Cover

Hedwig Rossow
Anna Lutz

Mama Shekinah

Afrikas Kindersoldaten
nahmen mir den Mann 
ich antwortete ihnen mit Liebe

ISBN 978-37751-7454-1 (E-Book)

Inhalt

Über die Autorinnen

Vorwort

1. Flüchtlinge

2. Ein gebrochener Fluch

3. Raus aus der Enge

4. Berufen

5. Das Trauma besiegen

6. Online-Liebe

7. Nie wieder allein

8. Zusammenwachsen

9. Hochzeit im Paradies

10. Die Welt unter unseren Füßen

11. Letzte Reise

12. Shekinah

13. Kind ohne Vater

14. Zurück zu den Kindersoldaten

15. Yei

16. Constanze

17. Eine neue Familie

Nachwort

Über die Autorinnen

HEDWIG ROSSOW (Jg. 1970) lebte ca. 15 Jahre am Horn und in Ostafrika, bildete Missionare aus und arbeitete in der Trauma-Aufarbeitung. Heute wohnt sie mit ihrem Mann Matthias und ihren 5 Kindern in der Nähe des Neuruppiner Sees und unterrichtet Christliche Bildung an Oberschulen.

ANNA LUTZ (Jg. 1983) lebt mit ihrer Familie bei Berlin. Sie hat Politikwissenschaften und Soziologie studiert. Sie arbeitet als Redakteurin und Korrespondentin für die Christliche Medieninitiative pro.

Vorwort

Meine Tochter weinte jede Nacht. Sie war nun ein Jahr alt und eigentlich sollte ihr Schlaf langsam tiefer und besser werden. Doch länger als eine halbe Stunde blieb Shekinah nie ruhig. Dann schreckte sie aus ihren kurzen Träumen hoch, die schönen dunklen Augen weit aufgerissen, die schwarzen Locken standen wirr vom Kopf ab. Manchmal wimmerte sie, andere Male schrie sie vor Angst. Wenn sie meine Nähe spürte, kroch sie in die sichere Wärme meiner Arme und schlief auf meiner Brust wieder ein. Erst wenn ihr Atem tiefer wurde, konnte auch ich Ruhe finden, wenn auch nur kurz.

Warum sie so oft weinend erwachte? Vielleicht, weil sie schon vor ihrer Geburt mehr verloren hatte als andere in ihrem ganzen Leben. Shekinahs Vater Colin war schon vor ihrer Geburt gestorben. Ermordet im südsudanesischen Busch. Getötet von Jugendlichen. Kindersoldaten, rekrutiert von Rebellen, die nicht einmal davor zurückschreckten, die Seelen der Jüngsten zu stehlen. Ich überlebte den Anschlag, doch Colin starb in einer finsteren Nacht auf einer dreckigen Krankenhausliege mitten im Nirgendwo.

Da saßen wir nun und klagten. Shekinah auf ihre einfache Weise und ich auf meine komplizierte. Zum ersten Mal in meinem Leben stellte ich Gott infrage. Hatte ich nicht seinetwegen all die Reisen auf mich genommen, die mich am Ende gemeinsam mit Colin nach Afrika geführt hatten? Ich erinnerte mich daran, wie Gott mir einst geholfen hatte, aus dem strengreligiösen Gefängnis meiner Kindheit auszubrechen. Wie frei ich mich gefühlt hatte. Und wie viele Probleme ich mir wegen meines Glaubensweges eingehandelt hatte. Wie eine Ausgestoßene wurde ich von manchen Frommen behandelt, von alten Freunden, Bekannten, Familienmitgliedern. Doch ich nahm das alles in Kauf. Weil ich Gottes Liebesbotschaft gehört hatte – und weitergeben wollte. Nun fragte ich mich: Was hatte ich dafür bekommen, dass ich meine Herkunftsfamilie verlassen, ein sicheres Leben geopfert und auf Geld und Bequemlichkeiten verzichtet hatte? Ich war nun alleinerziehend. Zurück zwar bei meiner Familie in Paraguay, die mich liebte und mich unterstützte, aber einsamer denn je.

Ich hatte alles verloren. Wo war der große Gott, dem ich gedient hatte? Hatte ich mich geirrt? War mein Weg der falsche gewesen? All die Pläne, all das Fasten, all die Gebete, die Erwartungen, all die Dinge, von denen wir geglaubt hatten, dass wir sie geschenkt bekommen hatten – waren das alles Lügen gewesen?

Wenn Shekinah einschlief, begann ich stets aufs Neue zu weinen. Ich weinte um die verlorene Liebe, um die Träume, die sterben mussten. Ich fühlte mich verraten.

Doch plötzlich änderte sich etwas. In einer stillen Nacht legte Gott seine Arme um mich. Warm und schwer. Er sagte nichts, er liebte nur. Stark und unverrückbar. Fest und durch nichts zu zerstören.

»Kein Preis ist zu hoch«, hatte Colin zu mir gesagt, um mein Herz zu gewinnen. Er hatte nicht wissen können, wie viel er würde bezahlen müssen, um mit mir zusammen zu sein. Hätte er es gewusst, wer weiß, vielleicht hätte er mich dennoch gewählt. »Er wird für dich da sein, wenn ich es nicht kann«, mit diesen Worten hatte Colin mich noch am Morgen seines Todes ermutigt. Er hatte es geahnt und doch war ihm nicht klar gewesen, was geschehen würde. Aber in einem hatte er Gewissheit gehabt: Gott würde immer bei mir sein. Jetzt, viele Monate später, fühlte ich es auch: Seine Arme waren um mich geschlungen, er wärmte meinen Körper. Er würde mich niemals aufgeben. Ich war mir wieder so sicher wie an jenem Tag, als Colin und ich Shekinahs Namen ausgewählt hatten, gemeinsam, Seite an Seite, im festen Vertrauen darauf, dass Gott unser beider Leben in der Hand hielt. Shekinah kommt aus der jüdischen Mystik und bedeutet: die Gegenwart Gottes. Gott ist da. Jetzt spürte ich es wieder. Endlich.

Mein Name ist Hedwig Rossow, aber die meisten nennen mich Hedi. Als Missionarin habe ich die ganze Welt bereist. Ich habe viele Wunder erlebt, mein Herz an Afrika verschenkt, die Liebe meines Lebens gefunden und viel zu schnell wieder verloren. Ich habe gelernt, was wahre Freude und wahrer Schmerz ist. Ich habe erfahren, was Zweifeln bedeutet und wie man klagt. Und ich habe erkannt, dass Rache kein Weg ist, um Schmerz zu lindern. Stattdessen habe ich mich dem Ziel verschrieben, aus der Asche meiner Träume etwas Schönes zu schaffen. Ich habe meinen Glauben an Gott und an die Kraft der Vergebung an Verletzte und Verfolgte weitergegeben. Ich habe von ihnen gelernt, was wahre Stärke ist. Auch wenn ich nie viel Geld hatte, haben mich meine Erfahrungen zu einer reichen Frau gemacht.

1. Flüchtlinge

Meine Mutter wurde mitten in den Krieg hineingeboren. Sie kam in einem Bauernhaus irgendwo zwischen den deutsch-russischen Frontlinien des Zweiten Weltkrieges zur Welt. Ein Baby inmitten von Gewehrschüssen, Fliegerbomben-Detonationen und um ihr Leben kämpfenden Soldaten.

Sie entstammte einer Gruppe von Mennoniten aus den Niederlanden, einer christlich-freikirchlichen Bewegung, die nicht nur eine wortgetreue Auslegung der Bibel predigt, sondern auch absolute Gewaltlosigkeit. Deshalb verweigerten meine Vorfahren den Kriegsdienst. Sie wollten nicht kämpfen, erst recht nicht im Namen eines Staates. Zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert wurden sie dafür eingesperrt, verbrannt und ertränkt. Auf der verzweifelten Suche nach Religionsfreiheit verließen viele Mennoniten die Niederlande, darunter auch meine Ahnen.

Doch Mennoniten sind traditionell nicht nur fromm und friedliebend, sie sind auch hervorragende Landwirte. Das brachte ihnen von jeher viel Ansehen und die Achtung von Staatschefs in ganz Europa ein. Nicht wenige sehnten sich nach guten Bauern und Landarbeitern in ihrem Herrschaftsgebiet. Im 16. Jahrhundert siedelten sich viele Mennoniten im Königreich Preußen an. Die Männer und Frauen schlossen sich zu streng religiösen landwirtschaftlichen Kollektiven zusammen, bestellten Felder und erledigten die Ernte, beteten, feierten Gottesdienste und folgten der ihnen eigenen Lebensart. Viele Generationen überdauerten dort, Deutsch wurde ihre Muttersprache, und bis heute unterhalten sich Mennoniten weltweit in Variationen des Plattdeutschen mit Sprachanteilen aus dem Niederländischen und der jeweiligen Landessprache.

Im 18. Jahrhundert zeigte die damalige russische Zarin Katharina die Große Interesse an den religiösen Siedlern. Sie lud sie ein, in ihren südlichen Landgebieten zu leben, und machte ihnen ein verlockendes Angebot: Als Tausch für ihre Arbeitskraft sollten die Gläubigen vom Militärdienst befreit werden. Wie wichtig dieses Versprechen war, kann nur verstehen, wer die Theologie der Mennoniten kennt: Das biblische Gebot »Du sollst nicht töten« nehmen sie wörtlich. Mit Gewalt löst kein wahrhafter Mennonit Konflikte. Das Angebot der Zarin erschien ihnen daher wie ein Segen. So kam es, dass viele der frommen Landwirte in das Gebiet der heutigen Ukraine weiterzogen. In den folgenden einhundertfünfzig Jahren bestellten sie erfolgreich das bis dahin brachliegende Land. Dann begann der Zweite Weltkrieg, 1939 griff Deutschland Polen an.

Mein Großvater war damals ein junger Mann, stark, groß gewachsen, ein Prediger und anerkannter Sänger in der mennonitischen Kirche. Wie die meisten seiner Glaubensgeschwister vertraute er fest darauf, dass die russische Regierung Wort halten würde: Niemals sollten Mennoniten an der Front kämpfen müssen. Doch es kam anders. Als der Krieg heftiger wurde, die Zahl der Opfer und die Landverluste stiegen, wurden mehr und mehr Soldaten gebraucht. Es war offensichtlich, dass die Russen ihr Versprechen nicht halten würden. Meine Familie und viele andere beschlossen weiterzuziehen. Sie waren zu Flüchtlingen geworden und begaben sich ausgerechnet auf den Weg zurück nach Deutschland. Dort, so hieß es, seien sie nach wie vor willkommen. Und das stimmte, wenn auch anders, als es sich die frommen Christen erträumten. Denn für die Nazis waren sie nur wenig mehr als Kanonenfutter an der Front. Mein Großvater und seine Verwandten erkannten die schreckliche Lüge zu spät. Viele von ihnen wurden nach ihrer Ankunft im damaligen Deutschen Reich zwangsrekrutiert. Die Nazis schickten sie auf direktem Weg in den Krieg.

Die deutschen Soldaten verpassten meinem Opa und anderen Mennoniten ihr Brandzeichen. Ein Hakenkreuz prangte fortan auf seiner rechten Schulter. Für meinen Großvater kam das einer Vergewaltigung gleich. Wie ein Tier hatten sie ihn mit einem Symbol gekennzeichnet, das wie nichts anderes für Gewalt und Massenmord stand. Er würde es für den Rest seines Lebens tragen müssen.

Über Generationen hatten die Mennoniten nicht gekämpft. Viele von ihnen wären lieber gestorben, als die Waffe zu erheben. Doch mein Großvater und seine Mitstreiter hatten keine Chance zu verhandeln. Die Soldaten drückten ihnen Gewehre in die Hand und schickten sie an die Front.

Mein Großvater soll dennoch dem Naziterror getrotzt haben. Seine Waffe habe nie auf Menschen gezielt, so wurde erzählt, er habe immer nur in die Luft geschossen.

Als die Deutschen ihn zwangsrekrutierten, hatte meine Großmutter gerade bemerkt, dass sie ein Kind erwartete. Zusammen mit anderen Flüchtlingen aus ihrem Dorf schlug sie sich bis nach Polen durch. Sie reisten nur mit dem Nötigsten, mal per Anhalter in alten Autos, mal getragen von klapprigen Ochsenkarren, zu Fuß oder auf Pferdewagen. Die Reise hätte für eine Schwangere nicht beschwerlicher sein können. Meine Oma wurde durchgeschüttelt, das Essen war knapp, Pausen konnte die Gruppe kaum machen. Irgendwann legten diejenigen, die konnten, an Tempo zu. Meine Großmutter gehörte zu den Nachzüglern – und die Zeit der Geburt rückte immer näher.

Im Dezember 1939 rückten die Russen nach Polen vor. Die Deutschen bewegten sich ebenfalls auf das Gebiet zu, nur von der anderen Seite. Meine Großmutter und die anderen wussten: Sollten die Russen sie zuerst erreichen, würden sie alle, ob schwanger oder nicht, Frauen oder Kinder, erbarmungslos umbringen, denn sie würden die Flüchtlinge für Deutsche halten. Also rannten sie immer tiefer in deutsches Gebiet. Dann begannen bei meiner Großmutter die Wehen.

Viel Zeit blieb ihr nicht. Sie suchte auf einem Bauernhof Unterschlupf und fand inmitten von Terror, Blut und Bomben etwas Unerwartetes: Menschlichkeit. Der Bauer, dem der Hof gehörte, nahm sie auf und erlaubte ihr, ihre Tochter in seinem Haus zur Welt zu bringen. Es war ein bitterkalter Januartag. Ein paar Frauen banden meiner Großmutter eine alte Decke um den Körper, ein Kissen darin schützte die neugeborene Maria vor dem eisigen Ostwind.

Meine Großmutter schleppte das Kind weiter, immer weiter. Von denen, die mit ihr flohen, kannte meine Großmutter mittlerweile keinen mehr. Umgeben von Fremden war es ein Wunder, dass sie es auf die deutsche Seite schaffte, in ein Flüchtlingslager nahe Berlin, später weiter auf eine Insel in Holland.

Auch mein Großvater kam mit dem Leben davon, doch nur sein Körper überlebte. Als der Krieg 1945 endete und ihn französische Soldaten schließlich gefangen nahmen, war von dem einst so lebensfrohen jungen Mann kaum etwas übrig geblieben. Das Böse hat die Macht, den menschlichen Geist fast gänzlich auszulöschen. Schwere Traumata können Seelen töten. Der Krieg forderte damals sehr viele Opfer – manche starben, andere verloren sich selbst. Als die Soldaten meinen Opa in das französische Gefangenenlager brachten, war er ein Mann, der gleich zweimal geschlagen worden war: Seine Seite hatte einen Krieg verloren, in dem er gar nicht hatte kämpfen wollen. Und er hatte alles, was ihm wichtig war, aufgeben müssen – seine Ideale, seine Familie, sein Hab und Gut. Er hatte kein Land, keinen Besitz, keine Nationalität und keine Identität mehr. Mein Großvater war nirgends mehr zu Hause. Und zu allem Überfluss war er ein gebrandmarkter Nazisoldat. Der Krieg hatte aus meinem Großvater einen gebrochenen Mann gemacht. Er war traurig, bitter und wütend – auf die Deutschen und auf die Russen und wahrscheinlich auch auf sich selbst. Doch wenigstens durfte er seine Frau wiederfinden.

Anderthalb Jahre nach Kriegsende schlossen sie sich auf holländischem Gebiet in die Arme. Die Umstände sind heute kaum noch nachvollziehbar, vermutlich arrangierten Kontaktleute auf beiden Seiten ein Treffen der Eheleute. Mein Großvater sah seine Tochter zum ersten Mal. Gemeinsam mit seiner kleinen Familie und einer Ansammlung von mennonitischen Flüchtlingen verließ er Europa, um ein neues Leben in Südamerika zu beginnen.

Ich habe nur wenige Erinnerungen an meinen Großvater. Er starb, als ich sechs Jahre alt war. Man erzählte mir, dass er seinen Kindern einen Satz wieder und wieder sagte, jedes Mal wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. Dieser hat sich in mein Gehirn gebrannt und steht sinnbildlich für die Dinge, die er erleben musste: »Mich mochten sie nicht, dann brauchen sie euch auch nicht zu mögen.« Wie unversöhnt muss dieser arme Mann mit der Welt gewesen sein! Er litt den Rest seines Lebens unter Magengeschwüren und hatte immer wieder starke Blutungen. Schließlich starb er daran. Jahre später lernte ich, dass Vergebung oft den Unterschied macht. Sie ist es, die uns unsere wahr gewordenen Albträume überwinden lässt. Mein Großvater konnte seinen Feinden und sich selbst vielleicht erst auf dem Sterbebett vergeben.

Doch an eine Sache erinnere ich mich sehr gut. Bis heute klingt seine volle Tenorstimme in meinem Ohr. »O Halleluja, vergeben ist die Sünd’. O Halleluja, ich bin ein Gotteskind«, höre ich ihn singen, ganz allein oder zusammen mit meiner Großmutter – kein Chor musste ihn begleiten, seine Stimme füllte den Kirchenraum komplett aus. Ich kann mir nur wünschen, dass er seinen eigenen Worten geglaubt hat.

Bereits nach dem Ersten Weltkrieg waren Mennoniten nach Paraguay ausgewandert. Nachdem sie wegen ihres landwirtschaftlichen Könnens von den Niederlanden nach Deutschland und von dort nach Russland eingeladen worden waren, erkannte nun das kleine Land in Südamerika den Wert der mittlerweile zerstreuten Gemeinschaft. Die Landwirte sollten ein kaum bewohntes Gebiet nahe der bolivianischen Grenze besiedeln. Sie stimmten zu. Sie würden die Gegend kolonisieren, doch im Gegenzug forderten sie Autonomie innerhalb der Grenzen Paraguays. Und siehe da, die Staatsführung war einverstanden. Die Mennoniten lebten nun im paraguayischen Verwaltungsbezirk Boquerón. Sie erhielten Religionsfreiheit, wurden vom Militärdienst befreit und durften Deutsch als offizielle Sprache beibehalten. Es wurde ihnen sogar gewährt, ihr eigenes Schul-, Sozial- und Finanzsystem zu etablieren. Bereits 1927 entstand die Siedlung Menno, die von kanadischen Mennoniten errichtet wurde. In den Dreißigerjahren gründeten russische Mennoniten Fernheim, die Siedlung, in der mein Vater aufwuchs. Diese sollte später auch mein Zuhause werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte schließlich Neuland, die Kolonie, in der meine Mutter fortan lebte. Die Auswanderer wählten diesen Namen, weil sie nach all dem Leid hier einen neuen Anfang wagen konnten.

Die Einheimischen jedoch nannten das Gebiet »Grüne Hölle« – obwohl dort in den meisten Jahreszeiten kaum etwas grün war. Die Bedingungen, die meine Vorfahren vorfanden, waren mehr als schwierig. Das Land war wüst und trocken. Es war heiß. Es gab keine fließenden Gewässer. Vor Ort lebten zwar indigene Stämme, aber eine Infrastruktur war nicht vorhanden. Ein Drittel der Neuland-Siedler waren Familien, zwei Drittel Witwen.

Die Mennoniten siedelten in einem etwa 400 000 Quadratkilometer großen Gebiet im Westen des Landes an, das bis heute Gran Chaco genannt wird. Die nächste Stadt war 500 Kilometer entfernt. Fahrten dorthin waren beschwerlich und selten. Wer dennoch reiste, nutzte alte Ochsenkarren oder einen langsamen und unbequemen Zug. Die Mennoniten lebten von dem, was das karge Land ihnen bot. Jeden Regentropfen fingen sie in Zisternen auf. Sie bauten Erdnüsse und Baumwolle an und betrieben Viehzucht. Trotz vieler Rückschläge begann das Land zu gedeihen.

Wenn ich an meine Kindheit denke, dann erinnere ich mich an die gelbe, sandige, trockene Erde des Chaco, an die Kakteen, an deren süße Früchte und die kahlen Bäume. An das stundenlange Spielen draußen in der Natur. An unendliche Weiten. An Pferdewagenfahrten zur Verwandtschaft und wie wir gefühlte Ewigkeiten lang auf dem Rücken liegend in die Sterne schauten, während das Fahrzeug sich langsam seinem Ziel entgegenschob und Mama und Papa sich leise unterhielten. Mittags besuchten wir Kinder die Indianer und aßen bei ihnen Gürteltiere oder in Fett gebackene Tortillas aus Mehl, Salz und Wasser.

Ich wurde zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges und dem Neubeginn der Mennoniten in Paraguay geboren, am 24. Juli 1970, als zweites Kind der Eheleute Maria und Hartmut. Unsere Kolonie war in Dörfer unterteilt. Das Zentrum bildete das größte Dorf Filadelfia, das später die Hauptstadt von Boquerón werden sollte, darum herum gruppierten sich weitere.

Ich wohnte buchstäblich in der letzten Ecke: in Molino. Wir lebten am Rande der Kolonie, am weitesten vom Zentrum entfernt. Es gab dort nicht viel. Ein kleines Schulhäuschen, das am Wochenende auch für Gottesdienste genutzt wurde, war unser Lebensmittelpunkt. Jedes Dorf bestand aus etwa zwölf Familien. Das war nicht wenig, denn diese Familien waren sehr kinderreich. Im Durchschnitt hatte jedes Ehepaar sechs Kinder, Familien mit mehr als zehn Kindern waren keine Seltenheit. Sie alle arbeiteten ganz selbstverständlich auf den Feldern mit. Wir Kinder pflückten Baumwolle oder ernteten Erdnüsse, in den Ferien oft acht Stunden am Tag. Das klingt nach Kinderarbeit, aber ich habe mich nie ausgebeutet gefühlt. Ich arbeitete dort draußen immer Seite an Seite mit meinem Vater und wir genossen diese Gemeinschaft.

Obwohl ich mittlerweile die ganze Welt gesehen habe und seit vielen Jahren in Deutschland lebe, bleibt der Chaco für immer meine Heimat.

2. Ein gebrochener Fluch

Zeit ihres Lebens hatte meine Mutter es nicht leicht mit ihrem Vater. Sie bekam seine Bitterkeit zu spüren, seine Kälte und seine Wut. Menschliche Herzen sind wie Wassergläser. Jeder wird mit einem gefüllten Gefäß geboren. Es enthält Gottes Plan für unser Leben, große Erwartungen, unendliche Liebe. Doch je älter wir werden, desto mehr Risse bekommt das zerbrechliche Material. Schlimme Erfahrungen schlagen gegen die Oberfläche, je schrecklicher, desto härter. Eine große Krise hinterlässt größere Risse als eine kleine. Je öfter wir sie erleben, desto leerer wird unser Glas. Das meiner Mutter hat viele harte Schläge mitbekommen. Ihr Vater erschien ihr oft herzlos. Er war ein harter Mann geworden, kaum fähig zu Empathie und Freude. Es war wohl diese Kälte, die meiner Mutter am meisten zusetzte. Die Schule musste sie früh verlassen, um auf dem heimischen Hof mitzuhelfen. Auch deshalb fühlte sie sich schlecht, ungebildet, minderwertig. Sie schwor sich, niemals so zu werden wie ihr Vater. Sie wollte eine andere Atmosphäre in ihrem Heim haben, sehnte sich geradezu zwanghaft nach Harmonie und gab ihr Bestes, um mich und meine fünf Geschwister so liebevoll wie möglich großzuziehen.

Die Musik ist meiner ganzen Familie in die Wiege gelegt. Jeden Morgen erwachte ich beim Klang der Lieder meiner Mutter. Ihre tiefe Altstimme schwebte durchs Haus, wenn sie sang, und oft ertönte ihr klares, zwitscherndes Pfeifen. Doch unverarbeitete traumatische Erinnerungen sind wie Flüche. Sie bleiben in der Familie, tragen sich über Generationen fort, schleichen sich ein wie ein ungebetener Gast und sind nur schwer wieder aus dem Haus zu bekommen.

Als Jugendliche arbeitete meine Mutter in einem Missionskrankenhaus. Dort lernte sie meinen Vater kennen. Er kam aus der Nachbarkolonie Fernheim und war ein ruhiger Mann, zu ruhig. Ich erinnere mich vor allem an die Lautstärke meiner Mutter. So sanft sie sang, so schroff konnte sie auch sein. Es war, als läge zu jedem Zeitpunkt Ärger in der Luft. Ich war ein sehr sensibles Mädchen und wünschte mir mehr als alles andere Harmonie. Heute, mit fünf Kindern, verstehe ich die Überforderung meiner Mutter besser. Doch es war nicht nur die angespannte Stimmung zu Hause, die einen Schatten auf meine Kindheit warf.

Als ich acht Monate alt war und gerade damit begann, mich an Gegenständen hochzuziehen, trat ich auf glühende Kohlen. Meine Mutter hatte meinen zwei Jahre älteren Bruder und mich kurz im Hof allein gelassen. Es war Waschtag. Unsere Kleidung wurde damals draußen in einem Becken gekocht, unter dem sich eine Feuerstelle befand. Klein und tollpatschig, wie ich war, zog ich mich an dem bereits erkalteten Wäschetopf hoch und stolperte auf die noch heißen Kohlen. Ich habe es meiner Mutter nie übel genommen, dass sie mich nicht davor bewahrt hat. Doch es gibt wohl kein Ereignis in meiner Kindheit, das mein Leben in den folgenden Jahren so sehr bestimmen sollte wie dieser Unfall.

Meine kleinen Fußsohlen waren schwer verbrannt. In Panik brachten meine Eltern mich ins nächste Krankenhaus. Sieben Wochen musste ich dort in der Obhut der Krankenschwestern bleiben und sah meine Eltern fast nie. Das Krankenhaus war eine Tagesreise mit dem Pferdewagen von unserem Dorf entfernt und der Weg war zu weit und beschwerlich, als dass meine Mutter oder mein Vater mich täglich hätten besuchen können. Beide hatten auf dem Feld, im Haus und mit meinen Geschwistern zu tun, sodass sie keine andere Möglichkeit sahen, als mich wochenlang allein zu lassen.

Doch das war noch nicht alles. Ich verlor den kleinen rechten Zeh und es dauerte Jahre, bis ich meinen Fuß wieder normal benutzen konnte. Tatsächlich musste ich mehrmals operiert werden. Die Behandlung war erst abgeschlossen, als ich sieben Jahre alt war. In dieser Zeit blieb ich im Krankenhaus immer wieder mir selbst überlassen. Für mich fühlte sich das an, als hätten meine Eltern mich ausgesetzt. In mir wuchs die tiefe Überzeugung, dass ich nicht geliebt wurde, dass ich keinem vertrauen konnte, nicht einmal den Menschen, die mich versorgten und beschützten. Dabei haben meine Eltern nicht nur die größten Mühen auf sich genommen, um mir die Operationen logistisch zu ermöglichen, sie war auch mit hohen Kosten verbunden. Doch meine Kinderseele verstand dies nicht und schrie vor Schmerzen, Angst und Einsamkeit. Die Beziehung zu meiner Mutter wurde dadurch schwer belastet.

Mit meinem Vater verstand ich mich dagegen sehr gut. Er war ein wunderbarer Papa. Als ich klein war, trug er mich oft huckepack, weil ich wegen meiner Fußoperationen nicht richtig gehen konnte. Er war Sonntagsschullehrer und einer der Leiter im Dorf. Er erzählte uns oft Geschichten, spielte mit uns Völker- und Volleyball oder vertrieb sich die heißen Sommernachmittage mit uns beim Herumalbern im trüben Wasser der nahegelegenen Tümpel oder in den Wäldern. Doch das allein reichte nicht.

Als ich vier Jahre alt war, beschloss ich, künftig ohne Liebe auszukommen. Ich war mir sicher, dass ich sie weder brauchte noch verdient hatte, so wie mein Opa es seinen Kindern immer wieder gesagt hatte. Ich glaubte, ich sei der Liebe nicht wert. Stattdessen wollte ich gut sein. Ich wollte alles richtig machen, aus eigener Kraft heraus. Was für eine schreckliche Lüge ich mir selbst damals einredete, erkannte ich erst als erwachsene Frau. Mein Wasserglas hatte bereits Risse bekommen.

Als ich sieben Jahre alt war, bekannte ich mich zu Jesus Christus. Ich wollte eine fromme Christin sein, wie alle Menschen in meiner Gemeinschaft – nur besser. Ich fastete, betete, las die Bibel von vorn bis hinten durch. Doch ich hatte keine Ahnung, was Gnade bedeutet. Je mehr ich mich bemühte, desto verbissener wurde ich. Die streng religiöse Gemeinschaft, in der ich aufwuchs, tat ihr Übriges. Einerseits liebte ich die Nähe und Verbundenheit in der Kolonie. Doch wenn ich heute zurückblicke, dann erkenne ich auch, wie hart und unnachgiebig die Mennoniten sein konnten.

Zu meiner Schulzeit war es noch ganz normal, dass Kinder von den Lehrern diszipliniert wurden, durch Worte, aber auch durch körperliche Züchtigung. Wir bekamen Stockschläge auf den Po, wie noch etwa zwanzig Jahre zuvor in Deutschland. Der Drill sollte uns zu besseren Schülern und folgsameren Kindern machen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, gingen die Schläge nicht selten daneben und trafen nicht das Hinterteil, sondern Arme oder Beine. Wir standen dadurch unter einem enormen Druck: Entweder wir machten alles richtig, dann kamen wir ohne blaue Flecken davon. Oder wir scheiterten – und bekamen das zu spüren. Manche Kinder – ich war eines davon – steigerten sich zu Höchstleistungen. Ich schrieb Einsen, beteiligte mich am Unterricht und war meistens Klassenbeste.

Doch in diesem knallharten System von Leistung und Strafe fielen weniger gute Schüler durch das Raster. Eine mir sehr nah stehende Person war eine davon. Sie war nie gut in der Schule. Sie scheiterte wieder und wieder und erkrankte irgendwann schwer. All die Rückschläge machten sie zu einem psychischen Wrack. Sie wusch sich oft stundenlang die Hände, weil sie sich durch und durch schmutzig fühlte. Sie wurde tieftraurig, verlor ihren Lebenswillen und begab sich später wegen Depressionen und Zwangshandlungen zeitweise in stationäre Behandlung.

Heute wissen wir, dass sich Intelligenz auf unterschiedliche Weise zeigt. Manche können gut mit Zahlen umgehen, andere verschlingen Bücher und merken sich alles, was darin steht. Wieder andere sind künstlerisch begabt und können mit Zahlen und Buchstaben wenig anfangen. Auch soziale oder handwerkliche Kompetenz kann ein Zeichen von Intelligenz sein. In meiner Kindheit zählten diese Dinge nicht. Wer keine guten Noten hatte, galt als dumm. Gerechtigkeit und Disziplin waren wichtiger als ein liebevoller und gnädiger Umgang. Wenn ich heute zurückblicke, dann erscheint es mir verrückt: Wir waren Christen, aber mit christlicher Gnade hatte unser Leben wenig zu tun. Wir wollten so sehr gerecht vor Gott sein, dass die Liebe auf der Strecke blieb.

Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich mich vor Gott beweisen. Früher hatte ich Volleyball und Fußball gespielt, weil ich den Sport liebte. Dies verbot ich mir nun selbst. Ich erzählte keine Witze mehr, ich lachte nicht mehr, ich traf mich nur noch selten mit Freunden, denn all das waren in meinen Augen weltliche Dinge, Aktivitäten, die mich von Gott ablenkten. Ich zeigte keine Gefühle mehr, verkroch mich, schottete mich ab. Mit 16 Jahren war ich eine leere Hülle geworden. Nichts an mir war wahrhaftig oder lebensfroh. Ich versuchte, aus mir selbst eine Heilige zu machen, frei von jeder Sünde. Hätte ich damals doch begriffen, wie sehr das dem widerspricht, was Gott mit uns vorhat!

Zur gleichen Zeit hörte ich auf zu essen. Ich dachte, durch genug Selbstdisziplin würde ich auch meinen Hunger kontrollieren können. Außerdem fühlte ich mich hässlich und dick. Doch so wie manchmal meine unterdrückten Emotionen so stark aus mir herausbrachen, dass ich weinte und schrie und mich später schrecklich schämte, stopfte ich mich immer wieder mit Nahrungsmitteln voll. Zuerst wurde ich magersüchtig, dann bulimisch. Nach meinen Fressattacken erbrach ich mich heimlich. Dass meine Verhaltensweise eine Krankheit war, die sogar einen Namen hatte und behandelt werden konnte, war mir damals nicht bewusst. Ich hielt mich stattdessen für besonders fromm. Einerseits hasste ich mich und mein Äußeres, andererseits hielt ich mich für freundlich und bescheiden, stark und gottesfürchtig.

Während ich versuchte, mein Verhalten und mein Gewicht komplett zu kontrollieren, hatten sich die meisten meiner noch verbliebenen Freunde von mir abgewendet. Niemand konnte und wollte mit mir zu tun haben. Ich war superfromm – und supereinsam.

Mein Vater war mir jedoch immer sehr nah. Immer dann, wenn es mir schlecht ging, weil ich mich hässlich oder wertlos fühlte, kam er mir nach. Ich sprach damals mit niemandem darüber, stahl mich nur still und heimlich davon. Ich schlurfte mit gesenktem Kopf durch die Wälder oder entlang den Pferdekoppeln. Plötzlich stand mein Vater neben mir. Nicht, um mir Weisheiten über das Leben beizubringen oder mir zu sagen, dass eines Tages alles besser werden würde, sondern einfach, um mit mir gemeinsam zu schweigen und meinen Schmerz auszuhalten. Er war kein Mann der großen Worte. Und das war gut so.

Seit meinem siebten Lebensjahr hörte ich Gottes Ruf, Missionarin zu sein. Doch das auszuleben war so weit von mir entfernt wie die Menschen um mich herum, von denen mich eine tiefe Kluft trennte. Ich fragte mich verzweifelt, wie ich heilig und zugleich den Menschen nah sein konnte. Ich war einsam, krank und wütend.

Doch dann begegnete mir Gott. Beim ersten Mal verstand ich es nicht gleich, denn er ist ein Gentleman und oft sehr zurückhaltend. Beim zweiten Mal konnte ich nicht anders, als mein Leben komplett umzukrempeln.

Nach der Schule hatte ich eine Lehre als Krankenschwester begonnen. Auch dort übergab ich mich regelmäßig nach dem Essen. Ich ging dafür auf die öffentliche Toilette und wartete, bis niemand mich hören konnte. An einem Tag machte ich mich wie immer auf den Weg zum WC, doch jeder Raum war besetzt. Die Türen wollten und wollten sich nicht öffnen. Ich geriet in Panik. Bulimie ist eine Sucht, wer ihr verfallen ist, der muss dem Drang einfach nachgeben. Es ist wie bei einem Drogenabhängigen. Um an seinen Stoff zu kommen, tut er alles und wirft all seine Prinzipien über Bord. Jeder Gedanke ist nur noch davon bestimmt, die Sucht zu befriedigen. So war es auch bei mir. Ich musste die Kalorien unbedingt wieder loswerden. Ich sah im Geiste vor mir, wie sie sich in Fett verwandelten, das mich hässlich machen würde, davon war ich überzeugt und der Gedanke machte mich halb verrückt. Deshalb sprang ich auf mein Fahrrad und radelte ein Stück vom Schulgebäude weg ins offene Gelände. Ich fand ein Gebüsch, suchte Deckung hinter Ästen und Blättern, würgte – und wurde aufgehalten. Ein riesiger Mückenschwarm summte plötzlich über meinem Kopf. Ich stolperte und hielt mir Mund und Nase zu, damit die Tiere nicht in meine Atemwege gerieten. Schließlich flüchtete ich.

Ich glaube, dass Gott auf diesem Weg zu mir gesprochen hat. Dieser Mückenschwarm, so dachte ich damals, hat mich genauso überwältigt, wie meine Sucht mich immer wieder überwältigt. Sie schwirrt um mich herum, verfolgt mich, zwingt mich wegzulaufen, und ich bin völlig machtlos gegen diese Kraft. An diesem Tag erkannte ich, dass ich krank bin. Heute kann ich mir diese Begebenheit nur so erklären, dass es Gott war, der diesen Schwarm schickte und in mein Herz sprach.

Doch dabei blieb es nicht. Als ich wenige Monate später 18 Jahre alt wurde und immer noch bulimisch war, beschloss ich, drei Tage zu fasten. Das war nichts Besonderes für mich, ich fastete regelmäßig. Das Fasten gehörte für mich zur religiösen Praxis und nebenbei kam es meiner Magersucht entgegen. Bei einer Körpergröße von 1,75 Metern wog ich nur 52 Kilo. Am Ende dieser drei Tage saß ich allein im Klassenzimmer, alle anderen Schwesternschülerinnen waren schon gegangen. Und plötzlich hörte ich eine Stimme, laut und deutlich – nicht nur in meinen Gedanken, sondern mit meinen eigenen Ohren.

»Hedi, ich liebe dich!«, sagte sie.

Mir war klar, dass es Jesus selbst sein musste, der da mit mir sprach, doch ich konnte seine Worte nicht glauben. Jesus liebt mich? Über zehn Jahre lang hatte ich mich bemüht, ihm zu gefallen, hatte mich selbst dafür geopfert, meine Freunde, meine Hobbys, sogar meine Gesundheit. Und trotzdem fühlte ich mich nie gut genug. Und nun begann mein Gott ein Gespräch mit mir! Das erste Mal in meinem Leben. Ausgerechnet mit dieser Zusage! Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt und wie wenig damit gerechnet! Konnte das wahr sein? Dass er mich liebte? Dass er kein alter Mann mit einer Peitsche war, der nur darauf wartete, dass ich einen Fehler machte? Plötzlich wurde mir klar: Dieser Jesus, dieser Gott, hatte jahrelang auf den richtigen Moment gewartet, um mich zu erreichen. Er hatte so lange gewartet, bis ich mich fast selbst verloren hatte, um mir zu zeigen, dass verbissene Religiosität nicht der Schlüssel zu einer Beziehung mit ihm ist. Dass es nicht darum geht, immer alles richtig zu machen. Es ist viel einfacher. Er ist viel liebevoller. Er hat sich selbst in meinen Dreck hineinbegeben, als Priester, König, Schöpfer und Herrscher der ganzen Welt seinen Mantel über mich gelegt und so meine Scham und Blöße bedeckt.

Mein Kartenhaus fiel in sich zusammen und ich begann, seine Liebe zu verstehen. Und ich erkannte die Lüge, unter der ich lebte und die unsichtbar über unserer Familie stand. »Mich mochten sie nicht, also brauchen sie euch auch nicht zu mögen« – die Worte klangen in meinen Ohren wider und wirkten plötzlich so falsch. Ich erkannte, was Petrus in der Bibel beschreibt: Jesus hatte mich schon lange befreit von den Lügen meiner Vergangenheit, doch erst jetzt begriff ich dies. So hatten Gott und ich unser erstes Gespräch.

Jesus sagte: »Ich möchte dir geben, wonach du so lange gesucht hast.«

Ich antwortete: »Gott, ich bin so verzweifelt. Alles in mir schmerzt.«

»Wenn du geheilt werden möchtest, dann geh nach Hause und vergib deiner Mutter.«

»Ich? Niemals! Nicht bevor sie nicht auf Knien darum bettelt.«

»Möchtest du das echte Leben kennenlernen?«

»Ja, sehnsüchtig.«

»Dann geh und vergib deiner Mutter und bitte sie um Vergebung für das Unrecht, das du ihr angetan hast.«

Damit war unser Treffen beendet.

Gott wusste, dass meine Magersucht und mein Selbsthass in der Beziehung zu meiner Mutter wurzelten. Sie war es, die mich alleingelassen hatte, als ich sie als Säugling gebraucht hätte. Sie war es, die zu Hause geschimpft und geschrien hatte, die nicht in der Lage gewesen war, ein Heim zu schaffen, in dem ich mich wertgeschätzt fühlte. Sie war es, die mich den Lehrern in der Schule ausgesetzt hatte. Sie hatte mir ein falsches Gottesbild vermittelt. Sie, sie, sie! Natürlich ist das nur ein Teil der Wahrheit. Doch das war es, was ich all die Jahre gefühlt, mir aber nie hatte eingestehen wollen.

So ging ich an diesem Nachmittag nach Hause. Meine Mutter und ich suchten uns einen ruhigen Ort, setzten uns dort an den Tisch und sprachen über unser Leben. Sie war ebenso bereit dazu wie ich. Gott hatte auch sie vorbereitet. Ich erinnere mich nicht mehr genau an dieses Gespräch, aber ich weiß noch, dass wir beide weinten. Meine Mutter gab zu, Fehler gemacht zu haben. Sie bat mich um Vergebung und ich gewährte sie. Und auch sie vergab mir meine Fehler. Es war das erste Mal, dass wir uns unsere Verletzlichkeit bekannten. Wir gaben zu, dass wir zerbrochene Menschen waren, undichte Gläser, aus denen das Wasser schon fast ganz ausgelaufen war. Gott saß mit uns am Tisch und schaffte Versöhnung. An diesem Tag habe ich gelernt: Vergebung beginnt mit dem Willen, sie zuzulassen – und mit Gehorsam.

Von da an änderte sich alles in meinem Leben. Es war der Beginn eines langen Versöhnungsprozesses mit meiner Mutter und in meiner Familie. Der Tag, an dem Gott mir begegnete, war der Anfang, Mama und ich fanden langsam zueinander. Heilung braucht Zeit. Wir erlebten Rückschläge und Fortschritte. Heute kann ich sagen: Meine Mutter ist mir eine sehr gute Freundin geworden. Sie hat mich fortan in allem unterstützt, was ich unternommen habe, auch wenn es nicht ihren Idealen und ihrer Weltanschauung entsprach. Ich wurde von der Liebesbegegnung mit Gott derart überrumpelt, dass mich danach keine zehn Pferde mehr aufhalten konnten: Ich wurde ein buntes, quirliges, vor Liebe überschäumendes Mädchen. Ich weiß bis heute nicht, was es meinen Eltern ermöglicht hat, immer und auch durch all meine verzweigten Lebenswege und teils verrückten Entscheidungen hindurch zu mir zu stehen. Vielleicht hat Gott mir den Wind unter die Flügel und zugleich ihnen Wurzeln gegeben, um mir die Heimat zu schaffen, nach der ich mich so lange gesehnt hatte und die ich in den folgenden Jahrzehnten, in denen ich unterwegs war, so sehr brauchen würde.

Meine Mutter ist der Mensch, den ich von meiner früheren Gemeinschaft in Paraguay am meisten vermisse. Mir fehlen ihr ovales Gesicht und ihr schwarzes, inzwischen ergrautes Haar. Sie hat ein neckisches Funkeln in ihren Augen, das mit den Jahren immer wärmer und liebevoller wurde. Sie zieht sich noch immer an wie in meiner Kindheit, trägt Blumenkleider und karierte Blusen darüber. Es passt kein bisschen zusammen, aber ich liebe sie dafür. Sie hat ihr ganzes Leben auf der Farm verbracht. Sechs Kinder hatte sie zu versorgen, aber sie nähte gern und züchtete Rosen. Jede freie Minute investierte sie in ihre Hobbys, mit denen sie vielen eine Freude machte. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie damals die Zeit dafür gefunden hat. Sie las auch gern und viel. Sie war stets gut informiert über alles, was in Politik und Gesellschaft vor sich ging. Was ihre Kinder interessierte, interessierte sie ebenfalls.

So wie die Bitterkeit jahrzehntelang in meiner Familie gehegt wurde, so hielt damals Heilung in unserem Haus Einzug. Meine Mutter konnte meinem Großvater vergeben, obwohl er schon lange gestorben war. Jahrzehnte später, als ich selbst Mutter eines Kleinkindes war und im Sudan lebte, traumatisiert durch schreckliche Erlebnisse und Verluste, war ich in der Lage, meinen Großvater besser zu verstehen. Ich war damals selbst derart verängstigt und überfordert, dass ich den Zorn in mir kaum bändigen konnte, weil ich durch meine Erlebnisse tief traumatisiert war. Ich schrie zu Gott und fragte ihn, woher dieser Jähzorn kam.

Ich beschäftigte mich damals neu mit dem Satz, der wie ein Damoklesschwert über meiner Familie zu hängen schien: »Mich mochten sie nicht, also müssen sie euch auch nicht mögen.« Bei meinem nächsten Aufenthalt in Paraguay suchte ich all die Überlebenden auf, von denen ich wusste, dass sie meinen Opa gekannt hatten. Ich wollte wissen, was hinter diesem anscheinend so bitteren Mann steckte, und wurde total überrascht: »Hedi, dein Großvater war ein gesalbter Mann Gottes. Wenn er betete, war es, als ob der Himmel sich öffnete. Wenn er sang, war es, als ob die Engel mitsangen«, sagten manche. Sie berichteten auch von Uneinigkeiten in der Ansiedlungszeit zwischen den Ältesten. Manche wollten meinen Opa aus Eifersucht loswerden. Sie drängten ihn aus der Gemeindearbeit. Das wirkte sich nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf die kommenden Generationen seiner Familie aus. Der Zorn bekam noch mehr Raum.

Es ist wichtig, das offen zu sagen: Licht verscheucht die Dunkelheit, die Wahrheit setzt frei. Keine Familie oder Gemeinschaft ist perfekt. Meine Leute mussten erkennen, dass Gott nur Gutes über sie und uns denkt. Wir haben die Lüge, die über unserer Familie hing – dass wir nicht gemocht werden – bewusst aus unserem Leben verbannt. Nachdem ich inzwischen in über zwanzig Ländern gepredigt und die Geschichten so vieler Menschen gehört habe, ist mir bewusst, dass oft die Verbannten, Ausgestoßenen, Abgelehnten diejenigen sind, mit denen Gott etwas Besonderes vorhat. Doch dafür ist Vergebung und Versöhnung notwendig.

Das galt auch für uns. Endlich, Jahrzehnte nach der Gründung der Neuland-Kolonie, konnten wir wirklich neu anfangen. Ich besiegte meine Magersucht auf wundersame Weise ganz schnell. Noch heute faste ich gelegentlich, aber ich tue es aus Liebe zu Gott und ich genieße jede Mahlzeit, die ich zu mir nehme. Ich liebe gutes Essen! Auch mein Charakter veränderte sich. Vor der Begegnung mit Jesus hatte ich mein Leben als Kampf betrachtet. Ich war verbissen, wollte keiner Versuchung erliegen, immer perfekt sein. Ich hatte damals ein blaues Fahrrad, das einfach ein Mittel zum Zweck gewesen war. Doch plötzlich genoss ich es, mit diesem kleinen Gefährt durch die Kolonie zu sausen. Meine Haare wehten im Wind, ich sang und lachte. Für die Menschen in meiner Gemeinschaft war das schwer zu verstehen. Ich glaube, manche hielten mich für verrückt. Dabei hatte ich doch einfach nur entdeckt, wie schön das Leben sein kann!

Mein Vater und meine Mutter sind heute im Ruhestand. Sie leben nicht mehr auf der Farm, sondern in der nahegelegenen Stadt Filadelfia, dem Zentrum unserer Kolonie, das inzwischen etwa 18 000 Einwohner hat. Sie fahren gemeinsam Fahrrad oder helfen bei wohltätigen Organisationen mit. Mein Vater spielt Billard mit den Bewohnern eines Altenheims, meine Mutter häkelt mit den alten Damen. Die Nachmittage verbringt sie auf ihrer Veranda. Sie liest bis zu drei Bücher in der Woche oder strickt. Als ich in Ostafrika lebte, habe ich sicher Hunderte ihrer Topflappen verschenkt. Sie ist eine wunderbare Frau, versteckt unter wild gemusterten Klamotten. Ich kann kaum verstehen, dass es eine Zeit gab, in der ich das nicht sehen konnte und wollte. Wie froh bin ich, dass Gott uns wieder zusammengebracht hat!

Mit meinem neuen Verständnis des christlichen Glaubens war ich nicht allein. Anna, meine Mitbewohnerin im Schwesternheim, glaubte ebenfalls, dass Gott mehr ist als Regeln und sonntägliche Gottesdienste. Regelmäßig setzten wir uns zusammen, um zu beten, zu singen, über die Bibel zu sprechen und Gott neu zu entdecken. Wir sind noch heute sehr gute Freundinnen.