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ZU DEN AUTOREN

MAURICIO ROSENCOF

Geboren am 30. Juni 1933 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Polen in Florida/Uruguay. Schriftsteller und Dramaturg. Führendes Mitglied der Stadtguerilla MLN-Tupamaros. 1972 verhaftet, nach dem Militärputsch ein Jahr später zusammen mit acht weiteren Gefangenen von den Militärs entführt und in Kasernen des Landes als Geisel des Staates in Isolationshaft gefangen gehalten. Freilassung 1985 nach dem Ende der Diktatur. Unter der Regierung des Linksbündnisses Frente Amplio Kulturdirektor von Montevideo. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane »Der Bataraz« und »Die Briefe, die nicht ankamen«. Außerdem erschienen von ihm in deutscher Übersetzung »Hundeleben«, »Das Lied im Kieselstein« und »Als der Kerker zur Theaterwerkstatt« wurde.

ELEUTERIO FERNÁNDEZ HUIDOBRO

Genannt »el Ñato«, geboren am 14. März 1942 als Sohn spanischer Einwanderer in Montevideo, gestorben am 5. August 2016. Gründungsmitglied und theoretischer Kopf der Stadtguerilla MLN-Tupamaros. Mehrfach verhaftet, Flucht aus dem Gefängnis. Nach dem Militärputsch 1973 als Geisel des Staates in Isolationshaft. Freilassung 1985. Reorganisation der Tupamaros als politische Partei. Historiograf der Bewegung, zahlreiche Bücher. Senator für das Linksbündnis Frente Amplio und Verteidigungsminister des Landes von 2011 bis zu seinem Tod.

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Mauricio Rosencof
Eleuterio Fernández Huidobro

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Kerkerjahre

Als Geiseln der
Militärdiktatur in Uruguay

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Aus dem Spanischen
von Lydia Hantke

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Titel der Originalausgabe:

»Memorias del calabozo«, Montevideo 1987/88

© Mauricio Rosencof / Eleuterio Fernández Huidobro 1987–1988

By arrangement with Literarische Agentur Mertin,

Inh. Nicole Witt e.K., Frankfurt am Main

Das Buch erschien in einer ersten Auflage 1990

unter dem Titel »Wie Efeu an der Mauer«

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Berlin, Hamburg 1990; überarbeitete Neuauflage 2019

Assoziation A, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

www.assoziation-a.de

hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de

Gestaltung: Andreas Homann, Satz: Kerstin Davies

ISBN 978-3-86241-466-6

eISBN 978-3-86241-630-1

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Widmung

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WIR WIDMEN DIESES BUCH

Simón Riquelo, Mariana Zaffaroni, Beatriz, Wáshington und Andrea Hernández, den Kindern von Maria Asunción Artigas, Aída Sanz, Blanca Altman, María Emilia Islas, Yolanda Casco, verschwundenen Kindern unseres Volkes, wo immer sie auch sein mögen; Adolfo Wasem (MLN), Ada Burgueño (Grupos de Accion Unificadora), María del Rosario Carretero (Partido por la Victoria del Pueblo), Eduardo Bleier (Partido Comunista), Oscar Baliñas (Frente Izquierda de Liberación), Luis Batalla (Partido Demócrata Cristiano), Oscar Bazzino (Partido Obrero Revolucionario), Gilberto Coghlan (Resistencia Obrero Estudiantil), Oscar Fernández (Partido Comunista Revolucionario), Roberto Gomensoro (Movimiento 26 de Marzo), Iván Morales (Organización Popular Revolucionaria 33), Manuel Toledo (Partido Socialista), Zelmar Michelini (99), Héctor Guitiérrez Ruiz (Partido Nacional), Enrique Erro (Unión Popular) … und mit ihnen allen Gefallenen unseres Volkes im Kampf um seine Befreiung.

Die Toten haben keine Losung. Sie sind die Losung.

Wir rufen die Überlebenden jeder Untergrundarbeit, des Exils und der Gefängnisse brüderlich auf, ihr Zeugnis abzulegen und gemeinsam dem Schmerz, den Opfern und dem Heldenmut des uruguayischen Volkes in diesen kämpferischen Jahren ein Denkmal zu setzen.

Damit es nicht vergessen wird. Damit es weithin sichtbar ist. Damit es Kraft gibt. Damit es wachrüttelt. Damit es Wege aufzeigt …

DIE AUTOREN

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Erstes Buch

»WIR WERDEN SIE IN DEN WAHNSINN TREIBEN«

DIE GESETZE DES IRREALEN

SEKT

DER MOND IN DER GRUFT

PLANMÄSSIGE DURCHFÜHRUNG EINER MILITÄRISCHEN OPERATION

GAVAZZO ÜBERMITTELT UNS DAS TODESURTEIL

»HUMANER, ALS SIE SO ZU BEHANDELN, WÄRE ES, SIE ZU ERSCHIESSEN«

TRÄNEN EINES KLEINEN MÄDCHENS

SCHLAG UM SCHLAG: 6-18-15-8-5-19-6-5-19-20

WIEDER EINER VON INSGESAMT 45 TRANSPORTEN

DER HERR KOMMANDANT VERFÜGT, IN WELCHER STELLUNG WIR ZU SCHEISSEN HABEN

NACHRICHTENAGENTUR UND SCHACH

SPUREN VERSCHWUNDENER GENOSSEN?

GENERAL GREGORIO ÁLVAREZ IN DEN KERKERN

WIDERSTAND LEISTEN

»MEIN VATER HAT KEINE HÄNDE«

»GENOSSE«

KERKER MIT GRENZLINIE

WO DIE ZIVILISTEN »PICHIS« SIND

OBERST COCA-COLA

DIE GELÜSTE DER MILITÄRS

DIE PLÜNDERUNG DER CHARRUAS UND DIE INFORMATION AN DIE TOTEN

AUCH HIER WIRD GEKÄMPFT

MILITÄRKRANKENHAUS, SAAL 8, I

MILITÄRKRANKENHAUS, SAAL 8, II

GESPRÄCH ZWISCHEN VERRÜCKTEN

LANGE REISE ZUR GERECHTIGKEIT

IHR MÜSST ÜBERLEBEN!

DER SCHWARZE PANTHER

DIE IRDISCHEN GÜTER

WIE DAS HEER EINEN MANN ZUM SOLDATEN MACHT

EINE NEUE FOLTERRUNDE

TRABAL

DIE ZEIT: DIESER DICKFLÜSSIGE SIRUP

»MEINE DUSCHE BEDIENE ICH SELBER, VERDAMMT!«

DIE PSYCHOLOGIE DES LEUTNANTS

DAS EKEL

GESCHICHTE EINES ROSAROTEN PISSPOTTS

TECHNIKEN DER VERTEIDIGUNG

DIE WELT DER SINNE

WENN DIE WIRKLICHKEIT IN DEN TRÄUMEN LIEGT

SCHMIERSEIFE: OBERST, MEISTER PROPER: GENERAL

DER GEGENSTAND FRAU UND DIE ÖLKRISE

ROSARIO, WILLI, TOBA, ZELMAR

HUNGER UND SADISMUS

»MIT DIESEM WURM WOLLEN WIR NICHT REDEN«

»WIR MÜSSEN CARTER AUS DEM WEG RÄUMEN«

GESUCH BEIM MILITÄRGERICHT

GLÜCK IM UNGLÜCK

SO EIN AUFWAND FÜR DREI SKELETTE!

»ANSTÄNDIGE LEUTE SPRECHEN NICHT VON MENSCHENRECHTEN«

»DIESE TYPEN SIND IRRE GEFÄHRLICH«

DIE MENTALITÄT DES GOYO

GÄNSEMARSCH

ONASSIS

DER SEIFENCODE UND »SCHLAGT ZU, SCHLAGT ZU!«

DIE ARCHITEKTEN DES LEIDES

WAS KOMMEN WIRD

Zweites Buch

DIE SCHLACHT UM DIE HAARE

DAS ZENTRUM DER REKRUTENAUSBILDUNG

VERSTÜMMELUNGEN

»PECH GEHABT!«

GROSSPUTZ

DER VERLUST DER BÜCHSEN

PANIK IN DEN AUGEN

SELBST DER TOD SPIELT MIT UNS

WASSER AUF REZEPT

DIE SCHLAPPEN AUS PUNTA DE RIELES

KINDER ALS FOLTERKNECHTE

DER KIEBITZ

»PHILANTHROPEN«

DIE VERLEGUNG VOM 1. AUGUST

BAULICHE ERRUNGENSCHAFTEN 1

DREI GRANATEN

SENDIC FEGT

GESPENSTERPATROUILLEN

KLASSENKAMPF

SYMBIOSE HEER – GROSSGRUNDBESITZ

OCOA 4

QUEIROLO: KÄSE UND NACHTISCH

DU HAST DICH AN MEIN GITTER GESETZT, KLEINE TOCHTER

EIN GEWISSER DANIEL ORTEGA

DER STEIN DES DÄUMLINGS UND DIE MUSCHEL

INFORMATIONSQUELLEN

DAS FOTO VON ALLENDE

STUMME OPERETTE MIT DEM ROTEN KREUZ

BAULICHE ERRUNGENSCHAFTEN 2: DAS LEICHENSCHAUHAUS

DER HORIZONT

»STELLEN SIE SICH NICHT SO AN«

HALTUNG!

WAHLEN UND PUTENEIER

LEKTÜRE UND INTERPRETATION DER GENFER KONVENTION

DER VOLKSENTSCHEID

DER TAG DES VOLKSENTSCHEIDS

DIE NACHT DES VOLKSENTSCHEIDS

EIN GRAUENHAFTES ERLEBNIS

OFFENER HIMMEL

PEPE WIRD ZUM WERWOLF

»EINE KRÄHE HACKT DER ANDEREN EIN AUGE AUS«

UNSER KALENDER: BÜCHSEN, WELTMEISTERSCHAFTEN UND PRÄSIDENTEN

DER SELTSAME HOFGANG VOM 23. OKTOBER 1981

RUSSISCHES ROULETTE

DIE MALWINEN

DIE GROSSE UNSICHERHEIT

IM JENSEITS DER MAUERN WAR NICHTS

WAS KOMMEN WIRD

Drittes Buch

IN DEN KATAKOMBEN

DIE SPUREN VON »FREITAG«

UNTER DEM PODEST DES PAPSTES

»DAS HÄLT KEIN SCHWEIN AUS«

DER BESUCH

HUNGER

DIE DROHUNG

DIE GEISELN

MONTEVIDEO

SPIEGELCHEN

DER UNSÄGLICHE HERR MAJOR

»TRES ARBOLES«

SCHÜTZENDE RINDE

»DIE SAMEN DER SILBERDISTEL VON DER VENUS«

EIGENARTIGE WAHLEN: ZUM WOHL!

PECH GEHABT

WUNDER DER MEDIZIN

OPFER DER KUTTELN

POLITISCHE ANALYSE UND KAMPFPLAN

HUNGERSNOT

DER AUGENARZT

ZEHN JAHRE EINSAMKEIT

SCHLACHTRUF: WIR LEBEN!

DIE SCHLÜSSEL ZU UNSERER LITERATUR

IHR MÜSST ÜBERLEBEN!

VON KOCHTÖPFEN UND PARADEN

DIE GRILLFESTE FÜR ALFONSIN

DER OBELISK

ABGANG MIT MUSIK

DER SCHEUSSLICHE APRIL

ZÖGERN

DONNERSTAG, 12. APRIL 1984

FREITAG, 13. APRIL

SAMSTAG, 14. APRIL

SONNTAG, 15. APRIL

16. APRIL 1984

DIE VERLEGUNG

DIE »INSEL«

MIT VOLLEN BACKEN

DIE OVERALLS

NEPO

DER ERSTE BESUCH

FARBFERNSEHEN

DIE MUSCHEL II

EINE GROSSE ERRUNGENSCHAFT

»ADE, JUNGENS«

LEBEN LÖFFELWEISE

DAS ERSTE FENSTER

VERSCHWUNDEN

DIE MUSCHEL III

ZUM TODE VERURTEILT

»NOCH KANN ICH ETWAS FÜR MEINE GENOSSEN TUN«

DAS ROTE KREUZ

DER PAKT DES MARINECLUBS

BEGRABEN IN EINER ZISTERNE

»AUS EUCH HÄTTEN WIR SEIFE MACHEN SOLLEN«

DER ALTE VOM LAND

MIT DEM GELB-SCHWARZEN HEMD AUF DER BRUST

DIE LEGENDE VOM WILDEN VOGEL

DAS WIEDERSEHEN MIT DEM WORT

HAND IN HAND MIT JULIO, DEM ALTEN GENOSSEN

HAND IN HAND MIT DEM TAMBERO

SENDIC, ZABALZA UND MARENALES

DER OBERLEUTNANT UND SEINE KETTEN

»HÖRT AUF MIT DER SCHEISSE UND ERGEBT EUCH!«

EIN HUNGERSTREIK

IMMER NUR EINER REAGIERT

»IN WELCHEM LAND LEBEN WIR EIGENTLICH, HERR PRÄSIDENT?«

GNADE IHNEN GOTT: DOKTOR FORNO AM WERK!

DIE UMARMUNG VON NEPO

»WASEM, DEIN KAMPF IST UNSER ALLER KAMPF«

DIE WAHLEN

VON DER ABENDDÄMMERUNG ZUM TAGESANBRUCH

ZELLE »HORACIO RAMOS«

DIE STRÜMPFE UND DIE VEREINTEN NATIONEN

NEUJAHR: 1985

DIE MUSCHEL IV – DAS ENDE IHRER GESCHICHTE

BALMELLI UND DIE »GUTE BEHANDLUNG«

DIE BEFREITE MUSIK

DER BRIEF AN SANGUINETTI

15. FEBRUAR 1985: DAS PARLAMENT

DER KNAST STEHT LEER

DER 1. MÄRZ 1985

RAUCHSCHWADEN

AUSCHWITZ

DAS ENDE VON PUNTA DE RIELES

DER VERTEIDIGUNGSMINISTER

DAS GESETZ WIRD VERABSCHIEDET

FAHNEN AM HORIZONT

DIE RINGELBLUMEN BLÜHEN IM ROSAROTEN PISSPOTT

MONTAG, DER 11. MÄRZ 1985

DIENSTAG, 12. MÄRZ 1985

MITTWOCH, 13. MÄRZ 1985

DIE LETZTE VERLEGUNG

»KRAFT, ES FEHLT NICHT VIEL«

DONNERSTAG, 14. MÄRZ 1985: »DER KLEINE HIMMEL DER TUPAMAROS«

VOM KNAST INS KLOSTER

DAS GANZE VIERTEL WAR EIN FEST

DAS AUGENZWINKERN DES ALTEN

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Vorwort

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EDUARDO GALEANO

Einige Male in all den langen Jahren konnten sie sich im Spiegel betrachten: Sie sahen einen anderen. Dünn wie Fakire, aufgerieben durch die unablässige Folter zogen die »Geiseln« der uruguayischen Militärdiktatur von Kaserne zu Kaserne, verdammt zur Einsamkeit der Kerker, die kaum größer waren als ein Sarg. Nicht einmal mit den Dingen konnten sie reden. Es gab keine Gegenstände in den Zellen, da war nichts. Sie schliefen auf dem eisigen Betonboden, aufgeschreckt durch jedes Geräusch der Gitter oder Stiefelschritte, die eine neue Folterrunde ankündigen konnten. Manchmal gab man ihnen nicht einmal Wasser, und sie tranken ihren eigenen Urin. Manchmal verweigerte man ihnen das Essen, und sie aßen Fliegen, Würmer, Papier, Erde. Manchmal geschah ein Wunder: Ein frischer Luftzug trug den Geruch von Orangen durch ein kleines Loch im zugemauerten Fenster, oder einen kleinen Lichtstrahl, vielleicht fand eine Vogelfeder den Weg durch das kleine Loch. Manchmal ertönte an der Wand eine Nachricht des Gefangenen von nebenan: eine Botschaft, erzählt mit den Fingerknöcheln.

Dieses Buch feiert einen Sieg der menschlichen Sprache. Zwei der »Geiseln«, Mauricio Rosencof und »Ñato« Fernández Huidobro rufen auf diesen Seiten ihre Erfahrungen in jenem Reich der Stille und des Terrors wach. Sie erzählen, wie sie, wie Efeu an der Mauer dem Leben verhaftet, ihre Würde als Menschen vor einem System retten konnten, das sie in den Wahnsinn treiben und in leblose Dinge verwandeln wollte.

Die Verständigung, die sie durch ein improvisiertes Morsealphabet aufbauen konnten, war der Schlüssel zu dieser Rettung. Die Finger trommelten, und so eroberten sie sich das Recht auf ihre Stimme, das man ihnen abgesprochen hatte: Durch die Mauern hindurch gaben sie sich Kraft und Trost, diskutierten, teilten Erfahrungen und Wahnvorstellungen, Menschen und Phantome, Erinnerungen und Träume. Jene Musik kleiner Trommeln, jene einfachen Geräusche waren die schönste Sinfonie Beethovens; in ihnen erklang das Wunder des Universums. Dem Mund war es verboten, also sprachen die Finger. Sie sprachen die eigentliche Sprache, die aus der Notwendigkeit zu sprechen geboren wird.

Die Begegnung zwischen Mauricio und Ñato durch die Mauern hindurch enthüllt nicht nur die Kraft der Würde und die Macht des Einfallsreichtums unserer politischen Gefangenen: Dieser faszinierende Dialog ist darüber hinaus das treffendste Symbol für die Niederlage eines Systems, das ganz Uruguay in ein Land von Taubstummen verwandeln wollte.

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Einleitung

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In den 1960er-Jahren stürzt die Oligarchie Uruguay in eine schwere ökonomische Krise – es ist das einzige Mittel, ihre Privilegien zu retten.

Diese Krise zieht andere nach sich: die soziale, die politische, die moralische … Das uruguayische Volk weigert sich, die ungeheuren Konsequenzen zu tragen, die für die Rettung minoritärer und anachronistischer Interessen notwendig wären. Ab 1968 greift die Oligarchie auf die Anwendung systematischer Gewalt zurück. Die Repression schlägt mitleidlos zu. Eine der vielen Formen des Kampfes, die das Volk dem eskalierenden Faschismus entgegensetzt, ist der bewaffnete. Ein organisierter Ausdruck dieses Kampfes sind die Tupamaros.

Im Verlauf des Jahres 1972 erleidet die MLN eine schwere militärische Niederlage. Danach nimmt das Heer, die letzte Karte der Oligarchie, die Stellungen auch der anderen Volksbewegungen ein.

Im Juni 1973 löst das Militär das Parlament auf, illegalisiert die Gewerkschaft CNT (die mehr als 15 Tage im Widerstand gegen den Staatsstreich einen beispielhaften Generalstreik aufrechterhalten hatte), verbietet die politischen Parteien, zerschlägt die universitäre Autonomie, liquidiert jegliche Freiheit, bringt Massen von Menschen hinter Gitter und in die Folterkammern und mordet in immer weiterer Verfeinerung des Grauens.

In einer Nacht im September 1973 wurden wir, neun Mitglieder der MLN, überraschend aus unseren Zellen des Gefängnisses in Libertad – einem kleinen Dorf in der Nähe von Montevideo – geholt.

In der Einsamkeit dieses eisigen Wintermorgens schienen selbst die Motoren der Lastwagen, die uns erwarteten, bemüht, zu flüstern, damit die anderen Gefangenen (Tausende) sie nicht hörten. Damit niemand bemerkte, was hier seinen Anfang nahm.

Es war, von Beginn an, eine verschämte Verlegung.

Irgendwo, auf dem tiefsten Grund des finsteren Bewusstseins derjenigen, die die Entscheidung getroffen hatten, aber auch in dem Bewusstsein der Offiziere und einfachen Soldaten, die uns Watte auf die Augen legten, war eine leise Ahnung, dass hier etwas Schlimmes geschah. Dieser schwache, stimmlose Vorwurf war immer in irgendeiner Weise spürbar.

Auch wir hatten diese Ahnung und nahmen uns vor, aufzuzeigen, dass der Mensch, was auch immer er denken mag, dem Unmaß der Grausamkeit widerstehen kann, ohne zum Tier oder zur Pflanze zu werden. Ohne zu versteinern.

Die lange Reise der neun Geiseln dieser unerbittlichen Tyrannei dauerte genau elf Jahre, sechs Monate und sieben Tage. Es gibt in der Geschichte der Menschheit, die immer wieder auf die unterschiedlichste Art gefoltert wurde, sehr viele Beispiele vor dem unseren. Der Stachel des Schmerzes ist der Stachel der Menschheit.

Gott hat den Menschen allem Anschein nach nicht geschaffen, indem er der Erde Leben einhauchte; am wahrscheinlichsten ist, dass er sie geschlagen hat.

Adolfo Wasem, Raúl Sendic, Jorge Manera, Julio Marenales, José Mujica, Jorge Zabalza, Henry Engler, Mauricio Rosencof und Eleuterio Fernández: Wir waren die neun, auf die die Klaue der Tyrannei gezeigt hatte.

Viele von uns waren in den 1960er-Jahren mehrere Male gefangen genommen und gefoltert worden. Alle wurden wir 1972 verhaftet und gefoltert. Einige wurden 1973 erneut gefoltert, vor unserer Entführung, die uns – eine weitere Raffinesse – zu Geiseln machen sollte.

Es ist eine riesige und unmöglich zu erfüllende Aufgabe, für das bestialische Verhalten der militärischen Befehlshaber, die Uruguay verwüsteten, rationale Ursachen zu finden.

Wir können es, trotz des Risikos, versuchen. Zumindest, indem wir die offensichtlichen Gründe aufzeigen.

Einer der Gründe war: Sie betrachteten uns als Führer der MLN, und folglich war es – entsprechend ihrer eigenartigen Geisteshaltung – entscheidend für die Liquidierung nicht nur der MLN, sondern all dessen, was sie »die Subversion« nannten, also des Protestes des uruguayischen Volkes, dass sie uns jeglicher Möglichkeit der Kommunikation mit der Außenwelt beraubten.

Es lohnt sich, dies ein wenig genauer zu betrachten. Maßstab für ihre Wahrnehmung der Welt sind ihre eigenen Parameter, das heißt: Das Universum ist eine Kaserne.

Wenn die oberste Heeresleitung liquidiert wird, ist auch alles andere – unfähig zu denken – vernichtet. Manchmal, wenn die Realität, mit der sie konfrontiert sind, einem Heer gleicht, gibt ihnen die Praxis recht. Daher verharren sie, fett und zufrieden, im Irrtum.

Ein anderer, sehr handfester und konkreter Grund: Alles, was die MLN tun würde, fände seine Antwort im Tod oder der körperlichen Bestrafung dieser neun Mitglieder. Ergo: Geiseln im reinsten Sinne des Wortes.

Der letzte: Wir wurden 1972 festgenommen. Zu diesem Zeitpunkt waren die für unsere Ermordung notwendigen Umstände nicht gegeben, auch wenn sie es versucht haben. Danach war die einzige ihnen verbleibende Alternative, uns in den Wahnsinn zu treiben.

Mit Wonne und tadelloser Ausdauer legten sie Hand ans Werk.

Dazu wurden wir in drei Dreiergruppen aufgeteilt und auf Kasernen im Landesinneren verteilt. Ein Trio in jeder der Divisionen, die ihren Standort weit außerhalb von Montevideo haben.

Das letzte Jahr verbrachten wir, immer noch isoliert, im Gefängnis von Libertad.

Jede Division bediente sich, innerhalb eines ähnlichen Systems von Strafmaßnahmen, unterschiedlicher Stile:

In der vierten Division war das System, uns ständig, alle paar Monate, überraschend von einer Kaserne in die andere zu verlegen. Das Trio zog gemeinsam von hier nach da.

In der dritten Division blieben die Geiseln die ganze Zeit über in den Kellergruften des 3. Pionierbataillons mit Sitz in Paso de los Toros.

Und in der zweiten Division war jede Geisel isoliert, allein in verschiedenen Kasernen untergebracht, auch sie wurden alle paar Monate nach dem Rotationsprinzip von einer Kaserne zur anderen verschafft.

Das erklärt, warum es sehr schwierig ist, innerhalb einer Arbeit die Erfahrungen aller neun zu schildern. Jede Gruppe lebte in einem anderen und besonderen Abschnitt jener Hölle.

Untergebracht in voneinander getrennten Welten, führten zufällige Anlässe, Krankheiten, Vorkommnisse und persönliche Charakteristika dazu, dass jede der Dreiergruppen innerhalb eines vergleichbaren Systems der Repression unterschiedliche Erfahrungen machte.

Deshalb ist der einzig gangbare Weg, dass jeder sein eigenes Zeugnis beiträgt. Diese Arbeit will ein Anfang sein und ein Aufruf an die anderen Geiseln, das Ihrige zu tun.

Und vor allem will sie das sein: ein Zeugnis.

Im speziellen Fall von uns beiden gab es außerdem noch ein besonderes Motiv, die Arbeit in Angriff zu nehmen.

Eines Tages, als wir dachten, wir kämen nicht lebend (oder bei Verstand) aus diesen Gräbern heraus, haben wir uns geschworen – mit leisem Klopfen an die Wand unterhielten wir uns von einem Verlies zum anderen – dass wer auch immer von uns beiden überleben sollte, Zeugnis ablegen würde … Damit das Opfer nicht umsonst gewesen wäre.

Wir haben beide überlebt. Aber Adolfo Wasem nicht.

Mit seinem Tod wurde jener Schwur zur unerlässlichen Pflicht.

Und es war nicht nur Wasem: Viele Genossen und Genossinnen sind in Gefängnissen, Zellen und Folterkammern für immer gefallen. Wir, die wir durch blinden Zufall dazu ausgewählt wurden, übrig zu bleiben, haben die Pflicht, ihret- und unseres Volkes wegen, Zeugnis abzulegen.

Unser Zeugnis ist das Zeugnis aller.

Wir bekamen in diesem Jahr 1987 die Möglichkeit, nach der wir gesucht hatten, um unseren Auftrag zu erfüllen: uns vor ein Tonbandgerät zu setzen und uns erinnern zu können …

Wir haben uns entschieden, mit dieser Aufnahme keine »Literatur« zu schreiben; Überflüssiges zu vermeiden, indem wir nur das erwähnen, was unerlässlich ist, um gesprochene Sprache, da wo sie aufgeschrieben wird, verständlich zu machen.

Wo immer möglich, die Vorzüge und auch die Unzulänglichkeiten der spontanen Erinnerung beizubehalten. Alles andere könnte, unserer Meinung nach, ein respektloser Umgang mit dem Leiden so vieler Menschen sein.

Pepe Mujica, unser Genosse im Trio, konnte wegen der unumgänglichen Verpflichtungen seiner politischen Arbeit bei der konkreten Umsetzung unseres Vorhabens nicht bei uns sein. Hätten wir gewartet, bis wir alle drei zusammen anfangen konnten, wären wir das Risiko eingegangen, die Arbeit bis wer weiß wann hinauszuschieben. Pepe Mujica selbst hat uns zu dem Unternehmen ermutigt und das Resultat durchgesehen.

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Erstes Buch

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»WIR WERDEN SIE IN DEN WAHNSINN TREIBEN«

MR: Wir hatten Revierdienst und waren gerade dabei, den Gang zu fegen, als sie uns an jenem Tag urplötzlich in die Zellen beförderten, den Hofgang und die Arbeit strichen und irgendwo draußen ein Flugzeug landete, in dem sie Gefangene aus dem Landesinnern brachten; ich weiß nicht mehr, ob aus Paysandú oder Artigas. Sie haben sie brutal zusammengeschlagen.

Die Antwort aus dem Knast ließ nicht lange auf sich warten. Mit den kleinen Blechkännchen, die wir für den Milchkaffee hatten, fingen wir alle an, gegen die Eisentüren zu schlagen. Danach blieb uns das Gefühl, dass sie Strafen verhängen würden, vor allem gegen uns. Ein Major hatte das schon vorexerziert (der, dem sie jedes Mal, wenn er am Zellentrakt vorbeikam, irgendwas nachgebrüllt haben).

FH: Zum Beispiel: »Schlappschwanz!«.

MR: Wir haben einen Donner aus Blech verursacht, und der Blitz folgte um zwei oder drei Uhr morgens …

FH: Am 7. September 1973; man müsste mal im Kalender nachschauen, ob es ein Donnerstag oder ein Freitag war. Sie kommen an und befehlen uns, aufzustehen und uns anzuziehen. Zumindest mir haben sie das befohlen. Ich sollte aufstehen, mich anziehen, Zahnbürste, Seife und Klopapier zusammenpacken, kein Stück mehr.

MR: Es gab da einen schlacksigen Arzt, der uns, ohne einen Laut, mit dem Stethoskop untersucht hat. Alles geschah in absoluter Stille, heimlich …

FH: Alarmierend …

MR: Sie führen mich ins Erdgeschoss, stellen mich neben dich. Dort haben wir miteinander geflüstert: »Was ist los?« – »Keine Ahnung«, hast du zu mir gesagt.

FH: Das muss das letzte Mal gewesen sein, dass wir miteinander gesprochen haben.

MR: Dass wir uns gesehen haben …

FH: Dass wir uns gesehen haben.

MR: Erst viele Jahre später haben wir uns wieder zu Gesicht bekommen, obwohl wir die ganze Zeit zusammen waren, mit einer Mauer zwischen uns.

FH: Sie bringen uns zu einem Waschraum im Erdgeschoss, der nur vom Militärpersonal benutzt wurde. Sie legen mir Watte auf die Augen, machen einen Verband drum, stülpen mir eine Kapuze über und fesseln mich mit Draht.

MR: All das ohne ein Wort. Die Kapuzen waren riesige Säcke.

FH: Ja, es war keine normale Kapuze.

MR: Sie waren aus Segeltuch und verdreckt.

FH: Lang.

MR: So dass sie dir bis auf die Brust hing.

FH: Wir werden sie lange Zeit benutzen.

MR: Lange.

FH: Keiner sprach. Nicht einmal der Offizier mit seinen Untergebenen oder der Gefreite mit den Soldaten. Es gab Befehl, keinen Ton zu sagen, alle Anweisungen wurden durch Gesten erteilt. Und obwohl ich schlecht geschlafen hatte, hatte ich nicht gehört, wie die Lastwagen ans Erdgeschoss herangefahren wurden.

MR: Merkwürdig, als wir nach unten gingen, habe ich mehrere Gefangenentransporter gesehen.

FH: Die standen dort, aber gehört habe ich nichts. Es war eine lautlose Operation. Als ob sie wollten, dass die anderen nichts mitkriegten. Es war ein verschämter Transport, ein Transport, bei dem sie wussten, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

MR: Eine Ewigkeit später, als ich schon frei war, hat mir ein Journalist während einer Reportage für die BBC in London etwas erzählt, was ich nicht gewusst hatte: Der Oberst, der für die Operation verantwortlich war, hatte erklärt: »Wenn wir sie schon nicht umbringen konnten, als wir sie geschnappt haben, werden wir sie in den Wahnsinn treiben.« Das war das Vorzeichen, unter dem das Abenteuer stehen sollte, das in jenem Augenblick seinen Anfang nahm.

DIE GESETZE DES IRREALEN

FH: Wie Abfall haben sie uns hinten in den Laster geschmissen. Wir konnten nicht mehr auseinanderhalten, wie viele und wer wir waren, die Stille und die Dunkelheit waren absolut.

MR: Das Ziel: unbekannt. Sie hatten noch einen Dritten zu uns geworfen. Wen? Ich fing an, daran zu zweifeln, dass da noch ein Dritter war, selbst daran, dass du dabei warst. War ich überhaupt da? All das war unwirklich, gespenstisch.

FH: Es war sinnlos, zu schreien, zu fluchen oder irgendetwas anderes zu tun. Wenn ich mich irgendwie zurechtgelegt hatte, war die einzige Reaktion ein Schlag oder ein harter Stoß, der mich wieder in die alte Position zurückbringen sollte.

MR: Weißt du, wann ich herausfand, mit wem ich zusammen war? Als Pepe anfing, immer wieder darum zu bitten, dass sie ihn scheißen lassen sollten. Pepe war krank, als sie uns geholt haben.

FH: Er hatte chronischen Durchfall.

MR: Ich höre, wie du sagst: »Lassen Sie ihn gehen, er ist doch krank.«

FH: Die Fahrt ging stundenlang.

MR: Dass es so lange dauerte, hat uns durcheinandergebracht. Auch die Art der Straße. Eine gut ausgebaute Straße gab uns das absurde Gefühl, wir würden an einen »zivilisierten« Ort gebracht werden. Als dann das Rütteln anfing, haben wir gedacht: »Wohin, verdammt noch mal, fahren die uns?« Ich habe das Zeitgefühl verloren, der Kopf war auf einmal ganz woanders, bei anderen Ereignissen, Erinnerungen, und ich wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war. Es konnten drei Stunden oder dreißig Minuten sein.

FH: Auf jeden Fall hat Pepe nach einiger Zeit, als er es allem Anschein nach nicht mehr aushielt, zu uns gesagt: »Also, Genossen, tut mir leid, aber ich werde jetzt einfach hier scheißen.«

MR: Das nächste Problem war dann, dass die Wache den Gestank nicht mehr aushielt. Nach etlichen Stunden kamen wir schließlich in einer Kaserne an.

FH: Sie haben uns, gefesselt und mit Kapuze, so wie wir angekommen waren, aus dem Laster geholt und in einem der Kerker strafstehen lassen, das heißt aufrecht und ohne die Wand zu berühren; sobald du dich angelehnt hast, weil du’s nicht mehr ausgehalten hast, haben sie dich zusammengeschlagen.

MR: Nachdem uns so eine ganze Horde von Stiefeln fertiggemacht hatte, haben uns die Chefs und Offiziere besichtigt wie Tiere im Zoo. Der Kommandant hat auf uns herabgeblickt wie Napoleon aus dem Bilderrahmen.

FH: Am nächsten Tag, frühmorgens, wir hatten nichts gegessen und die ganze Zeit gestanden, haben sie uns einer anderen Einheit übergeben, diesmal der Kavallerie. Ihr Lastwagen war anders. Noch klappriger. Sie haben unsere Füße mit Draht gefesselt und uns in den Laderaum zwischen zwei riesige Ersatzreifen geschmissen, die durch die Gegend flogen und etliche Male auf uns drauf rollten. Der Weg, den sie ausgesucht hatten, war nicht gepflastert. Offensichtlich waren noch andere Fahrzeuge dabei. Die Fahrt hat so lange gedauert, dass sie auf halber Strecke halten und die Tanks auffüllen mussten.

MR: Die Bretter der Ladefläche war mit Eisenbändern und Bolzen zusammengehalten. Daran haben sie sorgfältig unsere mit Draht gefesselten Knöchel festgezurrt. Obendrauf noch ein Stiefel, der uns den Knöchel massiert hat – es war ein Kampf zwischen Knöchel und Bolzenkopf; der Knöchel hat verloren.

FH: Er verlor immer wieder. Es war eine unvergessliche Reise. Mit dem Stiefel auf dem Rücken, ohne zu essen, ohne zu schlafen, hatten wir bald jede Hoffnung auf Besserung aufgegeben.

MR: Anscheinend verlangt der Organismus in solchen Momenten von der Psyche, dass sie ihn mit irgendeiner angenehmen Vorstellung aufrechterhält.

FH: Wir begaben uns langsam in ein Universum, in dem die konkrete Realität für uns an Wert verlor und etwas anderes ihre Stelle einnahm. Jemand, der durchs Land reist, hat eine Karte bei sich und sieht, wo er langfährt. Er hat nicht den geringsten Zweifel daran. Am Handgelenk trägt er die Uhr und überprüft seinen Zeitplan. Unter den Bedingungen, in denen wir uns befanden, fingen wir an, noch ohne es zu wissen, uns in das Universum hineinzubegeben, in dem wir leben würden: ein Universum, das sich aus unserer eigenen Vorstellungskraft und unseren eigenen Berechnungen zusammensetzte. Ob real oder irreal, ist nicht sonderlich wichtig. Es funktionierte, als ob es real wäre.

MR: Es war real!

FH: In meiner Vorstellung bin ich um drei Uhr nachmittags in Santa Clara de Olimar angekommen. Auch wenn es fünf Uhr morgens war, für mich war es drei Uhr nachmittags.

MR: Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung verschwanden. Das wurde zu einem Gesetz. Später werden wir außerdem erleben, wie wir aus dem Bruchstück einer Information eine ganze Welt entstehen lassen konnten.

FH: Und dieses Universum funktionierte in uns nach Gesetzen, wie sie das wirkliche Universum bestimmen.

SEKT

FH: Sie haben mich in eine Zelle gesteckt, ohne mir irgendetwas zu erklären. Die Kapuze, den Verband und die Watte habe ich mir selbst abgenommen. Keiner hat etwas zu mir gesagt. Nur den Draht haben sie abgemacht und mich brutal in einen winzigen Kerker geschmissen. Er war noch nicht fertig, neu, gerade erst gebaut. Seine Mauern schwitzten Feuchtigkeit aus, die Mischung war noch nicht ganz abgebunden. Was mir auffiel, war die totale, absolute Stille. Du hattest den Eindruck, als wäre niemand da, der auf dich aufpasste: Das Einzige, was man hörte und was die Stille noch verstärkte, war eine Art Windrad oder so etwas, ein sehr schwaches Geräusch. Nach Jahren habe ich entdeckt, dass es das Tau einer Fahne auf dem Dach war. Wenn der Wind wehte, schlug es gegen den Mast.

MR: Da war ein Oberlicht … nein, da war kein Oberlicht. Es war ein Loch ohne Glas und Rahmen, durch das Kälte, Wind und Regen eindrangen. Das Dach war aus Zink, die Zimmerdecke aus fauligem Holz. Überall hat es reingeregnet.

FH: Der Winter ging langsam zu Ende, und es war noch kalt …

MR: Gepennt haben wir auf dem Boden.

FH: Mein einziges Kleidungsstück war der Overall. Die Nummer 787 aus dem Gefängnis in Libertad.

MR: Die Knastuniform, also den Overall 813, anzuhaben hat mir das Gefühl gegeben, hier nur so lange untergebracht zu sein, bis ich irgendeine Strafe abgesessen hätte. Eine Strafe, die zu lang war, um sie im Knast abzusitzen. Der Knast wurde für uns das »Gelobte Land«.

FH: Das bisschen Hoffnung, nach »Libertad« zurückzukommen, das der Overall uns geben konnte, ging im selben Maß in Stücke, wie sich der Overall auflöste und auseinanderfiel.

Die Wache hatte Anweisung, nicht mit uns zu reden. In einem schriftlichen Befehl wurde uns mitgeteilt, dass wir mit nichts und niemandem reden dürfen.

MR: Einschließlich der Gegenstände …

FH: Sie haben alles aus dem Loch rausgenommen. Wir hatten dadrin überhaupt nichts.

MR: Da war ein Geräusch, bei dem mir die Haare zu Berge standen, aber nach einiger Zeit fing ich an, mich danach zu sehnen, es war das beeindruckende Knarren von dem riesigen Tor, das sie jedes Mal zugemacht haben (weil es der Eingang zur Kaserne war), wenn sie uns zum Bad brachten. Und weil sie uns nicht hinbrachten, haben wir uns nach diesem Geräusch gesehnt. Es war ein Zeichen dafür, dass wir aufatmen konnten.

FH: Die Welt der Stille, die Welt der Trostlosigkeit. Das Einzige: die Kapuze.

MR: Die Kapuze, die zu vielem taugen wird. Wir haben sie gepflegt, umgedreht, ausgeschüttelt, gelüftet. Ich habe sie zusammengefaltet auf den Boden gelegt, um die Kälte des Betons nicht zu spüren.

FH: Manchmal ist die Kapuze dreckig geworden, erinnerst du dich? Vom Essen, der Pisse, von sonst was …

MR: Von Scheiße. Weißt du noch, dass wir die Kapuze auf dem Klo bis zu den Augen hochziehen durften, damit wir ins Loch treffen konnten?

FH: Immer gefesselt.

MR: Um mit gefesselten Händen bis an den Hintern zu kommen und sich abzuwischen, musste man Verrenkungen machen, die nicht mal ein Gummimensch schaffen würde. Sie haben uns elf Jahre lang mit Kapuze und Handschellen scheißen lassen.

FH: Wir wollen weiter unsere Welt beschreiben. Die Trostlosigkeit, überhaupt nichts im Kerker zu haben. Die Inexistenz von Zeitplänen. Sie hatten das mit Absicht so eingerichtet. Es gab keine Essenszeiten oder einen festen Zeitpunkt für die Aushändigung der Matratze. Nächte, in denen sie uns keine gaben. Du hast wie ein Blöder auf die Matratze gewartet.

MR: Zuletzt hast du dich dann doch auf den Boden geschmissen. Und die Kapuze war die Matratze.

FH: Matratze, Kopfkissen …

MR: Vielfach verwendbar. Du hast sie dir immer dorthin geschoben, wo’s dir gerade am kältesten war. Zuerst unter die Hüfte, dann unter die Schulter …

FH: Das Essen haben sie kalt werden lassen.

MR: Die Soldaten haben Dreck vom Boden aufgesammelt und drübergestreut.

FH: Und Kippen.

MR: Im Brei waren ausgedrückte Zigaretten …

FH: Wir haben ihn trotzdem gegessen. Hunger frisst alles. Sie servierten uns das Essen auf dem Boden. Mit dem Fuß haben sie die Teller in den Kerker befördert. Diese großen, amerikanischen Teller, die aussehen wie eine Pfanne und auch nicht umfallen, wenn man sie mit dem Fuß anstößt, die rutschen gut. Für das Wasser hinterher haben sie jedem von uns eine Feldflasche gegeben.

MR: Normalerweise ohne Wasser. Wir haben sie zum Pissen benutzt. Wir ließen die Pisse in dem Aluminium abkühlen, die Salze setzten sich auf dem Boden ab. Ein guter Koch würde sagen: »Man muss es sich setzen lassen.« Und ohne den ekligen Nachgeschmack, den der Urin im trüben Zustand hat, hast du ihn dir dann, frisch, in kleinen Schlückchen schmecken lassen. Sekt.

DER MOND IN DER GRUFT

FH: Wie sah der Kerker aus? Wir wollen den Bunker beschreiben, als würden wir unsere Welt beschreiben. Wir werden dort so lange leben … Länger als in dem Haus, in dem wir als Kinder gelebt haben.

MR: Alle Kerker waren uns bei der Ankunft feindlich gesinnt. Wir mussten sie uns aneignen. Du hast Flecken erkannt, Formen in den Flecken, feuchte Stellen, Insekten und so langsam alles, was dir vorher feindlich gegenüberstand, dir angepasst, zu deiner Welt gemacht. Wenn du sie kennengelernt hattest, konntest du ein »normales« Leben führen, weil dich das alles nicht mehr angegriffen hat. Man konnte die Arme zwischen den Wänden nicht ausstrecken, die Nische war 1,20, 1,25 Meter breit.

FH: Das ist ein guter Maßstab, wenn du sagst: Man konnte die Arme nicht ausstrecken.

MR: Was du außerdem noch verinnerlichen musstest, waren die Bewegungen, damit du keinen Streit mit den Wänden bekamst. In der Diagonale konnten wir von einer Ecke zur anderen drei kleine Schritte und eine halbe Drehung machen. Nach dem dritten Schritt musste der linke Fuß eine 45-Grad-Wende machen, damit er nicht mit den Zehen gegen die Wand stieß. Du musstest immer mit derselben Seite anfangen. Wenn du sie gewechselt hast, ist dir schwindelig geworden. Genau wie die Flecke mussten wir auch die Bewegungen in unsere Welt einbauen.

FH: Von den Schritten waren Spuren in der Zelle. An den drei Stellen, an denen wir immer die Füße in den Leinenschuhen abgesetzt haben, hat der Betonboden geglänzt.

MR: Die Arme konnten wir nicht baumeln lassen, sonst hätten die Hände und Knöchel gegen die Wand geschlagen. Wir mussten beim Laufen also die Hände auf dem Rücken halten.

FH: Die Wände waren sehr rau, und wenn du an die Wand gestoßen bist oder sie dich dagegenstießen, wie sie es mit uns gemacht haben, hast du dich jedes Mal verletzt. In diese Löcher hat es reingeregnet, und die Ratten sind über die Decke gelaufen.

MR: Und Spatzen kamen hereingeflogen.

FH: Im Frühling haben die Schwalben ihre Nester gebaut. Und die Dachluke, durch die alle Kälte und alles Wasser der Welt reingekommen sind?

MR: Dieses kleine Fenster – so lästig es war, manchmal war es ein Vergnügen. Es hat den einzigen frischen Luftzug hereingelassen.

FH: Und manchmal konnte man Wolken sehen.

MR: Das war ein richtiges Schauspiel.

FH: Ein Mal, ein einziges Mal, an einem einzigen Tag habe ich durch eins dieser Fensterchen den Mond gesehen. Irgendein Astronom müsste mal ausrechnen – nach der Lage des Fensters und seiner Ausrichtung –, in welcher Nacht in diesem Jahrhundert der Mond zu einer bestimmten Stunde genau so und so viel Grad über dem Horizont stand, dass er, nur ganz kurz, durch dieses Fensterchen scheinen konnte.

MR: Auf der Höhe meines Fensters war ein Kabel angebracht, das über den Exerzierplatz gespannt war. Manchmal haben sich da die Schwalben draufgesetzt.

FH: Nur von einer Ecke aus konntest du sie sehen. In den Kerker von Santa Clara de Olimar wird einmal ein Glühwürmchen durch das Fenster in meinen Kerker kommen, und dann stirbt es mir. Ein anderes Mal kommt eine Vogelfeder hereingeflogen, und ich werde sie als Andenken aufheben.

MR: In meine auch! Ich habe sie immer noch, sie steckt in einem Blatt Papier, auf dem ein Gedicht steht, das ich irgendwann meiner Tochter geschenkt habe, sie war damals noch ein kleines Mädchen:

Wo ist dein Vogel, kleine Feder?

Mein Vogel ist ein Traum. Er ist davongeflogen.

Kommt er zurück?

Er geht nie fort:

Er fliegt davon und bleibt

Wie alles Geträumte davonfliegt und bleibt.

FH: Ich habe versucht, Spuren anderer Gefangener zu finden, aber ich habe nie welche gefunden. Es war, als ob sie die Kerker für uns gebaut hätten. Was ich gefunden habe, Jahre später, als ich dorthin zurückmusste, waren Spuren von euch. Von anderen Gefangenen nicht.

MR: In meinem Kerker war ein Stier. Er war an der Decke zu sehen, in der Faserung eines Pinselstriches aus Kalk. Dass der Stier immer da war, hat mich nicht in Ruhe gelassen. Wenn ich mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden lag, war er über meinem Kopf. Schließlich habe ich gedacht, er würde sich bewegen. Ich habe ihn immer anders gesehen.

FH: Nicht ein einziges Mal haben sie sauber gemacht. Der Kerker hat nicht ein Mal einen Besen oder einen Lappen gesehen, er ist nie geputzt worden. Wenn der Gestank ihnen gereicht hat, wenn sie den Gestank von dem Dreck, der an uns pappte, von unserer Pisse und den verfaulten Essensresten auf dem Boden nicht mehr aushielten, haben sie ein paar Eimer Wasser mit Ata reingekippt. So wie sie’s in den Ställen machen.

MR: Pissen wurde für uns zu einer Zwangsvorstellung.

FH: Die erste Technik, die ich erfunden habe, um anders als gewöhnlich zu pissen, war in die Feldflasche. Den Rest des Tages habe ich den Urin langsam ausgekippt und gewartet, bis er verdunstet war, bis ich dann wieder in die Flasche pissen konnte.

MR: Ich habe unter die Matratze gepisst. Es war wie auf Wellen zu schlafen.

FH: Wir können also jedem, der in der normalen Welt lebt, nur sagen, dass man praktisch überall hinpissen kann.

MR: Ich hatte bald das Gefühl, ein vollkommen reales Gefühl, meine Organe hätten die Plätze getauscht: Die Blase war da, wo vorher das Gehirn gewesen war. Ich habe an nichts anderes mehr gedacht.

FH: Bald haben dann die Durchfälle angefangen, die natürlichste Sache der Welt, nur logisch bei dieser Behandlung. Und klar, jede andere Scheiße lässt sich aushalten, aber der Durchfall nicht. Ich habe also die Techniken ausgefeilt. Es gab da verschiedene. Eine war, in eine Plastiktüte zu machen und sie dann mit Klopapier aufzufüllen, wenn du welches gehabt hast.

MR: Und weil Tüten nicht allzu reichlich gesät waren, haben wir versucht, sie auszuleeren und wieder mit zurückzunehmen, wenn sie uns aufs Klo gebracht haben, statt sie wegzuschmeißen.

FH: Logisch! Du wirst doch nichts verschwenden wollen …

PLANMÄSSIGE DURCHFÜHRUNG EINER MILITÄRISCHEN OPERATION

FH: Ein Mal am Tag haben sie uns aufs Klo gebracht. Manchmal auch gar nicht. Aber wir müssen ihnen zugestehen, dass sie uns an manchen Tagen zwei Mal geholt haben.

MR: Das war ein Ereignis! Wenn sie uns an einem Tag morgens und abends holten, hatten wir das Gefühl, die politische Situation müsse sich geändert haben.

FH: Wenn einer von uns aufs Klo musste, haben wir bis zum Umfallen gegen die Tür geschlagen, geklopft, bis die Knöchel aufgeschlagen waren. Manchmal haben wir einen ganzen Tag lang geklopft. Und die Kommentare waren dann: »Platzt doch!« oder »Lass sie doch klopfen, die sind eh nur zum Abschlachten hier«. Ihr System, uns zum Klo zu bringen, sah so aus, dass sie als Erstes die riesigen Tore zumachten.

MR: Die mit dem Knarren.

FH: »Die Operation einleiten« haben sie das genannt, erinnerst du dich? An verschiedenen Punkten auf dem Exerzierplatz haben sie Wachen aufgestellt, und einer musste los, um den Hund aus dem Zwinger zu holen. Der war ein ganzes Stück weit weg. Dann mussten wir also auf den Hund warten.

MR: Manchmal haben sie irgendeine Kleinigkeit vergessen und dann den ganzen Einsatz verschoben oder ganz gestrichen.

FH: Ganz zu schweigen davon, was los war, wenn der Leutnant gerade in der Mittagspause eingeschlafen war oder mit etwas anderem zu tun hatte. Undenkbar, dass er dann diesen ganzen Aufwand betrieben hätte, der an die Schlacht von Las Piedras erinnerte [in der Artigas die Spanier geschlagen hat], nur um uns mal eben pissen zu lassen.

MR: Und das alles, um uns aufs Klo zu bringen, das nur ein paar Meter neben den Kerkern lag.

FH: Und sie haben uns natürlich, weil es so viel Arbeit war, jedes Mal dazu gezwungen, alles auf einmal zu erledigen.

MR: Was mache ich zuerst? Soll ich scheißen, pissen oder häng ich mich unter den Wasserhahn? Ich habe mich für den Wasserhahn entschieden. Aber ich hab’s nie geschafft, mehr als drei Schlucke zu nehmen, weil sie mich wegzerrten.

FH: Weil wir kein Wasser abbekommen sollten.

MR: »Sie haben zwei Minuten, und es sind schon fast drei!«, haben sie dir gesagt.

FH: Sie wussten genau, dass wir Durst hatten, wir haben uns ja gleich auf den Wasserhahn gestürzt. Ich habe gelernt, den Wasserhahn ganz in den Mund zu nehmen und mich dabei so mit den Händen am Waschbecken festzukrallen, dass ich schon ein paar Schluck getrunken hatte, wenn sie mich an der Kapuze nach hinten zerrten. Sie haben sich dabei halb totgelacht. »Willst du die Brust, du Dreckskerl?«

MR: Geleitet hat die Operation der Wachdiensthabende.

FH: Laut Befehl durften wir ohne Wachhabenden nicht raus aus dem Kerker. Sich das Gesicht zu waschen sah so aus, dir die Kapuze ein bisschen hochzuziehen und dir ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht zu spritzen.

MR: Das Waschzeug blieb vor dem Fenster stehen.

FH: Seife, Handtuch und Klopapier durcheinander auf einem Haufen; Zahnpasta und Zahnbürste – alles feucht, klumpig und angegammelt, das ist da monatelang liegen geblieben. Also haben wir es nicht benutzt.

MR: Eine der unangenehmsten Situationen, an die ich mich erinnere, war, dass die Handschellen nicht richtig funktioniert, sich verhakt haben und sie sie nicht aufmachen konnten. Du standest dabei, kurz vor dem Ziel, und musstest die Hinterbacken zusammenkneifen.

FH: Manchmal haben sie dich dann zurückgebracht und nicht mehr geholt.

MR: Du warst, wie Tantalus, gerade an der Wasseroberfläche angelangt, und in dem Moment, wo du anfangen wolltest zu trinken, musstest du wieder in den Kerker zurück.

FH: Der Gang zum Klo war für uns ein gigantisches Ereignis. Eine richtige Eroberung, wenn du sie dazu gebracht hattest, dich zum Waschraum zu bringen. Und das war unsere ganze Körperpflege, ab und an mal.

Sie hatten uns am 7. September hierhergebracht, und geduscht haben wir das erste Mal im November. Das einzige Mal.

MR: Du hast nicht mehr gewusst, was Dreckkruste und was Wundschorf war.

FH: Dann haben sie mit den Überfällen angefangen, den unangekündigten Rollkommandos, immer dann, wenn sie uns rausholten. Manchmal haben sie dich gefragt: »Wollen Sie nicht aufs Klo?«, und wenn du »ja« gesagt hast …

MR: … haben sie dich unter Fußtritten und Schlägen durch die ganze Kaserne geschleift. Der, der uns führte, hat mit einem Griff die Kapuze hinten am Hals zusammengedreht wie einen Schraubstock.

FH: So, dass du halb erstickt bist.

MR: Er hat dir den Kopf von einer Seite zur anderen gerissen, und die anderen haben gegrölt. »Mensch, ist das ein störrischer Esel!«, »Der reagiert ja gar nicht auf die Kandare«. Kannst du dich noch daran erinnern? »Gib’s ihm, gib’s ihm!«, haben sie geschrien. Wie ein Fisch auf dem Trocknen hast du gejapst und mit offenem Maul nach Luft geschnappt.

FH: Irgendeiner hat dir ein Bein gestellt, sie haben dich auf den Boden geschmissen und unter Fußtritten wieder hochgeholt.

MR: Ihr tägliches kleines Vergnügen.

FH: