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Band 215

 

Botschafter des Imperiums

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Amatae

2. Tamanur da Gonozal

3. Thora Rhodan da Zoltral

4. Amatae

5. Tamanur da Gonozal

6. Farouq Rhodan da Zoltral

7. Amatae

8. Farouq Rhodan da Zoltral

9. Tamanur da Gonozal

10. Thora Rhodan da Zoltral

11. Amatae

12. Farouq Rhodan da Zoltral

13. Tamanur da Gonozal

14. Amatae

15. Farouq Rhodan da Zoltral

16. Tamanur da Gonozal

17. Farouq Rhodan da Zoltral

18. Farouq Rhodan da Zoltral

19. Thora Rhodan da Zoltral

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, wagt Rhodan eine Expedition in ein fernes Sternenreich – zum Compariat. Auf der Reise ereignet sich ein katastrophaler Unfall. Rhodans Raumschiff, die FANTASY, strandet am Rand des Compariats.

Währenddessen kommt es im Solsystem zu folgenreichen Entwicklungen. Ein fremdes Raumschiff havariert auf dem Neptunmond Triton, jemand schickt ein geheimnisvolles Signal aus dem Wrack. Sofort bricht die Arkonidin Thora mit der CREST II zu einer Rettungsmission auf – und trifft auf den BOTSCHAFTER DES IMPERIUMS ...

1.

Amatae

 

Die Totra war nur knapp zwei Meter von Amatae entfernt. Für ein Tier, das mit Leichtigkeit in der Lage war, mit einem einzigen Sprung Distanzen bis zu fünf Meter zurückzulegen, ein geradezu lächerlicher Abstand.

Fasziniert betrachtete die Mehandor die fast dreißig Zentimeter langen, messerscharfen Krallen der Kreatur, deren schlangengleicher Körper sich wie eine Metallfeder zusammengezogen hatte. Drei kleine, hinter dicken Hornwülsten verborgene Augen starrten Amatae an. Die Totra wiegte den sichelförmigen Kopf sanft hin und her, als wolle sie Amatae hypnotisieren.

Auf Urlan III warst du die unumschränkte Königin des Dschungels, dachte die Mehandor nicht ohne Bedauern. Im Gegensatz zu den meisten anderen Passagieren im zentralen Großhangar der VETRONA, hatte man die Totra nicht sedieren können. Ihr hochaktiver Metabolismus reagierte auf jede Form von Tranquillanzien fatal. Sobald Totras aufhörten, sich zu bewegen, kam ihr Blutkreislauf zum Stillstand, was binnen weniger Minuten zu ihrem Tod führte.

»Ganz ruhig, meine Große.« Amatae warf dem gut zwei Meter langen Tier einen faustgroßen Fleischbrocken durch das Gitterfenster zu. Echtes Taurackfleisch, von dem man auf dem arkonidischen Kolonialplaneten fast eine Tonne an Bord genommen hatte. Das normalerweise verfütterte, mit Vitaminen und Nährstoffen versetzte Synthofleisch rührte die Totra nicht an.

Mit wohligem Schaudern beobachtete Amatae, wie das breite, von zwei Doppelreihen kleiner, aber messerscharfer Zähne beherrschte Maul der Totra den Leckerbissen aus der Luft schnappte und hastig hinunterschlang – ohne die Mehandor dabei auch nur eine Sekunde aus ihrem Blick zu entlassen.

»Mehr gibt es nicht!« Amatae trat einen Schritt zurück.

Das Tier knurrte unwillig, als hätte es die Worte der jungen Frau verstanden. Erst als Amatae ihr schmales Kontrollpult an der Stirnwand des Hangars erreicht hatte, wandte sich die Totra ab und trottete in die hinteren Bereiche des großzügig bemessenen Käfigs zurück.

Dennoch kein Vergleich zu den weitläufigen Urwäldern auf Urlan III, dachte die Mehandor. Sie rief ein Hologramm auf und kontrollierte die Vitalwerte der Totra. Seit dem Start der VETRONA hatte sich deren allgemeine körperliche Verfassung kaum verändert. Das Tier vertrug die Reise erstaunlich gut, was Amatae sehr freute.

Routinemäßig überprüfte die Mehandor auch die Vitalanzeigen ihrer übrigen Schutzbefohlenen; eigentlich eine sinnlose Tätigkeit, denn sobald einer der Messwerte von der Norm abwich, hätte die Positronik Amatae sowieso benachrichtigt. Aber sie hatte es sich nun mal angewöhnt, und da rund neunzig Prozent der Tiere im biologischen Tiefschlaf lagen, gab es für sie ohnehin nicht allzu viel zu tun.

Außerdem war der Internationale Zoo von Terrania sehr penibel, was die Dokumentation des Transports seiner Neuzugänge betraf. Matriarchin Patralis hatte einen erheblichen Aufwand betreiben müssen, um den entsprechenden Vorgaben der Menschen gerecht zu werden. Amatae erinnerte sich an eine der ersten Besprechungen, an der die Sippenchefin persönlich teilgenommen hatte. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich praktisch sekündlich verdüstert, während sie nach und nach erfuhr, welche Investitionen nötig waren, um den Großhangar der VETRONA in einen für Tiere geeigneten Frachtraum zu verwandeln.

»Bei allen Gespinsten des Handelsministeriums!«, hatte Patralis schließlich ausgerufen. »Dieses Viehzeug reist komfortabler als ich! Vielleicht sollte ich überlegen, mich selbst in diesem verdammten Menschenzoo einzuquartieren ...«

Ihre engsten Vertrauten hatten pflichtschuldig gelacht. Amatae dagegen hatte sich nur ein schwaches Lächeln abringen können. Sie arbeitete zwar erst seit ein paar Jahren als freie Koordinatorin für Lebendtransporte, doch in dieser Zeit hatte sie bereits einiges erlebt. Das legale Geschäft mit exotischen Tieren für Parks, Zoologische Gärten und Forschungseinrichtungen, aber auch der illegale Handel mit reichen Privatsammlern und Jägern blühte. Viele Frachtdienstleister waren allerdings der Ansicht, dass Tiere sich nicht besonders von gewöhnlicher Ladung unterschieden. Die Konditionen, unter denen die bedauernswerten Kreaturen teilweise befördert wurden, spotteten daher allzu häufig jeder Beschreibung. Sie setzten die Tiere enormem Stress aus, indem sie sie nicht nur aus ihrem gewohnten Lebensraum rissen, sondern sie obendrein in zu engen Käfigen einpferchten und sie unter nicht im Mindesten artgerechten Bedingungen über Tage hinweg durchs All kutschierten.

Amatae wusste inzwischen, dass die Verfassung der Terranischen Union einen Passus enthielt, der Tieren eine erstaunliche Menge an Rechten zugestand. Besonders ein Satz hatte sie dabei tief beeindruckt. Sie konnte ihn noch immer auswendig: Die Freiheit und der moralische Charakter einer Gemeinschaft, hieß es dort, manifestieren sich in erheblichem Maße durch deren Umgang mit den schwächsten ihrer Mitglieder. Die Terraner zählten zu diesen Mitgliedern auch die Tiere – und entsprechend streng waren die Auflagen gewesen, die Matriarchin Patralis hatte erfüllen müssen, um diesen lukrativen Auftrag an Land zu ziehen.

Nachdem Amatae von der Sippenchefin und Kapitänin der VETRONA als Beraterin engagiert worden war, hatte sich die junge Mehandor ausgiebig über den Internationalen Zoo von Terrania informiert. Dort legte man großen Wert darauf, den Tieren mittels modernster Holotechnik, Klimakontrolle und positronischer Überwachung ein Leben zu ermöglichen, das sich kaum von dem in freier Wildbahn unterschied. Die riesige Anlage, die man mitten in der Wüste errichtet hatte, galt auf der Erde, der Heimatwelt der Menschen, als eine der größten Attraktionen des Planeten.

Amatae war noch nie auf der Erde gewesen, und sie freute sich auf den Besuch. Sie hatte bereits mehrfach Kontakt mit Aulora de Vries gehabt, die den Zoo leitete. Die hochgewachsene Frau mit den stoppelkurzen Haaren hatte Amatae versprochen, sie persönlich herumzuführen und ihr alles zu zeigen. Dabei war der Stolz in ihrer Stimme unüberhörbar gewesen, und wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was Amatae über den Tierpark gelesen hatte, hatte de Vries allen Grund dazu.

Ein leises Summen riss die Mehandor aus ihren Gedanken. Ihr Blick fiel zuerst auf die kurze Warnmeldung und huschte dann nach rechts in den hinteren Bereich des Hangars. Dort war ein Abschnitt mit rötlich schimmernden Prallfeldern vom Rest des Areals isoliert. Der im Zentrum der Schutzzone verankerte Container unterlag besonderen Sicherheitsbestimmungen – und das, obwohl sein einziger Insasse nicht bei Bewusstsein war.

Die Positronik hatte registriert, dass die Temperatur im Innern des Containers um 1,8 Grad Celsius gefallen war. Damit lag sie geringfügig außerhalb der festgelegten Normparameter. Amatae korrigierte manuell nach, und die Meldung verschwand.

Solche kleineren Abweichungen gab es öfter. Die VETRONA entstammte nicht unbedingt der modernsten Baureihe mehandorischer Walzenschiffe – und das beschrieb ihren allgemeinen Zustand schon mit reichlichem Wohlwollen. Zwar hatte es der Frachter vor einigen Monaten noch einmal durch die vorgeschriebene Jahresinspektion geschafft, doch kursierten seitdem Gerüchte unter der Besatzung, dass das hauptsächlich an den guten Beziehungen lag, die Matriarchin Patralis mit dem Chef der Prüfbehörde auf Kakomar pflegte, dem Heimathafen der VETRONA. Die besondere Betonung, die dabei auf gute Beziehungen lag, ließ erahnen, dass es weniger um technische als um körperliche Belange ging.

Amatae kümmerte das nicht besonders. Solcher und ähnlicher Tratsch kursierte auf jedem Schiff und gehörte zur Handelsraumfahrt einfach dazu. Die VETRONA war ganz sicher nicht das beste Frachtschiff, auf dem sie bisher mitgeflogen war, aber auch nicht das schlechteste.

Amatae hatte das Tier, das in dem isolierten Transportbehälter ruhte, nur einmal mit eigenen Augen gesehen, während der Verladung auf dem Raumhafen von Kakomar. Man hatte ihr das zuerst nicht gestatten wollen, doch Amatae ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Verantwortung nur für solche Tiere übernahm, die sie vor Reiseantritt persönlich untersucht hatte.

Sie aktivierte die Holokameras, die das Containerinnere erfassten. Auf den ersten Blick wirkte der braune, an manchen Stellen ins Ocker spielende und nur gut einen Meter lange Körper eher unscheinbar. Das Tier lag auf der Seite, die acht kräftigen Beine leicht angewinkelt. Das hintere Beinpaar war stärker ausgeprägt, die vier mittleren Gliedmaßen wirkten kürzer, was unter anderem daran lag, dass sie statt der tellergroßen, krallenbewehrten Tatzen der Vorderläufe eine Reihe von Saugnäpfen aufwiesen. Das breite Maul mit seinen extrem harten und scharfen Reißzähnen war geschlossen. Die beiden Nüstern der spitzen, unmittelbar unter den zwei Facettenaugen liegenden Nase blähten sich mit jedem Atemzug der schlafenden Kreatur wie die Membransegel eines mehandorischen Faltdrachens.

Amatae hatte das Tier nie persönlich in Aktion erlebt, aber die Holobilder waren beeindruckend genug gewesen. Dem Frachtmanifest zufolge hatte ein Prospektorentrupp das Tier auf der Suche nach Bodenschätzen durch reinen Zufall auf einer unbewohnten Welt im Hanin-Teshak-Sektor des Großen Imperiums entdeckt und eingefangen. Die Prospektoren hatten ihre Beute in einem Anflug von Sarkasmus Tupanthi getauft, was aus dem Satron übersetzt so viel wie »kleiner Imperator« bedeutete. Den wenigen Aufnahmen zufolge, die Amatae zu Gesicht bekommen hatte, war der Tupanthi ein ebenso schneller wie kompromissloser Jäger. Bis die Arkoniden das begriffen hatten, war es für drei von ihnen bereits zu spät gewesen.

Das eigentliche Rätsel hatte sich jedoch erst offenbart, als man die seltsame Kreatur genauer untersuchte. Schnell fand man heraus, dass sie auf keinen Fall auf der Welt entstanden sein konnte, auf der man sie gefunden hatte. Denn trotz intensiver Nachforschungen stieß man dort auf keine weiteren Exemplare.

Außerdem zeigten die Scans eine höchst ungewöhnliche Biostruktur, welche die Arkoniden als »Kompaktkonstitution« bezeichneten. Damit war gemeint, dass die Knochen, Sehnen und Muskeln des Tupanthi die Härte und Belastbarkeit von bestem Arkonstahl aufwiesen. In dem leider unvollständigen Bericht war von doppelwandigen Zellen, phylolytischer Molekülverdichtung und explosiver Kernteilung die Rede gewesen. Die Hälfte davon hatte Amatae nicht verstanden. Eins war ihr allerdings schnell klar geworden: Der Tupanthi war kein gewöhnliches Tier. Niemand wusste, woher er stammte und wie er auf einen einsamen Planeten am Rand des arkonidischen Sternenreichs gelangt war. Deshalb lag die Vermutung nahe, dass es sich um eine genetische Züchtung handelte. Wahrscheinlich illegal. Und aus irgendeinem Grund hatte man das Zuchtergebnis dann auf einem einsamen Planeten ausgesetzt.

Die Prospektoren jedenfalls hatten sofort das große Geschäft gewittert. Es war erneut reiner Zufall gewesen, dass die Scouts des Internationalen Zoos von Terrania als Erste auf das Angebot der Arkoniden aufmerksam geworden waren, zumal die Zoobeauftragten ihre Offerte über eher zwielichtige Kanäle verbreiteten. Allerdings hatte Aulora de Vries Amatae erzählt, dass man regelmäßig auch die weniger legalen Quellen für Lebendware durchforstete, weil die wirklich ausgefallenen und unter besonderem Schutz stehenden Exemplare meistens nur dort und unter der Hand veräußert wurden. Auf diese Weise, so versicherte die Terranerin während der gemeinsamen Hyperfunkgespräche, hatte man schon eine ganze Reihe von Arten vor dem sicheren Aussterben bewahrt.

Amatae hatte keine Ahnung, was der Zoo für den Tupanthi bezahlt hatte, doch das Wissen, dass es das Tier auf der Erde gut haben würde, genügte ihr völlig. Schon seit die VETRONA vor vier Tagen von Kakomar aus gestartet war, freute sie sich darauf, Aulora de Vries endlich persönlich kennenzulernen.

Der neuerliche Alarmton hatte diesmal nichts mit den Tieren zu tun. Er hallte als kurzes, aber eindringliches Heulen durch den Hangar und kündigte die nächste Transition an. Sie würde den Frachter direkt an den Rand des Solsystems führen. Genauer gesagt: in unmittelbare Nähe des äußersten Planeten, der den Namen Neptun trug. Die Datenbanken hatten Amatae verraten, dass diese Bezeichnung auf einen Wassergott der Menschen zurückging. Überhaupt hatten die Terraner die meisten Welten ihres Heimatsystems nach Göttern benannt, was Amatae seltsam fand. Sie hatte noch nicht viele Menschen kennengelernt. Diejenigen indes, die sie bislang kannte, machten keinen besonders religiösen Eindruck.

Ich hätte mir mehr Zeit nehmen sollen, um mich über die Erde und ihre Bewohner zu informieren, dachte sie bedauernd. Aulora de Vries wird mich für dumm und eingebildet halten, wenn ich nicht mal über die grundlegenden sozialen Gepflogenheiten ihrer Kultur Bescheid weiß ...

Ein stechendes Ziehen im Nacken ließ sie zusammenzucken. Einige der nicht sedierten Tiere verliehen ihrem Unmut durch Keckern, Brüllen und Kreischen Ausdruck. Aus dem Käfig der Totra drang ein bösartiges Zischen.

Amatae fluchte, aber das half nur bedingt gegen die Nervenschmerzen, die eine Transition verursachte. Die Dämpfer der VETRONA waren ebenso alt und abgenutzt wie die meisten Aggregate an Bord, und für eine Wartung oder gar einen Austausch fehlte der Sippe das Geld.

Eine Sekunde später war das alles vergessen.

Die Erschütterung war so heftig, dass sie Amatae von ihrem Sessel riss und quer durch den Hangar schleuderte. Erst als ihr Rücken schmerzhafte Bekanntschaft mit der Frontseite eines Transportcontainers schloss, kam ihre rasende Fahrt zum Stillstand. Instinktiv griff sie nach dem Erstbesten, was ihre Finger ertasteten – eine der metallischen Zwischenstreben, die dem Containerrahmen Form gaben und Halt verliehen.

Die VETRONA schüttelte sich wie eine nasse Zilonka das Fell nach einem Regenguss. Das Schaukeln war so stark, dass Amatae beinahe losgelassen hätte und erneut durch den Hangar geschlittert wäre. Dann erfolgten die Explosionen.

Bei Mehan und Mehandra!, durchzuckte es sie. Was ist passiert?

Der Boden wies auf einmal eine deutliche Neigung auf. Mehrere kleinere Transportbehälter kamen ins Rutschen.

Die Schwerkrafterzeuger arbeiten nicht mehr einwandfrei, erkannte Amatae. Ihre Sorge galt dabei weit weniger sich selbst als ihren Tieren. Zwar waren die sedierten Exemplare mit Prallfeldern fixiert, doch wenn die künstliche Gravitation verrücktspielte, mochten auch andere technische Einrichtungen ausgefallen sein.

Von irgendwoher erklang eine blecherne Stimme. Wahrscheinlich eine Durchsage aus der Zentrale über Interkom; allerdings verstand Amatae kein Wort. Ringsum krachte und klirrte es. Es hörte sich an, als risse jemand mit bloßen Händen die Böden, Decken und Wände des Frachters auseinander.

Als sich die Schlingerbewegungen des Raumschiffs schließlich nach und nach abschwächten, glaubte Amatae bereits, das Schlimmste wäre vorbei. Doch dann kündigte ein neuer Alarmton eine Nottransition an. Die Mehandor erstarrte. Wenn die Zentralebesatzung so kurz nach dem vorigen Hypersprung einen weiteren einleitete, musste die Lage ziemlich aussichtslos sein. Eine Transition ohne ausreichende Refraktionszeit und Vorbereitung war ein Schritt, den man nur wagte, wenn alle anderen Alternativen ausgeschöpft waren.

Amatae klammerte sich an die Containerstrebe und schloss die Augen. Dann ging die Welt unter.

2.

Tamanur da Gonozal

 

»Energieumleitung!«, schrie Matriarchin Patralis gegen den Lärm in der Zentrale an. »Selim! Schick alles, was wir haben, in die Impulsdüsen. Tarena! Sag mir auf der Stelle, was hier los ist, oder du verbringst die nächsten zwanzig Freischichten damit, sämtliche Schrauben im Ersatzteillager zu polieren!«

Tamanur da Gonozal hatte seine Finger in die Armstützen seines ächzenden und knackenden Sessels gekrallt. Noch trotzte das Sitzmöbel den mörderischen Kräften, die auf die VETRONA einwirkten, doch den Geräuschen nach zu schließen, würde das nicht mehr lange der Fall sein.

»Kursabweichung!«, stieß Tarena hervor. Die Schwiegertochter der Matriarchin war eine für Mehandorverhältnisse eher bullige Frau mit langer, roter Mähne. Auf ihrer Stirn perlten dicke Schweißtropfen. Über ihr feuchtes Gesicht zitterten die Reflektionen der Datenholos. »Wir liegen sechzehn Einheiten neben der berechneten Route. Die Positronik spinnt mal wieder. Wir sind ... mitten in Neptuns Atmosphäre gelandet!«

Tamanur lenkte den Blick zurück auf das Panoramaholo, das die außerhalb des Frachters tobende Hölle abbildete. Die VETRONA taumelte durch ein Chaos aus Blau und Grau. Dort, etwa auf Höhe der Wolkengrenze des Planeten, lag die Temperatur bei minus 170 Grad Celsius, die Stürme in der hauptsächlich aus Wasserstoff, Helium und Spuren von Methan und Ammoniak bestehenden Atmosphäre erreichten Windgeschwindigkeiten von 120 Stundenkilometern. Riesige Zirruswolken aus Methaneis verdampften im flackernden Schutzschirm des Frachters und erzeugten wirbelnde Nebelschleier, die das Raumschiff als kometenähnlichen Schweif hinter sich herzog.

»Wir stürzen ab!«, rief Selim, einer der zahlreichen Söhne der Matriarchin, mit unüberhörbarer Panik in der Stimme. Seine Arme wischten ungelenk durch das Konglomerat aus Hologrammen, das ihn umgab.

Tatsächlich verlor die VETRONA rasend schnell an Höhe. Die dichte Suppe, durch die sie der Oberfläche von Neptun entgegenstürzte, machte den Abwehrschirmen schwer zu schaffen, zumal einige der Projektoren ausgefallen waren und etwa die Hälfte der Energiemeiler nur noch einen Bruchteil ihrer normalen Leistung lieferten.

Tamanur versuchte, die eigene Angst niederzukämpfen, indem er sich ins Gedächtnis rief, was er über die fremde Welt wusste. Neptun zählte streng genommen zu den Gasplaneten, obwohl er aufgrund der hohen Drücke in seinem Innern eine feste Oberfläche aus Wasser-Ammoniak-Eis hatte. In seinem Zentrum herrschten Temperaturen von mehreren Tausend Grad Celsius.

Erst in zunehmender Höhe wurde es kälter, und der Druck nahm ab. Dabei entstand eine Art Ozean, der weder gasförmig noch flüssig war. Physiker bezeichneten den Aggregatzustand, bei dem man nicht mehr zwischen diesen beiden elementaren Zustandsformen unterscheiden konnte, als »überkritisches Fluid«. Sobald die VETRONA in dieses Meer aus Wasserstoff, Wasser und Ammoniak hineinstürzte, würde es extrem schwierig werden, sich wieder daraus zu befreien und dieser Welt zu entkommen.

»Warum bremsen wir ab?«, wollte Patralis wissen. Die Sippenchefin hatte sich in ihrem Sessel weit nach vorn gebeugt. Trotz ihres hohen Alters von inzwischen über hundert Jahren wirkte sie noch immer äußerst agil. Dass sie das Regiment über ihre erstaunlich große Familie mit eiserner Hand führte, hatte der Arkonide während seiner Reise an Bord des Frachters bereits mehrfach hautnah miterleben dürfen.

»Wir bremsen nicht«, widersprach Tarena. »Wir fliegen durch ein Medium, das dick wie Karuumsülze ist, und unser Impulstriebwerk verliert stetig an Schub.«

Erneut durchliefen mehrere Erschütterungen die VETRONA. Tamanur da Gonozal wurde für einige Sekunden hart in seinen Sessel gepresst, nur um im nächsten Moment gewichtslos zu sein. Die Schwerkraftverhältnisse änderten sich sprunghaft, und er hatte plötzlich das Gefühl, auf dem Boden der Zentrale nach unten zu hängen. Dutzende von Trinkbechern, Datenstiften, Codekarten und ähnlichen Dingen fielen klirrend und klappernd Richtung Decke, bevor sich Oben und Unten wieder reorientierten.

So nah, dachte Tamanur deprimiert. So nah am Ziel. Ich habe das Solsystem erreicht und sterbe nun beim Orientierungsanflug.

»Nottransition einleiten!« Die Stimme der Matriarchin klang entschlossen. Doch der Arkonide hatte lange genug am Hof der Imperatrice gedient, um die Angst zu riechen, die diese beiden Wörter in der Zentrale der VETRONA verbreiteten. Statt Nottransition hätte Patralis auch Selbstmord sagen können. Es wäre auf das Gleiche hinausgekommen.

»Das ist Wahnsinn, Mutter!« Selim war offenbar der gleichen Ansicht. Die Spitzen des hellroten Flaums auf seinen Wangen, den er in grenzenlosem Optimismus als Bart bezeichnete, zitterten. »Bei dieser Geschwindigkeit reißt es uns das Schiff auseinander!«

Mit zwei schnellen Schritten war Patralis bei ihrem Sprössling und rammte ihm mit aller Kraft ihren Ellbogen gegen die rechte Kopfseite. Selim kippte mit einem Ächzen von seinem Sessel und schlug hart auf den Boden. Benommen rappelte er sich wieder auf. Er sah aus, als wolle er jeden Moment zu weinen anfangen.

»Das war keine Aufforderung zur Diskussion, sondern ein Befehl!«, stellte die Matriarchin klar. »Wenn wir die nächsten Minuten überleben wollen, ist das unsere einzige Chance. Und jetzt mach deine Arbeit, oder du wirst dir deine Mahlzeiten einen Monat lang aus den Abfallcontainern der Kantine zusammensuchen!«

»Ja, Mutter.« Es klang eher wie ein Schluchzen als wie eine Bestätigung.

Tamanur da Gonozal schüttelte kaum merklich den Kopf. Als Arkonide war er mit autoritärem Führungsstil vertraut. Dennoch übertrieb es Patralis seiner Meinung nach hin und wieder – vor allem, wenn es um die Mitglieder der eigenen Familie ging.

Khasurn tem Prago, Khasurn tem Zarakh. Familie ist Tag, Familie ist Nacht. Mit diesen Worten hatten Arkoniden schon vor mehr als zehntausend Jahren ausgedrückt, dass das eigene Blut sowohl größtes Glück als auch ewige Verdammnis bedeuten konnte. Doch was auch immer geschah: Die Familie stand über allem! Man demütigte ein Mitglied des eigenen Hauses nicht grundlos vor anderen.

Die VETRONA brüllte auf wie ein verwundetes Tier. Aus ihren Eingeweiden drang ein unheilvolles Grollen. Dazu kam ein enervierendes Prasseln, als werfe jemand Steine gegen die Außenhülle des Frachters. Im nächsten Augenblick wurde Tamanur bewusst, dass dieser Vergleich der Wahrheit sehr nahe kam.

»Der Schutzschirm ist in über zwanzig Sektoren ausgefallen!«, meldete Tarena. »Bei allen Marktschreiern und ehrbaren Kaufleuten: Da draußen regnet es ultrahochverdichteten Kohlenstoff ...«

»Diamanten?«, vergewisserte sich die Matriarchin ungläubig.

»Diamanten«, bestätigte ihre Schwiegertochter. »Wir fliegen durch einen Schauer aus bis zu faustgroßen Edelsteinbrocken. Sie schlagen mit mehreren Tausend Stundenkilometern auf den Rumpf. Das gibt ein paar ziemlich hässliche Beulen. Außerdem durchfliegen wir gerade eine ziemlich heftige Sturmzone. Die Windgeschwindigkeiten betragen hier über zweitausend Stundenkilometer.«

»Schirm in Flugrichtung verstärken!«, wies die Matriarchin an.

»Ist längst geschehen.« Tarena blieb trotz der prekären Situation überraschend gelassen. »Ich fliege nicht erst seit gestern.«

Patralis ignorierte diese Respektlosigkeit, denn gerade verkündete Selim, dass die Vorbereitungen für die Nottransition abgeschlossen waren.

Tamanur leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. So ging es also zu Ende. Er hatte nicht wirklich Angst vor dem Sterben; es quälte ihn nur, dass er seine Mission nicht hatte abschließen können. Er hatte vor Emthon V. versagt. Das würden die Sternengötter nach dem letzten Übergang nicht gerade zu seinem Vorteil auslegen.

»Nur Mut, Helon!«, rief ihm Patralis zu. »Noch sind wir nicht tot.«

Tamanur ärgerte sich über sich selbst. Offenbar war ihm sein Gemütszustand deutlich anzusehen. An seinen Tarnnamen – Helon da Sofukar – hatte er sich längst gewöhnt, sodass er ohne Verzögerung reagierte. »Wenn wir unser Schicksal in die Hände der Götter gelegt haben, ist es sowohl für Furcht als auch für Heldentum zu spät«, sagte er.

»Das liebe ich an euch Arkoniden«, gab die Matriarchin spöttisch zurück. »Ihr habt für jede Lebenssituation den passenden Spruch parat ...«

Die weiteren Ereignisse ließen weder Patralis noch Tamanur Zeit, ihren Dialog zu vertiefen. Die Kräfte, die bereits damit begonnen hatten, den Frachter auseinanderzunehmen, griffen nun auch auf die Zentrale über. Nur wenige Meter vor dem Arkoniden schoss eine Stichflamme aus einer der Steuerkonsolen und traf eine Mehandor mitten im Gesicht. Ihre Haare gingen in Flammen auf; die graublaue Uniform an Brust und Schultern brannte zwar nicht, warf aber urplötzlich Blasen und färbte sich dunkelbraun. All das geschah so schnell, dass die bedauernswerte Frau nicht mal mehr einen Schrei ausstoßen konnte. Mit von der Hitze entstelltem Gesicht kippte sie einfach zur Seite und blieb reglos am Boden liegen.

»Jeder bleibt, wo er ist, und erfüllt seine Aufgabe!«, rief Patralis warnend. »Um alles andere kümmern sich die Roboter.«

Tatsächlich war eine der in der Zentrale stationierten Maschinen binnen Sekunden zur Stelle und schaffte die tote Mehandor weg. Ein junger Mann der Bereitschaft nahm ihre Stelle ein und überprüfte vorsichtig die noch immer rauchende Konsole.

»Sprungsequenz wird eingeleitet in ... drei ... zwei ... eins ... jetzt!«

Ein greller Blitz blendete Tamanur. Danach sah er einen Moment lang nur bunte Schemen, die vor ihm einen wilden Tanz aufführten. Als es dunkel wurde, glaubte er zunächst, sein Augenlicht verloren zu haben. Doch einen Atemzug später zuckten weitere Lichtblitze durch die Zentrale und verwandelten das Chaos ringsum in eine Abfolge zittriger Bilder und Bewegungen.

Tamanur verspürte einen mörderischen Druck auf seiner Brustplatte. Das Atmen fiel ihm schwer, weil sich die Luft anscheinend in eine Art Gelee verwandelt hatte. Das Gefühl des Erstickens befeuerte seine ohnehin schon vorhandene Panik weiter. Warum hatte er nicht versucht, diesen Irrsinn zu verhindern?

Weil Patralis dich nur ausgelacht hätte, gab er sich selbst die Antwort auf seine Frage. Er war nichts weiter als ein Passagier auf einem Frachtschiff. Er saß überhaupt nur deshalb in der Zentrale, weil er die Matriarchin für seinen Platz an Bord der VETRONA überaus großzügig entlohnt hatte. Die alte Schachtel hatte sehr schnell mitbekommen, dass er verzweifelt und dass Geld das geringste seiner Probleme gewesen war.

Eine Reihe weiterer Explosionen ließ Tamanur zusammenzucken. Dicker, schwarzer Rauch waberte durch den Raum. Die Notsysteme schafften es offenbar nicht, den Qualm schnell genug abzusaugen. Er hörte würgendes Husten, Schreie, dazwischen weitere Detonationen und die wütenden Befehle der Sippenchefin.

Das große Außenbeobachtungsbild zeigte einige milchige Flecken. Wahrscheinlich waren ein paar der Holoprojektoren ausgefallen oder arbeiteten nicht mehr einwandfrei. Tamanur erkannte eine Landschaft aus glitzernden Eisflächen, die in zartem Pink schimmerten. Dazwischen erstreckten sich diverse Gebiete aus hellem Braun. Die VETRONA flog aktuell hoch genug, dass er die Krümmung des Horizonts deutlich sehen konnte. Das war somit keinesfalls mehr Neptun. Dieser Eisbrocken da vorn war deutlich kleiner. Es musste einer der Monde des Gasplaneten sein.

Die im Holo eingeblendeten astrophysikalischen Daten nahm der Arkonide eher unbewusst in sich auf. Er hatte nahezu die Hälfte seines Lebens an Bord von Raumschiffen verbracht; da geschah so etwas ganz automatisch.