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Gunnar Heinsohn

Söhne und Weltmacht

Terror im Aufstieg und Fall der Nationen

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe

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Orell Füssli Verlag AG, www.ofv.ch

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe der gleichnamigen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Inhaltgestaltung: Martin Janz, Freiburg i.Br.

ISBN 978–3-280–05706–3

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Unerklärtes an Kriegen: Essay zur Neuausgabe

Zum Thema

I.Altneuer Weltfeind: die überzähligen Söhne aus dem Youth Bulge

Sohnesüberschuss als Kampfvorteil

Die Illusion von der Hungerbekämpfung als Friedensstifter

Die Furcht vor den wohlgenährten Revolutionären

Können China und Amerika angesichts des Youth Bulge Partner werden?

Kain und Abel: Der tödliche Bruderkampf um Positionen

Youth Bulge drängt in die großen Städte

Die Dynamik nicht-erbender Söhne

Der 2020 aktive Youth Bulge

Europas Greise gegen die Youth Bulges aus dem Süden

Gary Fuller und Samuel Huntington

Heilige alte Bücher oder zornige junge Männer?

«Die Gebärmütter der Frauen entscheiden den Krieg»

Muslimische Kriege enden nicht durch religiöse Reformation, sondern bestenfalls durch Geburtenrückgang

Wie stark bleibt die «Jugend Allahs» nach dem ISIS Kalifat?

II.Töten als «allerletzte» Maßnahme vor Gerechtigkeit, Sündlosigkeit oder Naturverträglichkeit

Finden junge Männer wirklich zurück zur Religion?

Im gestern Angegriffenen übernehmen die Babyboomer die Pfründen

Was bleibt vom Babyboom?

Europas Geburtenschwund und Einwanderung

Fidel Castros acht Geschwister und das Abklingen der Youth Bulges von Lateinamerikas

Vom Hippie-Paradies zum Schlachtfeld in Nepal

III.Afrikas Siegesbanner der Fortpflanzung

Von 10 auf 40 Prozent der Kinder weltweit

Klimakriege und Klimaflüchtlinge in Afrika?

IV.Children Bulges von 2020

Hilft Demokratie gegen Demografie?

Verschiebungen im Spitzenfeld der Nationen bis 2060 durch Children Bulges

Der Children Bulge von 2020 mit den laufenden Tötungen des Youth Bulge von 2020

Ohne Youth Bulge gegen Youth Bulge: Russland gegen Tschetschenien

V.Das «Wunder» der europäischen Welteroberung: Warum ist der Imperialismus nicht verstanden?

Das Rätsel vom Umschlagen der europäischen Bevölkerungskatastrophe (1348) zur europäischen Bevölkerungsexplosion

Das rätselhafte Verschwinden der mittelalterlichen Frauenheilkunde

Geburtenexplosion und Hexenmord

Verhütung und Abtreibung werden mit dem Tode bestraft

Die Frauenheilkunde wechselt nicht von den Hebammen zu männlichen Ärzten

Hebammenverfolgung als tödliches Mittel zur Wiederbevölkerung

Welteroberung als «Abfallprodukt» der Wiederbevölkerung Europas

VI.Weltmächte von gestern und morgen: mehr Söhne und striktere Eigentumsstrukturen

Gegen wen treten die Europäer ab 1500 an? Die Reiche der Anderen

Die Sexualität in den Eroberungen

Zins: Europas eigentümliche Ökonomie in der Welteroberung

Die Potentiale aus der Trennung von Eigentum und Besitz

Mit der Erde produzieren und dem Zaun darum wirtschaften

Eigentumsbasierte Eroberer und besitzgeprägte Entdeckte

In der Eigentumsgesellschaft bestimmen Schuldenvollstrecker

VII.Aufstieg und Niedergang der europäischen Hegemonialmächte

Portugal

Spanien

Christianisten und die Entstehung des Völkerrechts

Niederlande

Frankreich

England I und II

Vereinigte Staaten von Amerika (USA I)

Afghanistan und Amerikas längster Krieg

Japan mit Geburtenexplosion und Eigentum auf die Weltbühne

Die aktuellen Herausforderer Amerikas (USA II): EU und China

VIII.Youth Bulges drängen ab 2020 absolut noch stärker, werden aber relativ schwächer

Schwinden der patriarchalischen Sexualmoral und Geburtenrückgang

Neue Reichsbildungen und das präventive Ausschaltung von Nukleardespotien

Idolisierung großtötender Führer heute und damals

Kriege zu Bürgerkriegen statt Schwerter zu Pflugscharen

Rückkehr des Westens zum Paganismus seiner Gegner und seiner eigenen Vergangenheit?

Ermüdung Amerikas und Defätismus in Europa

IX.Israel: Ein wie Gaza vermehrtes Deutschland hätte 700 Millionen Einwohner

X.Fremde Youth Bulges gegen eigenen Geburtenrückgang?

Wer die Kinder hat, bekommt das Land

Einheimische und fremde Schülerleistungen

USA oder Brasilien als Muster für Deutschland?

Straßenkämpfer statt Hochqualifizierte

XI.Die Kinder von 2020 und 2050 im Kampf der drei Räume

Literatur

Register

Danksagung

Unerklärtes an Kriegen: Essay zur Neuausgabe

«Ihr werdet zehn von uns töten, wir werden einen von euch töten, aber ihr werdet zuerst ermüden» (Ingraham 2015). Im Jahr 1946 richtet der Vietminh-Führer Ho Chi Minh (1890–1969) diese Botschaft an Paris. Dort hingegen ist man – nach den deutschen und japanischen Niederlagen im Jahre 1945 – zuversichtlich, die Herrschaft über das zwischenzeitlich an Tokio verlorene Indochina wieder aufrichten zu können.

Die Warnung wird in den Wind geschlagen. Gleichwohl erfüllt sie sich in der 1954er Entscheidungsschlacht von Dien Bien Phu. Französische Fallschirmjäger und Fremdenlegionäre – darunter ehemalige Soldaten von Wehrmacht und Waffen-SS (Toumelin 2013) – bringen dem Gegner dreimal höhere Verluste bei, als sie selbst erleiden. An der europäischen Niederlage ändert das nichts. Was wird damals und auch heute an Kriegen nicht verstanden?

Wenn militärische Konflikte als Rassen-, Religions-, Rohstoff-, Macht- oder Freiheitskriege in die Geschichtsbücher eingehen, bringen die Forscher – oftmals unbewusst – ihre Erklärungsmuster für Kriege zum Ausdruck. Von ethnischen Differenzen, rituellen Besonderheiten, ökonomischen Knappheiten und imperialen Konkurrenzen, für die sie unstrittige Belege vorweisen, schließen sie auf die Unvermeidlichkeit ihres Umschlagens ins Töten. Doch bei genauerem Hinschauen gibt es Friktionen in all diesen Sphären nicht nur vor und während des Tötens, sondern auch nach seinem Abklingen. Es ist also das Beieinander solcher Konflikte mit NichtKrieg bzw. mit unblutiger Konfliktlösung, die zur Suche nach Faktoren nötigt, die ganz unabhängig vom jeweils angegebenen Vorwand zu kriegerischen Lösungen treiben. Die Bevölkerungsdynamik ist unter den ungenügend ausgeloteten Faktoren der schwerwiegendste.

Mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren und dem Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren liegen Beispiele vor, an denen Militärhistoriker auch gegenwärtig wieder nach Kriterien für die Unterscheidung zwischen blutigen und unblutigen Konfliktlösungen fahnden. Am Ringen zwischen 1618 und 1648 bleibt das größte Rätsel die Grausamkeit der ganzjährig von der Landbevölkerung lebenden und sie beraubenden Soldateska, die nicht einmal zur Erntezeit auf die heimischen Höfe zurückkehren. Auch das jahrzehntelange Weiterlaufen des Krieges bei doch enormen Verlusten auf allen Seiten ist nicht verstanden. Woher kommen immer wieder frische Rekruten? Ungebrochen erschüttert an jenen dreißig Jahren, dass etwa Deutschlands Bevölkerung mindestens um ein Viertel, wenn nicht gar um ein Drittel von 18 auf 12 Millionen Menschen abstürzt. Zugleich verwirrt, dass dieses europäische Herzland seine Fähigkeit zur Kriegsführung dabei keineswegs einbüßt.

Die ungeheuren Opfer werden von den Gelehrten zwar wortreich beklagt, bleiben aber so unbegreiflich, dass ein bewährter Historiker wie der Oxforder Peter H. Wilson (2017) – nach 1168 Seiten seines Opus Der Dreißigjährige Krieg – nur entgeistert konstatieren kann, dass «der Krieg im Grunde unnötig war». Auch für seinen nicht minder talentierten Berliner Kollegen Herfried Münkler (2017) lässt sich – nach 976 Seiten eines Werkes mit demselben Titel – schlichtweg «nicht entscheiden, ob es in diesem Krieg wesentlich um Religions- oder um Machtfragen ging». Erschütternd bleibe in jedem Fall, dass «sich die Zahl der Kriegstoten zu einer demographischen Katastrophe» ausgewachsen habe (Münkler 2018).

Nun beginnen auch Kriegstote als Neugeborene. Gibt es womöglich zu ihnen Befunde, die Licht auf die vielen Millionen Opfer werfen können? Zu schauen ist dafür auf die sogenannte Europäische Bevölkerungsexplosion, deren Grund zwar nicht gut verstanden, deren Beginn aber in das Jahrzehnt um 1490 datiert wird. Gibt es beispielsweise in England zwischen 1416 und 1440 auf 769 sterbende Väter nur 620 nachwachsende Söhne, so kommen zwischen 1491 und 1505 auf 673 Verstorbene 1359 Jungen, die das Erwachsenenalter erreichen (Hatcher 1977, 27). Parallel wächst im Heiligen Römischen Reich die Einwohnerschaft zwischen 1500 und 1618 von rund 12,5 auf jene 18 Millionen (Kolb 2018), die im Krieg wieder auf rund 12 Millionen heruntergetötet wird.

Vor dem großen Krieg gibt es mithin einen steilen Geburtenanstieg. Aus ihm erwachsen die rätselhaften Soldaten, die über «Siegesbeute oder Heldentod» (Thomas Hobbes) zu etwas kommen wollen (Diessenbacher 1998). Sie haben gar keine andere Wahl, als sich aus den Bevölkerungen der Kriegsgebiete zu versorgen. Sie sind nichterbende Brüder. In den elterlichen Gewerben finden sie kein Auskommen mehr, weil dort die einträglichen Positionen längst mit vor ihnen Geborenen besetzt sind.

Das Deutsche Reich steht ungeachtet all der Opfer im Jahre 1648 demografisch also genau so gut da wie zu Beginn der Bevölkerungsexplosion im Jahre 1500. Es kann nach 1648 dann bis ins 20. Jahrhundert hinein stetig neue Verluste durch Epidemien, Emigration und Kriege absorbieren, weil seine Bevölkerung immer nur zulegt. Bereits 1700 prunkt es wieder mit 21 und 1750 gar mit 23 Millionen Menschen. Ähnlich dynamisch geht es überall in Europa voran. Aus seinem Jugendüberschwang rekrutieren sich die Soldaten für den Siebenjährigen Krieg (1754–1763), der mit allem Recht als wahrer erster Weltkrieg bezeichnet wird, weil er nicht nur in Europa, sondern auch in Indien, der Karibik und Nordamerika ausgefochten wird (Füssel 2013).

Den Gelehrten fiele das Verständnis der Kriege mithin leichter, wenn man sie dazu gewinnen könnte, nicht nur die Auswirkungen des Tötens auf die Bevölkerung, sondern auch die Auswirkung der Bevölkerung auf das Töten zu studieren. Auf einer Langtrendkurve hinterlassen die Verluste drei Jahrzehnte von 1618–1648 lediglich eine schnell ausgewetzte Delle. Der Krieg erweist sich demografisch als Serie von gewaltsamen Auslöschungen, die wenigstens temporär ein Gleichgewicht zwischen Ambitionen und verfügbaren Positionen herbeiführen. Die Megatötungen gehen weiter, solange überzähliges Personal nachwächst. Die absolute Menschenzahl mag zwischenzeitlich fallen, weil Alte und Schwache verhungern oder ermordet werden, während gleichzeitig die Menge der jungen Starken zunimmt. Im längeren Verlauf schlagen die Geburtenraten immer wieder souverän die Sterberaten.

Obwohl Europas Verluste durch Kriege, Seuchen und Abwanderungen in die Kolonien immer nur steigen, erreicht es – nach rund 50 Millionen Einwohnern um 1500 – im Jahr 1915 eine halbe Milliarde Menschen. Was oben wegfällt, wird von unten immer reichlicher nachgeschoben, weil die Kinderzahlen pro Frauenleben bis 1915 zwischen vier und sieben liegen.

Ohne Bestrafung der Geburtenkontrolle kann man dieses lange Wachstum nicht verstehen. Von 1500 bis ins 20. Jahrhundert hinein schaffen nämlich nicht einmal die mächtigsten Europäer – mittlerweile Herren und Herrinnen der Welt –, was heutige Teenager mehrmals pro Woche problemlos hinbekommen und was auch im Mittelalter erfolgreich bewältigt wurde. Es geht um die Schwangerschaftsverhütung. Der Übergang vom strafarmen Mittelalter zu den monströsen Strafen der Neuzeit fällt – wie der Beginn der Bevölkerungsexplosion – in die Zeit um 1500.

In der Bulla Apostolica Adversus Haeresim Maleficarum (sogenannte Hexenbulle vom 4. Dezember 1484) dekretiert Papst Innozenz VIII. Todesstrafe für «sehr viele Personen beyderlei Geschlechts, / welche [«durch verfluchte Medizinen»] die Geburten der Weiber umkommen machen und verursachen, / dass die / Frauen / nicht empfangen, und die Männer / denen Weibern und die Weiber / denen Männern die ehelichen Werke nicht leisten können» (Sprenger/Institoris 1906 [1487], I: XXXVII).

Diese Verfolgung ist nicht Ausdruck einer religiösen Verirrung des Papsttums, sondern Bevölkerungspolitik, die deshalb auch in weltliche Gesetze eingeht und bei Protestanten nicht minder heftig durchgesetzt wird als bei Katholiken.

Seit 1360 werden – auch von weltlichen Herren – Hebammen hingerichtet, weil sie bis dahin zwei Berufe ausüben. (1) Sie helfen bei Geburten und (2) sie helfen beim Vermeiden von Geburten. Die zweite Qualifikation steht der Repoeplierung entgegen, die – nach dem Fall der europäischen Bevölkerung von ca. 80 auf ca. 50 Millionen – durch die 1348er Pest betrieben wird, um die verlorenen Menschenbestände wieder aufzufüllen. Von allen Facetten der Sexualität bleibt bis in die 1960er Jahre hinein straf- und sündenfrei allein der in der Ehe vollzogene Fortpflanzungsakt. Alles andere wird – mit unendlichem Einfallsreichtum bei der Überwachung und Ahndung – als «Onanismus» verfolgt (ausführlich Heinsohn/Steiger 2005, 245–257).

Allein vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Gretchen aus dem Faust-Drama (1808) Goethes (1749–1831) zur wichtigsten Frauenfigur der deutschen dramatischen Literatur wird. In die junge Frau, die verhütungsunfähig gehalten wird und in der Liebe deshalb als Gefallene oder Kindsmörderin enden muss, kann sich damals jeder versetzen. Goethes Freund Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) schreibt den politikwissenschaftlichen Begleittext: «Die erste Pflicht der Polizey geht auf die Erhaltung und Vermehrung der Bürger selbsten. / Ich weis Oerter, wo es selbstgemachtes Gesetz ist [als Verhütung bewirkt; GH], dass ein paar Ehleute nur zwei Kinder haben darf. – Dass dazu die Polizey still sitzt, begreif ich nicht» (Jung 1788, 16/75).

Nach 2–3 Kindern pro Frauenleben im mittelalterlichen Europa zwischen ca. 1000 und 1500 sorgen die neuen Verbote und Strafen mit 5–7 Kindern pro Frau für Europas Welteroberung und dabei für die Ausweitung der begrenzten in die globale Bevölkerungsexplosion. Nebenher entstehen Sexualneurosen, wie die Welt sie zuvor und auch seit Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr gesehen hat.

Weltbevölkerungsentwicklung mit der europäischen Bevölkerungsexplosion nach der Großen Pest (The Plague) von 1348 (Population Reference Bureau 2006)

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Demografisch überzählige Europäer unterwerfen sich neunzig Prozent der Erde. Sie kombinieren ihre hohe Kapazität zur Absorbierung von Verlusten mit einer zinsgetriebenen Eigentumswirtschaft (Heinsohn/Steiger 2013; 2017) und werden dadurch unüberwindbar. Auch die Hersteller von Waffen sind jetzt Unternehmer, die durch permanente Innovationen dem Bankrott ausweichen müssen. Deshalb gibt es auf den Märkten immer tödlichere Waffen, denen die Steinzeitkulturen Amerikas, Afrikas, Nordasiens und Australiens – mit nur zwei bis drei Kindern pro Frauenleben – nichts entgegensetzen können. Das eigentliche Erobern, Vertreiben oder Ausmorden besorgen zwischen 1492 und 1783 kaum mehr als 300 000 Mann unter den bis dahin nicht einmal 1,5 Millionen abendländischen Auswanderern nach Übersee (Altmann/Horn 1991).

Erst aufgrund des Übergangs immer höherer Bevölkerungsanteile in die lebenslange Konkurrenz der Arbeitsmärkte, in der Kinderlosigkeit Vorteile bringt, fallen seit dem späten 19. Jahrhundert die Geburtenraten, bis in den 1960er Jahren die Parole make love not war die Oberhand gewinnt. Das bedeutet realiter make love not babies und beendet so den Nachschub für den Heroismus, also für die Sterbewilligkeit für irgendeine «Rasse», Religion oder Klasse. Nach fünf bis sieben Kindern pro Frau um 1870 sind es heute nur noch eins bis zwei. Kann die Alte Welt zwischen 1914 und 1945 in zwei Weltkriegen rund 24 Millionen junge Männer opfern, ist heute ein westlicher Gefallener – statistisch – einziger Sohn oder gar einziges Kind seiner Mutter.

Im Jahre 2011 beginnen die als «Frühling» bezeichneten Aufstände im arabischen Raum, der zwischen 1950 und heute von 70 auf 400 Millionen Menschen stürmt und 2050 mit 640 Millionen prunken will. Im Februar 2011 erfragt das Nachrichtenmagazin FOCUS beim Autor einen Kommentar. In ihm wird erstmals der Terminus «Bruderkriegsindex» verwendet (Heinsohn 2011a; s.a. 2011b). Als Antwort auf die Zusendung kommt – nach längerem Schweigen – von der Redaktion der Einwand, dass es einen Kriegsindex nicht gebe und man auch nichts über ihn finden könne. Das stimmte und der Artikel wurde erst gedruckt, nachdem der Autor gestanden hatte, den Kriegsindex während einer Bahnreise am Rhein für eben diese Zeitschrift entwickelt zu haben.

Während in der aktuellen Neuausgabe des Buches von 2003 durchgehend der Youth Bulge für die Fähigkeit zur Kriegsführung und zu Absorption von Verlusten verwendet wird, kommt in diesem Einleitungsessay der vom Autor im Jahr 2011 entwickelte Kriegsindex zum Zuge. Ein Youth Bulge – von der jugendlichen Ausstülpung [=bulge] an der Bevölkerungspyramide – ist dort gegeben, wo die Jünglinge von 15 bis 29 Jahren im Regelfall mindestens ein Viertel der männlichen Gesamtbevölkerung stellen. Ihm vorher geht ein Children Bulge, wobei die Kinder unter 15 Jahren mindestens 30 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Für die Neuauflage des Buches von 2003 sind alle Zahlenangaben zu Children und Youth Bulge neu berechnet, also auf 2019/20 aktualisiert worden. Der Text ist mithin als Gegenwartsanalyse sowie als Prognose bis in die 2040er Jahre hinein zu lesen.

Der Kriegsindex misst im Kern dasselbe wie der Youth Bulge, macht die Vergleichbarkeit zwischen Nationen und Ethnien aber sehr viel einfacher. In der jetzigen Fassung – entwickelt für Vorlesungen am NATO Defense College (NDC) in Rom – misst die Relation von 15–19-jährigen Jünglingen, die den Lebenskampf aufnehmen müssen, zu 55–59-jährigen Männern, die in absehbarer Zeit eine Position räumen. Ab Index 2.5 (2500 Junge folgen auf 1000 Alte) gibt es eine Skala von Reaktionen: Auswanderungsbegehren, Migration und Flucht, Kriminalität, Prostitution, Zwangsarbeit, individuelle Morddelikte, Bandenmorde, Terror, Putsch, Revolution, Bürgerkrieg, Vertreibung, Genozid, grenzüberschreitender Krieg.

Gemeinsam sind all diesen Varianten erstrebte oder reale Verringerungen der lokalen Bevölkerung zum Erreichen einer Balance zwischen Ambitionen und Positionen. Am wenigsten häufig, aber am auffälligsten sind politisch oder religiös verbrämte Attentate und grenzüberschreitende Kriege. Wer nur auf sie schaut, verfehlt allerdings die graduelle Dynamik hoher Geburtenraten. Die weitaus häufigste Reaktion auf einen hohen Kriegsindex ist der Auswanderungswunsch. Er liegt 2017 in Regionen der traditionellen Dritten Welt bei rund 940 Millionen (Esipova et al. 2018). Nur ungenau ermittelbare Eigentumsdelikte dürften nicht weit dahinter liegen. Danach folgen die 70 Millionen Flüchtlings-Migranten von 2018 (UNHCR 2019). Danach folgen gewöhnliche Mordopfer und Tötungen durch Banden. Die Bandenopfer liegen zwischen 2000 und 2017 mit einer Million Ermordeten gleichauf mit einer Million im selben Zeitraum gefallenen Soldaten. Gewöhnliche Mordopfer und Bandenmordopfer zusammen liegen 2017 mit 464 000 Toten fünfmal höher als die im selben Jahr gefallenen 89 000 Soldaten (Zahlen aus UNOCD 2019; GTD 2019). Die Global Terrorism Database (GTD) verzeichnet zwischen 1970 und 2017 rund 180 000 Terrordelikte mit 130 000 Toten (START 2018). Die Zahlen für Verletzte liegen in den Mord-, Terror- und Kriegsaktionen noch einmal weit über den Todesopfern.

Bei der unblutigen Reduzierung der Einwohnerzahlen von Gebieten mit hohem Kriegsindex dominiert die Abwanderung. Die jungen Leute wollen Wirtschaftsflüchtling werden und keineswegs gleich zur Waffe greifen. Wenn das scheitert, reichen allerdings 500 auf heimische Eliten schießende Rebellen, um ihre Heimat mit – sagen wir – 10 Millionen Einwandern in ein Kriegsgebiet zu verwandeln, in das nach dem Völkerrecht niemand zurückgeschickt werden darf. Dadurch wandeln sich gestern erfolglose Wirtschaftsflüchtlinge zu heutigen Asylberechtigten, denen internationale Rechtsbestimmungen zu Eintrittskarten für Europas Sozialsstaaten werden. Kann man einen Arbeitssuchenden bei fehlender Qualifikation zurückweisen, hat eine asylsuchende Analphabetin genau so viel verteidigungswerte Menschenwürde wie ein Nobelpreisträger.

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Der Kriegsindex von 2018 erreicht in der Spitze einen Wert über 8, wobei mehr als 8000 junge Männer um die frei werdenden Positionen von 1000 Alten kämpfen und alsbald die Aussichtslosigkeit ihres Strebens erkennen. In Deutschland hingegen folgen auf 1000 Alte nur 650 Junge (Kriegsindex 0.65). Der Index ist mit Absicht simpel gehalten, um schnell eine erste Einschätzung zu ermöglichen, welchen Krieg man vermeiden, beenden, erwarten oder aktiv vorbereiten soll. Auch signalisiert er, wo man nach dem Sieg ein Besatzungsregime vermeiden muss, weil lokale Aufständische hohe Verluste abwettern können, die eigenen Truppen jedoch nicht, weil der Kriegsindex bei 1 (1000 Junge auf 1000 Alte) oder gar darunter liegt. Da sich alle übrigen kriegswichtigen Faktoren zu den betroffenen Ländern schnell finden lassen, bleibt der Index von ihnen frei. Die nachstehende Tabelle illustriert an Beispielen, wie eine Schnellorientierung über den möglichen Einsatz von Truppen aus Ländern mit niedrigem Kriegsindex in solchen mit hohem Kriegsindex erfolgen kann (zu den Gewaltakten in den fett hervorgehobenen Nationen siehe ausführlich Kapitel IV unten.

Einschlägige Beobachtungen zu den psychischen Dispositionen kampfeslustiger Jünglinge, nach denen Historiker selten suchen, liefert Friedrich Nietzsche (1844–1900) bereits im Jahr 1882. In Die fröhliche Wissenschaft mit dem Titel «die Explosiven» (Aphorismus 38) wendet er sich direkt an Analytiker politischer Konflikte: «Wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt. […] Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte – nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!»

Exemplarische Nationen für die Kriegsindexwerte von 2018

Wer bei 1 oder darunter liegt, aber gegen Nationen mit 2 oder höher (fett) kämpfen muss, kann selber so gut wie keine Verluste absorbieren, während die Gegner vom Personal her auch nach Niederlagen weitermachen können. Fettdruck: indiziert Anschläge, Unruhen, Bürgerkriege oder extreme Mordraten.

Jünglinge 15–19 Jahre

Index

Männer
55–59 Jahre

700

(Bulgarien; Tschechien; Italien; Deutschland; Polen; Russl.; Spanien)

0.7

1000

800

(Österreich; Belgien; Finnland; Kanada; Griechenland; Japan)

0.8

1000

1000

(Australien; China; Kuba; Dänemark; Frankreich; Norwegen; UK; USA)

1   

1000

2000

(Algerien; Indien; Indonesien; Israel; Peru; Türkei; Venezuela)

2   

1000

3000

(Bangladesch; Bolivien; Mexiko; Nicaragua; Pakistan; Süd-Afrika)

3   

1000

4000

(Ghana; Haiti; Honduras; Jordanien; Mauritania; Nepal; Syrien)

4   

1000

5000

(Guatemala; Kenia; Nigerien; R.Kongo; S.-Sudan; Jemen)

5   

1000

6000

(Afghanistan; Burkina Faso; Äthiopien; Irak; Palästina; Senegal)

6   

1000

7000/8000

(Lesotho; Malawi; Mali; Simbabwe / Uganda; Sambia)

7/8

1000

Nietzsche muss sich mit dem Gespür des Genies begnügen. Statistiken stehen ihm nicht zur Verfügung. Anders steht es ein Jahr später bei Europas einflussreichstem Infanterie-Lehrer, Colmar von der Goltz (1843–1916), Autor von Das Volk in Waffen. Der General erlebt persönlich den stetig stärkeren Andrang zu den Musterungen. Warum immer von neuem Jünglinge an die Fronten drängen, mag dem Vater von fünf Kindern verborgen geblieben sein. Warum er sie aber ganz nach vorne stellt, lernt er aus ihrem Verhalten in der Schlacht: «Leicht trennt nur die Jugend sich vom Leben. […] Die Sehnsucht nach Erlebnissen macht sie kriegslustig. […] Sie tritt mit Freude und Sorglosigkeit in den Kampf, die beide zu der blutigen Arbeit notwendig sind. Die Stärke eines Volkes liegt in seiner Jugend» (Goltz 1883).

Nietzsche und Goltz schreiben – nach den deutschen und italienischen Einigungen – mitten in den europäischen Friedensjahren 1871–1914. Die Prokopfeinkommen steigen, die Qualität von Bildung und Ernährung wird besser. Und doch kommt es zwischen 1914 und 1918 zu Trennungen vom Leben in der Größenordnung von 8 Millionen Jünglingen. Das wird registriert, aber kaum begriffen.

Einen neuen Schritt voran kommt die Forschung über die Kriegsbereitschaft durch Gaston Bouthoul (1896–1980), der allerdings Außenseiter bleibt. Er fragt in seiner Studie Nachgeholte Kindestötung:

«Ist es möglich, den Prozentsatz junger Männer zu bestimmen, bei dem es den Massen wie den Regierungen notwendig scheint, einen kriegerischen Ausflug ins Auge zu fassen? […] Gibt es einen Kriegsindex? / Die großen kriegerischen Vorstöße ergeben sich aus der Tatsache, dass der Anteil an jungen Männern zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren […] eine besonders große Zahl umfasst. / In der Dritten Welt, zum Beispiel in Salvador, ist die Hälfte der Bevölkerung unter fünfzehn Jahre alt. Nur zwei Ältere lasten auf einem jungen Menschen. Aber umso härter ist die [horizontale] Konkurrenz unter den Jungen» (Bouthul 1972, 86/82/201).

El Salavador: Kriegsdemografie 1960–2030

Jahr

Bevölkerung

Kriegsindex: 15–19 zu 55–59-jährige Männer. In Klammern: Kinder/Frauenleben

Männer im Kampfalter von 15–29 Jahren

Prokopfeinkom. (Wechselkurs-US-$)

1960

2,76 Mio.

4.14 (6,67)

0,34 Mio.

277

1960-1972

1960–1972 wächst Prokopfeinkommen um 27 %. (1965: 6,85 K./Fr.). 130 000 fliehen als Siedler nach Honduras, was 1969 in einem Kleinkrieg (ca. 2000 Tote) resultiert.

1970

3,67 Mio.

4.78 (5,95)
Bouthouls Analyse

0,46 Mio.

309

1980

4,58 Mio.

4.46 (4.75)

0.60 Mio.

780

1981-1993

Hochphase der Kämpfe mit 70 000 Toten. Umgerechnet auf Deutschland (80 Mio. Einwohner gegen 4 Mio. [1975] in El Salvador) wären hier 1,5 Mio. Gefallene und 4 Mio. Flüchtlinge zu beklagen gewesen. Friedensschluss 1993. Rechte und linke Führer teilen sich Machtpositionen.

1990

5,25 Mio.

3.79 (3,78)

0,69 Mio.

914

2000

5,87 Mio.

3.36 (2,72)

0,75 Mio.

2238

2010

6,16 Mio.

3.51 (2,17)

0,81 Mio.

3474

2013 ff.

2,4 Mio. Salvadoreaner verringern den Druck durch Auswanderung in die USA, wo sie allerdings das Kompetenzniveau senken.

2015

6,31 Mio.

3.02 (2,05)

0,86 Mio.

4127

2020

6,48 Mio.

2.61 (1,95)

0,88 Mio.

 

2025

6,64 Mio.

2.29 (1,87)

0,84 Mio.

 

2030

6,79 Mio.

1.84 (1,81)

0,79 Mio.

 

Bouthoul findet nicht mehr zu einem mit allem Recht geforderten Kriegsindex. Doch sein beiläufiger Hinweis auf El Salvador wird zur ersten demografischen Kriegsvorhersage, die sich alsbald wuchtig erfüllt. Allerdings kommt dabei ein zusätzlicher Faktor ins Spiel, den er nicht erfasst. Es geht um den Anstieg des Prokopfeinkommens, der die Geburtenexplosion des kleinen Landes begleitet. Gehen extreme Gebärzahlen einher mit Hunger und absolutem Elend, erreichen viele Kinder nicht einmal das traditionelle Kampfalter von rund 15 Jahren. Je besser die nichterbenden Brüder jedoch ernährt, gebildet und medizinisch versorgt sind, desto ehrgeiziger drängen sie voran und desto mehr soldatisches Durchhaltevermögen entwickeln sie. Bei blockierter Auswanderungsmöglichkeit, einem Kriegs-Index um 3 und ausreichender Ernährung beginnt die Gewalt der überzähligen Söhne: Um Brot wird gebettelt, um Positionen wird geschossen.

Im akademischen Mainstream erlaubt sich – ohne jede Kenntnis von Bouthoul – ein Altmeister der Weltkriegsforschung, Michael Salewski (1938–2010), nachdenkliche Reflexionen über die Megatötungen von 1914–1918. Er spürt, dass den Historikern der vielleicht wichtigste Faktor immer wieder entgangen sein muss: «Das Rätsel der zehn Millionen Kriegstoten wird nicht gelüftet. […] Jederzeit war diplomatisch gesehen alles möglich. […] Als der Krieg zur Verblüffung aller wirklich da war, wollte niemand schuld gewesen sein. […] Alles lief prachtvoll, die Zeiten wurden immer besser, die Massen immer friedlicher, weil satter. […] Es scheint, dass wirklich und wahrhaftig allein dieser Mann [Gavrilo Princip, 1894–1918] am 28. Juni 1914 den Ersten Weltkrieg nicht nur ausgelöst, sondern verursacht hat. Ist das nicht eine absurde Vorstellung? […] Die Sache ist buchstäblich verrückt, unerklärlich. […] Es gibt nichts mehr in der Wirklichkeit der Welt von 1914, das wir nicht zu wissen glauben. Und trotzdem wissen wir das Wesentliche nicht» (Salewski 2006).

Nun gibt es zu Gavrilo Princip ein Detail, das in der Kriegsursachenforschung gerne beiseitegelassen wird. Der Todesschütze hat acht Geschwister. Und hohe Kinderzahlen gelten für die meisten Familien seiner serbischen Ethnie. Das fehlende «erkenntnistheoretische oder geschichtsphilosophische Schema» (Salewski) benötigt mithin eine demografische Tabelle. Sie zeigt, dass die Nationalitäten im Habsburger-Reich rebellieren, weil sie demografisch explodieren. Für immer mehr Söhne müssen Posten her, aber die «Herrenvölker» (Ungarn und Deutsche) können nicht teilen, weil sie die ebenfalls immer zahlreicher werdenden eigenen Söhne auch nicht mehr unterbringen können.

Bevölkerungs-Explosion separatistischer Minderheiten (in Millionen) im Habsburger-Imperium (Lahmeyer 2006)

Polen
(Kongress-Polen)

Tschechen
(ohne ca. 500 000 [1914] in Wien)

Serben

Ungarn
(Trianon-Grenzen)

Deutsche
(ohne Sudeten)

4,4 (1838)

  4,7 (1820)

  1 (1844)

5 (1869)

3,6 (1840)

13,4 (1914)  

10,4 (1914)

3,3 (1914)

8 (1914)

7,4 (1914)

     +305 %

     +220 %

    +330 %

  +160 %

     +206 %

Die Großmächte stehen den rebellischen KuK-Minoritäten bei den Kinderzahlen nicht nach. Man kann sagen, dass – mit der Ausnahme Frankreichs – die Gefallenen aus den demografischen Portokassen der Regierenden genommen werden.

Bevölkerung der Großmächte (in Millionen) zwischen 1800 und 1914 (Lahmeyer 2006)

Jahr

USA

Russland

Groß-Brit.

Deutsches R.

KuK-Reich

Frankreich

1800

   6

35

10

22

23

27

1914

100

92

42

67

56

33

Während man sich damals gegenseitig Posten durch Tötung der Konkurrenten abjagt, um die Ehrgeizigen zu versorgen und für sie komplett neue Staatsapparate schafft, jagt man sich heute – im war for foreign talent – die immer selteneren Könner ab, um Stellen in den entscheidenden Zukunftstechnologien zu bestücken (Heinsohn 2019b). Die Differenz zwischen beiden Zuständen ist ein Kriegsindex von damals 3 bis 5 gegen heute deutlich unter 1.

Man könnte noch weiter in die Geschichte zurückgehen, aber das Zahlenmaterial wird dann unzuverlässiger. Ein aufschlussreicher Zugang ergibt sich immerhin durch Vergleiche aktueller Kriegs-Jahrzehnte mit entsprechend langen Zeiträumen in der Vergangenheit. So kann man beispielsweise 65 Jahre irakischer Kriegsgeschichte (1950–2015) konfrontieren mit der Geschichte der USA von 1800 bis 1865, an deren Ende der Bürgerkrieg von 1861–1865 steht. Über ihn haben wir Details in fast beliebiger Menge, ohne doch zu verstehen, warum man gegen die Sklaverei Hunderttausende von jungen Männern in den Tod schickt, aber die Dollars für Sklaven-Freikäufe nicht anbietet, die manchen Pflanzer vielleicht umgestimmt hätten. Vieles könnte der damalige US-Kriegsindex erklären, den man mangels Daten zwar nicht direkt berechnen, aber aus den vorliegenden irakischen Daten ein Stück weit interpolieren kann.

Man sieht, dass in beiden Staaten die Menschenzahlen fast im Gleichschritt vorankommen und man auch bei der Zahl der Gefallenen einander nahe ist. Eine weitere Spur legt der Held und Märtyrer des Nordens, der Südstaatler John Brown (1800–1859). Unter seinen zwanzig Kindern hat er elf Söhne. Sieben davon erreichen das Erwachsenenalter, sechs helfen dem Vater bei tödlichen Überfällen auf Pflanzer, die ihn dafür als Mörder hinrichten lassen. Doch das ihn ehrende «Glory, glory, Halleluja» ist bis heute The Battle Hymn of the Republic.

Bevölkerungs- und Kriegsentwicklung in 65 Jahren amerikanischer (1800–1965) und irakischer Geschichte (1950–2015) (Daten aus Lahmeyer 2006; WPP 2019)

Bevölkerung der USA 1800–1865
(Kriegsindex unbekannt; bei Interpolation über Irak zwischen 3 und 5–6)

Kriegs-Index und Bevölkerung Iraks 1950–2015

1800

  5,3 Mio.

1950 (3.15)

  5,0 Mio.

1810

  7,0 Mio.

1960 (2.84)

  7,0 Mio.

1855

27,7 Mio.

2005 (5.40)

28,2 Mio.

1861

32,0 Mio.

2011 (5.50)

30,4 Mio.

Ca. 625 000 Tote im Bürgerkrieg 1861–1865

Ca. 800 000 Tote seit 1961

1865

35,2 Mio.

2015 (5.80)

35,0 Mio.

Der Irak muss auch 2030 noch einen Kriegs-Index von 3.6 aushalten und wird bis dahin wohl alle Interventionsmächte zur Aufgabe gebracht haben. Die USA hingegen werden dann bei einem Index von 1.10 stehen und mit ihren Söhnen und Töchtern stärker geizen als je zuvor. Noch stellen Eiferer die große Demokratie als kriegslüsternen Einmischer dar. Doch alle Operationen der Gegenwart wirken läppisch gegenüber dem Zweiten Weltkrieg, als man – mit nur 135 Millionen Einwohnern – zwei Weltreiche (Großbritannien und die Sowjetunion) über Wasser hält und zugleich zwei Großreiche (Deutschland und Japan) unterwirft.

Echte Gewinner oder auch nur angelsächsisch durchgeschleppte Mitsieger des Zweiten Weltkriegs à la Frankreich sind 1945 verständlicherweise davon überzeugt, dass ihnen von Neuem die halbe Welt gehören wird. Wer sollte schon gefährlich werden, wenn selbst Berlin und Tokio am Boden lagen. Bis in das 21. Jahrhundert hinein begreifen sie nicht, dass ihr asymmetrischer Demografievorteil erloschen ist. Die Bereitschaft eines Feindes, bis zum Tode zu kämpfen, ist eine gut verstandene asymmetrische Bedrohung für Mächte, die mit ihren eigenen Soldaten sparsam umgehen müssen. Doch Europas Vorteil von 1500 bis in den Ersten Weltkrieg hinein besteht in überzähligen Söhne, die der außereuropäische Gegner schlichtweg nicht hat. Wenn ein «weißes» Regiment einmal aufgerieben wird, feiern die überlegenen Stämme ihren Sieg und gehen an die Adoption anderer Stämme, die ebenfalls zu viele ihrer raren Söhne verloren haben. Wenn die Europäer dann umgehend eine frische Kavallaerieeinheit zum Einsatz bringen, rätseln die Stammeskrieger noch im Untergang, woher die bloß gekommen sein mögen. Ihre eigenen Sqaws haben zwei oder drei Kinder. Sie können sich nicht einmal vorstellen, den Geburtenraten der europäischen Einwanderer nachzueifern. Hingegen bringt etwa die Mutter Napoleons (1769–1821) dreizehn Kinder zur Welt. Victoria (1819–1901), britische Königin und Kaiserin Indiens, muss in achtzehn Jahren durch neun Schwangerschaften. Ihre Nemesis, Karl Marx (1818–1883), ist eines von zehn Geschwistern.

Längst liegt der asymmetrische Vorteil – die Fähigkeit zur Absorption von Verlusten auf nur einer Seite – in den ehemaligen Kolonien. An Sub-Sahara-Afrika sei das exemplarisch gezeigt. Obwohl man dort seit Vertreibung der «Weißen» rund 18 Millionen Menschen in Kriegen und Völkermorden verliert (errechnet aus White 2014), bleibt der demografische Höhenflugt davon vollkommen unbeeinträchtigt.

In Europa beginnt das gegenseitige Adoptieren, wie wir es aus geburtenarmen Stämmen kennen, zwischen den vermeintlichen Erbfeinden Frankreich und Deutschland in Vietnam. Das geht auch nicht anders, weil im Zweiten Weltkrieg alle beteiligten Nationen zunehmend aus der Substanz sterben. Es verlieren also immer mehr Familien einzige Söhne, weil sich der Geburtenrückgang seit 1915/16 stetig fortsetzt und die Kinderzahlen aus der Zeit davor selbst während des Baby-Booms der 1940er/60er nirgendwo wieder erreicht werden.

Weil Paris 1945 das zuvor von Japan besetzte Indochina zurückbekommt, genügend Soldaten für das Niederwerfen der Viet Minh aber nicht finden kann, greift es zu den Überlebenden beim «Erbfeind» jenseits des Rheins. Noch heute gibt es in Deutschland rund 40 Veteranenverbände, die als «Amicales» die Feste der Legion mitfeiern (Amrehn 2017).

Wir sind zurück bei Ho Chi Minh und seiner 1946er Prognose, dass die effektiveren Töter verlieren werden. Dabei steht Frankreichs Kriegsindex damals bei ganz passablen 1.6. Auf 1000 ältere Männer im Alter von 55 bis 59 Jahren folgen 1600 Jünglinge zwischen 15 und 19 Jahren, die den Lebenskampf aufnehmen müssen. Auf vietnamesischer Seite aber sind es fast 3000. Da das seinerzeit nicht berechnet wird, übernimmt Amerika entsprechend ahnungslos im Jahr 1955 die französischen Stellungen. Die selbst gegenüber einem so viel mächtigeren Gegner weiter wachsende Siegeszuversicht der Vietnamesen macht die Amerikaner sprachlos. Ihr legendärer Kriegsberichterstatter Edward Murrow (1906–1965) meldet nach Hause: „Jeder, der von der Situation nicht verwirrt ist, hat keine Ahnung von der Lage» (Goodreads 2019). Als Washington – nach fast einer Million Toten (davon 95 Prozent beim Gegner) – 1975 nicht nur sieglos, sondern fluchtartig abrückt, steht Vietnams Kriegsindex über 4, der amerikanische hingegen unter 2. Überzählige Söhne, die sich mit der Ehre des Heldentods zufrieden geben, wachsen im Westen nicht mehr heran. Bei den Unterworfenen aber halten hohe Geburtenraten den Heroismus am Leben. Die Studentenbewegungen mit ihren Straßenchören «Ho, Ho, Ho Chi Minh, eins, zwei, drei, viele Vietnams» begreifen die globale Triebkräfte so wenig wie die Politiker und Militärs.

Obwohl Richard Nixon (1913–1994) und Henry Kissinger 1975 das Richtige tun, können sie es nicht begründen. Sie können also keine Lehren ziehen und diese weitergeben. Deshalb wird in den Kolonialkriegen bis zum Ende der 1970er Jahre das Fatum von Vietnam fast eins zu eins wiederholt. Dabei verfügen die Afrikaner über einen Kriegsindex, der drei-bis viermal so hoch liegt wie in Belgien, Frankreich, Großbritannien oder Portugal.

Bevölkerung in Subsahara-Afrika und alten «Mutterländern» von 1950 bis 2030 (Lahmeyer 2006 für Vergangenheit; WPP 2018 [für Gegenwart und Zukunft])

Jahr

Sub-sahara-Afrika

Relation
(gerundet)

Belgien, Frankreich, Niederlande, Portugal, United Kingdom

1950

  180 Mio.

1,5 : 1

120 Mio.

2018

1100 Mio.

6,5 : 1

170 Mio.

2030

1418 Mio.

8,8 : 1

162 Mio.

Bei drei bis vier Brüdern pro Familie kann auch nach heftigen Verlusten weitergekämpft werden. Üppige Geburtenraten halten die Sterberaten lässig in Schach. Jeder Gefallene aus den Herrennationen hingegen stirbt – statistisch – als einziger Sohn seiner Mutter. Die Rebellenführer hätten Ho Chi Minh, die europäischen Experten Edward Murrow wörtlich nachbeten können. Der Westen verliert alle Kriege.

Während der Kriegsindex für die Zukunft angeben kann, welchen Krieg man vermeiden sollte, weil der eigene Kriegsindex fällt, die gegnerische Fähigkeit zum Aushalten von Verlusten aber steigt, kann er für die Vergangenheit immerhin ein «hätte» liefern. Frankreich hätte 1945 auf Vietnam verzichten sollen, weil Indochina seinen bis dahin höchsten Kriegsindex erklommen hatte. Amerika hätte 1955 nicht übernehmen sollen, weil Vietnam einen neuen Höchststand beim Kriesgindex erreicht hatte.

Dass gleichwohl immer noch wenig begriffen war, zeigt exemplarisch der vierzigjährige Afghanistankrieg. Dort steht 1979 beim Einmarsch der Sowjetunion der Kriegsindex bei 4.7, beim Einmarsch der Amerikaner (2001) bei 5.6, 2018 bei 6 und selbst 2030 noch bei 4.2 (Heinsohn 2019a). Ein global führendes Ökonomiemagazin widmet im August 2019 den Afghanistankriegen seine berühmte vorletzte Seite (Economist 2019c). Erschrocken wird der stetige Anstieg der Opferzahlen seit 2001 grafisch anschaulich dargestellt. Er wird deshalb als ganz besonders rätselhaft empfungen, weil gleichzeitig das – mit einer eigenen Kurve illustrierte – Prokopfeinkommen stetig nach oben weist. Es wird nicht gehungert und dennoch getötet. Das Blatt verzichtet auf jegliche demografische Information. Nicht einmal die Bevölkerungszunahme von 8 auf 38 Millionen zwischen 1950 und der Gegenwart trotz fast ununterbrochener Verluste wird vermerkt. Die Reporter begnügen sich mit Erschütterung.

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Eine Sternstunde militärdemografischer Ignoranz erlebt der Westen 2006. Die Baker/Hamilton-Kommission soll aufklären, warum die Lage der US-Truppen im – bereits angesprochenen – Irak immer unhaltbarer wird. Man engagiert 44 der besten Aufstandsexperten der Welt, die schließlich resigniert erlären: «Our government still does not understand very well either the insurgency in Iraq or the role of the militias» (Baker/Hamilton 2006, 61). Auf einen Demografen hatte man verzichtet. Der hätte den Zulauf zu den Milizen womöglich daraus erklärt, dass Iraks Kriegsindex schon im Jahre 2000 bei 5.3 steht, heute 5.8 erreicht und selbst 2030 noch 3.6 betragen wird (Heinsohn 2019a). Immerhin erteilten James A. Baker und Lee H. Hamilton dem Autor eine Lektion in Bescheidenheit. Sein Artikel «Babies win wars» – im Wall Street Journal immerhin ein Dreivierteljahr vor ihrem Bericht erschienen – war vollkommen wirkungslos verpufft (Heinsohn 2006).

Wird die Ratlosigkeit weichen? Die typischen Jubiläumsrituale unter europäischen Führern sprechen dagegen. Bewegt danken sie ihrem Friedensbund in der Europäischen Union dafür, dass sie nicht mehr mit millionenstarken Armeen übereinander herfallen. Dass es die längst nicht mehr gibt, merken sie tags drauf, wenn sie untereinander um ein paar hundert Soldaten für den Einsatz in Mali, Niger oder Burkina Faso betteln müssen.

Man werde diese Länder unter dem Schutz der Bundeswehr – so Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2019 – «schrittweise ertüchtigen. […] Afrika braucht einen selbsttragenden Aufschwung» (Merkel 2019). Dass man so etwas selbst in immer mehr EU-Ländern vergeblich ersehnt, wird taktvoll übergangen.

Ein erfahrener Kommandeur aus dem 7000 Mann-Kontingent der Amerikaner (Kriegsindex 1) bleibt skeptisch: «Bemühungen, den Dschihadismus durch Training einheimischer Truppen und das Töten aufständischer Führer einzudämmen, funktionieren offensichtlich nicht: Bauen wir nur Sandburgen bei Ebbe?“ (Economist 2019a). Die Flut wird ihm nicht erklärt. Die drei genannten Sahel-Länder springen zwischen 1950 und 2019 von zehn auf über 60 Millionen Einwohner und sollen 2050 bei 130 Millionen stehen. Ihr aktueller Kriegs-index zwischen 6 und 7 liegt fast zehnmal so hoch wie in der Bundesrepublik (0.65) oder in Italien (0.70), das mit einem Kontingent von 470 Bewaffneten 900 Deutschen und 4500 Franzosen (Kriegsindex 1) beisteht. Auch 2050 wird der Sahel-Kriegsindex rund siebenmal höher liegen als zwischen der Ostsee und Sizilien.

Berlin will trotzdem weiterkämpfen wie seit 2001 am Hindukusch, wo man seit Jahrzehnten einen Kriegsindex oberhalb von 6 souverän durchhält und seit Abzug der Russen im Jahr 1989 die Zahl der Kampffähigen zwischen 15 und 29 Jahren von 1.6 auf knapp 6 Millionen steigert (Zahlen aus Heinsohn 2019 a).

Einerseits wirkt die Bundesregierung wie ein Schweijk mit seinem immer fröhlichen «den nächsten Krieg gewinnen wir». Denn wie schon 2001 bewilligt der Bundestag auch die Sahel-Einsätze ohne Kenntnis der stetig schlechter werdenden demografischen Kräfteverhältnisse. Andererseits scheint die – uninformiert losgeschickte – Kanzlerin die Aussichtslosigkeit auch des zweiten noch aktiven deutschen Krieges immerhin zu spüren. Sie fürchtet ihn als bisher «gefährlichste Mission» für sich und ihre Nachfolge (Bundesminister der Verteidigung 2019).