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Sibylle Narberhaus

Schattenmeer

Sylt-Krimi




Narberhaus, Sibylle: Schattenmeer. Sylt-Krimi.
Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe


ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-708-4

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-707-7

Print: ISBN 978-3-86282-706-0


Lektorat: Laura Künstler, Hannah Göing, acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © Leuchtturm von GEYER ARTWORX


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

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Kurze Zeit später betrat die Kommissarin Sams Wohnung.

»Frau Bachner, was gibt es denn so Dringendes? Mein Kollege sagte, sie hätten eine überaus aufschlussreiche Entdeckung gemacht. Halten Sie wieder einen ungebetenen Gast zur Abholung bereit?« Ein leichtes Schmunzeln huschte über ihr herbes Gesicht.

»Nein, dieses Mal nicht. Dafür habe ich das hier gefunden.« Sam deutete auf das kleine Stückchen Folie, das mitten auf dem Esstisch lag.

»Sie rufen mich wegen eines Stücks Plastikmüll an? Das kann unmöglich Ihr Ernst sein.« Ein leichter Anflug von Ärger schwang in ihrer Stimme mit.

»Das würde ich niemals machen«, erwiderte Sam versöhnlich und erklärte der Kommissarin, was es mit dem Papier auf sich hatte.

»Tja«, sagte die Kommissarin nach Sams Berichterstattung, »Das erklärt einiges. Ich wollte ohnehin zu Ihnen, weil ich Sie ebenfalls über ein paar Neuigkeiten in Kenntnis setzen wollte. Offensichtlich hat sich Ihr Anwalt bislang nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« Sam schüttelte den Kopf. »Die Staatsanwaltschaft hat heute Morgen ein Ermittlungsverfahren gegen Herrn Feldtmann in einem Wirtschaftsdelikt eingeleitet. Mehr darf ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht sagen. Außerdem sind meine Kollegen eben mit einem Durchsuchungs- und einem Haftbefehl für Herrn Torben Niermann unterwegs ins Hotel.«

»Torben ist übrigens Feldtmanns Sohn«, betonte Sam.

»Das ist mir durchaus bekannt.«

»Weshalb?«, wollte Marc wissen und bot der Kommissarin eine Tasse Kaffee an, die sie jedoch dankend ablehnte.

»Weshalb was? Weshalb er sein Sohn ist?«

»Nein, weshalb nehmen sie ihn fest?«, bohrte Marc neugierig nach.

»Herr Niermann steht unter dem dringenden Verdacht, Drogen an Minderjährige verkauft zu haben, unter anderem an Dennis Hauwinkel. Uns liegt eine glaubwürdige Zeugenaussage vor, die ihn diesbezüglich schwer belastet.«

»Der Junge«, murmelte Marc vor sich hin.

Für einen kurzen Moment beäugte die Kommissarin ihn misstrauisch, als zöge sie in Erwägung, dass Marc bei der Zeugenaussage seine Finger im Spiel haben könnte. Dann wich ihre Skepsis, und sie erwiderte knapp: »Auch dazu kann ich Ihnen keine Details nennen.«

Marc verzichtete auf eine Nachfrage und warf stattdessen Sam einen verstohlenen Blick zu.

»Sind Sie denn im Mordfall Alex Koch ein Stück weitergekommen?«, erkundigte sich Sam. Sein Tod lastete nach wie vor schwer auf ihrer Seele.

»Erfreulicherweise auch das. Auf jeden Fall werden die Ermittlungen, was Ihre Person betrifft, Frau Bachner, eingestellt.«

Sam fiel ein riesiger Stein vom Herzen. »Heißt das, Sie haben den wahren Mörder gefunden?«

»Es sieht danach aus. In diesem Zusammenhang hat uns Ihr Freund Achim Wagner unbewusst einen wertvollen Dienst erwiesen.«

»Er ist nicht mein Freund!«, stritt Sam vehement ab.

»Welcher Dienst soll das gewesen sein?«, hakte Marc nach und drückte beruhigend Sams Hand.

»Wir haben bei ihm einen Briefumschlag gefunden, der an Sie adressiert war, Frau Bachner.«

»Interessant. Was befand sich in dem Umschlag?«, unterbrach Marc sie ungeduldig.

»Wenn Sie mich ausreden lassen würden, könnte ich es Ihnen sagen«, konterte Kommissarin Jensen gereizt. »Der Brief stammte augenscheinlich von Alex Koch. Darin befand sich eine kurze handschriftliche Notiz und ein Foto.« Als weder Sam noch Marc nachfragten, sondern ihr gebannt an den Lippen hingen, fuhr sie fort. »Auf dem Foto sind, obwohl es ein bisschen unscharf ist, zweifelsfrei Torben Niermann sowie zwei weitere Personen zu erkennen. Die Aufnahme wurde gemacht, als Torben Niermann gerade ein Päckchen entgegennimmt. Es wurde am Hörnumer Hafengelände aufgenommen, unweit des Golfplatzes.«

»Drogen«, platzte es aus Sam heraus. »Und was steht in der Notiz?«

»Darin schreibt Alex Koch, dass er Torben Niermann zufällig dabei beobachtet hat, wie er sich an Ihrem Spind zu schaffen gemacht hat. Er wollte Sie warnen und Ihnen gleichzeitig mit dem Foto den Beweis zu Ihrer Entlastung zukommen lassen. Offensichtlich wollte er den Brief in Ihren Spind schieben und wurde dabei von Torben Niermann gesehen.«

»Dann hat Torben ihn umgebracht?«, spekulierte Sam.

»Die Fakten sprechen dafür. Selbst wenn er Handschuhe getragen hat, ein Tatort wimmelt immer von Spuren. Manchmal reicht ein einzelnes Haar, ein paar Hautschuppen oder eine Faserspur der Kleidung aus, um den wahren Täter zu überführen«, erklärte die Kommissarin nüchtern.

»Aber wie kam mein Messer dorthin?«, wollte Sam wissen.

»Vermutlich hat er es aus deiner Wohnung geholt. Ebenso, wie er die Tabletten in deiner Kommode versteckt hat, um den Verdacht auf dich zu lenken«, führte Marc den Gedanken zu Ende.

»Richtig. Deshalb befanden sich ausschließlich Ihre Fingerabdrücke auf der Tatwaffe.«

»Oh Gott, mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke, dass er hier ein und aus gegangen ist.« Diese Tatsache musste Sam erst sacken lassen, bevor sie sich erneut an die Kommissarin wandte. »Was geschieht eigentlich mit Achim Wagner?«

»Gegen ihn wird ebenfalls Anklage erhoben. Mit dem Mord an Alex Koch hat er nach jetzigem Ermittlungsstand nichts zu tun.«

»Was hatte er in der Umkleide zu suchen? Wollte er mir etwa auflauern?« Sam musste bei der Vorstellung schlucken.

Die Kommissarin zögerte einen kleinen Moment, bevor sie antwortete. »Selbstverständlich haben wir ihn gefragt, was er am Tatort zu suchen hatte. Daraufhin hat er zugegeben, Ihretwegen dort gewesen zu sein. Angeblich wollte er sich Ihnen näher fühlen. Man könnte auch der Einfachheit halber sagen, er hat ihnen hinterher spioniert. Ob er sich Ihnen gezeigt hätte, lässt sich nur vermuten.« Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Wollen Sie damit andeuten, er hat den Mord an Alex hautnah miterlebt und nichts unternommen, um die Tat zu verhindern?«, stieß Sam fassungslos hervor.

Erneut ließ sich die Kommissarin Zeit mit ihrer Antwort. »Sagen wir mal, er könnte als Zeuge eine wichtige Rolle spielen, da er …« Sie brach mitten im Satz ab. »Nein, das führt an dieser Stelle zu weit. Wie Sie wissen, darf ich Ihnen zu laufenden Ermittlungen keine Details nennen. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis.«

»Dann glauben Sie, dass er mit dem Tod von Alex Koch auf jeden Fall in Verbindung steht, selbst wenn er als Täter ausscheidet? Schließlich hat er den Brief an sich genommen«, gab Marc zu bedenken.

»Was ich glaube, Herr Nahringer, spielt keine Rolle. Die Kollegen und ich werden alles haarklein überprüfen, da können Sie vollkommen beruhigt sein. Wie geht es überhaupt Ihrem Arm?«, wechselte sie abrupt das Thema und deutete auf Sams Oberarm.

»Geht schon wieder. Es ist von Vorteil, einen Arzt als Nachbarn zu haben.«

»Nun gut. Dann mache ich mich auf den Weg. Das hier nehme ich mit.« Sie zog sich einen dünnen Handschuh über und steckte das Bonbonpapier in einen Beutel. Im Gehen machte sie kehrt und zog etwas aus ihrer Umhängetasche.

»Das hatte ich vergessen. Das gehört vermutlich Ihnen. Wir haben es bei Herrn Wagners Sachen gefunden.« Sie zog amüsiert eine Augenbraue hoch.

»Wie ist das möglich?« Sam starrte auf den BH mit passendem Slip, den sie, verpackt in eine durchsichtige Plastiktüte, in ihren Händen hielt. »War er etwa vorher schon einmal hier?«

»So sieht es aus. Das hat er sogar zugegeben. Schönen Tag noch, ich muss weiter.« Mit diesen Worten ließ die Kommissarin das Paar stehen.

»Das ist doch mal ein Souvenir der etwas anderen Art «, bemerkte Marc.

»Das ist nicht lustig, Marc«, protestierte Sam. »Er ist in meiner Wohnung rumgeschlichen!« Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken.

»Entschuldige, ich weiß. Der Typ ist ein echter Psychopath. Aber nun bist du ihn los. Außerdem bist du unschuldig, Sam!«

»Ich kann erst wieder durchatmen, wenn beide hinter Schloss und Riegel sitzen. Ich hätte Alex gleich zuhören müssen, dann wäre er noch am Leben. Ich mache mir solche Vorwürfe.«

»Nein, Sam. Hör auf, die Schuld für seinen Tod bei dir zu suchen. Alex war ein erwachsener Mann. Er hätte sich mit seinem Wissen direkt an die Polizei wenden müssen. Der Wunsch, dir zu helfen, war zwar ehrenhaft, aber gleichzeitig gefährlich. Das Risiko hat er unterschätzt«, stellte Marc deutlich klar.

»Danke, dass du mir zur Seite stehst, Marc.«

»Das ist selbstverständlich.«

»Wer hat eigentlich vorhin angerufen?« Sie deutete auf sein Handy auf dem Tisch.

»Das war mein Freund Jonas. Er fragt, ob wir uns gleich in Westerland am Brandenburger Strand treffen wollen. Er war ziemlich hartnäckig«, wunderte sich Marc im Nachhinein.

»Wo sich die Surfer in die Wellen stürzen?«

»Ja.«

»Worauf warten wir?«

»Bist du sicher? Nach der ganzen Aufregung?«

»… kann ich Abwechslung gut gebrauchen«, beendete Sam seine Worte. »Außerdem gibt es doch etwas zu feiern.«

»Tatsächlich?«

»Ich bin unschuldig. Das hast du selbst gesagt«, erinnerte sie ihn.

»Klar! Dann los!«

Die Sonne hatte den dichten Wolken am Vormittag den Kampf angesagt und strahlte nun als Sieger vom blauen Himmel herab. Auf der Promenade in Westerland herrschte dichtes Gedränge. Die sonnenhungrigen Urlauber flanierten auf und ab, saßen in den Strandkörben oder den Lokalen. In der Musikmuschel gab ein Shantychor seine Lieder zum Besten. Die Tribüne davor war beinahe bis auf den letzten Platz besetzt. Als Sam und Marc den Brandenburger Strand, den nördlichsten Strandabschnitt Westerlands, erreicht hatten, sahen sie sich nach Jonas um. Unter den vielen Surfern und Sonnenanbetern war er nicht leicht auszumachen.

»Siehst du ihn?«, fragte Sam und schirmte ihre Augen mit einer Hand gegen das grelle Sonnenlicht ab, da sie ihre Sonnenbrille vergessen hatte.

»Nein, bislang nicht. Komm, lass uns ein Stück weitergehen.« Marc nahm sie an die Hand, und sie marschierten durch den feinen Sand.

»Ich finde es komisch, dass Patrick sich noch nicht gemeldet hat oder Tom«, stellte Sam unterwegs fest.

»Wahrscheinlich wollen sie dir einfach ein wenig Ruhe gönnen«, suchte Marc nach einer passenden Erklärung.

»Vermutlich hast du recht. Da! Da hinten ist Jonas!«

Aus einiger Entfernung winkte ihnen ein blonder Mann in Shirt und Badeshorts zu. Als sie näherkamen, erkannte Sam zu ihrer Überraschung, dass Jonas nicht das einzig bekannte Gesicht war, das ihnen entgegen strahlte. Kim und Tom sowie Patrick schlossen sie zur Begrüßung in die Arme.

»Kann mir einer erklären, was hier vor sich geht?«, fragte Sam und sah zu Marc, der unwissend dreinblickte.

»Alles Gute zum Geburtstag!« Jonas ging auf seinen Freund zu und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken.

»Geburtstag?« Sam riss erstaunt die Augen auf. »Warum hast du denn nichts gesagt?«

»Ich stehe nicht so drauf, daran erinnert zu werden, dass ich älter werde.« Marc verzog gequält das Gesicht.

»Was macht ihr eigentlich hier?«, wandte Sam sich ihrem Bruder und dessen Begleiterin zu.

»Jonas hat Kim im Hotel angerufen und alles organisiert«, löste Tom das Rätsel.

»Es gibt noch eine Überraschung!« Jonas nickte in die Richtung der Promenade.

Als Marc sich daraufhin umdrehte, erkannte er eine Gruppe Menschen, die sich ihnen winkend und rufend näherte. Vorweg stürmten ein paar Kinder direkt auf ihn zu.

»Das glaube ich nicht!«, murmelte er und ging in die Hocke, um die Kinder in Empfang zu nehmen.

»Onkel Marc!«, rief ein kleines Mädchen mit blonden Löckchen und riss ihn beinahe zu Boden, als es in seine Arme sprang. Drei Jungen folgten ihrem Beispiel.

»Hey, ihr Süßen, was macht ihr hier?«, fragte Marc.

»Das ist eine Überraschung, hat Mama gesagt. Weil du hast doch Geburtstag«, erklärte die Kleine mit ernster Miene.

Sam ging das Herz auf, als sie sah, wie liebevoll Marc mit den Kindern umging. Ihnen waren mehrere Erwachsene gefolgt.

»Claire!«, wurde eine Frau von Marc begrüßt. »Vor euch ist man nirgendwo sicher!« Er lachte.

»Alles Gute, kleiner Bruder! Nein, du entkommst uns nicht, ganz egal, wo du dich versteckt hältst. Dank Jonas konnten wir dich ausfindig machen.« Sie sah zu Sam. »Hallo! Ich nehme an, du bist Sam?«

»Ja, die bin ich!«, erwiderte diese und reichte ihr die Hand.

»Ich freue mich, dich kennenzulernen. Wie es aussieht, bekommst du heute die geballte Ladung Familie zu spüren. Unser kleiner Bruder macht sich gern mal an seinem Geburtstag aus dem Staub. Aber den Dreißigsten sollte man nicht allein verbringen. Daher sind wir ihm nachgereist. Sylt ist ein durchaus lohnenswerter Ort. Außerdem wollten wir die Frau kennenlernen, die es mit einem Schlägertrupp aufnimmt, um unseren Bruder zu retten.«

Sam schoss augenblicklich die Röte in die Wangen. »Na ja«, stammelte sie verlegen. »Das hätte jeder andere auch getan.«

»Da bin ich mir nicht sicher. Jetzt komm mit, ich stelle dich den anderen vor. Maren! Rebecca! Kommt doch eben mal!«

»Rebecca ist Grafikerin, und Maren arbeitet als freie Journalistin«, erklärte Marc. »Ich sage dir, mit drei Schwestern aufzuwachsen, ist kein Geschenk.«

»Pass bloß auf und werde nicht frech, kleiner Bruder!«, scherzte Claire und hob mahnend den Zeigefinger.

Nach den Schwestern lernte Sam Marcs restliche Familie kennen. So viel Wärme und Liebe unter den Familienmitgliedern trieb ihr vor Rührung die Tränen in die Augen. Wie gerne wäre sie Teil einer solchen Familie. Sie selbst hatte außer Tom niemanden. Marc schien ihre Gemütslage zu erkennen und legte behutsam einen Arm um sie.

»Du hast ihr Herz im Sturm erobert«, sagte er. Dann zögerte er einen Moment, bevor er weitersprach. »Claire ist übrigens Ärztin. Ihr Spezialgebiet ist die plastische Chirurgie. Sie kann dir vielleicht helfen, deine Narbe ein bisschen unauffälliger zu machen, falls das dein Wunsch ist. Mich stört sie nicht.«

»Mal sehen. Gib mir ein bisschen Zeit, mich zu entscheiden«, erwiderte Sam.

»Niemand drängt dich. Es ist allein deine Entscheidung.«

Sie verbrachten viele unbeschwerte Stunden gemeinschaftlich am Strand. Es wurde erzählt, gelacht und reichlich gegessen und getrunken. Jonas hatte mit Kims Hilfe ein wundervolles Picknick organisiert.

»Du hättest mir ruhig einen Tipp geben können, dass Marc heute Geburtstag hat«, bemerkte Sam, als sie mit Kim für Getränkenachschub sorgte.

»Dann wäre es keine richtige Überraschung geworden.« Sie strahlte.

»Wie läuft es mit Tom?«

»Er ist unglaublich!«, verfiel Kim ins Schwärmen. »Er ist aufmerksam, unglaublich charmant und zuvorkommend.«

»Stopp, bevor du ihn auf einen Sockel hebst und zur Gottheit machst, solltest du wissen, dass er ein absolutes Arbeitstier und ein Kontrollfreak ist«, gab Sam ihr zu verstehen.

»Das stört mich nicht. Ich fahre morgen mit ihm nach Hamburg.«

»Oh.« Sam konnte sich nicht erinnern, wann ihr Bruder zuletzt ein weibliches Wesen – abgesehen von der Reinigungskraft – in seine eigenen vier Wände gelassen hatte.

»Von da aus begleite ich ihn auf eine Geschäftsreise nach Südamerika«, fuhr Kim fort.

»Das klingt vielversprechend. Ich freue mich sehr für euch«, gestand Sam. »Willkommen in der Minifamilie Bachner. Aber was ist mit deinem Job im Hotel?«

»Britt vertritt mich. Und was danach kommt, muss ich abwarten. Ich werde das entscheiden, wenn ich weiß, wer Feldtmanns Nachfolger wird«, erklärte Kim. »Was ist mit dir? Bleibst du auf Sylt?«

»Das habe ich vor«, erwiderte Sam. »Ich bin quasi eben erst hier angekommen, und ansonsten gefällt es mir sehr gut auf der Insel.«

»Sicher bist du erleichtert, dass die Sache jetzt überstanden ist. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Torben mit Drogen dealt und sogar zu einem Mord fähig ist. Dir war er ja von Anfang an suspekt.«

»Sagen wir mal, wir waren uns nie besonders sympathisch. Einen Mord hätte ich ihm allerdings auch nicht zugetraut«, gab Sam zu.

»Patrick sagt, dass Torben in der Vergangenheit schon mit Drogen zu tun hatte. Seine Mutter ist mit ihm nicht mehr fertig geworden, deshalb hat ihn Feldtmann unter seine Fittiche genommen«, berichtete Kim.

»Meinst du, Feldtmann hat gewusst, dass er immer noch Drogen verkauft?«

»Wie ich Patrick verstanden habe, wusste er davon und hat ihm ein Ultimatum gestellt, damit aufzuhören.«

Sam musste bei Kims Worten an das Streitgespräch zwischen den beiden neulich denken, bei dem sie ungewollt Zeuge geworden war. »Hat anscheinend nicht besonders gut funktioniert. Ich frage mich die ganze Zeit, ob er das Messer mit der Absicht, Alex damit umzubringen, aus meiner Wohnung mitgenommen hat? Um mir die Sache letztendlich anzuhängen, wenn irgendetwas schief gehen sollte? Und das ist es ja letztendlich.«

»Zuzutrauen wäre es ihm nach alledem. Das Messer diente zur Absicherung, da er nicht wissen konnte, ob du oder Alex ihn in der Drogensache verpfeifen würdet. Alex hat ihn gesehen und fotografiert. Wir wissen nicht, ob Torben das wusste.«

»Davon gehe ich aus. Deshalb hat er ihn getötet, sei es auch bloß im Affekt gewesen.«

»Tja, und du hättest ihm bei seinen Geschäften gefährlich werden können. Schließlich hast du die Tabletten in der Schublade gefunden. Daher musste er dich auf andere Weise ausschalten, indem er dir das Zeug untergeschoben hat«, fasste Kim zusammen.

»Abscheulich, das alles. Traurig und abscheulich. Damit meine ich auch den Betrug von Feldtmann.« Sams Blick wanderte nachdenklich zum Horizont.

»Stimmt. Aber ein schwacher Trost bleibt.« Sam sah Kim fragend an. »Die wahren Täter wurden überführt und sitzen alle hinter Schloss und Riegel.«

»Ja, wenigstens das.«

Marc war gerade im Begriff, einen Scampi seines schützenden Panzers zu berauben, als Tom an ihn herantrat.

»Kannst du bitte kurz kommen?«, bat er ihn.

Dann winkte er Sam zu sich und entfernte sich mit beiden ein paar Meter von der Gruppe.

»Was ist los, Tom?«, fragte Sam nervös.

»Ich möchte euch einen Vorschlag machen.«

»Einen Vorschlag?«, wiederholte Marc.

»Ich habe heute Vormittag ein ausführliches Telefonat mit Beate Brühling geführt. Nachdem Manfred Feldtmann dem Hotel durch seine Betrügereien einen nicht unerheblichen Schaden zugefügt hat, will sie es verkaufen und sich endgültig aus dem Geschäftsleben zurückziehen. In Anbetracht ihres Alters und Gesundheitszustandes will sie noch ein bisschen was von der Welt sehen und die ihr verbleibende Zeit nicht mit Zahlenkolonnen und Bilanzen verbringen.«

»Kann ich nachvollziehen«, bemerkte Marc.

»Was geschieht dann mit dem Hotel?«, bohrte Sam nach. »Verliere ich etwa meinen Job?«

»Um es kurz zu machen: Ich werde es übernehmen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja, Sam. Es wird seine Einzelstellung behalten und nicht in der übrigen Hotelkette aufgehen. Daher möchte ich euch fragen, ob ihr die Leitung des Hotels übernehmen möchtet.«

Sam und Marc sahen einander sprachlos an.

»Wir?«, antworteten sie wie aus einem Mund.

»Das wäre auch Beates Wunsch. Du, Marc, hast BWL studiert und warst im Vertrieb tätig, daher denke ich, du wärst der Aufgabe gewachsen. Und du, Samaya, könntest die Leitung und den Ausbau des Sportbereichs übernehmen. Ich würde den Schwerpunkt gern mehr darauf legen. Was sagt ihr?« Er sah sie nacheinander an.

»Das ehrt mich sehr, Tom. Außerdem klingt das Angebot äußerst verlockend«, gab Marc zu.

»Ihr müsst euch nicht sofort entscheiden. Denkt in aller Ruhe in den nächsten Tagen über mein Angebot nach.«

»Das haut mich ein wenig um«, gestand Sam.

»Dachte ich mir.« Tom grinste. Dann zog er einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und reichte ihn Sam. »Da wäre noch etwas. Hier!«

»Was soll ich damit?«

»Das sind die Schlüssel zu deinem neuen Heim. Ich nehme an, dass du nach den Vorkommnissen nicht mehr allzu gerne in deiner aktuellen Wohnung leben möchtest. Und außerdem möchte ich, dass meine zukünftigen Manager standesgemäß wohnen. Habt ihr eigentlich vor, demnächst zusammenzuziehen? Dann würde ich den Inneneinrichter entsprechend instruieren.«

»Tom! Wie oft soll ich es dir noch sagen …«, plusterte sich Sam auf.

»Dass du kein Geld von mir willst, ich weiß. Spring bitte einmal über deinen Schatten und sei nicht so furchtbar stolz! Wenn du unbedingt willst, kannst du mir auch Miete zahlen«, versuchter er, sie zu besänftigen.

Als sie in die warmherzigen Augen ihres Bruders blickte, konnte sie ihm nicht länger böse sein. »Danke, Tom! Du bist wunderbar!« Sie schloss fest ihre Arme um ihn.

Die Sonne verabschiedete sich mit einem spektakulären Schauspiel vom Tag und versank glutrot im Meer. Unzählige Handys wurden hochgehalten, um diesen Moment für immer festzuhalten. Sam und Marc standen Hand in Hand oben auf der Promenade und blickten auf den Horizont.

»Meinst du, wir schaffen das?«, fragte Sam.

»Was genau?«, erkundigte sich Marc.

»Alles. Unsere Beziehung, das Hotel und alles, was noch kommt«, erwiderte Sam.

»Natürlich schaffen wir das. Wir sind das perfekte Team, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.« Er spitzte verschwörerisch die Lippen.

»Versprichst du mir etwas?«

»Alles, was du willst.«

»Nenn mich niemals Engel!«

Er lachte und küsste sie anschließend auf die Stirn. »Versprochen.«

Sam lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und war einer der glücklichsten Menschen auf Sylt.

Die Autorin

Sibylle Narberhaus wurde 1968 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt und arbeitet die gelernte Versicherungsfachwirtin in der Nähe von Hannover. Schon früh entwickelte sie eine große Liebe zur Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie „ihrer“ Lieblingsinsel einen Besuch ab. Bei ausgedehnten Strandspaziergängen bei Wind und Wetter entstehen immer neue Ideen für ihre Geschichten rund um Sylt. Ihr erster Krimi „Syltleuchten“ erschien 2017 im Gmeiner Verlag. 2018 erschien „Mittsommernachtsangst“ im acabus Verlag und „Syltstille“ im Gmeiner Verlag.




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Prolog

Die Temperatur lag nur knapp über dem Gefrierpunkt. Es war Ende November, und die Dunkelheit hatte sich schleichend über den Tag gelegt und somit sein nahendes Ende unverkennbar eingeläutet. Wenn er noch lange hier stehen würde, würde er sich eine dicke Erkältung einhandeln, vielleicht eine Grippe oder sogar eine Lungenentzündung. Automatisch griff er mit der rechten Hand in seine Jackentasche und tastete nach dem Nasenspray. Er inhalierte zwei Stöße und ließ es zurück in die Tasche gleiten. Gleich fühlte er sich besser. Langsam wurden seine Füße kalt. Mittlerweile hatte es obendrein zu regnen begonnen. Er trat von einem Fuß auf den anderen und bewegte die Zehen, damit sie warm wurden, machte jedoch keine Anstalten, seinen Posten aufzugeben. Regen tropfte vom Schirm seiner Mütze. Seinen Blick hielt er auf das Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite gerichtet. Das Haus lag in einer ruhigen Wohngegend am Stadtrand mit hübsch angelegten und gepflegten Gärten. Die Hecken waren selbst jetzt im Winter akkurat in Form gebracht worden. Plötzlich nahm er eine Bewegung wahr. Sein Warten wurde belohnt. Licht erhellte eines der zur Straßenseite hin gelegenen Fenster. Dann sah er sie. Ein wohliges Kribbeln breitete sich in seiner Körpermitte aus. Er konnte erkennen, wie Sie vor dem Fenster auf- und abwanderte und dabei telefonierte. Zwischendurch lachte sie immer wieder. Es fiel ihm schwer, sich an ihrem Anblick sattzusehen. Was war sie für ein wundervolles Wesen, geradezu von göttlicher Schönheit. Sie bewegte sich mit einer Grazie, die er selten bei einer Frau gesehen hatte. Dazu dieses mitreißende Lachen! Eines Tages würde sie ihm gehören, es brauchte nur Geduld. Allein diese Vorstellung war der Motor für den Antrieb und die Kraft, sein Ziel unbeirrt zu verfolgen. Doch im Augenblick war es zu früh, sich ihr vollkommen zu offenbaren. Der Moment musste wohl überlegt sein, alles musste perfekt sein. So wie sie. Als sie plötzlich mitten in der Bewegung abrupt stehen blieb und in seine Richtung blickte, fühlte er sich ertappt und trat sofort ein paar Schritte tiefer in den Schutz der Dunkelheit. Hatte sie ihn womöglich gesehen? Hatten ihn seine Träumereien unvorsichtig werden lassen? Während er grübelte, drehte sie ihm den Rücken zu, ohne die Vorhänge zuzuziehen. Erleichterung machte sich mit jedem Zentimeter, den sie sich bewegte, in ihm breit. Nun konnte er erkennen, dass das Gespräch offenbar beendet war, denn sie hielt das Telefon nicht länger an ihr Ohr. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld, der Raum blieb jedoch erleuchtet. Gerade als er überlegte, den Rückzug anzutreten, tauchte sie erneut am Fenster auf. Sie hatte sich zwischenzeitlich umgezogen und trug jetzt ein Nachthemd, unter dem sich ihre Rundungen deutlich abzeichneten, und das lange Haar fiel ihr in blonden Wellen über den Rücken. Wie gebannt starrte er durch das Fenster. In Gedanken fuhr er mit den Fingern durch die seidenen Locken und umfasste mit seinen Händen ihre festen Brüste. Er musste unwillkürlich schlucken, und trotz der Kälte, die ihn umgab, wurde ihm glühend heiß. Umgehend zerrte er an seinem Schal, den er fest um den Hals gewickelt hatte, denn ihn überkam gleichzeitig das Gefühl zu ersticken. Bevor seine Fantasie überhandnehmen konnte, zog sie die Vorhänge zu.

»’Nabend!«

Als er durch eine Stimme neben sich aus seinen Träumereien gerissen wurde, erschrak er beinahe zu Tode. Tief in Gedanken hatte er die Welt um sich herum gänzlich ausgeschaltet. Die Begrüßung kam von einer Frau, die mit ihren beiden Zwergpudeln einen abendlichen Spaziergang machte. Widerwillig erwiderte er ein »Guten Abend« und machte sich dann auf den Heimweg. Morgen war auch noch ein Tag. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, klemmte er eilig eine rote Rose hinter den Scheibenwischer ihres Wagens, auch auf die Gefahr hin, dass die empfindliche Blume bis zum nächsten Morgen durch die Kälte Schaden nehmen würde. Er näherte sich seinem Ziel Stück für Stück.

* * *

»Das letzte Mal Sport mit der 8b«, murmelte sie vor sich hin, als sie morgens kurz vor 7.30 Uhr die Umkleidekabinen der Turnhalle aufschloss. Dabei wurde sie von einem Anflug von Wehmut erfasst. Mit dem klappernden Schlüsselbund in der Hand marschierte sie den langen Gang entlang bis zu der schweren Doppeltür, hinter der sich die eigentliche Sporthalle befand. Als sie die Tür öffnete wie jeden Morgen, schlug ihr der typische Geruch von Bohnerwachs in Kombination mit Desinfektionsmitteln in einem gewaltigen Schwall entgegen. Eine abscheuliche Mischung, doch heute entlockte ihr dieser Chemiecocktail lediglich ein schwaches Lächeln. Zielstrebig steuerte sie auf die verglaste Front zu und betätigte die Schalter der automatischen Fensteröffner, um frische Luft hereinzulassen. Schließlich wollte sie vermeiden, dass ihre Schüler gleich mit Beginn der ersten Stunde in Ohnmacht fielen. Als nächstes schloss sie die Metallschränke auf und holte das Netz mit den Volleybällen hervor. In ein paar Tagen begannen die Sommerferien, und das alte Schuljahr war beendet. Für sie würde nicht nur ein Schuljahr mit zu korrigierenden Klausuren, anstrengenden Elternabenden und -sprechtagen sowie nicht enden wollenden Zeugniskonferenzen zu Ende gehen, sondern auch ihre berufliche Schullaufbahn. Nach reiflicher Überlegung hatte sie sich dazu entschlossen, den Schuldienst an den Nagel zu hängen. Noch war sie jung genug, um einen Neustart zu wagen. Irgendwann war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass man nicht aufhören sollte, seinen Zielen und Wünschen zu folgen. Doch je älter man wurde, desto mehr verließ einen der Mut. Das hatte sie oft bei ihren Mitmenschen beobachtet. Begriffe wie Sicherheit und Gewohnheit, letztendlich auch Bequemlichkeit rückten immer weiter in den Fokus und spielten am Ende eine entscheidende Rolle. Diese Attribute ergriffen zunehmend Besitz von einem und machten ein Stück weit träge. Vermutlich mischte sich zu alledem auch eine Portion Feigheit, die Angst vor der Ungewissheit. Aus dem gewohnten Trott auszubrechen, kostete eine Menge Entschlossenheit, das stand außer Frage. Prinzipiell mochte sie ihre Arbeit und auch die meisten ihrer Schüler, aber sie war in der letzten Zeit nicht mehr richtig glücklich gewesen. Damals war sie mit klar definierten Vorstellungen in diesen Beruf gegangen, hatte jedoch im Laufe der Zeit feststellen müssen, dass die Realität ernüchternd anders aussah. Manchmal hatte sie das Gefühl, gegen eine dicke Wand aus Ignoranz und Sturheit anzurennen, die sich nicht durchbrechen ließ, so sehr sie sich anstrengte. Es mangelte an Spielraum für eigene Ideen, jedenfalls an ihrer Schule. Oft lag die Ursache dafür schlichtweg am fest definierten Lehrplan, was wiederum sehr frustrierend war. Für sie gab es jetzt kein Zurück mehr, aber sie war überzeugt, ihre Entscheidung niemals bereuen zu werden. Eine Gruppe Schüler, die in die Turnhalle geschlurft kam, riss sie aus ihren Grübeleien.

»Morgen, Frau Bachner«, grummelten einige Teenager vor sich hin. Sie wirkten alles andere als ausgeschlafen. Immerhin nahmen sie ihre Lehrerin überhaupt zur Kenntnis. Sie konnte sich glücklich schätzen und honorierte diese Zuwendung mit einem Schmunzeln. Erwachsene zu grüßen – von Lehrern einmal ganz zu schweigen – galt bei einigen Jugendlichen als uncool und war etwas für Streber und Schleimer. Davon abgesehen empfanden sie Schule ohnehin als ätzend und obendrein als pure Zeitverschwendung. Alles, was man fürs Leben wissen musste, konnte man sich jederzeit bequem vom heimischen Sofa aus über das Internet aneignen. Wozu sollte man sich also den ganzen Tag in einem öden Klassenzimmer aufhalten? Diese Auffassung musste sie sich ein ums andere Mal anhören.

»Guten Morgen, ihr könnt euch schon warm machen. Zehn Runden einlaufen, hopp«, trieb sie die müde Meute vorwärts, und stellte die Musikanlage an, die auf ihr Bestreben hin für die Schule angeschafft worden war. Sie versuchte, ihre Schüler stets zu motivieren, was nicht immer einfach war, daher untermalte sie den Sportunterricht gerne mit aktueller Musik. Leider rückte das Interesse für sportliche Aktivitäten für einige Schüler weit in den Hintergrund. Das galt im Übrigen für beide Geschlechter. Viele Jugendliche verbrachten ihre Freizeit auf dem Sofa vor dem Fernseher oder Computer und stopften sich mit Chips oder Süßigkeiten voll.

Das Klingeln zur ersten Stunde ertönte und zwischenzeitlich war die gesamte Klasse vollzählig eingetrudelt. Die Schüler liefen brav ihre Runden, bis auf einige, die ihre Sportsachen vergessen hatten oder eine mehr oder weniger glaubwürdige Entschuldigung der Erziehungsberechtigten vorlegen konnten. Als ihre Lehrerin kannte sie die Ausreden, ohne die Entschuldigungsschreiben überhaupt lesen zu müssen. In den meisten Fällen waren es ohnehin immer dieselben Gesichter, die am Rand saßen. Doch heute, unmittelbar vor den Ferien, wollte sie sich nicht mehr darüber ärgern.

»Handys weg!«, forderte sie die vier Turnbeutelvergesser auf, die seitlich an der Wand wie die Hühner auf der Stange auf der Bank saßen.

»Ach, Mensch, Frau Bachner«, maulte einer von ihnen.

»Handys in die Taschen! Sofort! Wir befinden uns noch immer im Unterricht, auch wenn ihr nicht aktiv daran teilnehmt. Ihr könnt aber gerne eine Theorieaufgabe bekommen, wenn euch das lieber ist«, stellte sie klar und versuchte dabei, eine strenge Miene aufzusetzen, um ihrer Autorität mehr Ausdruck zu verleihen. Da sie trotz ihrer Ende zwanzig sehr jugendlich wirkte, wurde ihr manchmal von den Schülern nicht der nötige Respekt entgegengebracht. »Das gilt auch für dich, Janette! Los!«

»Schon gut, bleiben Sie mal hübsch geschmeidig!«, erwiderte das Mädchen demonstrativ gelangweilt und zog eine Grimasse. Trotzdem zeigte die Androhung Wirkung und die heiß geliebten Smartphones wurden, wenn auch nur widerwillig und unter Murren, in den Rucksäcken verstaut.

Nachdem die Doppelstunde zu Ende war, schickte sie die Schüler zum Duschen. Aber auch das sollte in Zukunft nicht mehr ihre Sorge sein. Sie war froh, sich nicht länger um die Lücken kümmern zu müssen, die in der häuslichen Erziehung entstanden waren. Einige Eltern waren augenscheinlich nicht in der Lage, ihren Sprösslingen die grundlegenden Werte mit auf den Weg zu geben. Und das bezog sich nicht nur auf das Thema Körperpflege. Sie atmete tief durch und verließ die Turnhalle.

Nach der großen Pause genoss sie eine Freistunde, bevor sie in einer der zehnten Klassen Deutschunterricht gab. Sie saß allein im Lehrerzimmer und trank einen Becher des schwarzen Gebräus, das den Namen Kaffee nicht annähernd verdient hatte. Möbelbeize wäre wohl die treffendere Beschreibung. Keine Ahnung, wer ihn heute Morgen aufgesetzt hatte. Die Person war entweder mit dem falschen Fuß aufgestanden oder wollte sich an den Kollegen rächen – wofür auch immer. Sie war gerade in einen Artikel über Trendsportarten in einer Zeitschrift vertieft, als die Tür aufflog und ihr Kollege Achim Wagner hereinpolterte. Er trug wie immer eine ausgewaschene Jeans mit ausgebeulten Knien sowie ein schlabbriges Sweatshirt, das sie höchstens zur Gartenarbeit anziehen würde. Auf sein Äußeres legte er nie besonders viel Wert, hielt sich aber trotz allem für unwiderstehlich mit seiner lässigen Art, die er täglich aufs Neue unter Beweis zu stellen versuchte. Bei den Schülern genoss er nicht sonderlich viel Sympathie. Die Resonanz auf sein Verhalten im Lehrerkollegium hielt sich die Waage. Sein krampfhaftes Bemühen, cool und jugendlich zu wirken, überschritt regelmäßig die Grenze zum Peinlichen. Doch das schien ihn in keiner Weise zu verunsichern, geschweige denn zu stören.

»Hallo, Samaya, wie fühlt man sich kurz vor der Entlassung in die freie Welt?«, fragte er mit spöttischem Unterton und ließ seine uralte Ledertasche, die an einigen Stellen speckig glänzte, laut auf den Tisch knallen. Achim war der einzige unter den Kollegen, der sie durchweg mit ihrem vollen Vornamen ansprach. Sonst wurde sie von allen nur Sam genannt. Achim Wagner war ihr von der ersten Minute an unsympathisch gewesen. »Was liest du da?«, erkundigte er sich mit gerunzelter Stirn.

»Hallo, Achim! Nichts, was dich interessieren würde. Und ehrlich gesagt, kann ich es kaum erwarten, Leute wie dich nicht länger ertragen zu müssen«, entgegnete sie, ohne von ihrer Zeitschrift aufzusehen. Endlich konnte sie auf die aufgesetzte Freundlichkeit, mit der sie ihm stets begegnet war, verzichten. Nicht mehr lange und er gehörte ebenfalls ihrer Vergangenheit an. Sie sehnte den Augenblick herbei, da dieser Mann endgültig aus ihrem Leben verschwand.

»Oh, was sind wir bloß heute wieder gereizt, Engel«, ließ er nicht locker, nahm Platz und lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück. Dann zog er ein Nasenspray aus der Tasche und nahm lautstark zwei Züge. »Was hatten wir für eine schöne Zeit!«, seufzte er theatralisch.

Er verschränkte beide Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und sah sie herausfordernd mit seinem selbstgefälligen Grinsen an. Sie versuchte, sich nicht von seinem provokanten Verhalten beirren zu lassen.

»Weißt du was, Achim?« Sie drehte sich zu ihm um. »Lass mich einfach in Ruhe, okay? Ich dachte, das Thema hätten wir endgültig geklärt. Und nenn mich nicht Engel!«, setzte sie nach.

Er lachte übertrieben. »Sieh dich an! Deine blauen Augen und dein blond gelocktes Haar! Das ist doch engelsgleich. Obwohl dein Wesen eher das Gegenteil verkörpert.« Er deutete mit seinen Zeigefingern zwei Teufelshörner an.

Sie verspürte eine unangenehme Kälte in seinem letzten Satz, ging jedoch nicht darauf ein, sondern verstaute wortlos die Zeitschrift in ihrer Tasche, hängte sich diese über die Schulter und marschierte an ihm vorbei nach draußen. Im Vorbeigehen schlug ihr der Geruch seines aufdringlichen Rasierwassers entgegen, das sie in der Nase kitzelte.

»Denk dran, man sieht sich immer zweimal im Leben, Engel!«, rief Achim ihr laut lachend hinterher, aber sie tat, als wären seine Worte nicht mehr bis zu ihr vorgedrungen. Sie wusste nur eines, sie brauchte dringend frische Luft. Im Türrahmen stieß sie beinahe mit einem weiteren Kollegen zusammen: Thilo Moll.

»Hoppla! Wohin so eilig?«, fragte er und wich ihr in letzter Sekunde aus.

Doch sie rauschte wortlos an ihm vorbei. Thilo sah ihr verwundert nach. Gleich darauf tat es Sam leid, dass sie ihm kaum Beachtung geschenkt hatte, aber sie war zu wütend gewesen. Er war die Unscheinbarkeit in Person und es vermutlich gewohnt, des Öfteren übersehen zu werden, aber niemals von ihr. Thilo Moll war einer der stillen Vertreter seiner Zunft. Stets um die Sympathien und das Wohlwollen seiner Mitmenschen bemüht – wenn auch erfolglos, unterrichtete er Physik und Chemie an der Schule. Nicht gerade die absoluten Lieblingsfächer, mit denen er wenigstens in dieser Hinsicht hätte punkten können. Thilo versuchte, mit jedem gut auszukommen. Im Gegensatz zu Achim Wagner reizte er Sam nicht ständig mit Machosprüchen oder zweideutigen Bemerkungen – im Gegenteil –, er versuchte, sie zu unterstützen, wo er konnte. Zuweilen empfand sie diese kollegiale Fürsorge jedoch als regelrecht erdrückend, auch wenn seine Absicht lediglich freundlich gemeint war. Schließlich war sie kein kleines Mädchen mehr, das sich nicht allein in der Welt zurechtfand und an die Hand genommen werden musste. Böse Zungen behaupteten, Thilo hätte noch nie eine Freundin, geschweige denn überhaupt jemals etwas mit einer Frau gehabt.

»Was ist denn in unsere Kollegin gefahren?«, erkundigte sich Thilo Moll bei Achim, der mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl lümmelte.