wem gehörst du denn?«

Das war eine Frage, mit der Veronika überhaupt nichts anzufangen wußte. Denn sie gehörte in der Tat niemandem.

»Wo wohnst du denn oder wohin willst du?« bohrte die Wirtin.

»Da – in dem Haus mit dem spitzen Dach«, sagte Veronika mit leiser unsicherer Stimme. Und sie fügte hinzu: »Wo der Opa wohnt.«

Die Wirtin überlegte einen Augenblick. »Ach, der alte Herr Professor ist ein Opa? Du liebe Güte! Ist deine Mutti denn auch hier?«

Veronika schüttelte heftig den Kopf.

»Das wundert mich aber sehr. Der Herr Professor vergißt sich selbst und die Welt. Heute hat er schon wieder einmal das Mittagessen vergessen. Dabei habe ich ihm extra gesagt, daß es Klöße gibt. Aber er hat immer andere Dinge im Kopf. – Hast du denn schon etwas zu Mittag gehabt?«

»Nein – nur heute morgen«, antwortete Veronika und spürte plötzlich ihren leeren Magen wieder.

»Das hab’ ich mir beinahe gedacht. Na, dann komm mal mit. Wie heißt du eigentlich?«

»Ika!« Veronika nannte ihren abgekürzten Namen, den sie sich selbst gegeben hatte, als sie noch nicht richtig sprechen konnte.

»Ika«, wiederholte die Wirtin. »Das ist aber ein seltsamer Name. Den hat dir sicher dein Opa ausgesucht!«

Veronika schwieg. Sie hatte gelernt, daß es immer besser war, nicht zu viel zu sagen. Sie betrachtete das freundliche Gesicht der Frau eingehend und fand es sehr vertrauenerweckend.

Hand in Hand stapften sie den Abhang hinauf, und Veronika bekam in der dunkelgetäfelten Gaststube ein köstliches Mittagessen serviert: Klöße mit Sauerkraut und Schweinebraten. Sie aß mit Genuß und Hingebung.

»Na also!« sagte die Wirtin befriedigt. »Ein alter Mensch wie dein Opa kann auf eine Mahlzeit verzichten. Aber aus dir soll ja erst noch ein Mensch werden. Bis jetzt bist du ja nur ein Würstchen. Wenn dein Opa das Essen wieder einmal vergißt, dann komm zu mir! – So, und nun geh wieder spielen.«

Sie schob das Kind aus der Tür und bemerkte dabei seine noch immer feuchte Rückseite. »Ach du liebe Güte, bist du in die Tauber gefallen?«

»Ein bißchen bloß. Ist schon bald wieder trocken!« versicherte Veronika hastig.

»Na, nun aber marsch zum Opa und ein neues Kleid anziehen! Schmutzig und verknautscht ist es ja auch!«

Veronika beeilte sich, aus dem Haus zu kommen. Draußen entdeckte sie eine junge Frau im Liegestuhl. Langsam schlenderte Veronika höher. Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen. Ihre langen braunen Haare waren ausgebreitet wie ein Fächer. Das schmale Gesicht schimmerte rosig. Lange dunkle Wimpern warfen richtige Schatten.

Veronika fand, daß die Frau wie ein Engel aussah.

Die Hände des Engels lagen im Schoß und hielten einen Brief.

Sie ist beim Lesen eingeschlafen, dachte Veronika. Manchmal ist Lesen langweilig…

Doch plötzlich sah sie, daß unter den langen Wimpern eine Träne hervorquoll!

Die Träne rollte über die zarte Wange und hinterließ eine nasse Spur. Und dann folgte eine zweite Träne und noch viele mehr!

Veronika stand völlig erschüttert da. Ihr mitleidiges Herz floß über. Spontan umarmte sie die Weinende und flüsterte:

»Weine doch nicht! Sonst werde ich auch ganz traurig! Du bist so schön. Bist du ein Engel?«

Die junge Frau fuhr in die Höhe. Sie schob das Kind auf Armeslänge von sich und fragte verwirrt: »Wo kommst du denn plötzlich her?«

Hastig suchte sie nach einem Taschentuch. Dabei ließ sie den Brief verschwinden.

»Bist du jetzt böse auf mich?« fragte Veronika und machte erschrockene Augen.

»Nein, nein, natürlich nicht. Sage mir, wie du heißt.«

»Ika!«

»Und wo wohnst du?«

»Ich bin bei Opa im Schloß!«

»Im Schloß? – Ach, du meinst sicher das Toppler-Schlößchen! Der Herr Professor ist dein Opa?«

Veronika nickte eifrig.

»Warum bist du so traurig?« wollte sie wissen. »Hat dir einer was Böses geschrieben?«

»Du bist der Wahrheit sehr nahe. Aber das verstehst du nicht, mein Kind. – Geh jetzt spielen.«

»Wirst du auch nicht mehr weinen?«

»Nein, bestimmt nicht!« Die junge Frau legte sich wieder zurück und schloß die Augen.

Sie sieht sehr schön aus, aber sehr, sehr traurig. Ob Engel immer traurig sind? grübelte Veronika. Sie hockte sich still zu Füßen der jungen Frau ins Gras, stützte ihr Kinn in die kleine Hand und sann.

Von der Mittagssonne wurde Veronika ein bißchen schläfrig. Es war schön, hier zu sitzen und die wunderhübsche Frau anzusehen. – Wer ihr wohl etwas Böses geschrieben hatte? Veronika konnte es sich überhaupt nicht denken!

Über ihr in der Kastanie zwitscherte ein Vogel. Veronika schloß die Augen und lauschte. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß der Engel im Liegestuhl sich aufgerichtet hatte. »Du bist ja noch immer hier, Ika?«

»Ich dachte, vielleicht magst du nicht gern allein sein.«

»Und du hast die ganze Zeit hier still gesessen?«

Veronika nickte.

Urte Söhrens war gerührt. Dieses Kind mit den Vergißmeinnichtaugen machte einen seltsam verlorenen Eindruck. Auch sie, Urte, fühlte sich verloren. Vielleicht fühlten sie sich deshalb zueinander hingezogen.

»Ist deine Mutti auch hier?« fragte sie das Kind.

Heftiges Kopfschütteln. Die ungekämmten Locken tanzten um das kleine runde Gesicht. »Ich hab’ gar keine Mutti! Nur einen Opa.«

»Ach du liebe Güte!« Unwillkürlich beugte Urte sich nach vorn und strich zärtlich über das blonde Köpfchen und über die Wange. »Wollen wir in die Stadt gehen und ein Eis essen?«

Veronikas Augen leuchteten auf. »Hast du denn so viel Geld?«

»Ich denke, für uns beide wird es reichen!« Urte erhob sich und holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche. Mit raschen geschickten Griffen richtete sie ihr langes seidiges Haar.

»Dein Haar ist auch ordentlich verzottelt, Ika. Komm mal näher.«

Veronika fürchtete sich stets vor dem Kämmen. Es ziepte immer fürchterlich. Erstaunlicherweise merkte sie unter der leichten Hand der Frau kaum etwas und wurde noch gelobt, weil sie so schön still hielt. Daß sie gelobt wurde – das war etwas ganz Neues für das kleine Mädchen.

In der Haustür erschien die Wirtin.

»Ich nehme die Kleine mit in die Stadt, falls ihr Opa fragen sollte«, erklärte Urte. »Bitte, richten Sie es dem Herrn Professor aus, Frau Eckstein.«

»Ist recht, Fräulein Söhrens. Der Herr Professor hat bestimmt nichts dagegen. Ich verstehe gar nicht, daß die Mutter das Kind allein bei dem alten Herrn läßt.«

»Ika hat mir erzählt, daß sie nur den Opa hat, keine Mutti. – Aber einen Vater hast du doch auch?« wandte sich Urte vorsichtig an das Kind.

Veronika schüttelte heftig den Kopf.

Die Wirtin schlug die Hände zusammen. »Dann sollst du wohl für immer bei deinem Opa bleiben? Na, was das wohl wird! So ein Kind muß doch zu seinem Recht kommen! Der Herr Professor vergißt das Essen und das Trinken. Seine Gedanken schweben ja immer im siebenten Himmel. Und jetzt das Kind!«

»Wir gehen erst einmal Eis essen!« sagte Urte rasch.

An der Hand der jungen Frau fand Veronika die Straßen der alten Stadt noch viel schöner und aufregender. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beschützt zu sein. Es gab einen Menschen, der für sie da war. Auch das war etwas ganz Neues und Außerordentliches für das kleine Mädchen. Selbst eine nette Tante mußte sie im Heim mit so vielen anderen teilen! Hier war nun jemand, der Zeit hatte und noch viel netter und hübscher war als die Tanten. Veronika war sehr stolz darauf, an der Hand der jungen Frau gehen zu dürfen. »Tante…«

»Ach, sag doch einfach Urte zu mir, Ika.«

»Urte… Urte, darf ich dich jeden Tag besuchen kommen?«

»Aber natürlich! Ich würde mich freuen. Bei deinem Opa im Schlöß­chen langweilst du dich doch sicher.«

»Ja. Ich spiel’ immer mit dem

Teddy. Aber bei dir bin ich noch lieber.«

»So ein nettes Kompliment habe ich ja lange nicht mehr bekommen!«

Urtes Augen verdunkelten sich. Sie dachte an die Zeit des Schmerzes und der Einsamkeit, die ihr endlos vorkam. Waren wirklich erst ein paar Wochen vergangen, seit sie den niederschmetternden Brief von Dirk bekommen hatte?

Sie hatte an die große, die einmalige Liebe geglaubt.

Für den geliebten Mann aber war es anscheinend nur ein unbedeutender Flirt gewesen. Ein banaler Brief war der Schlußpunkt. Es ist besser, wenn wir uns trennen – so hatte er geschrieben. Keine großen Erklärungen…«

Heiß stieg die Scham in Urte hoch – wie immer, wenn sie daran dachte, wie rückhaltlos sie ihn geliebt hatte. Sie neigte ein wenig zur Melancholie, und es war gerade die leichte Art, die unbekümmerte Fröhlichkeit, die sie an Dirk so fasziniert hatte. Aber diese leichte Art war es auch, die aus dem Abschiedsbrief sprach!

Urte fühlte sich tief verwundet, und sie hatte sich aus dem Norden in den Süden geflüchtet, um genügend Raum zwischen sich und den Mann zu legen.

Sie fürchtete sich vor einer zufälligen Begegnung. Sie fürchtete sich vor dem unbekümmerten Lächeln des Mannes. Im Geist hörte sie ihn sagen: Urte, du mußt dir abgewöhnen, aus allem ein Drama zu machen!

Ein Drama… Für sie war es eine Katastrophe gewesen. Noch immer schlug sie sich mit dem bitteren Schmerz herum und verkroch sich hier in der Stille wie ein waidwundes Wild.

Impulsiv drückte Urte die kleine Hand des Kindes. Die Gegenwart des Mädchens würde ihr guttun. Ihr blieb nicht mehr so viel Zeit zu grübeln.

Jetzt erst kam es Urte zum Bewußtsein, daß sie vor einem Schaufenster standen. Mit verlangenden Augen starrte Ika durch die Scheibe.

»Was gefällt dir denn so besonders?« erkundigte sich Urte.

»Der Teddybär!« kam es atemlos und wie aus der Pistole geschossen.

»Hast du denn keinen?«

Heftiges Kopfschütteln. »Ich habe überhaupt kein Spielzeug.«

»Das ist aber seltsam. Ach, du meinst sicher, du hast hier bei deinem Opa keine Spielsachen.«

Veronika dachte an den abgeschabten Teddybär im Kinderheim und schwieg.

Wenig später hielt Ika den Teddy im Arm und konnte gar nicht begreifen, daß er ihr gehören sollte. »Mir ganz allein?« fragte sie ungläubig.

»Ich bin doch wohl schon zu alt, um noch damit zu spielen?« lachte Urte. »Meinst du nicht auch?« Sie fuhr dem Kind zärtlich über das Haar.

Veronika nickte und preßte das Plüschtier krampfhaft an sich, als fürchte sie, es könnte ihr doch wieder entrissen werden.

*

Am Abend dieses ereignisreichen Tages bummelte Veronika wieder zum Toppler-Schlößchen. Sie war zutiefst erschrocken, als sie die Haustür verschlossen fand.

Die Sonne verschwand bereits hinter den Hügeln.

»Der Opa kommt sicher bald!« tröstete Veronika sich und den Teddybären, den sie im Arm hielt.

Es dauerte nicht lange und der alte Gelehrte tauchte an der Wegbiegung auf. »Da bist du ja wieder!« begrüßte er das kleine Mädchen erfreut.

Veronika hielt ihm strahlend ihren Teddy entgegen.

»Ist der neu?« wollte der alte Herr wissen.

Veronika nickte.

»Der ist aber wirklich sehr schön. Hast du extra auf mich gewartet, um ihn mir zu zeigen?«

»Ich… ich möchte so gern wieder bei dir schlafen!« stotterte Veronika.

»Ist deine Mutter denn damit einverstanden?« wollte der weltfremde Gelehrte wissen, und Veronikas eifriges Nicken genügte ihm.

Als das kleine Mädchen noch hinzufügte: »Es gefällt mir so gut bei dir, ich möchte immer bei dir schlafen!« schwanden seine letzten Bedenken wie Schnee in der Märzsonne.

Ein glückliches Lächeln glitt über sein Gesicht. »Wenn das so ist, Goldtöchterchen, dann komm nur.«

Sie stiegen die enge steile Treppe hinauf. Veronika fühlte sich unendlich erleichtert. Sie liebte den alten Mann schon deshalb, weil er keine unbequemen Fragen stellte.

»Dann wollen wir dir aber heute ein richtiges Bett bauen«, murmelte er in seinen weißen Bart. »Irgendwo muß doch noch Bettwäsche sein.« Er zog die Schublade einer kleinen Kommode auf. »Nein, hier nicht. Aber vielleicht hier.« Er öffnete einen altmodischen Schrank. »Ah ja, hier haben wir es.«

Mit unbeholfenen Bewegungen fing er an, ein Laken auf dem Diwan auszubreiten. Veronika half ihm nach besten Kräften.

»Sag mal, hat dir deine Mami kein Nachthemd mitgegeben?« fiel es dem zerstreuten Gelehrten plötzlich ein.

»Brauch’ ich nicht. Es ist ja so warm. Ich kann ja mein Unterhemdchen anbehalten.«

Als Veronika wenig später auf dem Diwan stand, schlang sie unversehens die Ärmchen um den Hals des alten Mannes und gab ihm einen Kuß auf die bärtige Wange.

»Nanu!« sagte der alte Gelehrte verdutzt.

Veronika ließ sich fallen und kuschelte sich wohlig in die Kissen. Sorgfältig breitete der alte Herr die Decke über das Kind. Es dauerte nicht lange, und Veronika war – ihren Teddybären im Arm – sanft entschlummert.

Eigentlich hatte der Professor noch einen Abendschoppen im »Oberen Felsenkeller« trinken wollen. Aber nun beschloß er, sich den gewohnten Schoppen in seinem Arbeitszimmer selbst zu servieren. Es könnte ja sein, daß das Kind erwachte und sich ängstigte!

Nachdenklich blickte er auf das schlafende Mädchen hinunter, und eine sonderbare Zärtlichkeit stieg in ihm auf.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst und erklomm die Stiege, die ins Studierzimmer führte.

Weit öffnete er das kleine Fenster, und die milde Abendluft strömte herein. Das Rauschen der Tauber und ein Froschkonzert erfüllten das stille Tal.

Bedächtig entkorkte der alte Mann die verstaubte Flasche. Langsam ließ er das hellgelbe Naß ins Glas fließen. Seine Augen schlossen sich, als er den Pokal an die Lippen führte. Herb und erdig war der Wein dieser Landschaft.

Der Gelehrte stützte den Kopf in die Hand und dachte darüber nach, daß vieles auf dieser Erde seine volle Schönheit erst kurz vor dem Absterben offenbart. Diese Überlegung beschäftigte ihn seit Tagen und nahm ihn mehr und mehr gefangen.

*

Als Veronika am nächsten Vormittag im »Oberen Felsenkeller« erschien, begrüßte sie die Wirtin mißbilligend: »Du hast ja immer noch das zerknautschte Kleid an. Sieht der Opa das denn gar nicht? Schmutzig ist es inzwischen!«

Veronika sah bedrückt an sich herunter und strich mit den Händen verlegen über das Röckchen.

»Du kannst sicher nichts dafür«, meinte die Wirtin. »Hellblau schmutzt auch sehr, und ein Kind kann sich ja nicht dauernd vorsehen.«

In Veronikas Augen stand Dankbarkeit. Diesen Ton war sie nicht gewohnt.

»Ich bin gerade bei der Wäsche«, erklärte die Wirtin. »Am besten, ich wasche dein Kleid gleich mit. In der Sonne trocknet es nachher im Nu.« Sie streifte dem Kind das Kleid ab und bemerkte, daß es um die Unterwäsche nicht viel besser bestellt war. Ja, ja, der Herr Professor!

Sekunden später stand Veronika splitternackt da. »Und jetzt?« fragte sie ratlos.

Die Wirtin wußte Rat. Sie holte zwei Frotteetücher, steckte sie an den Schultern und an der Taille mit Sicherheitsnadeln zusammen und meinte befriedigt: »So, jetzt hast du ein ganz modernes Frotteekleid!«

Veronika war begeistert.

»Danke, danke, du bist prima!« Strahlend rannte sie mit dem Wolfspitz um die Hausecke – und stieß mit Urte Söhrens zusammen.

»Hoppla! Nanu, du bist ja seltsam gekleidet!«

»Ja, Tante Eckstein wäscht all mein Zeug!«

»Hast du denn nur das eine Kleid, das hellblaue?«

Die Wirtin erschien und enthob Veronika einer Antwort. »So ein zerstreuter Professor sieht gar nicht, wenn die Kleider mal gewechselt werden müssen! Ein versponnener alter Mann und ein kleines Kind, das geht halt nicht gut.«

»Hast du denn genügend Kleider mitbekommen, Ika?« forschte Urte.

Veronika starrte zu Boden und schüttelte den Kopf.

»Dein Handtuchkleid sieht ja sehr schick aus, aber in die Stadt kann ich dich so nicht mitnehmen. – Sei nicht traurig, ich bringe dir auch was Schönes mit!« fügte Urte hinzu, als sie sah, wie sich das Gesicht des kleinen Mädchens verschattete.

Veronika konnte es kaum erwarten. Immer wieder rannte sie mit Teddy um die Wette bis zur Brücke. Endlich sah sie das weiße Kleid und das blonde Haar durch die Bäume schimmern. Nun gab es kein Halten mehr. Der Spitz glaubte, daß Veronika das Rennen extra für ihn veranstaltete; er stürmte davon, daß der Sand nur so stob.

Veronika erreichte Urte völlig atemlos, wurde aufgefangen und durch die Luft gewirbelt. Sie jauchzte hell auf. Als sie wieder auf der Erde stand, schielte sie nach dem Paket, das Urte in der Hand trug.

»Ja, es ist für dich, Ika!«

Hastig streifte das Kind die Papierhülle ab. Ein »Oh!« entfloh seinen Lippen. Ungläubig starrte es auf den Inhalt. Es war ein Dirndlkleidchen, schwarzgrundig mit roten Röschen.

»Darf ich es behalten – für immer?«

Urte wunderte sich über die merkwürdige Frage. Dann ging ihr ein Licht auf. »Ach, du hast sicher noch kleinere Geschwister, an die du deine Kleider weitergeben mußt?«

Veronika umging die Antwort, indem sie Urte stürmisch umarmte. »Darf ich es gleich anziehen?«

»Gleich hier auf der Straße? Aber warum nicht, da können wir gleich sehen, ob es paßt.«

Die Sicherheitsnadeln waren schnell gelöst und das Dirndl übergestreift.

»Na also, es paßt ja!« meinte Urte befriedigt.

Veronika drehte sich vor ihr wie ein Mannequin. Sie hatte einen angeborenen Charme, der sich erst jetzt frei zu entfalten begann.

»Ganz süß siehst du aus!« stellte Urte fest, und eine große Zärtlichkeit erfüllte sie.

Sie hob das Kind zu sich empor und drückte es spontan an sich. Doch Veronika zappelte sich ungeduldig wieder frei. »Ich muß Tante Eckstein zeigen, was du mir mitgebracht hast!«

Die Wirtin stand in der Küche vor den dampfenden Töpfen und stemmte vor Überraschung die Hände in die Hüften. »Na also, warum nicht gleich so! Du warst also beim Opa?«

»Nein, das hat Urte mir mitgebracht!«

»Soviel möchte ich auch mal geschenkt bekommen! Jeden Tag etwas Neues.«

Veronika strahlte, und Urte, die hinter dem Kind auftauchte, sagte lächelnd: »Nur arme Waisenkinder bekommen so viele Geschenke.«

Veronika entschwand. So glücklich wie in diesen Tagen war sie in ihrem ganzen Leben nicht gewesen.

Mit wachsender Furcht dachte sie an das Kinderheim. Sie war fest entschlossen, keinem Menschen zu verraten, wo sie hergekommen war.

*

Ein attraktives Paar schlenderte über den Rothenburger Marktplatz.

Der junge Mann war groß und schlank. Lose und wellig zog sich sein schwarzbraunes Haar bis tief in den Nacken. In seinen Augen schwelte ein feuriger Glanz.

Das Mädchen neben ihm war nur wenig kleiner als er. Auf überlangen Beinen bewegte sie sich mit unnachahmlicher Eleganz über das Kopfsteinpflaster. Ihr schwarzes Haar war im Nacken zu einem mächtigen Knoten verschlungen und gab die ebenmäßigen Linien ihres schlanken Halses frei. In den Ohren trug sie riesige, apart ziselierte Goldgehänge. Das Gesicht war von einer vollendeten, klassischen Schönheit.

»Eigentlich müßte ich jetzt erst einmal meinen Vater besuchen!«, meinte der junge Mann. »Er hat sich diesen Sommer im Toppler-Schlöß­chen eingemietet.«

»Ich kenne das Schlößchen«, erwiderte das Mädchen mit samtdunkler Stimme. »Es ist zwar recht romantisch, aber meinen Urlaub möchte ich dort nicht verbringen. Es hat nicht den geringsten Komfort. Das wäre doch auch nichts für dich, nicht wahr, H.G.B.?«

Hans-Günther Buss warf seiner Begleiterin einen raschen Seitenblick zu. »Vater macht dort nicht Urlaub, sondern er arbeitet. Er denkt über die Geheimnisse der Natur nach und schreibt ein Buch.«

»Wir werden ihn ein andermal besuchen!«

»Ich wollte eigentlich allein hingehen, Toska«, erwiderte Hans-Günt­her Buss. »Weißt du, Vater ist ein bißchen sonderbar. Er lernt nicht gern fremde Leute kennen.«

Toska von Tersky zog die Augen schmal. Die angeklebten überlangen Wimpern zitterten leicht.

»Ich werde für deinen Vater ja nicht immer eine Fremde bleiben«, sagte sie betont langsam.

Hans-Günther Buss blickte starr geradeaus. Die Hand des Mädchens, eine rassige Hand mit langen hellrot gelackten Nägeln, preßte sich um seinen Arm.

»Ich meine, dein Vater ist doch nicht gerade ein Einsiedler!« Der Samt in der Stimme hatte sich in Metall verwandelt.