Cover

Sophienlust
– Box 10 –

E-Book 53-55

Aliza Korten
Judith Parker
Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-416-1

Weitere Titel im Angebot:

Ein Mädchen spielt die erste Geige

Roman von Judith Parker

Die Morgensonne am wolkenlosen Himmel überschüttete Sophienlust mit einem rotgoldenen Licht, und der Nebel über den Wiesen verwandelte sich in glitzernde Tautropfen. Der Frühlingstag versprach wunderschön zu werden.

Lena erschien auf der Terrasse, um das Staubtuch auszuschütteln. Tief atmete sie den schweren, süßen Fliederduft ein. Ein kleines Lächeln erhellte ihr runzliges Gesicht. Erinnerungen wurden in ihr wach. Erinnerungen an eine längst entschwundene Zeit, an die Zeit, als sie ihren Dienst bei Sophie von Wellentin eben angetreten hatte.

Um die gleiche Zeit waren auch die Köchin Magda und der damalige Verwalter Justus nach Sophienlust gekommen. Viele Jahre lang hatten diese drei Freud und Leid mit ihrer Herrschaft geteilt und schließlich schluchzend am Grab der alten Dame, Sophie von Wellentin, gestanden. Misstrauisch hatten sie danach die neuen Erben erwartet. Doch als sie Denise von Wellentin, die heutige Frau von Schoenecker, und deren damals fünfjährigen Sohn Dominik, den Urenkel der Verstorbenen kennengelernt hatte, waren ihre Herzen den Erben sogleich zugeflogen.

Anfänglich hatte es ihnen zwar gar nicht gepasst, dass das Herrenhaus in ein Kinderheim umgestaltet worden war, heute wäre es ihnen ohne die lärmende Fröhlichkeit der Kinder undenkbar. Sie waren noch einmal jung geworden mit den Kindern.

»Lena, du träumst ja mit offenen Augen!«

Erschrocken fuhr die alte Frau herum. »Ach, du bist es, Nick! Guten Morgen, mein Junge. Du hast mich aber erschreckt«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Das tut mir aber leid, Lena. Das wollte ich wirklich nicht.« Dominik lachte an diesem Morgen mit der Sonne um die Wette. Mit beiden Händen glättete er sein schwarzes Haar, dabei blitzte ihm der Schalk aus den dunklen Augen.

Lena konnte sich kaum sattsehen an dem bildhübschen Jungen. Wie alle Menschen, die mit ihm zusammenkamen, hatte sie ihn tief in ihr Herz geschlossen. Unvergesslich würde ihr der Tag bleiben, als er an der Hand seiner Mutter das Herrenhaus besichtigt hatte. Schon damals hatte er diesen unwiderstehlichen Charme besessen, ein Erbteil seiner schönen Mutter.

»Nick, es ist ja noch nicht mal sieben Uhr«, wunderte sich Lena über sein frühes Kommen. »Es ist doch Sonntag.«

»Und was für ein Sonntag.« Dominik breitete die Arme aus, so, als wollte er die ganze Welt umarmen. »So einen herrlichen Maienmorgen haben wir seit Jahren nicht mehr erlebt. Ich habe einfach nicht mehr im Bett bleiben können. Außerdem wollte ich auch pünktlich hier sein, um mit den Kindern in die Kirche zu fahren. Isabel singt doch heute zusammen mit Anja Lachner, die am Konservatorium Gesang studiert. Im Augenblick ist die für einige Wochen zu Besuch bei ihrer Großmutter.«

»Ach ja, bei Frau Magdalena Lachner. Sie stammt aus Ostpreußen und soll einmal enorm reich gewesen sein.«

»Ja, Lena, das stimmt. Ihr Mann besaß ein Rittergut in der Nähe von Königsberg. Als sie im Krieg fliehen mussten, fand er den Tod. Sie ist dann mit ihren beiden Kindern allein in den Westen geflohen und hat später das kleine Anwesen hinter der Kirche gekauft. Sag, Lena, wann gibt’s denn Frühstück? Ich habe einen Mordshunger. Daheim haben noch alle geschlafen, als ich losgeradelt bin.«

»Am Sonntag frühstücken wir ja erst so um acht Uhr herum. Geh halt zu Magda in die Küche. Sie hat bestimmt etwas für dich.«

»Mach ich.«

»Hallo, Nick!« Pünktchens rotblonder Haarschopf erschien an einem Fenster des oberen Stockwerks.

»Hallo, Pünktchen.« Nick winkte ihr vergnügt zu. »Wenn du dich beeilst, können wir noch vor dem Frühstück zu den Pferden und Ponys laufen!«, rief er zurück.

»Ich bin gleich unten.« Pünktchens strahlendes Gesicht verschwand wieder.

»Ich geh inzwischen in die Küche. Sag bitte Pünktchen, dass ich dort auf sie warte.«

Lena nickte und kehrte dann ebenfalls ins Haus zurück, um die anfallenden Hausarbeiten zu erledigen.

Zehn Minuten später liefen Dominik und Pünktchen zu den Stallungen, während die anderen Kinder aufstanden. Das Haus wurde lebendig. Schwester Gretli deckte bereits den langen Tisch im Speisesaal. Im Augenblick hatte sie viel Arbeit, weil Carola mit ihren Zwillingen beschäftigt war. Andreas und Alexandra waren der ganze Stolz der jungen Eltern Rennert. Glücklicherweise absolvierten neuerdings Schülerinnen der Schule für Wirtschaftsleiterinnen und Wirtschaftslehrerinnen ihr praktisches Jahr in Sophienlust, sodass die fest angestellten Mitarbeiterinnen doch etwas entlastet waren.

Wie meist beim Frühstück am Sonntagmorgen, ging es auch heute fröhlich im Speisesaal zu. Nur Isabel war auffallend still. In dem lichtblauen Kleid sah sie bezaubernd aus. Das dunkle Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel ihr glatt bis auf die Schultern. Ihre dunklen Augen zeigten einen verträumten, abwesenden Ausdruck. Wenn sie so aussah, sagten die anderen Kinder, Isabel habe wieder einmal ihre Traumstunde.

Isabel träumte tatsächlich von der Zukunft. Obwohl sie vor Jahren einmal ein bekannter Gesangskinderstar gewesen war, hatte sie später die Absicht gehabt, bis an ihr Lebensende in Sophienlust zu bleiben. Doch seit kurzem schmiedete sie Zukunftspläne, die sich in einer anderen Richtung bewegten. Seitdem sie Anja Lachner kannte, war sie von dem Ehrgeiz besessen, einmal eine große Sängerin zu werden. Im Augenblick aber konnte sie es kaum erwarten, mit Anja im Kirchenchor zu singen.

»Wir müssen uns beeilen!«, rief Malu nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Sonst kommen wir zu spät in die Kirche. Nein, Benny, du kannst nicht mit«, wandte sie sich an ihren kleinen Wolfsspitz, der zu ihren Füßen lag und beim Klang ihrer Stimme sogleich die Ohren spitzte. »Ein Hund darf nicht mit in die Kirche. Das sage ich dir doch jeden Sonntag.«

»Später kann er mitlaufen!«, rief Dominik über den Tisch. »Wir haben nämlich soeben beschlossen, nachher Maikäfer zu suchen!«

»Maikäfer!« Ein größerer Junge schüttelte den Kopf. »Die sind doch seit Jahren ausgestorben! Es gibt keine mehr.«

»Das ist nicht wahr!«, mischte sich Angelika lebhaft ein. »Noch gestern haben meine Schwester und ich zwei gesehen. Nicht wahr, Vicky?«, fragte sie ihre kleinere dunkelhaarige Schwester.

»Und ob«, bestätigte das Mädchen eifrig. »Und später ist einer vor uns hergeflogen.«

»Sei es, wie es sei«, bemerkte Dominik. »Auf alle Fälle suchen wir nach Maikäfern. Ich weiß auch, wo es vielleicht welche geben könnte. Wir müssen am Ufer des Forellenbaches entlanglaufen. Aber nun nichts wie los!« Er stand auf. Auch die anderen Kinder erhoben sich sofort.

Der Chauffeur Hermann stand wartend am VW-Schulbus und half den Kindern dann beim Einsteigen. Auch das junge Ehepaar Rennert fuhr an diesem Morgen mit zur Kirche. Sie hatten die Zwillinge in der Obhut ihrer Großmutter, der Heimleiterin, zurückgelassen, die von den Kindern liebevoll Tante Ma genannt wurde.

Anja Lachner, ein auffallend hübsches Mädchen mit strahlenden blauen Augen und wundervollen blonden Haaren, die im Sonnenlicht wie Metall schimmerten, wartete bereits mit ihrer Großmutter vor der Kirchentür auf Isabel.

Anja war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hatte eine wunderschöne Sopranstimme und würde vermutlich eine gute Sängerin werden. Für das Gesangsstudium hatte sie sich aber erst vor knapp zwei Jahren entschieden, denn sie hatte durchaus Stewardess werden wollen. Doch ihre Eltern, deren einziges Kind sie war, hatten ihr diesen gefährlichen Beruf ausgeredet. Anfangs waren sie auch dagegen gewesen, dass ihre Tochter Gesang studieren wollte, doch diesmal hatte Anja nicht nachgegeben.

Anja liebte ihre Großmutter innig. Bei ihr fand sie das Verständnis, das sie von seiten ihrer Eltern vermisste. Ihre Eltern dachten etwas engstirnig, Magdalena Lachner aber hatte ein turbulentes Leben hinter sich und zeigte dementsprechend auch viel Verständnis für menschliche Schwächen oder Wünsche. Obzwar sie, einmal eines der reichsten Mädchen Ostpreußens, heute in einem kleinen Haus lebte, war sie stets guter Laune. Auch war sie mit ihrer hohen schlanken Gestalt noch immer eine auffallende Erscheinung. Etwas Majestätisches ging von ihr aus. Was die einfachen Dorfleute mit Respekt erfüllte.

Anja war sehr stolz auf ihre Großmama. Auch Isabel, die Vollwaise war, fühlte sich zu Frau Lachner stark hingezogen. Sie war es auch gewesen, die ihr gesagt hatte, die dürfe die Ausbildung ihrer Stimme keine Stunde vernachlässigen.

So war zwischen der alten Frau Lachner, deren Enkelin Anna und Isabel ein reizendes Freundschaftsverhältnis entstanden, das alle drei mit stillem Glück erfüllte.

Auch heute begrüßte Isabel Magdalena Lachner voller Freude.

»Komm, Isabel, wir gehen schon hinauf«, schlug Anja vor. »Der Organist ist bereits da. Hast du Lampenfieber?«, fragte sie, als sie die geschwungene Treppe zum Chor hinaufstiegen.

»Ich glaube, ich werde mein ganzes Leben lang Lampenfieber haben. Schon früher ist mir vor jedem Auftritt immer ganz schlecht geworden.«

»Ehrlich gesagt, ich habe auch ein bisschen Lampenfieber. Aber das vergeht wieder. So, da sind wir. Herr Hechler, guten Morgen«, begrüßte sie mit ihrer frischen Stimme den jungen blondhaarigen Mann an der Orgel.

»Guten Morgen, Fräulein Anja.« Klaus Hechler erhob sich sofort. Seine Augen hinter den Brillengläsern bekamen einen fast demütigen Ausdruck, als er Anja ansah. Ganz fest schlossen sich seine Finger um ihre schmalen Hände.

Anja ahnte, was er für sie empfand, und seine Nähe machte sie deshalb auch leicht verlegen. Sie fand Klaus Hechler sehr nett, aber mehr nicht. Trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre war sie noch nicht dem Mann begegnet, der ihr Herz hätte höher schlagen lassen.

Klaus Hechler begrüßte nun auch Isabel. Danach nahm er wieder vor der Orgel Platz. Bald erschienen auch die Buben und Mädchen des Kirchenchors.

Die Kirche füllte sich. Viele Blicke suchten die beiden ungleichen Mädchen im Chor. Für die einfachen Leute aus dem Dorf war es noch immer wie ein Wunder, dass ein ehemals so bekannter und auch beliebter Kinderstar fast jeden Sonntag die Solopartien im Kirchenchor sang. Natürlich bewunderten sie Anja Lachner nicht minder, die ebenfalls schon einige Male in der Kirche gesungen hatte.

Der Pfarrer sprach, wie stets, zu Herzen gehende Worte. Als dann der Chor zu singen begann und die beiden Mädchen einfielen, blieb kaum ein Auge trocken. Wie gebannt lauschten die Kirchenbesucher dem Gesang.

Pünktchen, die neben ihrem Dominik saß, suchte verstohlen nach seiner Hand. Mit jungenhafter Verlegenheit erwiderte er den Druck, ließ die Hand des kleinen Mädchens jedoch gleich wieder los.

Dann wurde das letzte Gebet gesprochen. Der Organist spielte noch einmal, dann begannen die Glocken zu läuten. Füßescharren war zu hören, Räuspern und Schneuzen. Die Kirche leerte sich nach und nach.

Isabel stand noch immer mit einem wie von innen erleuchteten Antlitz an der Balustrade. Wie häufig nach einer solchen Stunde, fiel sie auch jetzt in einen traumähnlichen Zustand, aus dem sie sich nur schwer lösen konnte.

»Ich komme schon. Ich habe nur geträumt.« Isabel fuhr sich verwirrt über die Augen. »Nick möchte mit uns Maikäfer fangen. Kommst du mit, Anja?« Auf einmal war alles Schwere von ihr abgefallen.

»Heute kann ich leider nicht. Großmama und ich sind in der Kreisstadt bei Bekannten eingeladen. Viel Spass, Isabel.«

Magdalena Lachner wartete bereits auf die beiden Mädchen. Sie machte Isabel noch ein hübsches Kompliment über ihren Gesang und sagte dann:

Wenn du Lust hast, besuche uns doch morgen nachmittag zum Kaffee.«

»Ich komme gern. Vielen Dank.« Isabel verabschiedete sich von Frau Lachner und Anja.

Etwas später fuhr der VW-Schulbus wieder in den Gutshof ein. Die Kinder kletterten aus dem Wagen und liefen schnell in Haus, um sich umzukleiden. Denn für den sonntäglichen Gottesdienst zogen sie ihre besten Kleider an, die für einen Ausflug, wie er nun geplant war, nicht geeignet waren.

Aber nicht alle Kinder schlossen sich der »Expedition«, wie Wolfgang Rennert scherzhaft sagte, an. Einige von den Großen zogen es vor, bei diesem schönen Wetter mit Andrea von Schoenecker auf den Tennisplätzen in Schoeneich Tennis zu spielen. Andere wiederum zog es in den Park. Letzten Endes blieben nur Malu, Isabel, Pünktchen, Angelika, Vicky und außer Nick noch zwei ältere Jungen, Jürgen und Klaus, übrig, die voller Spannung am Ufer des Forellenbachs entlangliefen.

Ein lauer Wind strich über die am Ufer stehenden Weiden und drückte die Spitzen der langen Zweige auf die Wasserfläche. Hin und wieder deuteten die Kinder begeistert auf die Forellen, die wie braungoldene Schatten unter der Wasseroberfläche hin und her flitzten.

»Aber Maikäfer seh ich keine«, stellte Pünktchen enttäuscht fest.

»Es gibt bestimmt noch keine.« Malu hielt Benny am Halsband fest, als zwei Rehe aus dem Wald traten und zu ihnen herüberäugten. »Ich lege ihn vorsichtshalber an die Leine«, erklärte sie, als der Hund aufgeregt zu ziehen begann.

»Ja, Malu, tu das auf alle Fälle«, riet Dominik. Er seufzte auf. »Mit den Maikäfern sehe ich ebenfalls schwarz. Aber deshalb brauchen wir uns nicht zu ärgern. Zumindest haben wir einen tollen Spaziergang gemacht.«

»Ja, Nick. Hier am Bach ist es wunderschön.« Vicky kniete sich nieder, um Blumen zu pflücken.

Isabel und Malu setzten ihren Weg langsam fort.

Doch plötzlich blieben sie stehen und lauschten, als zarte Töne an ihr Ohr klangen.

»Was ist denn das?«, fragte Angelika, die angelaufen kam. »Ein Vogel?«

»Nein, das ist keine Vogelstimme«, meinte Isabel.

Die anderen Kinder gesellten sich zu ihnen. Malu legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pst«, wisperte sie.

Alle verstummten.

»Da spielt jemand Geige«, meinte Nick nach einer Weile.

»Ja, natürlich, das ist eine Geige«, stimmte Isabel ihm lebhaft bei. »Aber wer spielt hier Geige?«

»Das werden wir gleich sehen.« Dominik lief schon neugierig weiter.

An dieser Stelle machte der Bach einen Bogen. Weiden standen dort, und hinter den Weiden erblickte Dominik ein ungefähr fünfzehnjähriges Mädchen, das auf einem Stein saß. Das schulterlange goldblonde Haar fiel dem Mädchen bis auf die Schultern, dessen reizendes Profil mit den noch kindlichen Rundungen sich silhouettenhaft gegen den Hintergrund abzeichnete.

Selbstvergessen strich die kleine Unbekannte mit dem Geigenbogen über die Saiten, ein Anblick, der die Kinder faszinierte. Sie trug alte Blue jeans und einen ausgebeulten hellgrauen Pullover.

Als Malu bemerkte, dass das Mädchen weinte, gab es für sie kein Halten mehr. Impulsiv ging sie zu dem fremden Mädchen hin.

Erschrocken ließ die Unbekannte die Geige sinken, als plötzlich ein Schatten über sie fiel. Sie hob den Kopf, wobei sie sich verstohlen über die Augen wischte.

Einen Augenblick sahen sich die beiden fast gleichaltrigen Mädchen verlegen an. Dann ergriff Malu das Wort. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie leise. »Hast du Kummer?«

Das Mädchen nickte. Dabei traten ihm von neuem Tränen in die Augen.

Inzwischen waren auch die anderen Kinder näher gekommen. Nick bohrte seine Hände tief in die Taschen, als er sagte: »Ich glaube, wir kennen uns schon von irgendwoher. Ja, ich habe dich schon mal gesehen.«

»Ich dich auch«, erwiderte das Mädchen. »Du bist doch Dominik von Wellentin-Schoenecker, nicht wahr?«

»Klar, der bin ich.« Dominik machte sie nun mit den anderen Kindern bekannt. »Und wer bist du?«, fragte er neugierig.

»Winny Thornau.«

»Thornau? Winny Thornau«, wiederholte Nick. »Der Name ist mir nicht bekannt. Wo wohnst du denn?«

Winny legte die Geige behutsam in den Kasten zurück. »Mein Vater und ich wohnen seit einigen Monaten auf einem Bauernhof in der Nähe von Bachenau. Mein Vater ist Komponist, aber er verdient nicht sehr viel«, bekannte sie leise. »Eigentlich im Augenblick keinen Cent«, gab sie schließlich mit einem Seufzer kleinlaut zu.

»Das ist allerdings schlimm.« Malu musterte Winny ernst. Es entging ihr nicht, wie mager das Mädchen war. Wahrscheinlich konnte Winny sich nicht einmal richtig sattessen.

Dominiks Interesse an dem Mädchen bewegte sich in einer ganz anderen Richtung. Wieder einmal machte ihm seine Neugierde zu schaffen. Künstler interessierten ihn immer. Auch hatte er bis jetzt noch keinen Komponisten persönlich kennengelernt. Außerdem bewunderte er Winny, weil sie so gut Geige spielen konnte. Darum wollte er auch mehr über die Verhältnisse der Thornaus erfahren.

Winny sehnte sich danach, jemandem ihr Herz auszuschütten. Die Kinder von Sophienlust gefielen ihr so gut, dass sie das Gefühl hatte, sie schon seit langem zu kennen. In gewisser Weise stimmte das auch. Denn von Anfang an hatte das schlossähnliche Gebäude eine starke Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Die Leute in dieser Gegend erzählten viel und nur Gutes von Sophienlust. Deshalb war Winny auch einige Male bis zum Hoftor gelaufen. Sie hatte fragen wollen, ob man nicht Arbeit für sie habe, damit sie ihrem Vater finanziell helfen konnte. Aber dazu hatte ihr dann doch immer der Mut gefehlt.

»Bei wem wohnt ihr denn?«, fragte Dominik.

»Bei den Hofmeisters. Aber nicht mehr lange. Vati ist ihnen die Miete schuldig. Für einen ganzen Monat. Die Bäuerin ist sehr wütend auf uns. Anfangs war sie sehr freundlich zu uns. Wir haben die Zimmer bei den Hofmeisters gemietet, weil in dem einen ein Klavier stand. Vati braucht doch ein Klavier. Doch gestern hat sie ihren Knecht und eine Magd beauftragt, das Klavier zu holen. Dabei spielt keiner von den Bauern Klavier.« Winny unterdrückte nur mühsam die Tränen, die unter ihren Lidern brannten. »Seitdem ist Vati sehr unglücklich. Er kann nicht mehr arbeiten. Dabei bin ich ganz sicher, dass er mit seinem Musical, das er komponiert, großen Erfolg haben wird.«

Nun flossen Winny doch wieder die Tränen über die Wangen.

»Ausgerechnet bei den Hofmeisters müsst ihr wohnen«, brummte Dominik. »Sie sind als die geizigsten Leute in dieser Gegend bekannt.«

»Ja, sie wollen uns ja auch an die Luft setzen. Und nun will Vati daheim zu Kreuze kriechen. Darüber bin ich am meisten traurig.«

»Zu Kreuze kriechen? Bei wem?«

»Ich kann nicht darüber sprechen«, erklärte Winny etwas abweisender, »weil Vati nicht will, dass unsere Familienverhältnisse breitgetreten werden.« Winny erhob sich. »Ich muss jetzt gehen. Vati wartet auf mich. Ich muss ihm etwas zu essen machen.«

Winny blickte die Kinder unglücklich an. Sie gab niemandem die Hand, sondern rief ihnen nur zu: »Auf Wiedersehen.« Dann lief sie davon.

Die Kinder blickten der schlanken Mädchengestalt sinnend nach. Malu kraulte ihren Hund hinter den Ohren. »Arme Winny«, sagte sie traurig. »Irgendwie müssen wir ihr doch helfen.«

»Ja, das müssen wir!«, rief auch Pünktchen.

»Na klar, wir werden den Thornaus helfen.« Dominik legte seine Stirn in Falten. »Meiner Meinung nach ist dieser Thornau ein Genie.«

»Warum glaubst du das?« Isabel musterte ihn nachdenklich.

»Warum? Weil jeder Künstler, der Armut und Hunger auf sich nimmt, um etwas Großes zu erreichen, ein wirklicher Künstler ist.«

»Wie du das sagst«, staunte Pünktchen und erstarrte wieder einmal in Bewunderung für ihren großen Freund.

»Ich muss es so sagen, weil es so ist. Und wir werden ihm und seiner Tochter helfen. Das ist klar. Aber wie? Na ja, es gibt nur einen Menschen, der hier helfen kann.«

»Tante Isi!«, riefen alle wie aus einem Mund.

»Ja, meine Mutti. Sie wird schon einen Weg finden, dem Komponisten zu helfen, ohne seinen Stolz zu verletzen. Wir müssen sofort mit ihr reden.«

»Aber wir wollten doch noch Maikäfer suchen«, schmollte Vicky.

»Ein andermal. Vielleicht gibt es später noch welche, wenn die Erde mehr durchwärmt ist. Jetzt haben wir eine Aufgabe. Statt der Maikäfer haben wir Winny Thornau gefunden.

Vielleicht hat es das Schicksal so gewollt.« Nick bekam einen sehr nachdenklichen Blick, denn er erinnerte sich plötzlich daran, dass die Huber Mutter bei seinem letzten Besuch vor zwei Tagen zu ihm gesagt hatte, dass das Gärtnerhaus bald wieder bewohnt sein würde. Na klar, dachte er. Das ist doch die Lösung. Das Gärtnerhaus!

»Kommt!«, rief er den anderen zu.

»Kommt schnell heim. Ich habe eine großartige Idee!«

Dominik lief schon los. Er lief so schnell, dass die anderen ihm kaum folgen konnten, denn er hatte es auf einmal sehr eilig, mit seiner Mutter über seine großartige Idee zu sprechen.

Dass seine Mutti fast im gleichen Augenblick auf dem Gutshof von Sophienlust eintraf wie er und die Kinder, war für Nick ein weiteres gutes Omen für seinen Entschluss, den Thornaus zu helfen

Freundlich begrüßte Denise von Schoenecker die Kinder. Sie hatte für jedes ein liebes Wort und ging dann ins Haus, gefolgt von ihrem Sohn, den sie bereits angesehen hatte, dass ihn irgendwo der Schuh drückte.

Als sie in dem Biedermeierzimmer ihre Handtasche auf den Sekretär legte und sich dann auf das Biedermeiersofa setzte, fragte sie lächelnd »Also, Nick, wo brennt’s? Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du etwas auf dem Herzen hast.«

Nick setzte sich ihr gegenüber auf einen der zierlichen Biedermeiersessel. »Ja, Mutti, das stimmt«, begann er. »Also, als wir auf der Jagd nach Maikäfern waren, haben wir Winny Thornau kennengelernt.« Danach schilderte er das Treffen in allen Einzelheiten, sodass Denise sich über die Thornaus bereits ein Bild machen konnte. Zum Schluss fügte er noch hinzu: »Und deshalb ist es unsere Pflicht, dem Komponisten zu helfen. Ihm und seiner Tochter, die sehr mager ist. Mutti, stell dir vor, sie haben bestimmt nichts zu essen. Dabei sind die Hofmeisters stinkreich.«

»Nick, drücke dich bitte etwas gewählter aus.«

»Ist ja auch wahr. Wenn ich an diese verflixten Pfennigfuchser denke, bekomme ich einen gerechten Zorn.«

»Ich weiß, dass sie kein Herz für Not und Elend haben.« Denise sah ihren Sohn ernst an. »Ich werde nachher gleich mit Vati sprechen. Weißt du, ich habe da so eine Idee …«

»Bestimmt dieselbe wie ich«, fiel Nick ihr ungestüm ins Wort. »Nicht wahr, du denkst doch auch an das Gärtnerhaus?«

»Genau, Nick. Seit es für den Schriftsteller Robert Riedl und seine Familie renoviert wurde, bin ich ganz verliebt in das Gärtnerhaus. Mit viel Freude habe ich es nach dem Auszug der Riedes als Gästehaus eingerichtet. Ich denke, dass das Haus ein idyllisches Domizil für deinen Komponisten wäre.«

»Ja, Mutti. Aber ein Klavier müsste Herr Thornau haben. Im Kaminzimmer müsste es stehen. Es ist der höchste Raum und hat dadurch eine bessere Akustik.«

»Lass mich nachdenken, Nick.« Denise legte den Zeigefinger an die Nasenspitze. »Ich hab’s!«, rief sie dann vergnügt. »Auf dem Dachboden steht doch noch das alte Klavier, das wir aus dem Musikzimmer hinausgeworfen haben, damit der neue Flügel dort Platz hat.«

»Das Klavier ist doch unbrauchbar. Es ist völlig verstimmt, Mutti«, gab Nick zu bedenken.

»Na und? Wozu gibt es denn Klavierstimmer? Das Klavier ist in einer Zeit gebaut worden, in der man noch Wert auf Qualitätsarbeit legte.«

Denise war nun selbst Feuer und Flamme für den Plan. Wenn es galt, jemandem zu helfen, tat sie alles, um die Not zu lindern.

Doch als Alexander von Schoenecker eintraf, machte er Einwände. »Ihr kennt ja die Thornaus überhaupt nicht. Es kann doch sein, dass die Kleine am Forellenbach euch einen Bären aufgebunden hat.«

»Nein, Vati, bestimmt nicht!« Nick war so fest überzeugt von der Lauterkeit der Thornaus. »Ich habe für Menschen einen Blick und habe mich noch nie geirrt, wenn ich behauptet habe, dass ein Mensch gut sei. Nicht wahr?« Triumphierend sah er seine Eltern an.

»Also gut, dann tue, was du für richtig hältst«, schlug AIexander augenzwinkernd vor.

Das ließ sich Nick natürlich nicht zweimal sagen. Gleich nach dem Mittagessen verließ er Sophienlust, um so schnell wie möglich mit Herrn Thornau zu reden. Er hoffte von ganzem Herzen, dass dieser mit seinem Plan einverstanden sein würde.

Als Nick den etwas abgelegenen Bauernhof der Hofmeisters erreichte, traten im gleichen Augenblick Winny und deren Vater aus dem Haus. Das Mädchen trug eine prallgefüllte Tasche, während Markus Thornau sich mit zwei schweren Koffern abschleppte. Schon nach einigen Schritten stellte er sie auf den Boden und sagte irgendetwas zu seiner Tochter, die ihren Geigenkasten fest an sich gedrückt hielt.

Dominik war sofort hellauf begeistert von dem Komponisten, denn es war ihm klar, dass der Herr dort nur Winnys Vater sein konnte.

Markus Thornau fühlte sich nicht nur körperlich erschöpft, er war auch am Ende seiner nervlichen Kräfte. In seinem dichten dunklen Haar zeigten sich die ersten Silberstreifen. Seine Schultern waren, wie so oft bei großen Menschen, leicht nach vorn geneigt, so, als ob er die Bürde, die ihm das Schicksal aufgelastet hatte, kaum noch ertragen könne. Auch war er entsetzlich mager.

Der sonst so vorlaute und kecke Nick empfand eine sonderbare Scheu vor Winnys Vater. Aber schnell überwand er seine Schüchternheit und rief: »Winny!«

Das Mädchen zeigte helle Freude über das unverhoffte Wiedersehen mit dem netten Jungen von Sophienlust. »Nick!«, rief es. »Nick!«

»Kennst du denn diesen Jungen?«, fragte Markus Thornau erstaunt.

»Ja, Vati, das ist doch Dominik von Wellentin-Schoenecker.«

»Ach so. Der Erbe von Sophienlust. Dann verabschiede dich schnell von ihm, Winny. Wir müssen uns sputen, damit wir den Nachmittagszug auf alle Fälle noch erreichen.«

»Dann willst du wirklich zu Kreuze kriechen? Aber ich möchte nicht mehr zu ihr zurück, Vati«, bat das Mädchen unglücklich.

»Was bleibt uns denn anderes übrig, mein Kind? Zu Hause habe ich vielleicht doch die Möglichkeit, mein Musical fertigzustellen. Hier, ohne Geld und ohne Klavier, kann ich es nicht.« Die ganze Trostlosigkeit seiner Lage spiegelte sich in seinen Augen wider.

»Zu Hause?« Winnys Mundwinkel zuckten von verhaltenem Weinen. »Das Haus gehört doch ihr. Das reibt sie uns doch bei jeder Gelegenheit unter die Nase. Außerdem hat sie auch kein Verständnis für deinen Beruf.«

»Bitte, Kind, rede dich nicht in Zorn«, bat Markus müde. »Ich muss auch an dich denken. Du hast ja kaum etwas zu essen.«

»Ich werde bald fünfzehn, Vati. Ich könnte mir doch eine Arbeit suchen und …«

Nick war näher gekommen und hatte die letzten Worte vernommen. »Guten Tag, Herr Thornau«, sagte er in einem etwas gespreizten Ton, den er stets anschlug, wenn er unsicher war. »Ich habe Winny heute vormittag kennengelernt. Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker und bin gekommen, Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten.« Er zwinkerte Winny schnell zu, als diese ihn unterbrechen wollte.

»Soso.« Markus erwiderte die Worte des Jungen mit einem traurigen Lächeln. »Einen Vorschlag? Aber Winny und ich haben nur ein paar Minuten Zeit, denn wir müssen auf dem schnellsten Weg zum Bahnhof.«

»Sie müssten nicht mehr zum Bahnhof, wenn Sie meinen Vorschlag, von dem auch meine Eltern wissen, akzeptieren würden, Herr Thornau.«

»Und was wäre das für ein Vorschlag?« Fragend blickte er Nick an.

Nick erzählte ihm nun von dem Gärtnerhaus.

»Ein gut gemeinter Vorschlag, mein Junge.« Markus Thornau lächelte gerührt. »Du meinst es sicherlich gut. Aber, so verlockend dein Angebot auch ist, ich muss leider ablehnen. Momentan stehe ich völlig mittellos da. Ich habe gerade noch soviel Geld, um die Fahrkarten für Winny und mich nach Frankfurt lösen zu können.«

»Aber das wussten wir doch!«, entfuhr es Dominik impulsiv. »Meine Mutter und ich, ja, und auch alle in Sophienlust glauben ganz fest an den Erfolg Ihres Musicals.«

»Woher wisst ihr denn das?« Markus sah seine Tochter an und wusste alles. »Also gut, Winny hat ihren Mund nicht halten können. Trotzdem …«

»Wenn Sie Ihr Musical vollenden wollen, brauchen Sie viel Ruhe. Und im Gärtnerhaus würden Sie diese Ruhe finden, Herr Thornau. Sie könnten sich das Haus doch wenigstens einmal anschauen. Es liegt hinter den Wirtschaftsgebäuden von Sophienlust, dicht an der alten Parkmauer, und ist von einem kleinen Garten umgeben. Es ist ein stiller Ort, wie geschaffen für einen großen Künstler«, fügte Nick mit vor Begeisterung leuchtenden Augen hinzu.

Nicks Überredungskunst und auch der Gedanke daran, dass sein Liebling Winny bei seiner zweiten Frau, Winnys Stiefmutter, kein glückliches Leben hatte, veranlassten Markus, eine halbe Zusage zu geben, womit Nick schon zufrieden war.

»Sollte Ihnen das Haus wirklich nicht gefallen – was ich aber nicht annehme –, wird unser Chauffeur Sie und Winny noch heute nach Frankfurt bringen«, versicherte er rasch.

»Du bist großartig, Dominik.« Markus war sehr angetan von dem Jungen. Und warum sollte er das Angebot eigentlicht nicht annehmen? fragte er sich.

»Ja, und die Miete können Sie später bezahlen, wenn Sie Ihr Musical verkauft haben«, schlug Nick vor.

»Das werde ich bestimmt tun. Aber es könnte doch auch sein, dass das Musical durchfällt, dass es überhaupt kein Erfolg wird.«

»Das glaube ich nicht. Bei Ihrer großen Begabung.«

Da musste Markus zum erstenmal seit langer Zeit herzlich lachen. »Dein Wort in Gottes Ohr und vielen Dank für dein unendliches Vertrauen. Leider bin ich selbst nicht so ganz von meiner Begabung überzeugt«, fügte er mit einem versteckten Seufzer hinzu.

»Das ist es ja gerade«, rief Nick. »Alle großen Künstler haben Komplexe und glauben oft nicht an sich selbst. Aber gerade diese Menschen leisten letzten Endes etwas Großes.«

»Ich glaube auch an deine Begabung, Vati«, mischte sich nun Winny ein. Sie hatte die Unterhaltung mit heftigem Herzklopfen verfolgt. Jetzt war ihr leichter ums Herz. Vati würde es bestimmt in Sophienlust gefallen, nach der trostlosen Unterkunft im Bauernhaus.

Dominik bemächtigte sich der beiden Koffer und schlug vor, sie in dem benachbarten Bauernhof abzustellen. Später würde jemand von Sophienlust sie dort abholen.

Nur von der Geige wollte Winny sich nicht trennen. »Ich liebe die Geige sehr«, bekannte sie leise. »Sie gehörte meiner Mutti, die vor vielen, vielen Jahren gestorben ist. Meine Mutti war eine Virtuosin auf der Geige.«

»Es stimmt, was Winny erzählt. Meine erste Frau war eine bekannte Künstlerin. Winny hat ihr Talent geerbt«, bemerkte Markus

»Findest du wirklich, Vati? Ich hoffe sehr, dass ich einmal so gut wie Mutti spielen kann. Aber ich müsste halt Unterricht haben.«

»Wolfgang Rennert, das ist unser Musiklehrer, wird dir Unterricht geben. Ja, das ist die Idee!« Dominik strahlte aus Freude über diesen neuesten Einfall wieder übers ganze Gesicht. »Wolfgang Rennert ist ein Universalgenie. Er spielt mehrere Instrumente und komponiert auch. Er lebt mit seiner Frau Carola bei uns. Aber das wirst du ja alles noch erfahren. Ich muss dir nur noch erzählen, dass Carola Zwillinge bekommen hat. Sie heißen Andreas und Alexandra und sind wirklich niedliche Babys«, berichtete er, als sie zu dritt die Straße nach Sophienlust entlangwanderten. Bald darauf schlug er den schmalen Weg ein, der zu der kleinen, in die Parkmauer eingelassenen Pforte führte. Von dort waren es dann nur noch ein paar Schritte bis zum Gärtnerhaus.

Winny stieß einen Ruf der Überraschung und Begeisterung aus beim Anblick des so idyllisch gelegenen Hauses. Wenn der kleine Garten, der das Haus umgab, auch verwildert war, beeindruckte er sie doch sehr. In ihrer lebhaften Phantasie sah sie sich schon beim Jäten. Ja, sie würde sich um den Garten kümmern. Rosen sollten hier blühen und Stiefmütterchen, ja, und noch viele andere Blumen, überlegte sie glücklich. Sie hatte die Begeisterung für die Gärtnerei von ihrem Großvater mütterlicherseits geerbt, der eine große Gärtnerei besessen hatte.

Auch Markus hegte ähnliche Gefühle. Vom ersten Augenblick an fühlte er sich an diesem Ort wie zu Hause. Ja, in dieser Umgebung konnte ein Künstler arbeiten, hier würde es ihm leichtfallen, sein Musical zu beenden.

»Leider habe ich keinen Schlüssel für das Haus hier«, bedauerte Nick. »Aber später werden Sie mit meiner Mutter das Haus auch von innen besichtigen können. Das Klavier kommt morgen hinein. So, und nun gehen wir erst einmal zu meiner Mutter. Hoffentlich ist sie noch in Sophienlust. Wenn nicht, macht es auch nichts.

Der Chauffeur wird uns dann nach Schoeneich fahren. Diesen Weg geht’s entlang. Dort vorn sind unsere Wirtschaftsgebäude und die flachen Gebäude weiter hinten sind die Stallungen. Wir haben auch einen Gutsbetrieb. Mein Vater ist nämlich Landwirt, der tüchtigste und beste, den es gibt«, behauptete Nick stolz.

Markus spürte, wie sehr der nette Junge mit der Scholle verwachsen war und auch, wie innig er an seiner Familie hing. Er bereute keine Sekunde, dass er sich von ihm hatte überreden lassen und mitgegangen war.

Denise war noch in Sophienlust, als die drei ankamen. Sie befand sich zusammen mit ihrem Mann gerade in der Wohnung des Ehepaares Rennert. Carola bewirtete sie mit selbstgebackenem Kuchen. Das Mutterglück strahlte ihr nur so aus den Augen, als sie stolz ihre Zwillinge vorführte.

Dominik ging zu den Rennerts. Er begrüßte alle herzlich und sagte seiner Mutter dann, dass er die Thornaus sogleich mitgebracht habe.

»Damit hatte ich allerdings nicht gerechnet.« Denise erhob sich. »Wo sind sie denn, Nick?«

»Wirklich, Nick, das hättest du deiner Mutter am Sonntagnachmittag ersparen können«, hielt Alexander ihm vor.

»Vati, es ging leider nicht anders. Als ich zu dem Hof der Hofmeisters kam, verließen die Thornaus gerade mit Sack und Pack das Haus. Man hat sie an die Luft gesetzt. Herr Thornau wollte gerade mit Winny zum Bahnhof gehen. Da konnte ich doch nichts anderes tun, als sie sofort hierherzubringen, nicht wahr?« Fragend blickte er seinen Vater an.

»Das ist natürlich etwas anderes. Denise, soll ich mitkommen?«, fragte Alexander.

»Besser nicht, mein Lieber. Ich möchte die beiden erst einmal ›beschnüffeln‹. Du kennst mich ja. Wenn sie mir nicht zusagen …«

»Sie werden dir gefallen«, fiel Dominik seiner Mutter ins Wort.

»Also, dann gehen wir jetzt zu ihnen. Vielen Dank, Carola, für den herrlichen Kuchen.«

Carola errötete vor Freude über das Lob. Nach wie vor betete sie ihre Tante Isi an, der sie ihr jetziges großes Glück zu verdanken hatte. Ohne sie wäre ihr Lebensweg gewiss nicht so glücklich verlaufen.

Denise und Nick gingen den Korridor entlang und traten einige Minuten später in das Biedermeierzimmer.

Denise erfasste mit einem Blick, dass sie es mit anständigen Menschen zu tun hatte. Ihr mütterliches Herz flog sofort der reizenden Winny mit dem rotblonden Haar und den tiefblauen Augen zu. Auch fiel ihr auf, wie entsetzlich mager das Mädchen war. Es schien zu stimmen, dass das arme Hascherl nicht viel zu essen bekommen hatte. Auch Markus Thornau sah sehr elend aus.

»Herzlich willkommen in Sophienlust«, begrüßte Denise Vater und Tochter.

»Gnädige Frau, ich muss mich für mein Eindringen in Ihr Haus entschuldigen, aber Ihr Sohn hat mich sozusagen gewaltsam hierhergeschleppt«, erklärte der Komponist nach der Begrüßung humorvoll.

»Das ist wahr«, mischte sich Nick ein, der neben Winny stand und sie aufmunternd anlächelte. »Herr Thornau glaubte, er könne unser Angebot nicht annehmen. Aber er wird dir das noch erzählen. Vielleicht möchtest du dich ein Weilchen mit ihm allein unterhalten. Ich könnte doch inzwischen Winny ein bisschen in Sophienlust herumführen und sie auch mit den anderen Kindern bekannt machen. Später, wenn du Herrn Thornau das Gärtnerhaus zeigst, schließen wir uns euch wieder an. Nicht wahr, Winny, du möchtest mehr von Sophienlust sehen?«, wandte er sich an das Mädchen.

»Ja, Nick.«

»Gut, Nick, geht nur.« Denise nickte den beiden verständnisvoll zu. Dann war sie mit Markus Thornau allein.

»Winny hängt sehr an Ihnen, nicht wahr, Herr Thornau?«, überbrückte sie das plötzlich eingetretene Schweigen.

»Ja, gnädige Frau. Seit meine erste Frau gestorben ist, hängt sie doppelt an mir. Für sie war es ein harter Schlag, als ich das zweitemal heiratete. Zwar hat sie sich meinetwegen bemüht, nett zu meiner Frau zu sein. Aber Stella zeigte ihr deutlich, dass sie ihr im Weg war.« Markus seufzte auf. »Ich weiß, dass ich mit meiner zweiten Heirat einen großen Fehler begangen habe. Aber, verzeihen Sie, dass ich Sie mit meinen Privatsorgen belästige.«

»Das tun Sie keineswegs, Herr Thornau.« Denise schob ihm das Elfenbeinkästchen mit den Zigaretten zu. »Rauchen Sie?«, fragte sie freundlich.

»Vielen Dank. Ja, ich war einmal ein starker Raucher, doch in der letzten Zeit konnte ich mir – ehrlich gesagt – keine Zigaretten mehr leisten.« Er zündete sich eine Zigarette an.

»Herr Thornau, wenn es Ihr Herz erleichtert, erzählen Sie mir, was Sie bedrückt«, forderte Denise ihn verständnisinnig auf.

»Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich Ihnen sage, dass Sie mich an eine gute Fee erinnern.«

Denise errötete wie ein junges Mädchen. »Fee wäre etwas übertrieben«, erwiderte sie verlegen. »Aber ich helfe gern. Auch meine Familie tut alles, um die Not anderer zu lindern.«

»Dann darf ich wirklich im Gärtnerhaus leben? Für Winny und mich wird es dort herrlich werden. Erst wenn man einmal ganz unten gewesen ist, weiß man das Gute und Schöne im Leben richtig zu schätzen.« Und dann erzählte er Denise, auf welche Weise er in diese Notlage geraten war.

»Winnys Mutter und ich haben auf der Musikhochschule studiert«, begann er seine Schilderung. »Wir verliebten uns und heirateten, als Winny unterwegs war. Ich hatte noch nicht viel als Pianist erreicht, aber Henny, so hieß meine Frau, war schon als Kind sehr begabt gewesen. Als junges Mädchen war sie bereits eine Virtuosin auf der Geige. Ihr Lehrer war restlos begeistert von ihr. Ihm hatten wir es auch zu verdanken, dass sie bald berühmt wurde. Während sie von einem Konzert zum anderen reiste, lebten Winny und ich ziemlich zurückgezogen in dem kleinen Haus, das Henny von ihren Eltern geerbt hatte. Ihr Vater war Gärtner gewesen. Natürlich fühlte ich mich manchmal recht deprimiert, dass Henny das Geld zum Leben verdiente, während ich davon träumte, einmal etwas ganz Großes zu leisten. Ich spürte es seit langem, dass ich das Zeug zu einem Komponisten hatte. Ich komponierte einige Lieder, die meine Frau auf der Geige spielte Die Lieder wurden bekannt, und endlich verdiente auch ich ein wenig Geld. Doch mir schwebte vor allem ein Musical vor. Schon damals beschäftigte ich mich damit. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich auf der ganzen Linie versagte. Ich wurde unzufrieden. Meine kleine Winny tat alles, um mich während der Abwesenheit meiner Frau aufzuheitern. Aber sie war ja nur ein kleines Mädchen. Ich musste ununterbrochen an Henny denken, die von einer Stadt in die andere reiste. Dann schloss sie auch Verträge mit dem Ausland ab. Henny war eine zauberhafte Frau. Winny gleicht ihr aufs Haar.«

»Ja, dann muss sie wirklich eine bezaubernde Frau gewesen sein«, bemerkte Denise mitfühlend. »Winny ist ein entzückendes Mädchen.«

»Nur ein bisschen verwildert und so mager wie ein Jagdhund«, seufzte er.

»Hier, in Sophienlust, wird unsere gute Magda, unsere Köchin, schon dafür sorgen, dass ihre Wangen wieder rund werden.«

»Ich werde tief in Ihrer Schuld stehen, gnädige Frau.«

»Aber nein. So etwas sollen Sie nicht sagen«, bat Denise. »Bitte, erzählen Sie doch weiter, Herr Thornau.«

»Ja, das möchte ich gern. Wie gesagt, ich fing an, eifersüchtig zu werden. Es kam zu den ersten Szenen zwischen uns. Henny war zuerst sehr unglücklich darüber, doch dann verstand sie mich. Sie schlug mir vor, sie doch zu begleiten. Sie verdiene ja genügend, meinte sie.

Von da an begleiteten Winny und ich sie auf ihren Konzertreisen. Da erst sah ich, was für ein anstrengendes Leben Henny führte, und auch, dass sie sehr mager geworden war. Auch war sie nervös und leicht reizbar. Plötzlich wusste ich, wie sehr Henny mich brauchte. Ich verlangte von ihr, einen Arzt zu konsultieren. Sie widersprach nicht, wie ich eigentlich erwartet hatte.

Der Arzt erklärte rigoros, dass er jede Verantwortung ablehne, wenn Henny dieses anstrengende Leben noch weiterführe. So schloss sie keine Verträge mehr ab, sehr zum Kummer ihres Impresarios. Letzten Endes sah er aber ein, dass Henny unbedingt Erholung benötigte.

Aber Henny war kränker, als wir alle geglaubt hatten. Ihr Herz war angegriffen, und zwar so stark, dass sie an einer Grippe starb.

Ich glaubte, wahnsinnig zu werden, als ich begriff, dass Henny Winny und mich für immer verlassen hatte. Ich zog mich von der Welt zurück und arbeitete fast einen Monat lang nichts. Doch dann komponierte ich wie besessen. Aber der Erfolg blieb aus.