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Benjamin F. Brägger
Das schweizerische Sanktionenrecht
Kurz und bündig in Text und Tafeln

ISBN Print: 978-3-7272-2121-7
ISBN E-Book (ePub): 978-3-7272-2168-2

1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 Stämpfli Verlag AG, Bern

www.staempfliverlag.com

Geleitwort

Die konkrete Ausgestaltung eines Sanktionensystems lässt Rückschlüsse auf das Strafbedürfnis einer Gesellschaft zu. Repressive Systeme setzen in erster Linie auf Freiheitsstrafen. Aus den international erhobenen Inhaftierungsquoten pro 100 000 Einwohner lässt sich somit ableiten, ob ein Staat eher ein strafendes oder liberales Strafrechtsverständnis umsetzt. Die Schweiz wies am 1. Januar 2015 eine Quote von 84,0, Deutschland eine von 76,2, Italien eine von 88,2 und Frankreich eine von 118,3 Insassen auf 100 000 Einwohner auf. Die osteuropäischen Staaten kennen viel höhere Inhaftierungsraten: Polen 204,9, Lettland 256,8. Spitzenreiter sind die USA mit 666, Thailand mit 472 und Russland mit 420 Inhaftierten auf 100 000 Einwohner im Jahre 2016. Demgegenüber weisen Schweden und Finnland eine sehr tiefe Rate von 55,4 und 54,4 auf.

Die Schweiz liegt somit im oberen westeuropäischen Mittelfeld. Im Vergleich zu Frankreich sind unsere Inhaftierungsraten eher tief. Im Vergleich mit Schweden und Finnland sehr hoch.

Das neue schweizerische Sanktionenrecht setzt wiederum vermehrt auf repressive Signale, dies insbesondere mit der Wiedereinführung der kurzen unbedingten Freiheitsstrafe und dem einfacheren Vollzug von uneinbringlichen Geldstrafen mittels sogenannter Ersatzfreiheitsstrafen. Dazu gesellt sich der stetig ansteigende Median der Aufenthaltsdauer bei den Verwahrungsvollzügen und den stationären therapeutischen Massnahmen.

Der Vollzug von freiheitsentziehenden Sanktionen fällt in das Aufgabengebiet der Kantone und ist äusserst kosten- und personalintensiv. Nur schon aus diesen Gründen muss der Freiheitsentzug mit Augenmass ausgesprochen und durchgeführt werden. Dieser ist bei gefährlichen Gewalt- und Sexualdelinquenten unerlässlich. Die Zahlen aus den skandinavischen Ländern zeigen jedoch auf, dass im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität andere Sanktionen dem Freiheitsentzug mindestens ebenbürtig sind. Ohne hohe Kosten für die Allgemeinheit zu verursachen, tragen sog. gemeinschaftsbezogene Sanktionen, wie die gemeinnützige Arbeit, die elektronische Überwachung oder die strafrechtliche Mediation, zu einer guten gesellschaftlichen Integration der Straftäter bei, ohne die öffentliche Sicherheit zu gefährden. Diesen Überlegungen gilt es in Zukunft auch in der Schweiz vermehrt Rechnung zu tragen, denn in Ländern mit tiefen Inhaftierungsquoten lebt es sich ebenso sicher wie in der Schweiz, und dies bei geringeren Kosten für den Justizvollzug.

Bern, im Februar 2018

Hans-Jürg Käser,

Polizei- und Militärdirektor des Kantons Bern,
Präsident der KKJPD und Präsident des Strafvollzugskonkordats der
Nordwest- und Innerschweizer Kantone

Vorwort

Das vorliegende Kurzlehrbuch richtet sich an Praktiker und Studierende. Es erklärt sowohl in Worten als auch in Schaubildern und Tafeln das aktuell gültige schweizerische Sanktionenrecht für Erwachsene.

Der Stand der Gesetzgebung wird per 1. Januar 2018 abgebildet. Somit konnten die neuen Bestimmungen zur strafrechtlichen Landesverweisung und zum erneut revidierten Sanktionenrecht ins vorliegende Werk integriert und aufgearbeitet werden. Es werden insbesondere die zentralen Unterschiede zwischen dem Sanktionensystem, welches bis zum 31. Dezember 2017 Gültigkeit hatte, und den geänderten Bestimmungen aufgezeigt. Stichworte dazu sind: Einführung einer obligatorischen und fakultativen Landesverweisung, Wiedereinführung der kurzen unbedingten Freiheitsstrafe, Abschaffung der gemeinnützigen Arbeit als Sanktion und Wiedereinführung der gemeinnützigen Arbeit als sog. besondere Vollzugsform, Abschaffung des teilbedingten Vollzuges bei der Geldstrafe sowie die Einführung einer – nebst der Halbgefangenschaft und der gemeinnützigen Arbeit – neuen besonderen Vollzugsform des elektronisch überwachten Hausarrests (Electronic Monitoring, EM). Dem Massnahmenrecht sind mehrere Kapitel gewidmet. Fragen der Verwahrung, der Massnahmen nach Art. 59 StGB und der sog. Umwandlung der Sanktionen nach Art. 65 StGB werden umfassend behandelt. Dies erfolgt im ersten Teil des Buches in einer konzisen und leicht verständlichen allgemeinen Einführung, welche die sanktionenrechtlichen Neuerungen aufzeigt. Der juristisch interessierte Leser findet in den Fussnoten des Textes die jeweiligen Referenzen zur weiterführenden Literatur, zur aktuellen Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts oder gar zu den konkordatlichen Richtlinien der beiden Deutschschweizer Strafvollzugskonkordate, dies insbesondere im Bereich der besonderen Vollzugsformen.

Der zweite Teil des Buches ist frei nach dem Motto «ein Bild ersetzt 1 000 Worte» gestaltet. Dies ermöglicht dem Praktiker eine rasche Orientierung und erklärt das neue Recht überblicksmässig und mit Verweisen zu den einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuches.

Das vorliegende Kurzlehrbuch konnte nur mit der tatkräftigen Unterstützung von verschiedenen Personen und Institutionen realisiert werden. Ein besonderer Dank geht dabei an Frau MLaw Deborah Torriani, Rechtsanwältin, und an Frau MLaw Livia Kunz, Lektorin bei hep ius, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für ihre wertvollen Hinweise. Dr. iur. Men Haupt und der hep Verlag ermöglichen die Herausgabe und den Vertrieb dieses Werkes. Für deren Vertrauen und tatkräftige Unterstützung bei der Umsetzung gebührt ihnen ein herzliches Dankeschön.

Ich hoffe, dass dieses kleine Buch den Leserinnen und Lesern neben einer erspriesslichen Lektüre auch eine erste nützliche und praktische Orientierungshilfe zu den neuen Bestimmungen des Sanktionenrechts sein wird.

Bösingen, im Mai 2018

Dr. iur. Benjamin F. Brägger,

Direktor des Schweizerischen Instituts für Strafvollstreckungs- und
Strafvollzugswissenschaften (SISW)

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Teil 1
Das schweizerische Sanktionenrecht

I Kurzer historischer Abriss

1.Vom Erfolgsstrafrecht zum Schuldstrafecht

2.Vom Inquisitionsprozess zum Akkusationsprinzip

3.Vom kantonalen Strafrecht zum heutigen Schweizerischen Strafgesetzbuch

II Das schweizerische Sanktionensystem im Überblick

1.Zweispuriges Sanktionensystem

2.Das Sanktionensystem von 2007

3.Das Sanktionensystem von 2018

3.1Wiedereinführung der strafrechtlichen Landesverweisung

3.2Umgesetzte Revisionspostulate

4.Strafen versus Massnahmen

5.Grundsätze der Strafen

6.Grundsätze der strafrechtlichen Massnahmen

III Deliktstypen

IV Strafen

1.Freiheitsstrafe

1.1Arten und Dauer

1.2Bedingter Vollzug

1.3Teilbedingter Vollzug

1.4Bedingte Entlassung

2.Geldstrafe

3.Busse

V Strafrechtliche Massnahmen

1.Ambulante Massnahmen

2.Stationäre therapeutische Massnahmen

2.1Grundsätze

2.2Trennungsvorschriften

2.3Behandlung von psychischen
Störungen

2.4Suchtbehandlung

2.5Massnahmen für junge Erwachsene

2.6Bedingte Entlassung / Nichtbewährung / Aufhebung

3.Sichernde stationäre Massnahme der Verwahrung

4.Andere Massnahmen

VI Vorzeitiger Straf- und Massnahmenvollzug

1.Geschichtlicher Überblick

2.Juristische Qualifikation

3.Grundsätze

4.Vollzugsregime

5.Beendigung

6.Zuständigkeiten

VII Besondere Vollzugsformen

1.Grundsätze

2.Gemeinnützige Arbeit

3.Elektronische Überwachung

4.Halbgefangenschaft

VIII Änderung der Sanktion

IX Vollstreckungsverfahren und Vollzug

1.Vollstreckung der Strafentscheide

2.Sanktionenvollzug

Teil 2
Tafeln zum schweizerischen Sanktionenrecht

I Allgemeine Grundlagen

1.Kodifizierung des Strafrechts in der Schweiz

2.System der Strafrechtswissenschaft

3.Deliktstypen

4.Zweispuriges oder dualistisch-vikariierendes Sanktionensystem

5.Grundzüge der StGB-Revision

II Strafen

1.Übersicht

2.Ausgestaltung der Strafen und deren mögliche Dauer

3.Revisionspunkte 2018

4.Geldstrafen (Tagessatzgeldstrafen)

5.Freiheitsstrafen

5.1Dauer

5.2Kurze unbedingte Freiheitsstrafe

6.Bedingte Strafen

6.1Grundsätze

6.2Teilbedingte Freiheitsstrafen

6.3Probezeit

6.4Bewährung

6.5Nichtbewährung

7.Bedingte Entlassung

7.1Regelfall

7.2Ausnahme

7.3Bedingte Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe

7.4Bedingte Entlassung aus einer teilbedingten Freiheitsstrafe

7.5Bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe bei vorlagepflichtigen Fällen

7.6Verfahren

7.7Synopse zum Verfahren

III Massnahmen

1.Übersicht

2.Grundsätze

3.Vollzug der stationären Massnahmen

4.Verwahrung

4.1Übersicht über die drei Arten der Verwahrung

4.2Grundsätze zum Vollzug der Verwahrung

4.3Vollzug der ordentlichen Verwahrung

4.4Gemeinsame Grundlagen für den Vollzug der ordentlichen und lebenslangen Verwahrung

4.5Vollzug der sog. kleinen Verwahrung

4.6Vollzug von stationären therapeutischen Massnahmen

4.7Bedingte Entlassung aus einer ordentlichen Verwahrung

4.8Bedingte Entlassung aus einer lebenslangen Verwahrung

IV Besondere Vollzugsformen

1.Übersicht

2.Anwendung und Dauer

3.Halbgefangenschaft

4.Gemeinnützige Arbeit

5.Elektronische Überwachung

6.Bedingte Entlassung aus einer besonderen Vollzugsform

V Strafrechtliche Landesverweisung

1.Obligatorische Landesverweisung

2.Nicht obligatorische Landesverweisung

3.Gemeinsame Bestimmungen

4.Folgen der strafrechtlichen Landesverweisung

5.Gegenüberstellung der obligatorischen und nicht obligatorischen Landesverweisung

VI Vollstreckungsverfahren und Phasen der prozessualen und strafrechtlichen Inhaftierung

1.Übersicht über das Vollstreckungsverfahren

2.Phasen der prozessualen und strafrechtlichen Inhaftierung

VII Altes Sanktionensystem

1.Strafen

2.Ausgestaltung der Strafen und deren mögliche Dauer in Monaten

3.Massnahmen

4.Besondere Vollzugsformen

Abkürzungsverzeichnis

a

alt (frühere Fassung der betreffenden Bestimmung, z. B. aArt, aStGB)

Abs.

Absatz

AEX

Arbeitsexternat

Art.

Artikel

AT

Allgemeiner Teil

Aufl.

Auflage

AuG

Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (SR 142.20)

BBl

Bundesblatt

bE

bedingte Entlassung

BFS

Bundesamt für Statistik, www.bfs.admin.ch

BG

Bundesgesetz

BGE

Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts, Amtliche Sammlung

BGer

Schweizerisches Bundesgericht

BGG

Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (SR 173.110)

BJ

Bundesamt für Justiz

BSK StGB

Niggli / Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht, 3. Aufl., Basel 2013, zitiert mit Namen des Bearbeiters/der Bearbeiterin, Artikel und Randnote

BSK StPO

Niggli / Heer / Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung / Jugendstrafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, zitiert mit Namen des Bearbeiters/der Bearbeiterin, Artikel und Randnote

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101)

d. h.

das heisst

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

eidg.

eidgenössisch

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EM

Electronic Monitoring; Elektronische Überwachung

EMRK

Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (SR 0.101)

evtl.

eventuell

f. / ff.

folgende / fortfolgende

Fr.

Schweizer Franken

Hrsg.

Herausgeber

i. d. R.

in der Regel

JStG

Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003 (SR 311.1)

KESB

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde

lit.

litera (= Buchstabe)

max.

maximal

mind.

mindestens

N / N.

Note, Randnote

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

OBG

Ordnungsbussengesetz vom 24. Juni 1970 (SR 741.03)

Pra

Die Praxis des Bundesgerichts (Basel)

Rec.

Recommandation

ROS

Risikoorientierter Sanktionenvollzug, vgl. dazu www.rosnet.ch

Rz.

Randziffer(n)

S.

Seite(n)

SchKG

Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 (SR 281.1)

sog.

sogenannt

SR

Systematische Sammlung des Bundesrechts

SSED

Systematische Sammlung der Erlasse und Dokumente des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone, einsehbar unter: www.konkordate.ch

StBOG

Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom 19. März 2010 (SR 173.71)

StGB

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0)

StPO

Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (SR 312.0)

SZK

Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie

usw.

und so weiter

vgl.

vergleiche

V-StGB-MStG

Verordnung zum Strafgesetzbuch und zum Militärstrafgesetz vom 19. September 2006 (SR 311.01)

WAEX

Wohn- und Arbeitsexternat

z. T.

zum Teil

ZGB

Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210)

Ziff.

Ziffer

ZStrR

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht

Teil 1

Das schweizerische Sanktionenrecht

I Kurzer historischer Abriss1

1.Vom Erfolgsstrafrecht zum Schuldstrafecht

Im Mittelalter standen die Todes- und die Leibesstrafen an erster Stelle, um auf Verletzungen der Rechtsordnung zu reagieren. Das Strafrecht und die Strafverfolgung sowie die Vollstreckung der Urteile waren noch nicht im Sinne des heutigen Gewaltmonopols2 exklusive Aufgaben des Staatswesens. Dieses war dazumal noch nicht in der Lage, die Rechtsordnung und somit die Bürger zu schützen sowie Rechtsverletzungen angemessen zu bestrafen. Der Familienverband des Opfers, die sog. Sippe, übernahm diese Aufgabe mittels der Fehde. Die Familie des Geschädigten besass nicht nur das Recht, sondern hatte auch die Pflicht, Rechtsverletzungen mittels Fehde zu ahnden, d. h. den Täter zu töten. Es lag in der Natur der Sache, dass diese Vorgehensweise immer wieder zu erneuten Verletzungen der Rechts- und Friedensordnung führte. Die Gesellschaft war somit nicht wirklich befriedet, was einer prosperierenden wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung hinderlich war.

Deshalb versuchte der langsam erstarkende Staat die Fehde zurückzudrängen. Dies gelang ihm allmählich durch die Verpflichtung der Sippen zum Abschluss von sog. Sühneverträgen. Dadurch versprach die Sippe des Täters, derjenigen des Opfers finanzielle Genugtuungsleistungen zu bezahlen, sog. Wergeld3. Die Schädigung des Körpers wurde durch materielle Leistungen, d. h. durch Geldzahlungen, ausgeglichen und wiedergutgemacht. Die blutige Sippenjustiz trat allmählich in den Hintergrund. Der mittelalterliche Staat übernahm langsam die Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Mit der Durchsetzung der Rechtsordnung sollte eine Friedensordnung entstehen und gesichert werden, welche es den Bürgern erlauben sollte, sich ohne Furcht in Sicherheit und Frieden zu entfalten. Das ursprünglich private Strafrecht, welches stark ans zivile Haftpflichtrecht angelehnt war, verschwand allmählich. Der Staat trat mit dem Inquisitionsprozess an die Stelle der privaten Strafjustiz (vgl. dazu unten Kapitel I, 2.).

Neben die Todesstrafe, welche die Hauptsanktion darstellte und auf grausame und inhumane Weise vollstreckt worden ist, traten nun vielfach auch Leibesstrafen, die sog. peinlichen4 und spiegelnden Strafen5 (wie beispielsweise das Handabhacken für Diebe, das Abschneiden der Schwurfinger bei Meineid, das Zungenschlitzen für Lügner, das Brandmarken, das Federn usw.). Nur langsam setzte sich die Busszahlung durch, um die erbarmungslosen Körperstrafen zu verdrängen.

Zu dieser Zeit galt im Strafrecht das sog. Talionsprinzip (ius talionis). Demzufolge werden Rechtsgutsverletzungen nach dem altbiblischen Motto «Auge für Auge, Zahn für Zahn» gerächt (vgl. dazu Mose III, 24, 17 ff.6). Eine gleichwertige Vergeltung des erlebten Unrechtes stand im Zentrum. Dies nach dem Grundsatz, dass dem Täter derselbe Schaden zuzufügen ist, den er einem eigenen Stammesmitglied angetan hat. Die Strafe bestimmte sich somit nach dem Erfolg der Tat (die Strafrechtstheorie spricht deshalb auch von sog. Erfolgsstrafrecht). Mit anderen Worten: Wurde ein Mensch getötet, musste der Täter auch getötet werden. Dies unabhängig der Frage, ob die Tat mit Vorsatz (Art. 12 Abs. 2 StGB) oder gar nur aus Fahrlässigkeit (Art. 12 Abs. 3 StGB) begangen worden war. Vorsätzlich begeht ein Verbrechen, wer mit Wissen und Willen die Tat geplant ausführt. Fahrlässig handelt, wer die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt (vgl. dazu Art. 12 StGB). Diese heute für die Strafbarkeit und die Strafzumessung wesentliche Unterscheidung kannte man im Mittelalter nicht. Dies führte aus heutigem Rechtsverständnis betrachtet zu stark undifferenzierten und vielfach ungerechten Urteilen. Diese Aussage soll anhand eines praktischen Beispiels näher erläutert und dabei die Begriffe des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit erklärt werden:

Beispiel:

Eine Mutter fährt ihr Auto rückwärts aus der Garage. Dabei übersieht sie, dass ihr vierjähriger Sohn auf dem Dreirad hinter dem Wagen spielt. Der Sohn befindet sich unglücklicherweise im sog. toten Winkel des Rück- und der Aussenspiegel. Bevor die Mutter in den Wagen gestiegen war, spielte der Sohn noch nicht auf dem Garagenvorplatz. Das schreckliche Unglück geschieht. Die Mutter überfährt beim langsamen Rückwärtsfahren aus der Garage heraus ihren kleinen Sohn, welcher noch am Unfallort den Folgen der erlittenen Verletzungen erliegt.

Aus mittelalterlichem Strafrechtsverständnis betrachtet, d. h. aus Sicht des sog. Erfolgsstrafrechts gesehen, werden nur die konkreten Folgen der Tat und nicht die Schuld des Täters bewertet. Die Schuldfrage, d. h. die persönliche Vorwerfbarkeit (die persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit) des Täters, wird ausser Acht gelassen. Somit hätte zu früheren Zeiten die Mutter ebenfalls getötet werden müssen, weil sie ihrem Sohn das Leben genommen hat. Wenn möglich hätte die Hinrichtung auf dieselbe Weise erfolgen müssen, wie der Tod des Opfers herbeigeführt worden ist, dies im Sinne einer spiegelnden Strafe. Demzufolge hätte im angeführten Beispiel auch die Mutter überfahren werden müssen.7 Diese Sichtweise schockiert den modernen, aufgeklärten Menschen. Nicht nach dem Erfolg, d. h. dem eingetretenen Schaden, wird heute die Strafe bemessen, sondern nach dem Verschulden, welches dem Täter zur Last gelegt werden kann (Art. 47 Abs. 1 StGB). Juristen sprechen deshalb heute vom sog. Schuldstrafrecht, im Gegensatz zum früheren Erfolgsstrafrecht. Wer mit Absicht (Vorsatz, Art. 12 Abs. 1–2 StGB) eine Tat begeht, trägt ein grosses Verschulden. Die Strafe wird somit erheblich sein. Wer aus entschuldbarer Unvorsicht heraus eine Tat begeht (Fahrlässigkeit, Art. 12 Abs. 3 StGB) wird milder bestraft.8 Das Recht sieht sogar vor, dass von einer Bestrafung abgesehen werden kann, wenn der Täter durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer betroffen ist, dass eine Strafe unangemessen wäre (Art. 54 StGB). Dieser sog. Strafbefreiungsgrund der Betroffenheit des Täters durch seine Tat könnte im vorliegenden Beispiel zur Anwendung gelangen. Die Mutter würde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, jedoch ohne dafür bestraft zu werden.

Abschliessend sei in diesem Zusammenhang noch auf die sog. Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit hingewiesen (Art. 19 StGB). Das Gesetz sieht vor, dass der Täter, welcher zur Zeit der Tat nicht fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, nicht strafbar ist, weil keine Schuldfähigkeit vorliegt. Es gilt somit der Grundsatz «keine Strafe ohne Schuld». Therapeutische Massnahmen für die Behandlung einer psychischen Störung gemäss Art. 59 StGB oder aus Sicherheitsgründen gar eine Verwahrung der betroffenen Person (Art. 64 StGB) bleiben auch bei Vorliegen einer Schuldunfähigkeit möglich (Art. 19 Abs. 3 StGB), weil es sich dabei nicht um Strafen im strafrechtlichen Sinne handelt, sondern um sog. Massnahmen.9

War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe (Art. 19 Abs. 2, Art. 48a StGB). Dies zeigt auf, dass heute die Strafe nach der persönlichen Vorwerfbarkeit, d. h. nach der strafrechtlichen Verantwortung oder Schuld, bemessen wird. Je schwerer das Verschulden wiegt, desto härter wird die Bestrafung ausfallen. Dies erklärt auch die grosse Bedeutung der Psychiater als Sachverständige im Strafprozess im Rahmen der Strafzumessung. Denn diese Disziplin ist darauf spezialisiert, sich sachverständig über die Schuldfähigkeit der Täter zu äussern.10 Böse Zungen sprechen in diesem Zusammenhang von sog. Richtern in Weiss oder der sog. psychiatrischen Rabattmaschine.

2.Vom Inquisitionsprozess zum Akkusationsprinzip

Wie bereits kurz aufgezeigt, verdrängte der langsam erstarkende Staat im Hochmittelalter die private Strafjustiz der Fehde. Dies geschah mit dem sog. Inquisitionsprozess. Der lateinische Begriff Inquisition bedeutet auf Deutsch übersetzt: «die Untersuchung». Der Katholizismus, welcher mehr und mehr zur Staatsreligion heranwuchs, führte dieses kirchliche Glaubensgericht zur Ermittlung und Unschädlichmachung von Ketzern, d. h. von sog. Falsch- oder Irrgläubigen, ein. Verdächtige, häufig Frauen, welche durch Verleumdung der Hexerei, der Zauberei oder des Bundes mit dem Teufel angeschuldigt wurden, fielen der Inquisition zum Opfer.11 Im Zentrum des Inquisitionsprozesses stand die Neuerung, dass die kirchlichen und später auch die staatlichen Behörden gegen Verdächtige von Amtes wegen das Strafverfahren einleiteten. Eine beliebige Anschuldigung oder ein vager Verdacht genügten indessen, um die Beweisaufnahme vorzunehmen. Der damals geltende Grundsatz confessio est regina probationum12