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NEW YORK TIMES UND USA TODAY BESTSELLER AUTORIN

AURORA ROSE REYNOLDS

UNTIL YOU

DECEMBER

Contemporary Romance

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Aus dem Amerikanischen von Carina Köberl

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UNTIL YOU: DECEMBER

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Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2019 unter dem
Titel UNTIL DECEMBER von Aurora Rose Reynolds in
Zusammenarbeit mit Bookcase Literary Agency veröffentlicht.

© 2020 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH
8712 Niklasdorf, Austria

Covergestaltung: © Sturmmöwen
Titelabbildung: © IVASHstudio
Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-09-7
ISBN-EPUB: 978-3-903278-10-3

www.romance-edition.com

Bei dieser Widmung handelt es sich
nicht um eine Bitte:
Wenn du jemals die Möglichkeit hast
zu springen – tu es!

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Prolog

Ich nehme einen Schluck von meinem vierten – oder vielleicht fünften – Glas Wein und schere mich kein bisschen darum, dass ich offiziell die Grenze zum Beschwipstsein überschritten habe. Oder um den Umstand, dass April und ich jemanden finden müssen, der uns nach Hause fährt. Es ist ja nicht so, als würden wir lange suchen müssen, immerhin sind unsere Familien und Freunde hier. Die meisten von ihnen lassen sich gerade auf der Tanzfläche zu der lauten Musik gehen, die der DJ spielt. Ich sollte da draußen bei ihnen sein, stattdessen sitze ich in einer dunklen Ecke und trinke. Alleine.

Okay, in Wirklichkeit verstecke ich mich.

Ich fächere mit der Hand Luft in mein warmes Gesicht, nicht sicher, ob es hier drinnen einfach bloß heiß ist, oder ob mich der Wein dazu bringt, mich überhitzt zu fühlen. Ich brauche Luft. Wasser und Luft. Leicht schwankend stehe ich auf und erwische April dabei, wie sie mich beobachtet. Sie schmiegt sich eng an die Seite eines großen Mannes, der ihre Gesellschaft zu genießen scheint, wenn man von der Hand ausgeht, die seit gut zwanzig Minuten auf ihrem Hintern liegt. Ich entschlüssele ihren Blick und die Frage in ihren Augen: Sie will wissen, ob ich in Ordnung bin oder ob ich sie brauche.

»Sie ist eine gute Schwester, auch wenn sie mir Gareth weggeschnappt hat«, murmle ich mir betrunken zu, ehe ich ihr in einer kindischen Geste meinen gehobenen Daumen zeige und auf den Ausgang deute. Sie nickt, bevor sie sich wieder auf den Kerl konzentriert, an den sie sich klammert. Ich stelle mein leeres Weinglas hin und schnappe mir ein unberührtes Glas Wasser von einem der Tische. Hastig leere ich es, dann mache ich mich auf den Weg zu dem hell leuchtenden Schild am Ende des Raumes.

Als ich das Gebäude verlasse, beglückwünsche ich mich innerlich selbst, weil ich es geschafft habe, in diesen Schuhen nicht auf die Nase zu fallen. Das schwarze, enganliegende Kleid, das ich trage, kann man einfach nicht mit den flachen Absätzen anziehen, die ich normalerweise bevorzuge. Deswegen habe ich mich dieses Mal für Sandaletten entschieden. Hohe, vorn spitz zulaufende Sandaletten mit einem dünnen Absatz. Sie sehen sexy aus, saugen mir aber das Leben aus den Füßen. Ich hebe ein Bein vom Boden, um mich von diesen Folterwerkzeugen zu befreien, und muss kichern, als ich dabei zur Seite stolpere.

»Ich hab dich.« Starke Arme schlingen sich um mich und halten mich davon ab, auf den Boden zu fallen. Ein Schauer durchläuft mich, obwohl mir noch immer heiß ist.

Ich sehe hoch, und als ich in Gareths Augen blicke, fühlen sich meine Wangen mit einem Mal noch heißer an als zuvor. »Ernsthaft? Ich habe aber auch ein beschissenes Glück.«

»Wie bitte?«, fragt er mit einem Lachen. Der warme Klang vibriert an meinem Rücken hinunter und durch mich hindurch.

»Gar nichts.« Ich wende mich ihm zu und mache gleichzeitig einen Schritt zurück. Er lässt mich nicht ganz los. Seine schwere Handfläche liegt immer noch an meiner Hüfte, als glaube er, ich könne mich ohne seine Hilfe nicht aufrecht halten. »Bitte ignoriere alles, was ich von jetzt an sage.«

Er sieht in meine Augen. »Also willst du, dass ich dich ignoriere, so wie du mich schon den ganzen Abend ignorierst?«

Ich habe ihn tatsächlich nicht beachtet. Nachdem sich April an der Bar zu uns gesellt und ihn darüber aufgeklärt hat, dass ich immer ein braves Mädchen sei, habe ich die Flucht ergriffen. Seither gehe ich ihm aus dem Weg.

Ich schließe die Augen und sehe wie einen Film vor mir, was sich an diesem Abend abgespielt hat.

Lächelnd beobachte ich, wie das glückliche Paar zusammen mit seinen Gästen den Ballsaal betritt und mein Cousin den Arm seiner neu angetrauten Ehefrau in die Höhe zieht, ehe er sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu sich herumwirbelt. Als er sie da hat, wo er sie haben will, beugt er sie nach hinten über seinen Arm, lehnt sich vor und küsst sie. Alle applaudieren und lachen, ich eingeschlossen.

Ich freue mich für Cobi, aber noch mehr freue ich mich für Hadley. Innerhalb der letzten Monate sind wir sehr eng zusammengewachsen und ich weiß, dass sie aufgrund ihrer Vergangenheit dieses Happy End mehr als verdient hat.

»Ich frage mich, wer als Nächstes dran ist«, meint meine Schwester April und ich sehe sie mit gerunzelter Stirn an.

»Was?«

»Ich frage mich, wer als Nächstes dran ist. Du weißt schon – wer die nächste Person ist, die sich verliebt. Das scheint in alarmierender Schnelligkeit zu passieren.« Sie trinkt einen Schluck Bier und sieht sich im Raum um. »Ich verzichte dankend, denn ich habe kein Bedürfnis danach, angeschossen oder entführt zu werden, nur damit ich die große Liebe finde.«

»Du bist so dramatisch.« Ich schüttle den Kopf.

»Bin ich das?«

Okay, das ist sie nicht. Es scheint da wirklich ein gewisses Grundschema zu geben, wenn es darum geht, dass sich jemand mit dem Namen Mayson verliebt. Aber trotzdem.

»Wirst du heute auch noch etwas Alkoholisches trinken?«, wechselt sie das Thema und studiert das Wasserglas in meiner Hand.

»Wahrscheinlich nicht.« Ich gehe zu einem der Tische, die um die Tanzfläche herum angeordnet sind, und setze mich hin, wobei ich ein paar Leute mit einem Lächeln bedenke, die ich kenne und die ebenfalls hier sitzen.

»Gut, dann wirst du heute Nacht meine Fahrerin sein«, sagt April und setzt sich auf den freien Platz neben mich.

Ich seufze. »Wundervoll.« Ich freue mich nicht sonderlich darauf, den ganzen Abend den Babysitter für sie zu spielen und aufzupassen, dass sie nichts Dummes anstellt. Ich liebe meine Schwester, aber sie neigt dazu, die Grenzen auszutesten, wenn es darum geht, irgendwelchen Bockmist zu erzeugen.

»Wer ist das?«

Ich sehe in die Richtung, in die ihr Blick gerichtet ist, und mit einem Mal scheint die Welt um mich herum stillzustehen. Auf der anderen Seite des Raums, in ein Gespräch mit meinem Cousin Sage und Bries Ehemann Kenyon vertieft, steht ein Mann. Nicht einfach nur ein Mann, sondern der tollste Kerl, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Er ist groß, größer als Sage und fast so groß wie Kenyon, der praktisch ein Riese im Vergleich zu allen anderen ist. Sein dunkelbraunes Haar ist obenrum länger und an den Seiten kurz geschnitten. Er steht im Profil zu mir, sodass ich nicht alles von seinem Gesicht sehen kann, aber sein Kiefer, der von einem Bartschatten umgeben ist, ist scharfkantig und geradlinig geschnitten. Tätowierungen blitzen unter seinem Hemdkragen hervor und er hat noch weitere Tattoos auf seinen muskulösen Unterarmen, die ich sehen kann, weil er seine Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgerollt hat. Seine Oberarme sind so massiv, dass ich bezweifle, dass ich meine beiden Hände gänzlich um seinen Bizeps schließen könnte.

Als er seinen Körper in meine Richtung dreht und über etwas lächelt, das Sage gesagt hat, stockt mir der Atem. Bereits im Profil betrachtet, dachte ich, dass er gut aussehen würde, aber von vorn ist er umwerfend. Er sieht nicht nur wahnsinnig gut aus, sondern vor allem anziehend und geheimnisvoll mit seinen dunklen Augen und den vollen Lippen. Und diese Bartstoppeln …

»Wer auch immer dieser Kerl ist, ich werde ihn heute Nacht mit nach Hause nehmen«, sagt meine Schwester und mir rutscht der Magen in die Kniekehlen. »Meine Güte, er ist heiß. Ich kann es kaum erwarten.«

Ich schlucke das plötzliche Gefühl von Eifersucht runter und wünsche mir augenblicklich, dass ich nicht zugestimmt hätte, heute Nacht ihre Fahrerin zu sein. Im Moment könnte ich eine ganze Flasche Tequila gebrauchen.

»Mach nichts Dummes«, fauche ich und sie dreht sich zu mir um.

»Flachgelegt zu werden, ist nicht dumm. Das wüsstest du, wenn du es hin und wieder mal versuchen würdest.«

Ich beiße mir auf die Zunge, um mich davon abzuhalten, etwas Gemeines zu erwidern, dann sehe ich mich in der Location nach einer Fluchtmöglichkeit um. Das Zeichen über den Toiletten ist wie ein Neonschild, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich stehe auf. »Bin gleich zurück«, murmle ich, ehe ich mit gesenktem Kopf und einem Kloß im Hals davoneile.

Seit wir erwachsen sind, haben meine Schwester und ich eine Regel. Wenn eine von uns einen Typen mag, ist er für die andere tabu, selbst wenn er kein Interesse an derjenigen hat, die ihn gut findet. Diese Regel hat uns mehr als nur einmal den Arsch gerettet, aber jetzt wünschte ich, dass diese dämliche Regel nicht existieren würde.

Bei den Toiletten angekommen, gehe ich in eine der Kabinen und versuche, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich kenne April und weiß, dass sie wahrscheinlich längst etwas unternommen hat, um mit ihm zu sprechen, wer auch immer dieser Fremde ist. Ich weiß auch ohne jeden Zweifel, dass er Interesse an ihr haben wird, denn ich habe noch nie einen Kerl getroffen, der kein Interesse an ihr hatte. April ist wunderschön, lustig und extrovertiert – drei Dinge, die ich nicht von mir behaupten kann. Ich bin süß genug und kann witzig sein, wenn ich von meinen Freunden oder meiner Familie umgeben bin, aber ich brauche eine gewisse Zeit, um mit Leuten warm zu werden, die ich nicht kenne. Außerdem bin ich das Gegenteil von extrovertiert. Ich lese lieber und faulenze, als auszugehen. Und ich stürze mich auch nicht gerade in Abenteuer, so war ich schon immer.

Als ich sicher bin, dass ich nichts Verrücktes tun werde, wie meiner Schwester einen Kinnhaken zu verpassen, verlasse ich die Damentoilette und mache mich auf den Weg zur Bar. Ein Glas Wein kann auf keinen Fall schaden. Ich nenne dem Barkeeper meine Bestellung und stütze mich mit den Unterarmen auf der hölzernen Theke ab.

»Du bist Sages Cousine, nicht wahr?«, fragt eine tiefe Stimme, was die Härchen in meinem Nacken dazu verleitet, sich aufzurichten, und Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen lässt.

Ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass er es ist. Dennoch lege ich den Kopf weit in den Nacken, um ihn anzusehen.

Gott, rette mich.

Er ist groß und so wahnsinnig gut aussehend. Ich dachte, das hätte ich vorhin von der anderen Seite des Raums aus bereits erkannt, aber ihn so nah vor mir zu haben, ist noch mal etwas ganz anderes.

»Zumindest sagte er, dass du es wärst.«

Ich starre ihn an und er zieht die Brauen über seinen dunklen Augen zusammen. Gedanklich verpasse ich mir einen Schlag und zwinge meinen Mund dazu, wieder zu funktionieren. »Ja, ich bin December.«

Seine Stirn glättet sich. Er lehnt sich mit der Hüfte neben mir an die Bar und verschränkt die Arme vor seiner Brust. »Noch ein Monat.« Seine Augen funkeln vergnügt.

»Wie bitte?«

»Ich habe July, June, May und April kennengelernt. Und jetzt December.«

Als er April erwähnt, zieht sich mein Magen zusammen. »Unsere Eltern sind bei einem Thema geblieben.« Ich greife nach meinem Weinglas und nehme einen sehr undamenhaften Schluck. Warum nur habe ich ihn nicht zuerst gesehen?

»Gareth.« Er hält mir seine Hand entgegen.

Ich will sie nicht nehmen, wirklich nicht, aber meine Manieren zwingen mich dazu, meine Hand in seine zu legen. Als er mit seiner rauen, warmen und starken Hand die meine umfasst, bleibt mir die Luft weg.

»Schön, dich kennenzulernen«, sagt er.

Ich lecke mir über die Lippen und flüstere: »Gleichfalls.« Meine Hand noch immer in seiner, sucht er meinen Blick. Der intensive Ausdruck in seinen Augen löst ein seltsames Gefühl in mir aus, so als würde er einen Teil von mir sehen, von dem ich nicht einmal selbst etwas weiß.

»Ich dachte, du würdest nichts trinken.« Als April plötzlich ihren Arm um meine Schultern legt, schließe ich die Augen und blende Gareth aus. »Du bist so eine kleine Rebellin. Trinkst Wein, obwohl du mich sicher nach Hause bringen solltest.«

»Es ist nur ein einziges Glas. Ich werde dich später problemlos nach Hause fahren können.« Ich öffne meine Augen wieder und neige den Kopf in ihre Richtung, um sie anzusehen.

»Ich weiß«, sagt sie und wendet sich dann lächelnd an Gareth. »Meine Schwester ist ein gutes Mädchen. Sie befolgt immer alle Regeln.«

Gott, ich wünschte wirklich, dass das nicht wahr wäre.

»Ember.« Warme Finger legen sich an meine Wange.

Ich blinzle die Erinnerung fort und konzentriere mich stattdessen auf Gareths gutaussehendes Gesicht, das meinem näher ist als zuvor. »Hast du mich gerade Ember genannt?« Ich ziehe die Brauen zusammen, beleidigt, dass er meinen Namen so schnell vergessen hat.

»Baby, dein Name steht für Kälte, aber wenn ich hier vor dir stehe, ist mir alles andere als kalt.«

»Das liegt daran, dass ich betrunken bin.«

»Was?«

»Mein Körper produziert Hitze, um den konsumierten Alkohol zu verbrennen«, erkläre ich faktisch. Ich verschweige ihm, dass seine harten Muskeln, die sich an meinen weichen Körper drücken, meinen Verstand ausschalten und meinen Mund dazu bringen, unsinnige Sätze zu formulieren, die mir einfach so herausrutschen.

»Vielleicht sollten wir dich irgendwo hinbringen, wo du dich abkühlen kannst?«

»Ich bin ja schon draußen«, erkläre ich stoisch, während ich mich umschaue.

»Ich habe dabei mehr an eine kalte Dusche gedacht.«

Sie ist immer ein braves Mädchen.

Aprils Worte klingen in meinen Gedanken wider und ich balle die Hände zu Fäusten. Scheiß drauf. Einmal in meinem Leben will ich böse sein.

1. Kapitel

December

Noch bevor ich die Augen öffne, weiß ich, dass ich nicht in meinem Bett liege. Das Laken, unter dem ich stecke, ist nicht weich, sondern rau, und helle Sonnenstrahlen dringen durch meine normalerweise dunklen Vorhänge. Trotzdem ist es weder das Laken noch das helle, durch meine geschlossenen Lider dringende Licht, das mich zu diesem Schluss bringt. Es sind der Geruch nach Moschus und Mann und der schwere Arm, der mich hält. Ich will in dem Gefühl schwelgen, auf diese Art gehalten zu werden. Ich will jedes Detail dieses Moments in mich aufsaugen. Zugleich ist mir klar, dass der Arm, der mich so besitzergreifend hält, derselbe ist, der einen Krieg zwischen mir und meiner Schwester auslösen könnte. Auch wenn April letzte Nacht die Gesellschaft eines anderen Mannes genossen hat; Regeln sind Regeln – und mein nicht mehr betrunkener Kopf erinnert mich im grellen Licht des Tages lautstark an sie.

Mein Herz fühlt sich schwer in meiner Brust an, als ich leise und vorsichtig aufstehe. Gott sei Dank bin ich immer noch vollständig angezogen und trage das Kleid von gestern Nacht, nur ohne meine Schuhe. Schuhe, aus denen mich Gareth befreit hat, als ich bereits in seinem Bett lag. Nur Momente später hat er sich an mich gekuschelt und mir schroff befohlen, einzuschlafen, anstatt das zu tun, was ich tatsächlich tun wollte. An gewissen Körperteilen konnte ich deutlich merken, dass er dasselbe Verlangen hatte.

Meine Augen schließen sich wie von selbst. Ich kann im Moment nicht an diese süße Geste denken. Stattdessen muss ich schnell weg von hier, bevor ich etwas Dummes anstelle, wie beispielsweise zurück zu ihm ins Bett zu kriechen, oder schlimmer noch, in seine Küche zu gehen, um ihm Frühstück zu machen. So lautlos ich kann, hebe ich meine Schuhe und die Handtasche vom Boden auf und schleiche zur Tür. Es sind nur ein paar Schritte, aber es fühlt sich an, als würde es ewig dauern, bis ich endlich den silbernen Knauf berühre.

Nachdem ich ihn gedreht habe und sich die Tür knarrend geöffnet hat, spähe ich über meine Schulter, um sicherzustellen, dass der Mann im Bett immer noch schläft. Nachdem er genauso daliegt, wie ich ihn zurückgelassen habe – den Kopf auf dem Kissen, seine starken Züge entspannt und sein großer, kräftiger Körper still – nehme ich mir eine Sekunde Zeit, um mir jede einzelne Kleinigkeit einzuprägen. Ich tue es in der Hoffnung, dass mich diese Details durch den Rest meines langweiligen Lebens tragen können.

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, überquere ich den kurzen Gang und erreiche das Wohnzimmer, das mit der Küche verbunden ist. Gestern Nacht hatte ich keine Zeit, mich umzusehen. In dem Moment, als Gareths Eingangstür hinter uns zugefallen war, begann er, mich zu küssen, und hörte damit nicht mehr auf, bis wir in seinem Zimmer landeten. Jetzt, wo ich alles in mich aufnehmen kann, bin ich überrascht. Das Haus sieht wie ein richtiges Zuhause aus, nicht wie eine Junggesellenbude. Es ist schön, hell und modern, mit schwarzen Küchenkästen und gesprenkelten Granitoberflächen. Die Möbel im Wohnzimmer sind vom Gebrauch abgenutzt, und überall hängen Bilder an den Wänden – manche davon sind Kunstwerke, manche Familienfotos in schönen Rahmen. In den Einbauregalen findet sich ein bisschen Schnickschnack und Bücher, aber auch typischer Jungskram, der von Videospielen bis hin zu Sportzubehör reicht.

Ich würde mir das Haus und die Fotos liebend gern genauer ansehen, sie nach Hinweisen auf Gareths Leben durchsuchen, aber ich erlaube mir nicht, diese Gelegenheit zu ergreifen. Braves Mädchen, wie meine Schwester sagt. Eilig laufe ich zur Eingangstür, öffne sie und husche nach draußen. Dann suche ich nach einem Hinweis, wo ich bin – und mein Herz rutscht mir in die Hose. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt Harmonys Auto vor ihrem Haus. Das Fahrrad ihres Mannes steht daneben.

Gareth …

Ich schließe kurz die Augen. Nein, das kann nicht sein, dass er der alleinerziehende Vater ist, von dem Harmony mir und den anderen Mädels erzählte, nachdem einer seiner Söhne einen Baseball auf ihr Auto geworfen hatte.

In der Hoffnung, dass meine Cousine und ihr Mann noch schlafend im Bett liegen und nicht gerade jetzt aus dem Fenster gucken, ziehe ich meine Schuhe an und laufe die Veranda nach unten zum Gehsteig. Ich beeile mich ans Ende der Gasse zu kommen und bestelle mir einen Uber. Die Arme um mich schlingend, seufze ich. Ich sehe bestimmt lächerlich aus, wie ich hier in der eisigen Morgenluft warte. Mein Make-up von gestern im Gesicht und in dem Kleid sowie den Sandaletten der letzten Nacht. Meine einzige Hoffnung ist, dass zu dieser frühen Stunde noch niemand wach ist.

Ich suche die Straße nach dem Nissan ab, der mich holen soll, und runzle die Stirn, als er mit laut aus dem Innenraum tönender Rapmusik um die Ecke biegt. Das Auto bleibt am Rande des Gehsteigs direkt vor mir stehen, und ich erkenne durch das Beifahrerfenster einen weißen Jungen mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe. Er wirkt kaum älter als sechzehn und ich frage mich, ob er bereits hinter einem Lenkrad sitzen sollte.

Ohne die Lautstärke zu reduzieren, fährt er das Fenster runter. Diese nimmt vielmehr zu, als die Barriere gefallen ist. »December?«

»Ja.«

»Ich bin deine Mitfahrgelegenheit«, informiert mich der Junge, bevor er die Scheibe ohne ein weiteres Wort wieder hochfahren lässt.

Ich checke die App auf meinem Handy, um zu bestätigen, dass er tatsächlich mein Fahrer ist, und öffne schließlich die Hintertür, um einzusteigen.

»Jo«, begrüßt er mich über seine Schulter und lächelt, während ich mich anschnalle. »Gute Nacht gehabt?«

»Jepp.« Ich lasse den Blick auf mein Handy sinken und ignoriere die verpassten Anrufe und Nachrichten von April. Stattdessen schaue ich meinen Instagramfeed durch, damit ich nicht in ein peinliches Gespräch verstrickt werde. Nicht, dass mich der Bursche über die Musik hinweg hören könnte. Auf halbem Weg zu meinem Apartment geht meinem Handy der Akku aus, ich starre dennoch weiter auf den schwarzen Bildschirm, bis ich zu Hause bin.

Sobald ich in meiner Wohnung ankomme, mache ich mich direkt auf den Weg in die Küche und stelle Melbourne, meinem unsichtbaren Kater, sein Futter hin. Er ist nicht wirklich unsichtbar, aber er könnte es genauso gut sein. Ich sehe ihn nie, außer, wenn er Futter oder Aufmerksamkeit braucht – letzteres ist extrem selten.

Danach gehe ich ins Schlafzimmer und schlüpfe aus meinem Kleid. Während sich das Wasser in der Dusche erwärmt, putze ich mir die Zähne, dann stelle ich mich unter den heißen Wasserstrahl, der meinen Körper hinunterläuft. Ich versuche nicht an Gareth zu denken, aber ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob er meine Abwesenheit schon bemerkt hat und wie seine Reaktion ausgefallen ist, als er alleine aufwachte. Vielleicht war es ihm egal, dass ich mich von ihm weggeschlichen habe. In meinem Herzen will ich allerdings nicht glauben, dass es ihm gleichgültig war.

Sobald ich mir die Haare gewaschen, sie mit einer Pflegespülung verwöhnt und mich von Kopf bis Fuß sauber gemacht habe, steige ich aus der Dusche und trockne mich ab. Ich wickle mich in meinen Bademantel ein und gehe in die Küche, um mir eine Tasse Kaffee und etwas Toast zu machen. Dann setze ich mich auf einen der beiden Barhocker an der zusammengebastelten Kücheninsel, und esse in Ruhe, bevor ich wieder in mein Schlafzimmer gehe und meine Lieblingsjogginghose samt einem Hoodie anziehe.

Ein paar Stunden später liege ich mit einem neuen Buch, einer Tüte Cheetos und einer Diät-Cola auf meiner Couch und stöhne auf, als ich mein Handy klingeln höre. Es liegt im Schlafzimmer, wo ich es zum Laden angesteckt habe. Widerwillig erhebe ich mich und debattiere innerlich, ob ich rangehen soll, als ich sehe, dass es April ist. Mein Grübeln dauert zu lang; das Klingeln endet und eine Benachrichtigung über einen verpassten Anruf erhellt den Bildschirm. Dann beginnt das Klingeln erneut.

In dem Wissen, dass April nicht aufgeben wird, streiche ich mit dem Finger über den Bildschirm und lege seufzend das Handy an mein Ohr. »Hey.«

»Hey? Ernsthaft?«, schnappt sie. »Hast du nicht gesehen, dass ich dich seit gestern Nacht anrufe, nachdem du verschwunden bist? Ich schwöre, wenn mir Onkel Trevor nicht gesagt hätte, dass du eine Mitfahrgelegenheit gefunden hast, hätte ich die Bullen angerufen oder einen Suchtrupp organisiert.«

Gott sei Dank hatte ich gestern, als ich meine Handtasche holte, die weise Voraussicht, meinem Onkel Bescheid zu geben, dass mich jemand nach Hause fährt. Er solle allen ausrichten, dass ich okay sei. »Tut mir leid. Ich war müde. Alles, woran ich denken konnte, war ins Bett zu kommen. Außerdem war mein Akku leer. Ich habe ihn erst vorhin aufgeladen.« Ich mache mich auf den Weg zurück zur Couch und setze mich. »Hattest du Spaß?« Ich möchte … nein, ich muss das Thema wechseln.

Sie schnaubt. »Natürlich hatte ich das. Mach mir jetzt auf. Ich stehe vor deiner Wohnung.«

»Du bist hier?« Ich blicke zur Tür, als könnte ich durch sie hindurchsehen.

»Ja, jetzt lass mich rein. Meine Hände sind voll beladen.«

Sobald ich die Schlösser entriegelt und den Knauf gedreht habe, drängt sich April herein. Ich nehme einen Becher mit Iced Coffee entgegen, den sie mir im Vorbeigehen in die Hände schiebt, und schließe die Tür. »Es ist immer viel zu scheißstill hier drinnen«, informiert sie mich, während sie sich auf meine Couch fallen lässt und sich umsieht.

Meine Wohnung ist klein, nur ein Schlafzimmer und zwei kleine Badezimmer. Die Küche mit integrierter Essecke ist durch eine Wand vom Wohnzimmer getrennt und dieses ist gerade groß genug für meine flauschige, grüne Couch, auf der ich gerne lese. Den Fernseher, der gegenüber auf einem Alugestell steht, benutze ich normalerweise nicht, weil ich Bücher wesentlich unterhaltsamer finde.

»Ich habe gelesen. Ich mag es still, wenn ich lese.« Das mag ich wirklich; nur manchmal spiele ich Musik ab, beispielsweise wenn ein Autor, den ich liebe, eine passende Playlist zum Buch aufführt.

»Du liest immer.« Sie verdreht die Augen in Richtung Decke, dann sieht sie mich wieder an. Ein seltsames Licht flackert in ihren Augen und da ist ein Grinsen auf ihren Lippen. »Also, du bist gestern mit Gareth weg …«

Heilige Scheiße, sie weiß es. Ich verkrampfe meine Finger um den Becher in meinen Händen und höre das Eis darin aneinander krachen. Natürlich weiß sie es. Schließlich war ich es, die auf seine Nachfrage hin Onkel Trevor informiert hat, mit wem ich fahre, und offensichtlich hat er ihr davon erzählt. »Ähm …«

»Ernsthaft – ich hoffe, du hast dir seine Nummer geholt«, bemerkt sie, bevor sie einen großen Schluck von ihrem Iced Coffee nimmt.

Mit offenem Mund sitze ich da und frage mich, ob April meint, ich hätte mir seine Nummer für sie holen sollen. Was zum Teufel …? »Warum sollte ich das tun?« Ich versuche in meiner Stimme keine Verärgerung mitschwingen zu lassen, weiß aber, dass sie zu hören ist.

»Äh, weil er total auf dich abgefahren ist?«

»Was?«

»Er hat seinen Blick die ganze Nacht nicht einmal von dir genommen. Ernsthaft, die Königin von England hätte anfangen können, auf der Tanzfläche den Hand Jive darzubieten und er hätte keinen Blick auf sie verschwendet.«

»Was?«, wiederhole ich in völligem Unglauben. Ich kann nicht fassen, dass mir Gareth so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Und noch mehr überrascht mich, dass sie mir erzählt, ich hätte ihn aufreißen sollen, nachdem sie gestern meinte, sie wolle ihn für sich haben.

»Offenbar steht er auf dich.« April zuckt die Schultern.

Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder. »Du hast gesagt, du willst ihn«, platze ich heraus.

Abwinkend unterbricht sie mich. »Er ist heiß. Jede lebendige Frau würde ihn wollen. Klar denke ich, dass er attraktiv ist, aber er ist nicht mein Typ. Und er ist definitiv nicht an mir interessiert.«

»Ich …«

»Also, hast du seine Nummer bekommen?«, unterbricht sie mich ein weiteres Mal und ich schüttle ziemlich heftig den Kopf. Ich habe seine Nummer nicht bekommen. Nicht nur das, ich bin vor ein paar Stunden aus seiner Wohnung geschlichen. »Hat er sie dir angeboten?« Sie zieht die Brauen zusammen.

»Ich dachte, du wolltest ihn.« Gott, ich bin eine Idiotin. Ich bin aus seinem Bett geschlichen, aus seinem Haus – alles in dem Glauben, ich würde einer dummen Regel folgen, die meine Schwestern und ich aufgestellt haben, lange bevor wir überhaupt unsere Beine rasieren durften. Was zum Teufel habe ich mir dabei gedacht?

Ich sehe zu, wie sich ihre Augen mit Erkenntnis füllen und sie ihre Lippen zusammenpresst. »Du dachtest, ich will ihn, und aus dem Grund hast du ihn ignoriert.«

»Schlimmer«, flüstere ich.

»Was könnte schlimmer sein, als ihn wegen mir zu ignorieren?«

»Ich habe die Nacht mit ihm verbracht. Heute Morgen habe ich mich aus seinem Bett gestohlen und bin mit einem Uber nach Hause gefahren.«

»Bist du nicht!«, ruft sie aus und richtet sich auf. »Ich kann nicht glauben, dass du mit ihm geschlafen hast.«

»Habe ich auch nicht. Ich meine, wir haben zusammen geschlafen, aber nicht miteinander.«

»Du bist wirklich immer ein braves Mädchen«, stößt sie seufzend aus, als sei sie enttäuscht.

»Du hast gesagt …« Ich schließe die Augen. Es ist egal, was sie gesagt hat; sie sagt die ganze Zeit solche Dinge. Ich hätte es besser wissen müssen. »Du hast ihn zuerst gesehen.« Die Worte klingen dämlich, sogar in meinen Ohren. Gott, ich hab’s verbockt, wirklich verbockt, und kann niemanden dafür beschuldigen außer mich selbst. Ich habe Gareth ohne Erklärung verlassen, sogar ohne eine Notiz. Wenn ich er wäre, wäre ich sauer.

»Hey.« Aprils sachter Ton und ihre Hand auf meiner lenken meine Aufmerksamkeit wieder auf sie und ich blicke sie an. »Es wird schon alles werden.«

»Ich bin mir da nicht sicher. Wenn er … wenn die Rollen vertauscht wären – ich an seiner Stelle wäre wütend. Ich bin nicht mal sicher, ob ich jemals wieder mit ihm reden würde.«

»Gib mir die Schuld«, verlangt sie. »Sag ihm, dass ich dich angerufen und sofort deine Hilfe gebraucht habe und du keine Zeit hattest, irgendetwas zu erklären, bevor du abgehauen bist.«

»Das einzige Problem dabei ist, dass ich seine Nummer nicht habe. Ich kann ihm nicht direkt eine Sorry, dass ich mich verkrümelt habe-Nachricht schreiben.«

»Scheiße.« Sie wendet den Blick ab, während ihr Kopf offensichtlich daran arbeitet, eine Lösung zu finden. »Sage hat wahrscheinlich seine Nummer. Wir können ihn danach fragen.«

Ich will Sage nicht um seine Nummer bitten und seine Fragen über mich ergehen lassen. Aber welche Wahl habe ich sonst?

»Okay«, stimme ich zu.

Sie nimmt ihr Handy und tippt schnell eine Nachricht. Wir warten, dann hören wir ein Ping. Ihr Gesicht erhellt sich mit einem Lächeln, allerdings kann ich nicht sagen, ob sie nervös oder voller Vorfreude ist. »Ich habe seine Nummer. Hol dein Handy.«

Schnell schnappe ich mir mein Telefon und tippe die Zahlenabfolge ein, die April herunterrattert. Sobald Gareth Teil meiner Kontaktliste ist, erfüllt mich ein winziges Gefühl der Erleichterung.

»Jetzt schreib ihm.«

»Du hast recht.« Ich knabbere an der Innenseite meiner Wange, während ich eine Nachricht für ihn verfasse. Ich lese die Worte dreimal, um sicherzugehen, dass ich alles richtig eingetippt habe, und meine Worte glaubhaft klingen, bevor ich auf senden drücke.

Ich:

Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich deine Nummer von Sage bekommen habe. Es tut mir leid, dass ich ohne eine Erklärung gegangen bin, aber ich habe heute Morgen eine Nachricht von meiner Schwester erhalten und musste los. Danke, dass du gestern so lieb warst und dich um mich gekümmert hast. December

Einen Moment später erscheint eine Blase und ich schaue zu April. »Er tippt etwas.«

Sie grinst. »Er lässt dich nicht ein Jahr auf eine Antwort warten. Das ist ein gutes Zeichen.«

»Hoffentlich«, stimme ich ihr mit einem zaghaften Lächeln zu.

Als mein Handy piept, fällt mein Blick sofort auf Gareths Nachricht. Doch meine Freude rutscht mir aus dem Gesicht und meine Brust wird schwer, als ich seine Antwort lese.

Gareth:

Spannend. War wach, als du auf bist, und weiß, dass du nicht auf dein Handy geschaut hast. Bin froh, dass es dir gut geht, aber schreib mir nicht wieder. Ich hab keine Zeit für Highschoolbullshit und Spielchen.

»Was ist?«, fragt April, wahrscheinlich wegen dem Ausdruck auf meinem Gesicht. Ich antworte ihr nicht, also zieht sie mir das Handy aus der Hand und liest selbst. »Oh, scheiße.« Sie steht mit meinem Telefon auf und fängt an, rastlos im Zimmer herumzugehen. »Ich kann nicht … Ich kann nicht fassen, dass er sowas antwortet.« Sie hält inne, starrt angepisst auf das Display und dann zu mir. »Ich schreibe ihm zurück.«

»Was? Nein!«, rufe ich und springe von der Couch hoch, bevor ich mich über den Kaffeetisch auf April stürze. Ich krache in sie und schon befinden wir uns mitten in einem Ringkampf, der mit uns beiden auf dem Boden und mit mir rittlings auf ihr endet. Als ich endlich mein Handy erwische und über meinen Kopf halte, geht unser beider Atem schwer. »Er will offensichtlich nichts mit mir zu tun haben. Und ich verstehe, warum.«

»Aber …« beginnt April, doch ich schüttle den Kopf so vehement, dass mir die Haare ums Gesicht fliegen.

»Ich hätte … Ich hätte …« Im Grunde weiß ich gar nicht, was ich hätte anders machen sollen. »Tut nichts zur Sache. Es ist vorbei.«

»Es tut mir so leid.« April setzt sich auf und legt ihre Arme um meine Taille. »Ich hätte meinen Mund halten sollen. Als ich gemerkt habe, wie du ihn ansiehst, dachte ich, dass es vielleicht etwas bringen könnte, wenn ich dich provoziere. Ich wusste, dass du ihn scharf findest, und ich …«

»Ich bin eine Idiotin.« Ich stehe auf, bevor sie ihren Satz beenden kann, und streiche mir das Haar aus dem Gesicht, während sie sich vom Boden aufrappelt und vor mir zum Stehen kommt.

»Bist du nicht.« April ergreift meine Schultern und zwingt mich damit, mich voll auf sie zu konzentrieren. »Ernsthaft, wenn er wach war, als du aufgestanden bist, hätte er etwas sagen sollen. Er hätte etwas tun sollen, um dich zum Bleiben zu bringen. Wenn irgendwer ein Idiot ist, dann er, weil er dich hat gehen lassen.«

Ich hole tief Luft. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht hätte er etwas sagen sollen, als er mich bei meinem heimlichen Aufbruch beobachtet hat. Andererseits hätte ich wahrscheinlich dasselbe wie er gemacht, wenn die Rollen vertauscht gewesen wären. Mit nur einer einzigen langen Beziehung in meiner Biografie und sogar die schien ohne viel Zutun von meiner Seite aus zu passieren – habe ich keine Ahnung, wie ich durch die ganze Anfangsphase navigieren soll. Wem will ich hier denn etwas vormachen? Ich weiß nichts über Männer, außer dem, was in Büchern steht. Unglücklicherweise habe ich mit der Zeit erkennen müssen, dass die Kerle, auf die ich in der Literatur treffe, im echten Leben nicht existieren. Nicht nur, weil es selten ist, einem Multimillionär zu begegnen, der dich mit Charme und Privatjet von den Füßen reißt, nachdem er dir seine unendliche Liebe gestanden hat, sondern auch weil die meisten Männer Arschlöcher sind.

Bei dem Gedanken wende ich mich wieder April zu. »Wie auch immer. Es ist vorbei.«

Wir halten lange Blickkontakt, bevor sie mir zustimmt. Von meiner Aussage wirkt sie jedoch enttäuscht.

2. Kapitel

Gareth

Eine Hand um meinen harten Schwanz gelegt, mein Gesicht in das Kissen gedrückt, reibe ich auf und ab und bearbeite meine Erektion. Das Bild in meinem Kopf leistet mir bereits seit mehreren Tagen morgens Gesellschaft: Blonde Haare, hübsche Gesichtszüge und ein Körper, der aus nichts anderem als wunderschönen Kurven besteht, die niemals zu enden scheinen. Ich streiche fester auf und ab, stelle mir vor, wie December mit ihrer weichen, süßen Stimme meinen Namen flüstert. Als ich komme, landet heißes Sperma auf meinem Bauch. Meine Hand bewegt sich träger, bis die Spannung aus meinem Unterleib weicht und mein Schwanz schlaff geworden ist.

Entspannt starre ich an die Decke und denke an die Frau, zu deren Bild in meinem Kopf ich mir gerade einen runtergeholt habe. Ich hasse die Tatsache, dass sie nicht das war, wofür ich sie gehalten habe. An dem Morgen, als sie abgehauen ist, habe ich ihr stumm beim Gehen zugesehen, obwohl alles in mir danach verlangt hat, sie zum Bleiben zu zwingen. Ich war jedoch nicht fähig zu diesem Schritt. Als ich sie aus meinem Zimmer schleichen sah, konnte ich nur an Beth denken und daran, wie oft ich diese Situation bei ihr beobachtet habe.

Wie viele Male habe ich versucht, sie zum Bleiben zu überreden? Wie oft habe ich sie angebettelt, nicht zu gehen? Nicht für mich, sondern für unsere Jungs.

Ich weiß, dass die Umstände nicht annähernd dieselben sind, aber das hatte keine Auswirkung auf die Enttäuschung in meinem Bauch, als sich die Tür hinter December schloss.

»Fuck«, zische ich, als ich aufstehe und ins Badezimmer gehe. Ich versuche jeglichen Gedanken an December und die Vorstellung, dass ich diese Chance wegen meiner Vergangenheit verbockt habe, aus meinem Kopf zu verdrängen. Stattdessen dusche ich heiß und ziehe mich in meinem begehbaren Schrank an. Erst als ich voll bekleidet in meine Stiefel steige, komme ich zu dem Schluss, dass es egal ist. Es ist vorbei. Meine Antwort auf Decembers Nachricht hat das endgültig gemacht.

Mit diesem Gedanken halte ich an der Schlafzimmertür inne und treffe eine spontane Entscheidung. Ich ziehe das Bett ab, Laken und Kissenüberzüge. Vielleicht kann ich endlich ohne Morgenlatte aufwachen, wenn Decembers Duft verschwunden ist. Ihr verführerisches Parfum hat die letzten Tage über an meinem Bettzeug gehaftet. Vielleicht kann ich ab jetzt wieder aufwachen, ohne an sie zu denken oder daran, dass ich dank meiner Vergangenheit zwischen uns alles zunichte gemacht habe.

Ich stopfe die Wäsche in die Waschmaschine vor der Küche, werfe das Waschmittel in die Trommel, und starte das Gerät. Nach dem Befüllen der Kaffeemaschine gehe ich den Gang hinunter.

Meine Jungs würden den ganzen Tag verschlafen, wenn ich sie ließe – etwas, wofür ich an den Wochenenden und im Sommer dankbar bin. Während des Schuljahres ist es allerdings extrem mühsam. Ich öffne die Tür zum Zimmer meines Neunjährigen zuerst. Max braucht im Normalfall immer länger, um aufzustehen. Sein Wecker macht bereits Lärm, aber er hat sich das Kissen über den Kopf gezogen, um das kreischende Geräusch auszublenden. Ich knipse das Licht an und gehe zu seinem Bett, um ihn an seinem Fuß unter der Bettdecke herauszuzerren. »Zeit, aufzustehen, Max.«

Er stöhnt und zieht den Fuß weg. »Ist es noch nicht Wochenende?«

»Junge, es ist Dienstag.«

»Uff, ich will zu Hause unterrichtet werden.«

»Steh auf und geh dich duschen«, verlange ich, lasse das Licht an und ignoriere sein genervtes Ächzen.

Meine morgendliche Runde führt mich am Badezimmer der Jungs vorbei zur nächsten Tür. Als ich das Licht anmache, hebt mein fünfzehn – oder vielmehr erst vierzehnjähriger – Sohn Mitchell den Kopf von seinem Kissen. »Jetzt schon?«

Ich lächle. »Tut mir leid, Großer.«

»Du wirkst nicht, als würde es dir leidtun«, murmelt er, bevor er sich aufs Bett zurückfallen lässt und sein Gesicht bedeckt. »Kannst du das Licht ausschalten, damit ich nicht erblinde?«

»Nix da!« Damit mache ich mich auf den Weg in die Küche, wo ich mir eine Tasse Kaffee einschenke und das Frühstück vorbereite.

Mit gerade einmal zweiunddreißig Jahren sollte ich nicht zwei Kinder im Alter meiner Jungs haben. Oder vielmehr: Ich hätte nicht mit sechzehn Sex haben und meine siebzehnjährige Highschoolfreundin schwängern sollen. Dämlich wie ich mich verhalten habe, schwängerte ich sie sechs Jahre später erneut, obwohl das zwischen uns schon lange vorbei war. So dumm meine Entscheidungen auch waren, ich bereue sie nicht. Ich liebe meine Jungs und kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Sie sind zwar der Grund, warum ich zwei Jobs habe, aber an den meisten Tagen sind sie mein wertvollster Grund, um aufzustehen.

Ich habe Rührei und Toast zubereitet und warte. Wie ein Uhrwerk treten die Jungs gemeinsam in mein Blickfeld. Sie sehen beide fast aus wie ich in ihrem Alter. Groß und fit, ohne dafür viel tun zu müssen. Max’ Haar ist aschblond und er ist etwas schlaksiger als sein Bruder, aber ich habe keinen Zweifel, dass sich das in ein paar Jahren ändern wird. Sie nehmen mir gegenüber auf den Barhockern Platz und ich reiche jedem von ihnen einen Teller. Dann werde ich wieder einmal Zeuge, wie sie ihre Mahlzeit mit ein paar Bissen verschlingen. So wie die zwei futtern, könnte es sein, dass ich mir einen dritten Job suchen muss. Ich schwöre, ich kann nie genug Nachschub für beide bunkern.

»Ich bringe euch zur Schule. Grandma holt euch später ab. Ich werde nicht viel später als ihr nach Hause kommen.«

»Ich habe nach der Schule Lauftraining«, erinnert mich Mitchell, bevor er sich das letzte Stück Toast in den Mund schiebt. Das ist das erste Jahr, in dem er im Laufteam ist. Der Coach der Schulmannschaft hat ihn beobachtet und überredet, in diesem Sport sein Glück zu versuchen. Nach kurzer Debatte beschloss Mitchell, es auszuprobieren. So weit, so gut. Wer weiß, was als nächstes interessant wird, das kann man bei den beiden nie sagen.

»Grandma wartet mit Max während dem Training auf dich.«

»Ich weiß nicht, warum ich mit Grandma abhängen muss. Inzwischen bin ich doch schon längst alt genug, um ein paar Stunden allein daheimzubleiben. Wenn er Baseball hat, darf ich ihm nicht mal zusehen«, mault Max.

Ich schaue meinen Jüngsten an und übe mich in Geduld. Mitchell hat immer getan, worum er gebeten wurde, und das, ohne Fragen zu stellen. Sein kleiner Bruder stellt alles in Frage, seit er alt genug ist, aus Worten einen Satz zu formen. Meine Jungs könnten unterschiedlicher nicht sein. Das Einzige, was die zwei verbindet, ist Baseball. Woher ihre Liebe dafür herrührt, weiß ich nicht. Als ich jünger war, habe ich diesen Sport nie gemocht. Der einzige Grund, warum ich jetzt Interesse dafür zeige, sind die beiden. »Wenn du zehn bist, reden wir darüber, ob du ein paar Stunden allein zu Hause sein darfst.«

»Megatoll. Ich muss nur noch ein weiteres, beknacktes Jahr warten.«

»Sei kein Arsch«, schimpft Mitchell und Max wendet sich ihm mit einem wütenden Blick zu.

In vollem Wissen, was abgehen wird, wenn ich diesen Streit nicht stoppe, unterbreche ich die beiden. »Lass es sein, Max. Du weißt genau, dass ich dich nicht alleine zu Hause lassen darf. Und Mitch, ich brauche deine Hilfe nicht.«

Beide blicken mich mit einem Anflug von Reue an. Scheiße verdammt, ich liebe meine Jungs. Sie sind brave Kinder, selbst nach all dem Mist, den sie in ihren kurzen Leben schon mitmachen mussten. Wie alle Kinder testen auch sie die Grenzen aus. Allerdings hören sie eher auf mich, als gegen mich anzukämpfen.

»Heute gibt’s Essen zum Mitnehmen, also überlegt euch, was ihr wollt, und schreibt mir dann. Ich hole es ab, bevor ich nach Hause komme.«

»Pizza«, sagt Max.

»Chinesisch«, wendet Mitchell ein.

»Okay, Planänderung. Ich lasse euch wissen, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, und jeder kann selbst bestellen. Ich hole das Zeug dann ab.«

Beide lächeln mich zustimmend an. Sobald sie mit dem Frühstück fertig sind, stellen sie ihre Teller in den Geschirrspüler. Dann machen sie sich fertig und holen ihre Taschen.

Ich nippe an meinem Kaffee, während ich durch die Glastüren in der Küche blicke. Wir haben einen genialen Garten. Eine große Betonterrasse mit einem Tisch und Stühlen, einen Grill und dahinter viel Wiese. Nicht ganz perfekt für eine Runde Baseball, aber definitiv perfekt für einen Hund.

Die Jungs haben in der Vergangenheit nach einem gefragt, aber ich wollte ihnen keinen schenken, bevor sie nicht alt genug sind, um selbst ein Stück Verantwortung zu übernehmen. Jetzt sind sie es und ich sollte mit ihnen darüber reden. Mit diesem Gedanken leere ich den Rest meines Kaffees ins Waschbecken und stelle meinen Becher in den Geschirrspüler. Gleich darauf höre ich die beiden ins Wohnzimmer stürmen. Zusammen treten wir auf die Veranda hinaus und ich sperre hinter uns ab, dann bringe ich sie in meinem SUV zur Schule und fahre anschließend zum ersten meiner beiden Jobs. Wie jeden Tag arbeite ich, bis ich erschöpft bin, und wünsche mir, ich wäre mehr als bloß ein Mechaniker und Teilzeit-Tätowierer. Ich hätte gern mehr zu bieten, nicht für mich, sondern in erster Linie für meine Jungs.

3. Kapitel

December

»April, April!«, sage ich und knalle das Buch in meinen Händen laut zu. Die Kinder, die vor mir sitzen, zucken zusammen, dann fangen sie zu kichern an. Ich lächle ihnen zu und genieße das Strahlen in ihren Augen.

Ich liebe meinen Job als Grundschullehrerin. Es hat etwas Unschuldiges, aber auch Neugieriges an sich, wie Kinder in diesem Alter die Welt um sich herum wahrnehmen. Ihnen zuzusehen, wie sie in meiner Obhut jeden Tag geistig und körperlich wachsen, gibt mir das Gefühl, mein Job wäre wichtig, ja unverzichtbar.

»Ms Mayson, lesen Sie uns noch ein Buch vor?«, fragt Hanson, während die anderen Kinder voller Energie vom Teppich aufspringen, als könnten sie nicht länger stillsitzen.

»Nicht vor Montag, Schatz.«

Ich berühre seine weiche Wange mit meinen Fingerspitzen und verfolge, wie sich seine Augen kurz schließen. »Okay«, flüstert er enttäuscht.