SIDNEY H. COURTIER

 

 

Die Sekunde vor dem Tod

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 27

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE SEKUNDE VOR DEM TOD 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Bill Puttock, Junior-Partner der Anwaltskanzlei J. Puttock & Sohn, hat die unangenehme Aufgabe, ein einsames Haus an der stürmischen Bass-Strait-Küste von Australien zu bewachen.

Die Besitzer – Robert Clete und seine Frau Florence, ehemalige Missionare in China – sind kurz zuvor auf merkwürdige Weise ums Leben gekommen.

Und Bill beginnt, den Code in Florences Tagebuch zu entziffern...

 

Sidney H. Courtier (* 28. Januar 1904 in Kangaroo Flat, Victoria; † 1974 in Safety Beach, Victoria) gilt als einer der herausragendsten australischen Kriminal-Schriftsteller. Sein Thriller Die Sekunde vor dem Tod erschien erstmals im Jahre 1975. 

   DIE SEKUNDE VOR DEM TOD

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Erst nach dem Tod von Florence und Robert erfuhr ich, was es mit der Gedenktafel für ihren Sohn auf sich hatte und warum sie gerade an dieser sonderbaren Stelle angebracht worden war. Es war eine Marmortafel an der Innenseite der linken Säule des Tors zu Moona Cliffs, und die Inschrift lautete: In innigem Gedenken an Patrick Clete, den einzigen Sohn von Robert und Florence Clete, geboren in Tschungking, Sonntag, 3. 8. 1941 – gestorben in Tschungking, Sonntag, 10. 8. 1941. Ist er ein freundliches Kind? – Ich denke immer an ihn. 

Normalerweise stand das Tor offen, wenn ich alle Vierteljahre hier meinen Besuch machte; jedes Mal hielt ich auf halbem Weg an, um die Tafel zu betrachten. Ich fand den Gegensatz zwischen Moona Cliffs, tief im Süden Australiens an der Bass-Strait-Küste gelegen, und Tschungking, Tausende von Kilometern entfernt in China, faszinierend, und ebenso faszinierend fand ich die Inschrift.

Patrick war nicht nur der einzige Sohn der Cletes gewesen, er war ihr einziges Kind gewesen; und jedes Mal, wenn ich die Gedenktafel betrachtete, fragte ich mich, warum Robert und Florence es nicht noch einmal versucht hatten.

Ich pflegte dann das große, hässliche, schiefergedeckte Haus über dem Wasser zu mustern, die Gemüsefelder und den Geräteschuppen und das windschiefe, weiße Gitter am Felsrand, und dachte dann an Robert und Florence, die umgeben von ihren Jüngern ganz in der Ausübung ihres abschreckenden Glaubens aufgingen – eines Glaubens, der so abschreckend war wie das riesige Tor und der weit über zwei Meter hohe Maschendrahtzaun.

Doch am Morgen des 31. Oktober – es war ein Mittwoch – war das Tor vor mir verschlossen. Und es war zusätzlich durch drei Eisenstangen gesichert, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich stieg aus dem Wagen, um sie näher in Augenschein zu nehmen.

Die beiden drei Meter hohen Granitsäulen trugen einen Steinbogen, in den Captain Jacob Muir, Florences Großvater, die Worte Moona Cliffs hatte eingravieren lassen. Das Tor darunter war ein Gitterwerk aus schmiedeeisernen Lanzen. Die drei schweren Eisenstangen waren vor den massiven Angeln des Tors angebracht, eine oben, eine in der Mitte und eine unten, und sie reichten von der Türfüllung bis zu den Säulen.

Bei der Gelegenheit entdeckte ich gleich noch eine zweite Neuerung, ein kleines, quadratisches Gitter in der rechten Säule. Dann kehrte ich zur anderen Seite zurück und rüttelte an der mittleren Stange. Sie rührte sich nicht.

Acht Leute wohnten in Moona Cliffs. Fünf von ihnen kannte ich gut. Die drei anderen, Schüler von Robert, waren mir nur vom Hörensagen bekannt. Doch ich sah niemanden vor dem Haus, niemanden bei der Arbeit im Garten. Über den Zaun wollte ich nicht klettern. Er war durch Stacheldraht und Alarmanlagen gesichert. Er verlief etwa hundert Meter nach links – in östlicher Richtung –, machte dann einen Knick und führte ungefähr dreihundert Meter in südlicher Richtung zum steilen Felshang hinunter. Rechterhand zog er sich an die zweihundert Meter nach Westen, um dann wieder zum Felshang hinzuführen.

Es gab keine Möglichkeit zum Haus zu gelangen. Einen Moment lang blickte ich auf das blaue Wasser der Meerenge, das an diesem ruhigen Morgen ungewöhnlich still und klar dalag, dann kehrte ich zum Wagen zurück und veranstaltete einen Heidenlärm mit der Hupe.

Nichts geschah. Die Cletes, in höheren Gefilden schwebend, ignorierten wohl einfach das vulgäre Hupkonzert. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die Alarmanlage in Betrieb zu setzen. Doch ehe ich dazu kam, hörte ich an der Südostecke des Grundstücks einen Motor tuckern.

An dieser Stelle war der Anfang eines Felspfads, der sich zu dem knapp einen Kilometer entfernten Dorf an der Moona-Bucht hinunterwand, und dort tauchte jetzt der Rasenmäher der Cletes auf.

Oakley Pryce, dachte ich mit Erleichterung, der eine Feuer-Schneise in das hohe Gras schneidet. 

Der Fahrer steuerte den Mäher außen am Zaun entlang der Straße zu. Doch es war nicht Oakley Pryce. Als der Mäher um die mir am nächsten gelegene Ecke bog, sah ich einen Mann, den ich nicht kannte, einen blonden Mann mittleren Alters mit scharfen Gesichtszügen. Er trug eine verblichene, blaue Arbeitshose. Einer der Jünger, vermutete ich.

Er hielt an und musterte mich stirnrunzelnd.

»Wünschen Sie etwas?«, fragte er.

Ich erklärte, ich wünschte hineinzukommen, aber das Tor wäre verschlossen. Er wandte den Kopf zum Tor hin.

»Vorhin war es noch offen«, versetzte er mürrisch. Wieder starrten seine blauen Augen mich an. »Sie kommen wohl von der Kanzlei Puttock und Sohn?«

Ich erwiderte, ich wäre Bill Puttock.

»Aha«, sagte er.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, gab ich zurück.

»Gomer – Lewis Gomer.«

»Würden Sie mir nun freundlicherweise sagen, wie man dieses Tor öffnet, Mr. Gomer?«

»Hinter der rechten Säule ist ein Klingelknopf. Bedienen Sie diesen Knopf, und das Tor wird Ihnen geöffnet.«

Er bückte sich, um den Mäher wieder anzustellen, richtete sich aber gleich auf, als ich weitersprach.

»Ist wieder eingebrochen worden, Mr. Gomer?«

Er starrte mich einen Moment lang an, ehe er begriff.

»Ach das!«, meinte er mit einer Geste zu den Eisenstangen hin. »Es gibt Schlimmeres als Einbruch, Mr. Puttock.«

Damit setzte er den Rasenmäher wieder in Gang und fuhr weiter in westlicher Richtung am Zaun entlang.

 

Ich fand den Klingelknopf und drückte. Aus dem neuen, quadratischen Gitter in der rechten Säule kam erst ein Knistern und dann die ruhige Stimme von Margery Taft, der Sekretärin von Florence.

»Ja – was gibt es?«

»Bill Puttock, Margery«, sagte ich.

»Bill! Sie sind früh dran – es ist erst knapp zehn. Warum sprechen Sie vom Tor aus?«

»Es ist abgeschlossen, Margery.«

»Es ist nicht abgeschlossen. Ich habe es selbst geöffnet, um Mr. Gomer hinauszu... Oh, es ist doch zu! Da hat jemand die Schalter betätigt. Entschuldigen Sie, Bill. Ich mache sofort auf.«

Ein Knacken war zu hören, und dann schoben sich die drei Eisenstangen auf der anderen Seite des Lanzengitters in die Muffen in der Säule, und das Tor schwang auf.

»Praktisch, Margery«, sagte ich. »Und neu dazu. Vielen Dank. Ich bin gleich bei Ihnen.«

»Sind Ihre Sachen heute dringend?«, fragte Margery.

»Nur Routine. Ein paar Unterschriften von Florence, das ist alles.«

»Gut, dass Sie so früh dran sind«, sagte Margerys Stimme. »Ich muss Ihnen einiges berichten, ehe Sie mit Florence und Robert sprechen. Kommen Sie doch direkt in mein Büro.«

»In Ordnung«, erwiderte ich und ging zurück zum Wagen.

 

Ich steuerte den Wagen die betonierte Auffahrt hinunter und stieg vor der großen Garage neben dem Ostflügel des Hauses aus. Ich nahm meine Aktentasche und schritt den blumengesäumten Weg entlang zum Hof. Immer noch konnte ich das Knattern des Rasenmähers hören. Als ich um die Ecke des Ostflügels bog, sah ich Margery Taft. Ihr Büro befand sich im letzten Raum des Flügels. Sie erwartete mich an der Tür.

Sie war schlank, blond und sachlich und hatte nichts von der selbstgerechten Heiligkeit an sich, die die anderen Apokalyptischen Christen wie eine Aura umgab. Sie wirkte wie fünfunddreißig; doch in all den Jahren, seit ich sie kannte, hatte sie sich kaum verändert; sie musste also mindestens fünfundfünfzig sein.

»Sie werden Ihrem Vater immer ähnlicher, Bill«, bemerkte sie, als sie mir die Hand gab. »Wie geht es ihm? Und Ihrer Mutter?«

Ich sagte, es wäre mir eine Freude, ihr berichten zu können, dass es meinen Eltern gut gehe.

»Und Chaukidar Khet Bardolph?«, fragte sie.

Chaukidar Khet Bardolph – kurz Bard genannt – war mein Boxer, ein menschenfreundliches Tier nobelster Abstammung. Zwei- oder dreimal hatte ich Bard nach Moona Cliffs mitgenommen. Robert war darüber gar nicht erfreut gewesen. Er hatte nichts übrig für Hunde. Bard war also nicht wiedergekommen, doch Margery Taft hatte ihn nicht vergessen.

»Bard geht es glänzend«, versicherte ich ihr.

»Ich hätte schrecklich gern einen Hund wie Bard«, meinte Margery. »Aber kommen Sie doch herein, Bill.«

Das Büro war ein trister, kahler Raum. Zwei Schreibtische, drei einfache Stühle, ein Schrank, Regale mit Büromaterialien und frommen Büchern. Auf einem Schreibtisch stand eine Schreibmaschine. Auf dem anderen standen ein Telefon und eine Sprechanlage unter einem kleinen Klappenschrank. Die Sprechanlage und das Schaltbrett waren neu.

Die einzigen Farbtupfer in dem Raum waren die getönten Porträtaufnahmen von Robert und Florence, die einander an zwei Wänden gegenüberhingen. Robert, groß, gutaussehend, imposant, mit großen, blitzenden braunen Augen, einer Mähne silbernen Haares und einem feinen Lächeln, das ein geheimes Wissen andeutete. Florence, schlank und ausgesprochen schön mit ihren dunklen Augen und der durchscheinenden Haut, den wohlgeformten Händen, dem schimmernden schwarzen Haar – sie hatte über das Alter triumphiert.

Sie faszinierten mich immer wieder. Sie besaßen kein Radio und keinen Fernsehapparat. Soviel mir bekannt war, kauften sie niemals eine Zeitung und hatten seit ihrer Schulzeit keinen Roman mehr gelesen. Robert konnte auf Anhieb lange Passagen aus der Heiligen Schrift hersagen, womit er seine Behauptung bekräftigen wollte, dass die Gemeinschaft der Parusier die einzig wahre Kirche Gottes sei und dass alle anderen Glaubensgemeinschaften, ob groß oder klein, Trugwerke des Teufels seien, die nur dazu da waren, um sogar die Auserwählten zu täuschen. Er und Florence lebten in ständiger Erwartung der Rückkehr des Menschensohns, der mit großer Macht und Herrlichkeit aus dem Himmel herniedersteigen würde, und es enttäuschte sie täglich von neuem, dass dieses Ereignis noch nicht stattgefunden hatte.

In Widerspruch zu ihrem Glauben schien mir allerdings zu stehen, dass sie sich seit Jahren in allen finanziellen Angelegenheiten völlig auf den Rat der Kanzlei J. Puttock & Sohn verließen, doch weder Puttock Senior noch ich hatten sie je auf diesen Makel aufmerksam gemacht.

»Ich nehme an«, sagte ich zu Margery, »dass über diese Sprechanlage und das Schaltbrett das Tor überwacht wird.«

Sie betätigte einen der Schalter.

»Der ist für die Eisenstangen und der hier...«, sie berührte einen zweiten Schalter, »...zum Öffnen und Schließen des Tores. Ich öffnete das Tor, um Mr. Gomer hinauszulassen, und dann muss während meiner Abwesenheit jemand hereingekommen sein und es wieder geschlossen haben. Sehr ärgerlich.«

»Und die Gründe für diese Vorsichtsmaßnahmen, Margery?«

Sie sah auf ihre Armbanduhr.

»Zehn nach zehn«, stellte sie fest. »Es ist wirklich gut, dass Sie so früh dran sind. Setzen Sie sich, Bill, ich möchte Ihnen verschiedenes erzählen.«

Wir setzten uns, und sie sah mich etwas verlegen an.

»Wie lange besteht die Verbindung zwischen den Puttocks und Moona Cliffs schon?«, fragte sie. »Achtzig Jahre?«

Mehr als neunzig Jahre waren vergangen, seit John Puttock, mein Urgroßvater und Gründer der Anwaltskanzlei J. Puttock & Sohn in Melbourne, der Rechtsberater von Jacob Muir geworden war, des Schonerkapitäns, der Moona Cliffs um 1880 erbaut hatte. Als Jakob gestorben war, hatte die Kanzlei J. Puttock & Sohn ihre beratende Tätigkeit im Auftrag seines Sohnes Alistair fortgesetzt, der der christlichen Seefahrt Valet sagte, um Viehzüchter zu werden. Und als Alistair starb und seine Tochter Florence das Familienvermögen erbte, hatte auch sie sich weiterhin in allen geschäftlichen Angelegenheiten von der Kanzlei J. Puttock & Sohn beraten lassen. Im Großen und Ganzen war die Beziehung für beide Seiten angenehm und gewinnbringend gewesen.

»Worauf wollen Sie hinaus, Margery?«, fragte ich.

»Was ich Ihnen zu sagen habe, ist nicht erfreulich«, erwiderte sie. »Sie und Ihr Vater werden das Gefühl haben, übergangen worden zu sein. Aber ich muss die schlechten Nachrichten loswerden, bevor Sie mit Robert und Florence sprechen.«

»Wo sind die beiden jetzt?«

»Florence ist im Garten und liest, und Robert ist unten am Strand beim Fischen. Aber lassen Sie mich zur Sache kommen. Zunächst das am wenigsten Unangenehme. Die Pryces verlassen uns – sie gehen schon morgen.«

Das war tatsächlich eine Überraschung. Seit Jahren oblag die Verwaltung und Haushaltung von Moona Cliffs den Pryces, Oakley und seiner Schwester Enid. Oakley war der Gärtner und Hausmeister, seine Schwester die Haushälterin gewesen. Ihre Abwesenheit würde sich höchst unangenehm bemerkbar machen. Robert, Florence und ihre Jünger würden aus ihren mystischen Höhen herabsteigen und sich umso profane Dinge wie Kochen, Abspülen, Bettenmachen und Gartenarbeit kümmern müssen.

»Deshalb«, fuhr Margery fort, »musste Mr. Gomer mähen. Bald kommt die große Hitze, und Florence hat ihn gebeten, Feuerschneisen zu mähen. Es passte ihm gar nicht. Er findet, das sei unter seiner Würde. Aber es lässt sich nicht ändern. Die Pryces haben sich in der Nähe von Emerald einen Bauernhof gekauft. Eine Katastrophe ist das zwar nicht gerade...«

Abrupt brach sie ab, als eilende Schritte sich dem Büro näherten. Ein junger Mann und eine junge Frau rannten zur Tür herein und blieben wie angewurzelt stehen, als sie mich im Gespräch mit Margery erblickten.

»Oh, entschuldigen Sie«, sagte der Mann. »Wir wussten nicht...« Seine Stimme erstarb.

»Mr. Puttock«, stellte Margery vor, »Conrad Hurst und Miss Yorke, Pierra Yorke.«

Ich stand auf und nickte. Conrad Hurst war ein kleiner Mann, und seine grünen Augen blickten spähend aus einem zerknitterten Gesicht. Wie Lewis Gomer trug er einen verblichenen, blauen Overall. Pierra Yorke, ein braunhaariges, unscheinbares Wesen, trug ein formloses Sackkleid. Sie waren beide keine bewunderungswürdigen Vertreter apokalyptischer Christenheit, fand ich.

»Was wollen Sie?«, fragte Margery, ihren Ärger über die Störung kaum verhehlend.

»Wir kommen später noch einmal«, antwortete Hurst. »Wir wollten nicht stören.«

Er und Pierra York zogen sich wieder zurück. Margery sah wieder auf ihre Uhr.

»Wir haben noch eine Viertelstunde. Zeit genug. Um wieder auf die schlechten Nachrichten zu kommen, Bill – die, alte Chinageschichte ist wieder aufgerührt worden.«

Die alte Chinageschichte. Das Gerücht, dass Robert einen Gegenstand von unschätzbarem Wert aus China herausgeschmuggelt hatte, als er und Florence 1949 vor den Kommunisten geflohen waren; der Klatsch, der in den Jahren nach ihrer Rückkehr nach Moona Cliffs mehrere Einbruchsversuche ausgelöst hatte; die Spekulationen, die Robert und Florence stillschweigend bestätigt hatten, indem sie den hohen, mit Alarmanlagen ausgestatteten Zaun errichtet hatten. Ich war zwei Jahre alt gewesen, als sie nach Moona Cliffs zurückgekehrt waren; ich war mit dem Gerücht aufgewachsen.

»Was ist denn geschehen, Margery?«

»Anonyme Briefe«, antwortete sie schaudernd. »Drohbriefe. Aber das ist noch nicht alles. Robert ist krank.«

»Krank?«

»Sehr krank«, erklärte sie so erregt, wie ich sie noch nie erlebt hatte. »Es passierte kurz nach Ihrem letzten Besuch. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde er ernstlich krank. Er wollte es zwar nicht wahrhaben, aber ich riet Florence, Dr. Edmonds unten im Dorf anzurufen. Als Dr. Edmonds kam, hatte sich Robert zwar wieder etwas erholt, aber der Arzt war sehr besorgt und bestand darauf, dass wir Robert zu einem Herzspezialisten in der Stadt bringen sollten. Und das Ergebnis ist – nun, Roberts Tage sind, wie man so sagt, gezählt.«

Ich blickte hinauf zu dem Porträt über Margerys Kopf, das das Bild eines Mannes zeigte, der überzeugt war von seiner Sendung und seiner hohen Bestimmung, und ich dachte, armer Robert, keine Himmelfahrt in Glanz und Gloria.

»Davon hätte man die Kanzlei aber unterrichten sollen, Margery.«

»Ich weiß, aber Robert wollte es nicht. Er sagte, sein Leben läge in Gottes Hand und er würde es weiterführen wie immer. Deshalb ist er heute auch unten beim Angeln. Es wäre ein selten schöner Tag, sagte er; die See glatt, die Bucht ruhig, und er hätte keine Angst, die Jakobsleiter hinaufzuklettern und vielleicht dabei zu sterben. Er angelt ja so leidenschaftlich gern. Und jetzt ist er also unten, und Florence sitzt im Garten und liest und gibt von oben auf ihn acht.«

»Und die neuen Sicherheitsvorkehrungen, Margery – erfolgten die auf die Drohbriefe hin?«

»Ja. Wir mussten Robert doch schützen, und Sie wissen, es gibt genügend Leute, die es nur darauf anlegen, die Parusier zu quälen. Es ist sogar schon vorgekommen, dass solche Rüpel einfach auf das Grundstück gefahren sind und uns mit unflätigen Beschimpfungen überschüttet haben, um dann wieder abzufahren. Deshalb ließ Florence diese neuen Vorrichtungen einbauen. Aber das Tor ist natürlich offen, wenn wir wissen, dass jemand kommt – wie Sie.«

»Aber als ich kam, war es verschlossen.«

»Ich weiß«, meinte sie kopfschüttelnd. »Es muss sich jemand an den Schaltern zu schaffen gemacht haben.«

»Haben Sie die Drohbriefe der Polizei gemeldet?«, fragte ich.

»Nein.«

»Haben Sie die Briefe aufbewahrt?«

»Robert hat sie verbrannt.«

»Typisch. Was stand in den Briefen?«

»Es waren insgesamt drei, kurz und bündig, und im Wesentlichen enthielten sie alle das gleiche: Sie sind ein Heuchler und ein Dieb. Leisten Sie Wiedergutmachung, ehe es zu spät ist. Billig und hässlich, Bill, wie das Papier, auf dem sie geschrieben waren.«

»Geschrieben?«, echote ich.

»Nein, das ist nicht ganz richtig. Der Text war jeweils in Blockschrift abgefasst, mit Kugelschreiber.«

»Und sie kamen per Post?«

»Ja.«

»Die Umschläge hat Robert wohl auch verbrannt?«

»Ja.«

»Haben Sie zufällig die Poststempel gesehen?«

»Ich nicht. Aber vielleicht Robert oder Florence. Bitte, Bill, tun Sie mir einen Gefallen, belasten Sie die beiden nicht mit dieser Geschichte. Sie haben jetzt andere Sorgen.« Wieder sah Margery auf ihre Uhr. »Es wird Zeit. Bill, wären Sie so nett, zum Strand hinunterzusteigen und Robert die Jakobsleiter hinaufzuhelfen?«

»Selbstverständlich«, erwiderte ich. »Aber einen Moment noch, Margery. Hat das Weggehen der Pryces etwas mit den Drohbriefen oder mit Roberts Krankheit zu tun?«

»Nein, sicher nicht«, versetzte sie. »Die Pryces sind einfach zu dem Schluss gekommen, dass es mehr Freude macht, den eigenen Besitz zu bewirtschaften.«

 

Mit der Aktentasche unter dem Arm folgte ich Margery über die Veranda des Ostflügels. Es war ganz still im Haus.

»Wo sind denn die Pryces jetzt?«, fragte ich.

»Wahrscheinlich in ihren Zimmern«, antwortete Margery. »Einen großen Teil ihrer Sachen haben sie schon abgeschickt, aber sie haben sicher noch einiges zu packen.«

Wir gelangten zur Veranda des Hauptgebäudes. Vier Türen befanden sich hier; eine führte in den Ostkorridor, eine ins Speisezimmer, eine in die Küche und eine in die Anrichte. Margery steuerte auf den Ostkorridor zu. An der Schwelle hielt ich ihr die Fliegengittertür auf und blickte auf die vier Alarmglocken, die über der Tür zur Wäscherei angebracht waren. Jede hatte einen anderen Klang, sodass die Hausbewohner sofort erkennen konnten, von wo ein Einbrecher sich Zutritt zu verschaffen suchte – von der Straße her, vom Ost- oder Westflügel oder über den Felshang.

Wir schritten durch den Korridor, überquerten den Gang, der das Haus von Osten nach Westen teilte, und gelangten zu einer Tür auf der rechten Seite, die in einen großen Salon führte, wo ich gewöhnlich die Vierteljahresberichte der Kanzlei J. Puttock & Sohn vorlegte. Ich legte meine Aktentasche auf den Tisch und trat mit Margery auf die Vorderveranda hinaus.

Sonst pflegte ich in diesem Moment dem alten Captain Jacob Muir einen stummen Tribut der Bewunderung dafür zu zollen, dass er sich dieses Stück Land auserkoren hatte, um sein Haus darauf zu errichten. Das wild zerklüftete Kap, das ins Blau der Bass-Strait hineinragte. Zur Rechten der Leuchtturm von Cape Schanck, der sich scharf umrissen von der fernen Küste abhob. Zur Linken die Nobbies und Seal Rocks, die sich im stillen Wasser spiegelten. Es war ein Anblick, der andächtiger Betrachtung wert war, doch jetzt richtete sich meine ganze Aufmerksamkeit auf Florence, die direkt am Felsrand über der Bucht stand.

Sie stand mit dem Rücken zum Haus und beugte sich über das Holzgeländer, gespannt etwas beobachtend, was Margery und ich nicht sehen konnten. Auf einem Gartenstuhl hinter ihr sah ich das Buch, das sie offenbar aus der Hand gelegt hatte, als sie zum Zaun gegangen war. Einige Schritte rechts vor ihr befand sich der Anfang der Jakobsleiter, einer Eisentreppe, die im Zickzack zur Bucht hinunterführte und ihren Namen von dem alten Jacob Muir hatte, der sie vor neunzig Jahren hatte anlegen lassen. Florence stand so reglos da wie die Eisenpfosten am obersten Treppenabsatz.

»Florence«, rief Margery. »Bill Puttock ist hier.«

Margery und ich stiegen die Verandastufen zum Rasen hinunter.

Und dann ging alles sehr schnell. Eben noch beugte sich Florence über das Geländer und blickte den Steilhang hinunter, während die Sonne schimmernde Lichtreflexe auf ihr ebenholzschwarzes Haar zauberte. Dann bückte sie sich plötzlich unter das Geländer, richtete sich, mit der linken Hand das Geländer umfassend, auf und neigte sich weit über den Felsrand hinaus.

»Florence!«, schrie Margery gellend.

Man kann Eindrücke nicht einfach wegwischen. Die Haltung ihres Kopfes, in einem Ausdruck sprachlosen Erstaunens nach hinten geneigt – es konnte Einbildung von mir sein. Gleichzeitig schienen ihre Füße zu zucken, sich blitzschnell zu drehen, und sie rutschte über den Rand, während ihr linker Arm sich nach dem Geländer ausstreckte. In diesem Moment wandte sie ihr Gesicht Margery und mir zu, und ihr Erstaunen – wenn es überhaupt Erstaunen gewesen war – verkehrte sich in Entsetzen. Sie schrie auf und verschwand. Den Bruchteil einer Sekunde später verklang der Schrei in einem dumpfen Aufprall. Es folgte noch ein solcher Aufprall, dann war alles still.

  Zweites Kapitel

 

 

Ich riss mich aus meiner entsetzten Benommenheit, packte Margery bei den Schultern und stieß sie zum Haus hin, wobei ich ihr unnötig barsch befahl, Arzt, Rettungswagen und Polizei anzurufen und das Tor zu öffnen.

»Und rufen Sie auch gleich meinen Vater an«, fügte ich hinzu. »Ich möchte ihn schnellstens hier haben.«

Sie ging, und ich rannte zur Jakobsleiter. Als ich die ersten Stufen hinuntereilte, hörte ich hinter mir einen Schrei. Ich blickte nach rückwärts und sah den vogelgesichtigen Hurst und die mausgraue Pierra Yorke, die gerade aus der Tür des Westkorridors traten. Im selben Moment stürzte der blonde Lewis Gomer um die Ostecke des Hauses.

Ich stieg die Jakobsleiter hinunter, vier Treppen, die im Zickzack den Hang hinunterführten. Zu beiden Seiten war die Treppe durch ein Drahtgitter abgegrenzt. Vom ersten Absatz aus sah ich Florence reglos auf den Felsen beim Fuß der Treppe liegen. Nicht weit von Florence sah ich auch Roberts Fischkorb und Angel, ihn selbst jedoch konnte ich nirgends entdecken.

Ich rannte die restlichen Stufen hinunter und kletterte über die Felsen zu der Stelle, wo Florence lag. Ihr Körper war auf grauenhafte Weise verrenkt. Ein Bein lag abgeknickt unter ihrem Körper, das andere war auf groteske Weise abgespreizt. Die weißen Schuhe hatte es ihr von den Füßen gerissen, und ihr schönes Gesicht war blutverschmiert und von Schrammen und Quetschungen entstellt. Offenbar war sie mit dem Kopf voraus aufgeschlagen. Doch sie atmete noch.

Über mir hörte ich Schritte – Gomer, Hurst und Pierra Yorke kamen herunter.

»Miss Yorke«, rief ich. »Gehen Sie ins Haus. Holen Sie Decken und ein Leintuch. Aber schnell bitte.«

Das Mädchen kehrte sofort um und hastete die Treppe wieder hinauf. Und dann sah ich Robert. Die Bucht war fast kreisrund, mit einem engen Durchlass zum Meer. Im Allgemeinen tobte hier das Wasser, wenn die Wogen, die durch den Flaschenhals drängten, auf die zurückströmende Brandung prallten und Gischtfontänen die Jakobsleiter hinaufschickten. An diesem Tag jedoch war das Wasser still und durchsichtig grün. Der Fischkorb und die Angel standen an der Felswand, und Robert lag im Tang, etwa anderthalb Meter unter Wasser, und sein langes, weißes Haar schwebte zitternd ausgebreitet darin wie die Ranken einer großen Seeanemone.