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Sophienlust
– Staffel 11 –

E-Book 101-110

Aliza Korten
Patricia Vandenberg
Judith Parker
Isabell Rohde

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-145-0

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Leseprobe:
Geheimnisse

Leseprobe

Greta van de Jong verließ das Seniorenheim und trat auf die Straße. Es war ein sonniger Septembernachmittag, im nahen Park spielten Kinder. Das Laub der Linden, die am Ufer des Ententeichs wuchsen, färbte sich allmählich bunt. Ein vertrockneter Samenstand segelte wie eine verirrte Erinnerung an den Sommer an ihr vorbei und landete lautlos im Rinnstein. Lichtreflexe sprenkelten das Teichwasser golden. Eine junge Frau saß auf einer Bank und las. Erbeerrosa funkelte das Licht in einem ihrer Ohrringe. »Erbeereis«, murmelte Greta. Noch immer lieferten sich die Gedanken in ihrem Kopf eine Schlacht und wirbelten wild durcheinander. Was war nur los mit der Realität eines ganz normalen Dienstags im September? Eben noch war ihre Welt im Einklang gewesen, sozusagen rund gelaufen wie der Motor eines gut gepflegten Oldtimers. Und jetzt hatte sie das absonderliche Gefühl, von einem übelgelaunten Magier in einen riesigen Staubsauger gezogen worden zu sein, wo alles und jeder in einem irren Kreisel aus Verwirrung und Verrücktheit herumgewirbelt wurde, sozusagen eine Endlosschleife des Wahnsinns. Per war nicht Per. Es gab keine Henni, die er im Heim besucht hatte. Mit wem aber hatte sie, Greta, die letzten Nachmittage im Heim verbracht, mit Einbildungen, Illusionen, Spiegelbildern ihrer Phantasie? Sie lehnte es ab, das auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie war so klar im Kopf wie immer und die Bürofrau im Heim eine Lügnerin. Nur so ergab das Ganze ein Bild, auch wenn es scheinbar sinnlos war. Doch wie hatte ihr literarischer Lieblingsdetektiv Sherlock Holmes es immer ausgedrückt?

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Prinzessin Rubinchen

Roman von Vandenberg, Patricia

Spiegelglatt war die Eisfläche, auf der ein zierliches kleines Mädchen graziös dahinschwebte. Ganz allein war es, und es sah winzig aus.

»Mach jetzt endlich ein paar Sprünge, Ruth«, rief eine helle Frauenstimme.

Das Kind blieb stehen. Wenn Tante Lilo sie »Ruth« rief, war sie nicht zufrieden. Wenn sie »Sabine« sagte, drückte das Lob aus.

Das kleine Mädchen hieß Ruth-Sabine Campen, und von ihrem Daddy wurde sie Rubinchen genannt. Sie vermisste den zärtlichen Kosenamen ebenso wie ihren Daddy selbst, der in der Türkei eine Maschinenfabrik leiten musste und sie in der Obhut von Tante Lilo zurückgelassen hatte.

»Na, wird es bald«, rief Tante Lilo ungehalten.

Rubinchen lief mit gleitenden Schritten auf die pelzvermummte Gestalt zu, die am Rand der Eisfläche stand.

»Es ist so kalt, Tante Lilo«, sagte sie. »Ich friere.«

»Stell dich nicht so an. Du weißt genau, dass wir nur früh am Morgen so viel Platz haben. Wenn du dich mehr bewegst, wird es dir schon warm werden.«

Rubinchen schlugen die Zähne aufeinander, aber sie wusste genau, dass sie von Tante Lilo, die vom Ehrgeiz besessen war, ihre Nichte zu einer Eisprinzessin zu machen, kein Verständnis erwarten konnte.

Rubinchen hatte frühzeitig Schlittschuhlaufen gelernt und sich als sehr talentiert erwiesen. Mit Daddy hatte es ihr auch viel Spaß gemacht. Sie überlegte kurz, ob Daddy wohl einverstanden wäre, wenn er wüsste, dass sie so hart trainiert wurde.

Was Training bedeutete, hatte Lilo ihr hinreichend erklärt. Rubinchen hatte einen langen Vortrag darüber zu hören bekommen, nachdem ein fremder Mann, den sie grässlich fand, zu Tante Lilo gesagt hatte, dass sie ein Naturtalent sei.

Lilo Lüdke war Sportlehrerin, und im Winter gab sie, selbst eine recht gute Eisläuferin, Unterricht in diesem Sport. Allerdings konzentrierte sie sich neuerdings ausschließlich auf ihre Nichte, was seine guten Gründe hatte.

Rubinchen hätte nicht gewagt, Tante Lilo zu widersprechen. Das hätte bedeutet, den ganzen Tag im Zimmer bleiben zu müssen, um Achter und Kreise zu malen.

So drehte sie sich auf dem frostklirrenden Eis, wie Tante Lilo es befahl, und bemerkte nicht, dass sie inzwischen auch andere Zuschauer bekommen hatte.

»Bezaubernd«, sagte Denise von Schoenecker zu der jungen Dame, die neben ihr stand. »Das ist ja ein entzückendes Kind, Nanni.«

»Für den Betrachter«, erklärte Nanette von Willbrecht. »Für mich ist es ein bedauernswertes Kind, das schamlos strapaziert wird.«

»Das müssen Sie mir erklären, Nanni«, sagte Denise erschrocken. In diesem Augenblick stürzte Rubinchen.

Es tat höllisch weh, aber sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, weil Tante Lilo über die Eisfläche auf sie zukam.

»Nimm dich zusammen, Ruth«, sagte sie streng. »Die Stunde ist noch nicht um.«

Rubinchen rappelte sich auf. Als sie sich umblickte, flog ein heller Schein über ihr kleines Gesicht. Winkend hob sie die Hand. Lilo Lüdke drehte sich um und sah Nanette von Willbrecht. Ihre Miene verdüsterte sich.

»Du sollst nicht mit ihr reden, Ruth«, sagte sie unwillig.

»Warum denn nicht?«

Lilo blieb ihr die Antwort schuldig, denn sie entdeckte jetzt einen Mann im hellen Ledermantel, der sich auf einer Bank niedergelassen hatte.

»Du übst den Rittberger«, sagte sie. »Noch zehn Minuten! Hast du verstanden?«

»Ja, Tante Lilo«, erwiderte Rubinchen gehorsam, weil sie genau wusste, dass Tante Lilo abgelenkt war. Der Fremde, der ihr dieses harte Training eingebrockt hatte, war wieder da. Rubinchen war entschlossen, diesen Mann noch viel abscheulicher zu finden als vor vierzehn Tagen.

Sie übte zweimal den Rittberger, trotz der scheußlichen Schmerzen im Knie, aber dann sah sie, dass Tante Lilo sich angeregt mit dem Fremden unterhielt, und sie entdeckte den großen schneeweißen Hund, der sich neben Nanette von Willbrecht niedergelassen hatte.

Ganz nahe lief sie an die Bande heran. »Pipp«, rief sie und der Hund legte seine Ohren zurück. Dann sah Rubinchen zwei Buben, einen großen und einen kleinen, und der große sagte: »Du kannst vielleicht toll Schlittschuh laufen. Ich bin ganz weg.«

Da vergaß sie ihre Schmerzen und lief weiter. Sie sprang den Rittberger und den Salchow fehlerlos und ahnte nicht, dass sie dadurch alles noch schlimmer für sich machte.

»Sie haben schon viel erreicht«, sagte der Fremde anerkennend zu Lilo Lüdke. »Wenn die Kleine weiter solche Fortschritte macht, kann ich sie nächstes Jahr in die Revue einbauen.«

»Was springt für mich dabei heraus, Mr Miles?«, fragte Lilo.

»Vorerst fünftausend, wenn Sie den Vertrag unterschreiben«, erwiderte er. »Ich werde die Kleine morgen noch beobachten. Abends treffen wir uns dann, okay?«

Lilo nickte ihm mit ihrem betörendsten Lächeln zu. Wenigstens glaubte sie, dass es betörend sei. Für ihre Begriffe war Mr Gordon Miles der attraktivste Mann, der ihr seit Langem begegnet war, und sie war immerhin bereits dreißig.

Rubinchen drehte indessen eine Pirouette und versetzte ihre interessierten Zuschauer damit in helles Entzücken. Ganz schnell glitt sie dann wieder an die Bande, wo Nanette stand.

»Wenn ich fort kann, komme ich heute Nachmittag«, flüsterte sie. »Darf ich?«

»Immer, Rubinchen«, erwiderte Nanni, und der weiße Hirtenhund Pipp bellte zweimal.

*

Denise und Alexander von Schoenecker waren mit ihren Söhnen Dominik und Henrik für ein paar Tage Gäste der Familie von Willbrecht. Nanette war als Krankengymnastin einige Wochen im Kinderheim Sophienlust gewesen und hatte sich dort sehr wohl gefühlt. Seit dieser Zeit bestand zwischen ihr und der Familie von Schoenecker ein freundschaftlicher Kontakt.

Weil Dominik und Henrik einmal ein richtiges Eishockeyspiel sehen wollten, während Denise sich mehr für den Eiskunstlauf begeisterte, hatten sie die Einladung von Nanettes Eltern, ein paar Tage bei ihnen zu verbringen, gern angenommen.

Friedrich von Willbrecht und seine Frau Annemarie freuten sich, die Schoen­eckers persönlich kennenzulernen. Sie hatten aus der Not der Nachkriegsjahre eine Tugend gemacht und ihr hochherrschaftliches Haus zu einer Pension umgestaltet, in der sie ausschließlich Stammgäste aufnahmen. Für private Gäste blieben aber immer ein paar Zimmer reserviert. In diesen waren jetzt die Schoeneckers untergebracht.

Nick und Henrik waren betrübt, weil Pünktchen diesmal daheim bleiben musste. Aber Pünktchen, deren richtiger Name Angelina Domin lautete und die schon ganz zu den Schoeneckers und Sophienlust gehörte, musste noch die Folgen einer schweren Grippe auskurieren.

»Pünktchen kann zwar auch sehr gut Schlittschuh laufen«, sagte Henrik auf dem Heimweg vom Stadion, »aber sie hätte vielleicht gestaunt, was die kleine Eisprinzessin für Sprünge macht.«

Denise von Schoenecker dachte immerzu daran, was Nanni über dieses bezaubernde Kind gesagt hatte: Ein bedauernswertes Kind, das schamlos strapaziert wird.

Denise, die seit Jahren das Kinderheim Sophienlust leitete und darauf bedacht war, immer nur das Beste für ihre Schützlinge zu bewirken, wollte zu gern wissen, was Nanni damit gemeint hatte.

Als sie bei dem wunderschönen Haus anlangten, das den Willbrechts schon in der dritten Generation gehörte, sah sie zu Nanni: »Sie müssen mir unbedingt von dieser kleinen Eisprinzessin erzählen.«

Nick spitzte die Ohren, aber er hörte auch, wie Nanni erwiderte: »Wenn wir allein sind, Frau von Schoenecker.«

Das ergab sich bald, ohne dass Nick etwas dagegen unternehmen konnte. Der ungarische Hirtenhund Pipp war nämlich zum Herumtollen aufgelegt, und darüber vergaß Nick alles andere. Sie hatten zwar in Sophienlust und Schoeneich viele Hunde der verschiedensten Rassen kennengelernt, aber Pipp war ein ungewöhnliches Exemplar. Herr von Willbrecht hatte den Buben erzählt, dass er schon Menschen aus Lawinen gerettet hatte. Er war als drei Monate altes Hundebaby zu den Willbrechts gekommen, mit dem stolzen Namen Pippin, aber Nanni hatte ihn gleich Pipp genannt, und so war es geblieben.

Man konnte ihn mit dem Korb zum Bäcker schicken, und er brachte die frischen Brötchen nach Hause, ohne dass ein einziges gefehlt hätte. Er holte die Zeitungen und trug sie zwischen seinen Zähnen, ohne dass sie je eingerissen wären.

Nun hatte Henrik einen großen Knochen ganz am Ende des Gartens tief unter dem Schnee vergraben, weil er genau wissen wollte, ob Pipp ihn finden würde, und um ihn abzulenken, gingen sie erst noch mit ihm die Straße auf und ab.

So konnten Denise und Nanni sich ganz ungestört unterhalten, während Friedrich von Willbrecht und Alexander von Schoenecker eine Partie Schach spielten.

Denise und Nanni hatten es sich beim Kamin gemütlich gemacht.

»Ich fürchte, dass ich bei dieser Geschichte leicht in den Verdacht geraten kann, klatschhaft zu sein«, begann Nanni verlegen.

»Iwo, Nanni. Ich kenne Sie doch. Das Kind interessiert mich wirklich sehr. Erzählen Sie bitte!«

»Dann sollte ich wohl bei Lilo beginnen. Früher haben wir uns gedutzt. Sie ist vier Jahre älter als ich und war mit meinem Bruder Hasso befreundet, als sie noch ein junges Mädchen war. Vielleicht hatte sie Torschlusspanik bekommen, als ihre Schwester Jan Campen heiratete, jedenfalls zeigte sie es Hasso ein bisschen zu deutlich, dass sie geheiratet werden wollte. Vielleicht war es auch etwas anderes, dass er sich von ihr trennte. Er hat nie darüber gesprochen, und seit zwei Jahren ist er nun mit der richtigen Frau verheiratet. Lilo hat mich seither wie eine Fremde behandelt. Das macht mir zwar nichts aus, aber seit Rubinchen hier ist, muss auch das Kind darunter leiden. Wir haben uns nämlich auf Anhieb gemocht.«

»Rubinchen ist ein reizender Name, so reizend wie das Kind selbst«, warf Denise ein.

Nanni erklärte ihr, wie der Name entstanden war, und sie sagte auch, dass Lilo abwechselnd Ruth oder Sabine sagte.

»Schon mit den Namen zeigt sie ihre Launen. Sabine sagt sie nur höchst selten. Einmal hat mir die Kleine schon ihr Herzchen ausgeschüttet, aber es ergibt sich nur höchst selten eine Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen, und seit Lilo das Kind wie verrückt trainiert, was ich nicht nur für unsinnig, sondern auch für schädlich halte, ist es ganz aus.«

»Und der Vater? Duldet er das denn?«

»Herr Campen ist schon seit Monaten in der Türkei. Deswegen hat er Rubinchen seiner Schwägerin in Obhut gegeben. Ruth, Rubinchens Mutter, ist bei der Geburt gestorben. Sie war ganz anders als Lilo. Sie war meine Freundin. Jan Campen kenne ich nur flüchtig. Er hat jetzt eine Bombenstellung, und soviel ich weiß, liebt er sein Kind auch sehr. Ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre, was Lilo mit dem Kind treibt. Was mich aber besonders nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass Lilo jetzt des Öfteren mit diesem Mr Miles zusammensteckt. Er ist Manager einer Eisrevue.«

»Du lieber Himmel«, sagte Denise erschrocken, »sie wird doch nicht schon Kapital aus dem Kind schlagen wollen?«

»Das eben fürchte ich. Nun, vielleicht kann Rubinchen heute entwischen und ich erfahre mehr.«

Denise überlegte. »Wir werden morgen noch früher ins Stadion gehen«, sagte sie. »Vielleicht komme ich mit dieser Lilo ins Gespräch. Sie haben mich neugierig gemacht, Nanni.«

Aber das war es nicht allein. Denise hatte ein Herz für Kinder und besonders für jene, die nicht unbeschwert Kind sein durften. Nicht umsonst nannte man Sophienlust das Haus der glücklichen Kinder.

*

Rubinchen staunte, wie freundlich Tante Lilo heute mit ihr war. Sie bekam Kalbschnitzel, die sie besonders gern mochte, ihr Knie wurde bandagiert, und Lilo raffte sich sogar zu ein paar mitfühlenden Worten auf. Rubinchen sah die Möglichkeit, ihr zu entwischen, allerdings immer mehr schwinden.

»Schreiben wir an Daddy?«, fragte sie.

»Dazu habe ich heute keine Zeit«, erwiderte Lilo. »Ich muss noch dein Kleidchen für morgen fertig machen. Ach ja, du könntest von Frau Brühl einen Reißverschluss holen. Das wird dein Bein wohl nicht zu sehr anstrengen.«

In diesem Augenblick tat es gar nicht mehr weh, denn von dem kleinen Laden der Frau Brühl war es wirklich nicht weit bis zu den Willbrechts. Rubinchen sah einen Silberstreif am Horizont.

»Ich kann ja langsam gehen«, sagte sie schlau. »Hinfallen darf ich nicht noch einmal, wenn ich morgen laufen soll.«

»Du bist ja ganz vernünftig«, meinte Lilo, und ihr schmaler Mund, der schon ein bisschen verkniffen wirkte, lächelte.

Rubinchen schlüpfte in die langen Hosen und zog ihren Anorak an. Frühzeitig war sie zur Selbstständigkeit erzogen worden.

»Binde den Schal um, damit du kein Halsweh bekommst«, sagte Lilo mahnend.

Rubinchen tat widerspruchslos, was man von ihr verlangte. »Kann ich noch etwas für dich besorgen, Tante Lilo?«, fragte sie.

»Ein paar Krapfen kannst du uns mitbringen. Die magst du doch.«

Von so viel Freundlichkeit wurde Rubinchen verblüfft. Sie überlegte, ob das wohl auch mit dem fremden Mann zusammenhing. Vielleicht wollte Lilo mit ihm ausgehen. Langsam ging Rubinchen die Straße entlang, bis sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen war. Dann lief sie schneller.

Vielleicht findet Lilo doch einen, der sie heiratet, dachte sie. Dann wird sie endlich nicht mehr davon reden, dass es für mich das Beste wäre, wenn Daddy sie heiraten würde. Der Gedanke, dass Tante Lilo Daddys Frau werden könnte, ängstigte sie, aber Daddy hatte so etwas nie verlauten lassen.

Nun sah sie das Haus der Willbrechts und dachte nicht mehr an Tante Lilo, denn Pipp kam ihr schon entgegengelaufen, als hätte er sie längst gewittert.

»Lieber Pipp«, sagte sie zärtlich und kraulte ihm den Kopf, und dann sah sie Nanni. Ein glückliches Leuchten kam in die schönen Augen des Kindes.

»Ich muss etwas holen, und darum konnte ich schnell kommen«, rief sie.

»Hast du dir heute Morgen arg wehgetan?«, fragte Nanni besorgt.

»Es geht schon«, erwiderte Rubinchen. »Muss ja morgen laufen, vor all den vielen Leuten am Nachmittag.«

Erschrocken sah Nanni das Kind an. »Willst du das?«

»Tante Lilo will es«, erwiderte Rubinchen seufzend. »Ich kann nichts machen. Ich habe bloß Angst, dass ich mich blamiere. Ich möchte so gern spielen.« Sehnsüchtig wanderten die Augen zu den beiden Jungen, die jetzt näher kamen.

»Bleib doch hier«, rief Henrik, der es gehört hatte.

Rubinchen schüttelte den Kopf.

»Meine Tante wartet«, sagte sie. »Vielleicht darf ich übermorgen kommen, wenn ich morgen gut laufe.«

»Dann fahren wir schon bald wieder weg«, sagte Henrik enttäuscht.

»Nanni, ich möchte dir gern etwas sagen«, flüsterte Rubinchen.

»Du kannst mir alles sagen.«

Des Kindes Blick verdunkelte sich. »Ich muss aber schnell wieder heim«, erwiderte es.

»Dann begleite ich dich ein Stück.«

Henrik wollte auch hinterherlaufen, aber Nick hielt ihn zurück. Er hatte begriffen, dass das kleine Mädchen etwas auf dem Herzen hatte, was sie nicht jedem erzählen wollte. Und so war es auch. »Weißt du, Nanni, Tante Lilo hat gesagt, dass Daddy es gern will, wenn viele Leute mir zuschauen. Sie sagt, dass er das geschrieben hat. Aber sie hat mir einen ganz alten Brief von Daddy vorgelesen, in dem das stehen soll, und vorher hat es da nicht dringestanden. Ist das Lüge?«

Was sollte Nanni dazu sagen? Sie traute es Lilo ohne Weiteres zu, dass sie so etwas tat, wenn es ihren eigenen Zielen nützlich war.

»Vielleicht hast du dich getäuscht und es war doch ein anderer Brief, Rubinchen«, sagte sie beklommen.

»Aber Daddy hat mich doch lieb. Er weiß doch, dass ich es gar nicht mag, wenn die Leute mich anschauen.«

»Er wird aber auch stolz sein auf sein begabtes Töchterchen«, meinte Nanni.

»Wir sind doch aber immer nur zum Spaß gelaufen, und mit Daddy war das auch schön«, sagte Rubinchen. »Ich muss mir so viel den Kopf zerbrechen. Jetzt bin ich schon bald sechs Jahre, aber ich möchte so gern noch fünf bleiben, Nanni. Am liebsten möchte ich jetzt gar nicht mehr Schlittschuh laufen.«

Nanni verspürte eine tiefe Verzweiflung. Sie konnte dem Kind nicht helfen. Sie musste es mit billigem Trost abspeisen. Sie wusste genau, dass Lilo Lüdke noch unnachsichtiger werden würde, wenn sie sich einmischte.

»Ich möchte auch zu gern wissen, warum Tante Lilo dich nicht mag«, sinnierte Rubinchen. »Vielleicht weil du so hübsch bist und die Männer dir immer nachschauen.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Kleines«, sagte Nanni. »Morgen sind wir wieder im Stadion, ganz früh.«

»Danke«, entgegnete Rubinchen, »dann bin ich nicht so allein. Könnten die Buben nicht auch ganz früh Schlittschuh laufen?«

»Vielleicht geht es.«

Rubinchen ging in den Laden von Frau Brühl. Sie blieb einen Augenblick an der Tür stehen und sah Nanni und Pipp mit sehnsüchtigen Augen an. Dann ging sie hinein.

»Einen Reißverschluss für mein Kleid. Einen roten«, sagte Rubinchen zu Frau Brühl.

»Musst du immer in einem so leichten Kleid bei der Kälte laufen?«, fragte Frau Brühl missbilligend.

»Wenn es Tante Lilo doch so will«, erwiderte Rubinchen.

»Dass dein Vater das zulässt, wo du so klein und dünn bist«, brummte Frau Brühl. Rubinchen schwieg.

Die Krapfen vergaß sie in der Aufregung, aber daran dachte Lilo auch nicht mehr. Sie hatte hochrote Wangen, als Rubinchen heimkam.

»Du hast einen feinen Vater«, platzte sie erregt heraus. »Du wirst noch dankbar sein, wenn ich mich um dich kümmere. Er hat geschrieben – und was meinst du wohl, hat er vor? Heiraten will er!« Lilo schrie es fast.

Seltsame Gedanken gingen durch den Kopf des Kindes. War das wieder gelogen? Sie wusste nicht mehr, was bei Tante Lilo Wahrheit oder Schwindel war.

»Ich werde es dir vorlesen«, sagte Lilo heiser, und diesmal hatte sie einen Brief in der Hand, den Rubinchen noch nicht gesehen hatte. Sie hörte erst richtig zu, als Lilo eine bestimmte Stelle erreicht hatte: »Sobald wir ein Haus gefunden haben, werde ich dich holen, Rubinchen. Du wirst dich mit Yasmin bestimmt gut verstehen. Sie mag Kinder sehr gern, und sie ist sehr hübsch und sehr lieb. Wir werden endlich wieder beisammen sein.«

»Ist das eine Türkin?«, fragte Rubinchen leise.

»So eine wird es wohl sein, aber ich werde deinem Vater schon die Meinung sagen. Schließlich war deine Mutter meine Schwester, und ich werde nicht zulassen, dass du eine Stiefmutter bekommst.«

Rubinchen schluckte, dann fragte sie: »Und wenn Daddy dich geheiratet hätte, wärest du dann nicht meine Stiefmutter?«

»Leg dich jetzt hin und schone dein Bein«, stieß Lilo wütend hervor.

Das ließ sich Rubinchen nicht zweimal sagen, denn das Bein schmerzte höllisch, weil sie so schnell gelaufen war.

*

Jan Campen war groß, blond, und er hatte die gleichen Augen wie seine Tochter. Er war ein Mann, nach dem die Frauen sich umdrehten, besonders in diesem Land, wo man solche Männer höchst selten sah.

Er ging in seinem modernen Büro hin und her, und die nachtdunklen Augen der bildhübschen jungen Frau, die vor der Schreibmaschine saß, folgten ihm.

»Jetzt werden sie meinen Brief wohl schon haben, Yasmin«, sagte er mit gepresster Stimme.

Sie lächelte ironisch. »Das klingt, als hättest du Angst vor deiner Tochter, Jan«, sagte sie anzüglich.

»Ich habe plötzlich Bedenken, wie Lilo es ihr beibringen wird. Sie ist unberechenbar. Vielleicht hätte ich es Rubinchen besser selbst sagen sollen.«

Yasmin Haman war klug und diplomatisch. Sie sagte nichts, was ihn hätte ärgern können. Es hatte Monate gedauert, bis sie diesen recht verschlossenen Mann aus seiner Reserve gelockt hatte, und nun wollte sie ihn um keinen Preis mehr verlieren.

Er war für sie die große Chance, herauszukommen aus dieser engbegrenzten Welt, in der sie sich nach der Familie richten musste. Sie war die älteste von vier Geschwistern, ihr Vater war ein kleiner Beamter. Recht und schlecht hatte er seine Familie durchs Leben gebracht und wirklich alle Hoffnung auf seine ebenso kluge wie schöne Tochter gesetzt, die einen blendend bezahlten Posten als Sekretärin bekam und ihm nun den Direktor der Firma auch noch als Schwiegersohn präsentierte.

»Jetzt mach dir nicht so viel Gedanken, Jan«, sagte sie in ihrem sehr guten Deutsch, das nur einen aparten Akzent aufwies. Ihre großen dunklen Augen, die wie ein samtener Nachthimmel schimmerten, sahen ihn lockend an.

Sie hatte ihn bezaubert mit ihrem Charme. Sie war so ganz anders als Ruth, die immer ein wenig gehemmt gewesen war.

»Es ist eben ein dummes Gefühl, wenn man eine fast sechsjährige Tochter mit in die Ehe bringt«, bemerkte er.

Sie lachte melodisch. »Ich habe doch kleine Geschwister. Für mich ist das nicht so schlimm.«

»Ich hätte sie nicht bei Lilo lassen sollen«, sagte er. »Nein, das war nicht richtig. Es kompliziert alles.«

»Dann hast du Angst vor dieser Frau?«, fragte Yasmin.

»Angst nicht. Aber ich fürchte, sie hat sich Hoffnungen gemacht, dass ich sie heiraten würde.« Nun war es heraus. Yasmin sah ihn nachdenklich an.

»Hast du ihr solche Hoffnungen gemacht?«, fragte sie.

»Gott bewahre, nein, aber sie ist schon dreißig und hat noch keinen Mann. Aber lassen wir das jetzt. Wir gehen heute Abend aus. Jetzt werden es deine Eltern erlauben.« Er holte tief Atem. »Schau mich nicht so an, Yasmin. Du bringst mich noch ganz durcheinander.«

Sie war sich seiner sehr sicher. Kein Mensch auf der ganzen Welt würde es fertigbringen, sie noch zu trennen, auch diese Lilo nicht. Vielleicht wäre es nicht einmal das Schlechteste, wenn das Kind bei ihr bleiben würde. Doch darüber konnte sie mit Jan reden, wenn sie erst verheiratet waren.

*

Lilo hatte Rubinchen Baldriantropfen gegeben. Sie wusste sehr gut, dass die Verletzung am Knie schmerzhaft sein musste, aber mehr denn je setzte sie ihre ganze Hoffnung auf den morgigen Tag. Wie sehr sie Jans Brief mit Zorn erfüllt hatte, zeigte sie nicht. Sie hatte sich beherrscht und sogar zu Rubinchen gesagt, dass sie sich keine Gedanken machen solle.

»Wenn dir diese Frau nicht gefällt, bleibst du eben bei mir«, hatte sie bemerkt. »Hier gefällt es dir doch.«

»Ich möchte aber auch mit anderen Kindern spielen«, sagte Rubinchen, mit kindlicher Schläue ihre Chance nutzend.

»Das darfst du auch, wenn du morgen alles zeigst, was du kannst«, erwiderte Lilo. »Du darfst dann auch zu Nanette in die Gymnastikstunde gehen.«

Das kam Rubinchen alles ein bisschen komisch vor, aber immerhin eröffneten sich ihr da Möglichkeiten, von denen sie nicht zu träumen gewagt hätte. Sie war auch etwas zornig über ihren Daddy. Wenn er eine fremde Frau heiraten wollte, traute sie es ihm auch zu, dass er mit ihren Eislaufkünsten protzen wollte. Es war doch möglich, dass er dieser Yasmin davon erzählt hatte und dass sie auch so ehrgeizig war wie Tante Lilo. Rubinchen dachte sich noch manches, bis sie endlich einschlief. Sie spürte den Schmerz im Bein nicht mehr. Das Herz tat ihr viel weher. Sie wurde früh geweckt, noch früher als sonst. In der Nacht war wieder Neuschnee gefallen, und es war ganz hell draußen, sodass Rubinchen gar nicht wusste, wie früh es noch war.

»Du ziehst heute besser lange Hosen und den dicken Pulli an«, sagte Tante Lilo. »Du läufst nach Kalinka. Die Musik allein macht schon Eindruck. Wir proben es dreimal durch, und dann kannst du dich ausruhen bis heute Nachmittag.«

Nach ihrem Bein erkundigte sie sich nicht, und Rubinchen dachte nur daran, dass Nanni heute schon ganz früh ins Stadion kommen wollte.

*

»Ist aber mächtig kalt heute«, murrte Henrik, der gar nicht begeistert war, das warme Haus so früh verlassen zu müssen.

»Du kannst ja hierbleiben«, schlug Denise vor. »Wir wollen uns Rubinchen anschauen.«

Nanni machte sich Sorgen um Rubinchen. Das Thermometer war auf zwölf Grad unter Null gefallen. Aber Lilo würde auch das nichts ausmachen.

»Ich finde, dass das eine Quälerei ist«, bemerkte Frau von Willbrecht. »Es müsste verboten werden, dass kleine Kinder so drangsaliert werden.«

Sie hatten am Abend noch lange über Rubinchen gesprochen, und Nick hatte manches mitgekriegt.

»Mit Pünktchen haben sie es auch so gemacht«, sagte er. »Sie musste schon als ganz kleines Kind im Zirkus auftreten.«

»Und wenn Nick sie nicht gefunden hätte, müsste sie das immer noch«, warf Henrik ein.

So erfuhren die Willbrechts nebenbei auch die Geschichte von Pünktchen, die Nick eines Tages im Park in ziemlich verwahrlostem Zustand aufgegriffen und mit nach Sophienlust genommen hatte, wo sie dann geblieben war und immer bleiben sollte.

»Können wir Rubinchen nicht auch mitnehmen, Mami?«, fragte Henrik. »Bei uns wird sie nicht drangsaliert.«

Ihm gefiel dieser Ausdruck, über dessen Bedeutung Nick ihn schnell aufgeklärt hatte.

Aber Denise bemerkte, dass man Rubinchen wohl nicht so einfach mitnehmen könne, da ihre Tante über sie zu bestimmen hätte.

»Das wird eine schöne Tante sein«, meinte Nick unwillig.

»Sie ist ein Mannweib«, sagte Friedrich von Willbrecht. Darauf riss Henrik staunend die Augen auf. Er wollte wissen, was ein Mannweib sei.

»Ich gehe schon voraus«, sagte Nanni plötzlich, ihrem Vater diese Erklärung überlassend.

»Sie hat einen Narren an dem Kind gefressen«, stellte Herr von Willbrecht fest. »Sie sollte lieber heiraten und selber Kinder in die Welt setzen.«

»Sie hat eben noch nicht den richtigen Mann gefunden«, lenkte Annemarie von Willbrecht ein.

»Krankengymnastin musste sie werden«, polterte der Hausherr.

»Du weißt ja warum«, sagte Annemarie von Willbrecht leise, da schwieg ihr Mann.

Denise wusste auch, warum Nanni diesen Beruf ergriffen hatte. Ihr Jugendfreund war mit neunzehn Jahren an Kinderlähmung erkrankt, und das hatte das sensible Mädchen völlig verändert. Niemand hatte ihm helfen können. Er war nach einem Jahr gestorben, doch Nanni trauerte ihrer ersten Liebe wohl immer noch nach.

»Ich gehe jetzt auch«, sagte sie. »Wenn es euch zu kalt ist, bleibt ihr eben hier.«

»Papi schläft noch«, meinte Henrik.

»Er hat es nötig. Ihm steckt die Grippe immer noch in den Gliedern«, sagte Denise. »Das Schaulaufen will er sich aber nicht entgehen lassen.«

*

Rubinchen war schon auf dem Eis, als Nanni mit Pipp nahte. Es war so kalt, dass der Hauch vor dem Mund gefror.

Findet sich denn niemand, der Lilo gehörig die Meinung sagt, dachte Nanni niedergeschlagen, doch im Grunde musste sie Rubinchens Zähigkeit bewundern. Sie lief fehlerlos. Pipp war kein Freund von Musik. Er begann kläglich zu jaulen. Empört drehte sich Lilo um. »Wir sind beim Training«, sagte sie scharf. Sie war wütend, dass Nanni schon wieder hier war.

Nanni straffte sich. »Haben Sie das Stadion gepachtet?«, fragte sie zurück. Sie konnte sich einfach nicht mehr beherrschen.

»Lassen Sie doch wenigstens den Hund draußen«, fuhr Lilo sie an.

Pipp trottete von selbst davon. Rubinchen zog weiter ihre Kreise, als hätte sie nichts bemerkt.

Nanni zog ihre Schlittschuhstiefel an, und als sie mit dem Verschnüren fertig war, nahten auch schon die Schoeneckers.

Lilo konnte nicht aufbegehren. Wenn die Gäste auch selten zu so früher Stunde im Stadion erschienen, hindern konnte man sie nicht, die Eisfläche zu benutzen.

»Du kannst aufhören, Sabine«, sagte sie. »Du hast deine Sache gut gemacht.«

Das passte Rubinchen heute nun gar nicht. »Ich übe noch mal die Pirouette«, sagte sie.

Denise hatte die Situation schnell erfasst. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie an Lilo herantrat.

»Ein ungewöhnliches Talent«, sagte sie. »Wohl eine große Hoffnung für die Zukunft?«

Lilo wusste nicht, wie sie diese Dame mit Nanni in Einklang bringen konnte. Es schmeichelte ihr, dass Rubinchens Können so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

»Wenn man ein Talent beizeiten schult, kann man für die Zukunft hoffen«, sagte sie. »Leider verstehen nicht alle, dass es ohne Fleiß auch keinen Preis gibt.«

Denise wusste genau, dass dies auf Nanni gemünzt war.

»Es ist ja auch sehr selten, dass ein Kind schon so früh derart perfekt ist«, bemerkte sie.

»Ich habe mir auch die größte Mühe gegeben«, sagte Lilo.

»Vielleicht könnten Sie meinen Kindern auch ein paar Trainingsstunden geben«, sagte Denise. »Übrigens, mein Name ist Schoenecker.«

»Mir fehlt augenblicklich leider die Zeit«, sagte Lilo. »Warum wenden Sie sich eigentlich nicht an Fräulein von Willbrecht?«, fügte sie dann noch spitz hinzu.

Nanni glitt schon über die Eisfläche. Staunend sahen Nick und Henrik, wie sie sicher ein paar Sprünge ausführte und sich dann rasend schnell um ihre eigene Achse drehte.

»Toll«, sagte Nick.

»Ja, warum wende ich mich eigentlich nicht an Fräulein von Willbrecht«, sagte Denise. »Ich wusste gar nicht, dass sie so perfekt läuft.« Denise konnte auch herablassend sein, wenn es ihr angebracht erschien, und diesmal traf das zu.

»Komm jetzt, Ruth«, sagte Lilo im Befehlston. »Du musst dich schonen.«

»Du hast aber doch gesagt, dass ich auch einmal mit andern Kindern spielen darf«, begehrte Rubinchen jetzt auf.

»Morgen. Auf dem Eis wird nicht gespielt.«

Nur mühsam unterdrückte Rubinchen die Tränen. Wieder wurde ihr alles verdorben. Sie hatte so sehr gehofft, dass sie die beiden Jungen ein bisschen näher kennenlernen könnte.

*

»Es ist schwer, dieser Lilo beizukommen«, sagte Denise zu Nanni.

»Wem sagen Sie das? Ich würde Herrn Campen gar zu gern meine Meinung sagen.«

»Warum schreiben Sie ihm nicht? Als Freundin von Rubinchens Mutter könnten Sie das doch tun?«

»Ich mische mich nicht gern ein. Ich weiß doch nicht, wie er eingestellt ist. Ich glaube, dass er ein Mann ist, bei dem man leicht ins Fettnäpfchen treten kann.«

Denise musterte sie mit einem eigentümlichen Blick.

»Was ist er für ein Mann?«, fragte sie. »Herrisch?«

»Sehr selbstbewusst. Ich denke, auch sehr ehrgeizig. Aber, wie gesagt, ich kenne ihn nur flüchtig. Ich war achtzehn, als er Ruth heiratete, und da war Karlheinz gerade gestorben. Deswegen war ich auch nicht auf der Hochzeit.«

Henrik kam angestolpert. »Ich lerne das nie, Mami«, sagte er kleinlaut. »Schau bloß Nick an. Er kann sich auch schon drehen.«

»Du lernst es auch noch, Henrik«, sagte Nanni und sie schien froh, abgelenkt zu werden. »Komm, wir probieren es gemeinsam.

So wurde die Stunde auf dem Eis für die Schoenecker-Kinder doch noch zu einem Erlebnis, denn unter Nannis Obhut lernte auch Henrik, wie man umsprang. Es erfüllte ihn mit ungeheurem Stolz.

*

In Sophienlust vermisste man Nick und Henrik. Pünktchen sah noch sehr verschnupft aus. Ihr Näschen war rot, während ihr reizendes Gesicht sehr blass war und die Sommersprossen, denen sie ihren Namen verdankte, traten doppelt deutlich hervor.

Heute hatte sie eine Ansichtskarte von Nick bekommen, doch ihre Freude darüber wich schnell, als sie las, wie er von dem kleinen Mädchen schwärmte, das so wundervoll eislaufen konnte.

»Einfach klasse!«, schrieb er, und das war dreimal unterstrichen. Das Alter von Rubinchen hatte er nicht dazu geschrieben, und nun war Pünktchen doppelt bekümmert, denn unwillkürlich stellte sie sich ein Mädchen in ihrem Alter vor, da Nick auch zu ihr manchmal »kleines Mädchen« sagte. Man hatte auch in so jungen Jahren schon seine Nöte, wenn man jemand so schrecklich gern hatte wie Pünktchen ihren Nick, dem sie es doch zu verdanken hatte, dass sie sorglos heranwachsen durfte.

Eine Eisprinzessin war bestimmt etwas ganz Besonderes. Pünktchen konnte nicht ahnen, wie glühend Rubinchen sie beneidet hätte, wüsste sie von ihrem glücklichen, unbeschwerten Dasein in Sophienlust, das nur vorübergehende Kümmernisse kannte.

Rubinchen hatte mehr als eine Sorge. »Liest du mir Daddys Brief bitte noch einmal vor, Tante Lilo?«, fragte sie.

»Heute nicht. Du musst ruhen«, sagte Lilo. »Es war dumm von mir, es dir überhaupt zu sagen. Dein Vater wird es sich sicher noch anders überlegen.«

»Vielleicht hat er sie sehr lieb«, flüsterte Rubinchen. »Ob er sie lieber hat als mich?«

Lilo wünschte diese Yasmin gewiss zum Teufel, andererseits überlegte sie aber auch schon, was sie tun könnte, damit Jan Rubinchen bei ihr ließ. Sie sollte ihn vielleicht noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen, dass das Klima in der Türkei dem Kind gar nicht zuträglich sein würde.

Und das wollte sie ihm gleich heute schreiben. In ihr war eine schreckliche Unruhe. Sie hatte Sorge, dass Rubinchen patzen würde, und Gordon Miles das Interesse an ihr verlor.

Sie sah das Kind schon als Eisstar, und sie würde auch einen Teil des Erfolges honoriert bekommen. Heute würde man ihren Namen schon nennen, wenn Rubinchen angekündigt wurde. Miles arrangierte das bestimmt großartig. Er war überhaupt ein großartiger Mann. Warum sollte sie ihre Gedanken eigentlich noch an Jan verschwenden?

Sie musste heute äußerlich wirken. Als sie einen langen Blick in den Spiegel geworfen hatte, kam es ihr zum Bewusstsein, dass sie nicht viel dafür getan hatte.

»Ich gehe jetzt zum Friseur«, sagte sie zu Rubinchen. »Schlaf jetzt.«

Das war leicht gesagt. Wie konnte sie schlafen mit all den wirren Gedanken und der Angst, die sie vor den vielen Leuten hatte? Wenn sie allein lief, war das ganz anders.

Sie wartete, bis Lilo das Haus verlassen hatte, dann setzte sie sich ans Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen. Bestimmt würde es wieder schneien. Und kalt würde es sein! Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen.

Und da sah sie auf der Straße Nanni daherkommen. Pipp trottete neben ihr her.

Rubinchen vergaß alle Vorsicht. Sie öffnete das Fenster und rief laut: »Nanni!«

Nanni hob den Kopf. Sie war sichtlich verwirrt. Aber sie blieb stehen.

»Ich komme runter«, rief Rubinchen. Es war ihr ganz gleich, ob jemand sie hörte.

Nanni zögerte. Ihr Herz klopfte schnell, als sie über die Straße ging und in der Eingangstür des Hauses stehen blieb. Pipp setzte sich brav neben sie.

Rubinchen kam schon. »Tante Lilo ist beim Friseur«, sagte sie. »Komm doch herein, Nanni. Ich muss dich etwas fragen.

»Ich möchte nicht, dass du geschimpft bekommst, Rubinchen«, sagte Nanni.

»Mir ist alles egal«, platzte das Kind heraus. »Daddy will heiraten. Sie heißt Yasmin, und sie ist so was wie eine Türkin, und Tante Lilo will, dass ich dann bei ihr bleibe. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll, Nanni. Ich kann Daddy doch nicht schreiben. Ich kann doch noch gar nicht schreiben. Würdest du das für mich tun? Bitte, bitte! Du kannst ihm doch schreiben, dass ich dich darum gebeten habe.«

»Ich habe seine Adresse nicht, Rubinchen«, sagte Nanni.

»Ich hole sie dir. Bitte, tue es. Schreib ihm, dass ich nicht immer bei Lilo bleiben will. Was sie ihm schreibt, weiß ich doch nicht.«

»Gut, ich werde ihm schreiben«, sagte Nanni, um das erregte Kind zu beruhigen.

Rubinchen lief die Treppe hinauf und kam bald atemlos mit einem Briefumschlag zurück.

»Da ist er«, flüsterte sie. »Und bitte, drück mir heute Nachmittag die Daumen. Ich habe solche Angst.«

Nanni nahm sie liebevoll in die Arme. »Ich werde immerzu an dich denken, Kleines«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Ich möchte dir so gern helfen, Rubinchen. Ich weiß doch nicht, wie ich das tun kann.«

»Mein Bein tut so weh. Viel schlimmer als gestern. Es ist ganz heiß. Ach, Nanni, wenn du doch meine Tante wärst!«

Es klang wie ein Aufschrei in tiefster Herzensnot. Nanni fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ich muss etwas tun, dachte sie. Ich kann dieses Kind nicht im Stich lassen. Sie spürte, wie Rubinchen bebte.

»Wenn ich gut laufe, darf ich mit anderen Kindern spielen«, flüsterte sie. »Ich muss ganz gut laufen, Nanni.«

»Ich werde dort sein«, sagte Nanni leise. »Wir alle werden dort sein.«

»Dann wird es schon gehen«, erwiderte Rubinchen. »Danke, Nanni.«

*

Nanni hatte am Nachmittag darauf gedrängt, dass sie früh genug zum Eisstadion gingen, obgleich sie sich ihre Platzkarten schon gesichert hatten. Pipp musste diesmal daheim bleiben. Er war tief gekränkt und zeigte das deutlich, indem er sich vor den Kamin legte und keine Notiz mehr von Nanni nahm.

Nanni hatte lange grüne Hosen an und eine rote Jacke, die schmeichelnd ihr gebräuntes Gesicht mit einem hochgestellten Kragen einrahmte.

Denise von Schoenecker war in ihrem dunklen Mantel unglaublich attraktiv anzusehen. Mit ihrem interessanten Mann an der Seite waren sie wohl das Paar, dem am meisten Beachtung geschenkt wurde, und auch der bildhübsche Nick erntete schon bewundernde Blicke.

Denise wurde es manchmal ganz bange, wenn auch reifere Mädchen so offensichtlich seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchten. Aber dazu lachte Alexander von Schoenecker nur.

»Dieser Kindskopf merkt das doch gar nicht«, flüsterte er seiner Frau leise zu.

Die Halle war bald bis auf den letzten Platz gefüllt, nur direkt vor Nanni und den Schoeneckers waren noch zwei Plätze frei. Ausgerechnet Mr Miles und eine recht junge Begleiterin nahmen dort Platz.

Nanni, die bisher geistesabwesend auf die spiegelblanke Eisfläche gestarrt hatte, geriet in eine fieberhafte Spannung, als sie einige Worte aus der Unterhaltung der beiden auffing. Sie sprach Englisch, aber das beherrschte Nanni perfekt.

Sie entnahm dem Gespräch, dass die junge Dame Bedenken hatte wegen Rubinchens sehr jungen Jahren.

»Sieh sie dir erst einmal an, Jane«, bemerkte er, da ertönte auch schon ein Tusch. Grell hallte darauf eine Stimme durch den Lautsprecher. Die Gäste wurden willkommen geheißen. Dann kam auch schon die erste Ankündigung, die Nanni Herzklopfen bereitete.

»Sozusagen als Aperitif präsentieren wir Ihnen, verehrte Gäste, einen aufgehenden Stern am Eislaufhimmel. Ruth-Sabine Campen, fünf Jahre jung, Rubinchen genannt, und, wie Sie sehen werden, wahrhaft ein Juwel. Trainiert wird die junge Dame von Frau Lilo Lüdke.«

Dann schwebte Rubinchen in einem roten Kleidchen auf die Eisfläche. Klein und verloren stand sie da, so rührend hilflos, dass Nanni am liebsten zu ihr geeilt wäre, um sie dem Scheinwerferlicht zu entreißen.

Die Leute klatschten, und an Nannis Ohren rauschten Ausrufe vorbei. »Wie süß! Ach, ist die niedlich! Goldig!«

Dann lief das kleine Rubinchen nach der russischen Volksweise »Kalinka« das von Lilo mit so großer Zähigkeit einstudierte Programm. Sie tanzte und sprang, und was ihr an Routine und Kraft fehlte, machte sie durch ihre rührende Zerbrechlichkeit wett. Man klatschte im Takt und auch gegen den Takt der Musik, und Nanni hielt sich die Ohren zu.

Zum Schluss kam die Pirouette. Nanni sah, dass das Kind fast am Zusammenbrechen war, aber als der tosende Beifall emporbrandete, sah sie wie durch einen Schleier Lilo an der Bande stehen, die Rubinchen wohl noch zu einer Zugabe bewegen wollte. Ohne eine Sekunde zu überlegen, sprang Nanni auf. Nick und Henrik sahen sie ganz erschrocken an, als sie an ihnen vorbeihastete, und Denise bemerkte beunruhigt, dass sie geradewegs auf Lilo Lüdke zueilte.

Rubinchen hielt sich das Knie, als sie die Eisfläche verließ. Sie winkte mit der anderen Hand schüchtern.

Die Leute klatschten immer noch.

»Du musst noch eine Zugabe geben«, sagte Lilo eben zu dem Kind, als Nanni neben ihr auftauchte.

»Das wird sie nicht«, sagte Nanni scharf. »Sie werden es bitter bereuen, wenn Sie das Kind dazu zwingen. Ich schrecke vor einem Skandal nicht zurück. Der Arzt soll sofort das Knie untersuchen.«

Ein paar Sekunden musste Lilo nach Fassung ringen, dann sagte sie: »Solche Wichtigtuerei! Sie sind bloß neidisch.«