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Stuttgarter
Biblische
Aufsatzbände 68

Herausgegeben von
Thomas Hieke und Thomas Schmeller

Ansgar Wucherpfennig SJ

Im Anfang waren Viele

Pluralität der Theologie
im ersten Christentum

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© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Druck und Bindung: Sowa Sp. z o.o., ul. Raszynska 13, 05-500 Piaseczno, Polska

Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

Printed in Poland

ISBN 978-3-460-06681-6

eISBN 978-3-460-51079-1

Πολυμερῶς ϰαὶ πολυτρόπως
πάλαι ὁ θεὸς λαλήσας

(Hebr 1,1)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Evangelienexegese

Welche Zukunft hat die historisch-kritische Exegese?
Prolegomena für eine zukünftige Evangelien-Exegese 50 Jahre nach Dei Verbum

In: D. Ansorge (Hg.) Das Zweite vatikanische Konzil – Impulse und Perspektiven. Frankfurter Theologische Studien, Bd. 70, Münster 2013, S. 76–102

II. Matthäus

Jesus mehr als Salomo: Im Stammbaum des Matthäus

In: D. Senior, The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity, BEThL 243, Leuven u. a. 2011, 713–720

Wie beginnt man ein Evangelium? Der Matthäusbeginn als Parodie einer Mosevita

In: J. Verheyden u. G. van Belle (Hg.), An Early Reader of Mark and Q, Biblical Tools and Studies 21, Leuven, Paris, Bristol 2016, 139–157

III. Johannes und Markus

Die Hochzeit zu Kana. Erzählperspektive und symbolische Bedeutung

In: Theologie und Philosophie 79 (2004) 321–338

Johannes 6 für Leser des Markus: »Begreift ihr denn noch nicht?«

Vortrag im Johannesseminar SNTS in Pretoria 2017 (unveröffentlicht)

Jesus Paraclitus. Ursprünge einer johanneischen Theologie des Heiligen Geistes

In: Theologie und Philosophie 85 (2010) 32–48

Jesus Christus als Sohn Gottes. Gibt es eine Engelchristologie bei Markus und Johannes?

In: Th. Hainthaler, D. Ansorge, A. Wucherpfennig (Hg.), Jesus der Christus im Glauben der einen Kirche. Christologie – Kirchen des Ostens – Ökumenische Dialoge, Freiburg i. Brsg. 2019, 21–53

IV. Von Johannes zur Gnosis

Gnostische Lektüre des Johannesprologs am Beispiel Herakleons

In: G. Kruck (Hg.), Der Johannesprolog, Darmstadt 2009, 107–130

Das Johannesevangelium und die antike Tragödie

In: U. Poplutz u. J. Frey (Hg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis, WUNT II, 420, Tübingen 2016, 25–42

Was ist Gnosis?

In: Theologie und Philosophie 87 (2012) 251–261

V. Apostelgeschichte und Paulus

Acta Spiritus Sancti: Die Bedeutung der vier Sendungen des Geistes für die Apostelgeschichte

In: Theologie und Philosophie 88 (2013) 194–210

Paulus als Missionstheologe. Kontextualität und Universalität des Evangeliums bei Paulus

In: M. Luber (Hg.), Kontextualität und Universalität des Evangeliums. Weltkirchliche Herausforderungen der Missiontheologie (Weltkirche und Mission 2) Regensburg 2012, 58–86

Stellenverzeichnis

Vorwort

Der vorliegende Band umfasst exegetische Arbeiten aus den vergangenen 15 Jahren, seit ich in Frankfurt an der Hochschule Sankt Georgen mit der Lehre im Neuen Testament begonnen habe. Ein Schwerpunkt der Artikel liegt auf der Evangelienexegese, und so steht ein programmatischer Beitrag zur Evangelienexegese auch an erster Stelle. Der älteste Beitrag über die Hochzeit zu Kana ist mein erster öffentlicher Vortrag an der Hochschule, und der jüngste Beitrag denkt über die Wurzeln der Engelchristologie nach. Er geht auf einen Vortrag bei einem Symposium zur Christologie »Jesus Christus im Glauben der einen Kirche« zurück, das die Hochschule mit der engagierten Hilfe von Prof.in Dr. Theresia Hainthaler und Prof. Dr. Dirk Ansorge 2017 zu Ehren von Kardinal Alois Grillmeier veranstaltet hat. Herrn Dr. Stephan Weber vom Herder-Verlag danke ich für die Erlaubnis, diesen Beitrag aus dem demnächst erscheinenden Dokumentationsband hier schon aufzunehmen. Beide Beiträge, der älteste und der jüngste, gehören zu einer Reihe von Arbeiten, die der Beziehung zwischen dem Markus- und dem Johannesevangelium nachgehen. Sie bilden gewissermaßen das Rückgrat des vorliegenden Bandes, da mich die Idee, dass das Johannesevangelium in seiner schriftlichen Fassung Leserinnen und Leser des Markusevangeliums im Blick hat, die Jahre über in meiner Arbeit zu den beiden Evangelien begleitet hat.

In den Beiträgen zum Johannesevangelium und der Gnosis habe ich Ansätze meiner Dissertation zum Johanneskommentar Herakleons weitergedacht, den Origenes als Schüler Valentins und Gnostiker zitiert. Die zweifache Einsicht, dass Gnosis einerseits eine auch im Johannesevangelium hoch geschätzte religiöse Erkenntnis meint, die Gnosis aber als kirchen- und religionsgeschichtliche Erscheinung erst nachneutestamentlich ist, habe ich in diesen Beiträgen weiterverfolgt. Deshalb lautet die Überschrift dieser Beiträge auch »Von Johannes zur Gnosis«. Im Unterschied zu meiner Dissertation habe ich hier aber im Evangelium intensiver nach Haftpunkten für die spätere Gnosis gesucht. Daher lassen diese Beiträge auch Einsichten in das Johannesevangelium erkennen.

Danken möchte ich Prof. Dr. Thomas Schmeller, dass er mir vorgeschlagen hat, meine exegetischen Arbeiten in einem Band zusammenzustellen und auch für die Zusammenarbeit im Neuen Testament und freundschaftliche Verbundenheit in Frankfurt seit vielen Jahren. Danken möchte ich auch Markus Müller, der bei der Korrektur einiger Beiträge und der Erstellung des Registers geholfen hat.

„Im Anfang waren Viele“ ist der Titel, weil Pluralität für die neutestamentlichen Schriften und für das frühe Christentum nicht defizitär verstanden ist. Mit dem Tetra-Evangelium stehen vier Erzählungen des Lebens Jesu am Anfang des Neuen Testaments kontrastreich nebeneinander. Matthäus beginnt sein Evangelium mit vielen Männern, mit 3 14 Vätern, und zum Glück wenigstens auch mit 4 und mit Maria sogar mit 5 Frauen (vgl. dazu in diesem Band: »Jesus mehr als Salomo«). Lukas weiß sich den »vielen« verpflichtet, die »von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes geworden sind« und versucht haben, eine Erzählung (διήγησις) der Ereignisse um Jesus zusammen zu stellen (Lk 1,1–2). Auch Johannes sieht am Anfang eine Vielheit: Sein Sprechen von Gott beginnt nicht bei Gott allein, sondern mit dem In-eins von Gott und Wort, aus dem weitere Quellen entstehen, die dem Menschen Licht und Leben sind. Spätestens Gnostiker im 2. Jahrhundert haben darin eine transzendente Vielheit vor der Schöpfung gesehen, die aus dem unzugänglichen Ur-Anfang hervorgegangen ist. Kirche braucht auch heute ein verantwortetes Verständnis von Vielheit, das sie aus dem Neuen Testament gewinnen kann. Ernst Käsemann hat die Vielheit der neutestamentlichen Theologie in die berühmten Worte gebracht: »Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit die Vielzahl der Konfessionen. Die Variabilität des Kerygmas im NT ist Ausdruck des Tatbestandes, daß bereits in der Urchristenheit eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander vorhanden war, aufeinander folgte, sich miteinander verband und gegeneinander abgrenzte« (Ernst Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 1, Göttingen 1960, 221). Wenn Exegese das Neue Testament und die Literatur in seinem Umfeld nicht mit einem vereinheitlichenden Harmoniestreben liest, sondern in der Freude, seine Vielfalt wieder zu entdecken, kann sie der Kirche helfen. Ihre Entdeckungen machen dann aber nicht nur die Fülle christlicher Konfessionen und Diskurse nachvollziehbar, sondern sie lassen vielleicht auch die Einheit der Kirche nicht als Gegensatz von Pluralität verstehen und sie damit wieder wachsen.

Frankfurt, 30.03.2019 Ansgar Wucherpfennig SJ

I. Evangelienexegese

Welche Zukunft hat die historisch-kritische Exegese?

Prolegomena für eine zukünftige Evangelien-Exegese 50 Jahre nach Dei Verbum

76 Am 18. November 1965 wurde die dogmatische Konstitution Dei Verbum während der vierten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils fast einstimmig verabschiedet.1 Sie lag ganz auf der Linie der Enzyklika Divino afflante Spiritu, mit der Pius XII. bereits 1941 der neueren katholischen Bibelwissenschaft den Weg für eine kirchenöffentliche Anerkennung bereitet hatte.2 Dennoch war der Konzilskonstitution ein zähes Ringen vorausgegangen.

Ursprünglich war christliche Theologie überhaupt nur Auslegung der Schrift. Die ersten Disziplinen, die sich von ihr verselbständigt hatten, waren nach den heutigen Bezeichnungen das Kirchenrecht und die Dogmatik. Bis in das Mittelalter hinein blieb aber die Schriftauslegung Quelle der Theologie. In der Blütezeit mittelalterlicher Scholastik war Thomas von Aquin nicht nur systematischer Theologe, 77 sondern blieb immer auch Exeget, dessen Kommentar etwa zum Römerbrief zu manchen theologischen Fragen immer noch hochaktuell ist. Ähnliches gilt für seinen Lehrer Albert den Großen, dessen Schriftauslegung an Pfiffigkeit und Witz mancher modernen exegetischen Monographie weit überlegen ist.

Mit dem Beginn der historischen Kritik an der Bibel begann tatsächlich etwas Neues in der Theologie. Die neuzeitliche historische Erforschung der Bibel war nichts Harmloses. Noch nicht in ihrer Anfangszeit, aber recht bald gingen einige der historischen Bibelwissenschaftler auf deutliche Distanz zum Christentum.3 Zum Teil aufgrund eigener Wahl, zum Teil durch die Marginalisierung einer bestimmten Neuscholastik war die biblische Exegese im 19. und 20. Jahrhundert innerhalb der Theologie immer mehr an den Rand geraten. Der Konstitution Dei Verbum ist es gelungen, die moderne biblische Exegese als eigenständige Disziplin wieder in das wissenschaftliche Gespräch der Theologie einzubringen.

Noch während des Konzils wurde um die neue Exegese gerungen. Mit Maximilian Zerwick (1901–1975) und Stanislas Lyonnet (1902–1986) wurden Anfang 1962 zwei Professoren des römischen Bibelinstituts aus dem laufenden Lehrbetrieb herausgenommen.4 Dem Lehrverbot war ein längerer Konflikt der Professoren mit römischen Behörden vorangegangen. Pater Zerwick durfte mit Bibelgriechisch fortfahren und wurde Autor von Wörterbüchern und einem bis heute hilfreichen sprachlichen Schlüssel zum Neuen Testament. Pater Lyonnet blieb, auch wenn er keine Vorlesungen mehr hielt, Dekan der biblischen Fakultät. Ähnliche Einschränkungen ihrer Arbeit oder Lehrverbote erfuhren zur gleichen Zeit Exegeten in allen Kontinenten, in Frankfurt Sankt Georgen war Pater Franz Josphe Schierse (1914–1992) davon betroffen. Nach längeren, zähen Verhandlungen benachrichtigte im Fall von Lyonnet und Zerwick der Generalobere 78 1963 den damaligen Rektor des Biblicum von der Rehabilitierung der beiden Professoren: Sie möge sine clamore aut, ut patet, gloriatione vollzogen werden – »ohne großes Aufsehen und selbstverständlich ohne Stolz«.5 – Welchen Schmerz es für einen Exegeseprofessor bedeutet hat, mit einem Lehrverbot belegt zu sein, lässt sich für Exegeten heute wohl nur noch ahnen.

Nicht nur die Beziehung zwischen Exegese und Lehramt, auch die Konzilskonstitution selbst hatte eine bewegte Geschichte:6 Als einer der ersten Texte wurde dem Konzil ein Entwurf vorgelegt, der den Titel de fontibus revelationis trug. Er war ganz im Sinne der Gegner der modernen Bibelwissenschaft formuliert; wäre er durchgekommen, wäre es mit dieser im Rahmen der katholischen Theologie zu Ende gewesen. Das führte sofort zu großen Diskussionen der Konzilsteilnehmer. Bei einer Probeabstimmung lehnte die absolute Mehrheit den Text ab, doch wurde die in diesem Falle vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit nicht erreicht. Das war die entscheidende Krise in der Auseinandersetzung. Papst Johannes XXIII. löste den Knoten, indem er selbst den Text zurückzog und ankündigte, er werde eine gemischte Kommission aus Gegnern und Befürwortern einrichten, die einen neuen mehrheitsfähigen Text erarbeiten sollte. So geschah es dann auch, doch es dauerte bis kurz vor dem Ende des Konzils, dass ein Text zustande kam, der dann fast einstimmig angenommen werden konnte.

In diesem Zusammenhang ereignete sich etwas, was für die Geschichte unserer Hochschule interessant ist. Die Kommunikationsprozesse im Konzil waren sehr schwierig, und man ahnte oft nicht, wer was dachte. Das Bibelinstitut, das außerhalb des formellen Konzils natürlich in die einschlägigen Diskussionen verwickelt war, plante deshalb einen öffentlichen Akt der Demonstration: Es verlegte Pater Lohfinks Verteidigung seiner Doktorarbeit über das Hauptgebot im Deuteronomium vom ursprünglich geplanten 8. November auf den 22. November 1962, einen für das Konzil verhandlungsfreien Nachmittag. Das war dann jedoch genau der Tag nach der päpstlichen Entscheidung, den alten Text zurückzuziehen und einen neuen auszuarbeiten. Eine große Zahl der Konzilsteilnehmer unterstützte mit ihrer Anwesenheit das Bibelinstitut und die his-79torisch-kritische Exegese. Zwölf Kardinäle, darunter Alfrink, Bea, Döpfner, Frings, Léger, Tisserant, wohnten der Verteidigung bei, etwa vierhundert Bischöfe erschienen und weitere wohlmeinende Theologen, darunter auch der junge Professor Joseph Ratzinger. So wurde die Thesenverteidigung nicht nur zu einer Abstimmung mit Füßen für ein neues Offenbarungsschema, sondern fast schon zu einer vorausgenommenen Siegesfeier.

Die Vorgänge vor und um Dei Verbum, wie der Text am Ende hieß, sollen hier nicht weiter rekonstruiert werden. Stattdessen will ich mich im Folgenden mit der Frage nach der Zukunft der historisch-kritischen Exegese beschäftigen.

Dei Verbum war das Aggiornamento für eine moderne Exegese. Allerdings scheint heute, dass die Moderne zur Zeit des Konzils bereits in ihre Auslaufphase geraten war. Das Wort »Kritik« oder »kritisch« stammt aus der Anfangszeit der Moderne.7 Aufgebracht wurde es von Humanisten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und bezeichnete ursprünglich eine neue philologische und historische Exegese antiker Literatur. Der Oratorianer Richard Simon hat den Ausdruck »historische Kritik« in die Bibelexegese eingeführt.8

Von Anfang an erfreute sich die Kritik nicht nur der Beliebtheit. Jonathan Swift hat sie 1704 im »Battle of the Books« in einer Satire karikiert. Nach einer alten Prophezeiung werde in den Zeiten der Moderne »a malignant deity called criticism« (»eine bösartige Gottheit namens ›Kritizismus‹«) erscheinen. Nun wurde sie aufgefunden

»in einer Höhle ausgestreckt über der Beute zahlloser halb aufgefressener Bücher. Zu ihrer Rechten saß Unwissenheit, ihr Vater und Gatte, erblindet im Alter. Zu ihrer Linken Stolz, ihre Mutter, sie zieht sie mit den Papierfetzen auf, die sie selber zerrissen hat. Daneben war die Meinung, ihre Schwester, leichtfüßig und betrügerisch, starrköpfig, leichtfertig und sich stets 80 wendend. Über ihr spielten ihre Kinder: Lärm und Dreistigkeit, Eintönigkeit und Eitelkeit, Bestimmtheit, Pedanterie und schlechte Sitten.«9

Die Kritik: ein katzenartiges Monster über halbaufgefressenen Seiten großer Literatur, eine paar Seiten hängen ihr noch im Maul und schon hat sie ihre Krallen in das nächste Werk geschlagen, ein drastisches Bild! Aber hat die moderne Kritik nicht tatsächlich zahllose Seiten der Bibel durch ihre einseitige Begrenzung auf die historische Bedeutung einem religiösen Leben als Nahrung entzogen?

Swifts Satire auf die Kritik steht am Anfang der Moderne. Schon bald in den Jahren nach dem Konzil hat man deren Ende ausmachen wollen. Seit Anfang der 80er Jahre sprechen Zeitdiagnostiker von der Postmoderne.10 Hat sich das Konzil also zu einer literaturwissenschaftlichen Methode bekannt, die während des Konzils bereits veraltet war? Gibt es eine Zukunft für die historisch-kritische Exegese in der Postmoderne?

Diese vollmundigen Fragen möchte ich für meinen Beitrag beträchtlich eingrenzen und die Konzilskonstitution mit den Fragen nach einer zukünftigen Exegese der Evangelien in ein Gespräch bringen. Dabei möchte ich zunächst im Gespräch mit Dei Verbum vier Linien für eine zukünftige Exegese der Evangelien nachgehen: (1) Die Evangelien sind biblische Geschichtsschreibung; (2) die Evangelien sind Biographie; (3) die Evangelien sind Geschichte von unten und Mikro-81historie; (4) die Evangelien sind perspektivische Geschichtsschreibung. In diesen vier Linien zeigt sich die plurale Einheit der vier Evangelien als ein »Parlament« (W. Fritzen) verschiedener Erzählungen, aus dem sich herausfordernde Antworten auf die Anfragen der Postmoderne ergeben. Jedoch erschöpft sich Dei Verbum nicht in seiner Bejahung einer erneuerten katholischen Bibelauslegung. In einem kleinen Passus in Artikel 12 weitet es die Perspektive historischer Fragen an die Schrift. Dieser im Konzilsdokument nur angedeutete Ausblick bildet den Schluss der hier vorgelegten Überlegungen zu einer künftigen Evangelienexegese.

1.Die historicitas der Evangelien

1.1Die Evangelien sind biblische Geschichtsschreibung

Auf die eigentliche Methodik der Exegese geht die Konzilskonstitution erst in ihrem dritten Kapitel in Artikel 12 ein. Ihm geht im dritten Kapitel ein kurzer Artikel über die Inspiration voran. In Artikel 12 folgt dann eine Art Methodenparagraph. Er handelt nicht über das Lesen der Schrift im alltäglichen Leben von Christen oder über die Auslegung bei der Predigt, sondern von der professionellen wissenschaftlichen Exegese.11 Wir werden auf diesen Artikel noch zurückkommen.

Vorher stellt Dei Verbum in seinen ersten beiden Kapiteln eine allgemeine Theologie der Offenbarung vor, in die der Abschnitt über Inspiration und Exegese hineingestellt ist.12 Die beiden Eingangskapi-82tel beschreiben die Heilsökonomie in einer Art Triptychon: die Propheten des Alten Testaments, Christus und die Apostel. Dabei haben die Worte »Propheten« und »Apostel« eine quasi technische Bedeutung: »Propheten« meint die Empfänger der Offenbarung in Israel, also die Männer und Frauen in den Schriften des Alten Testaments. »Apostel« hingegen meint die Empfänger der Sendung Jesu, ausgewählte Augenzeugen, Männer und Frauen, die das Wort der Offenbarung aus seinem Mund empfangen haben und am Beginn der mündlichen Jesusüberlieferung stehen. Diese Heilsökonomie ist nicht identisch mit einem historischen Prozess von aufeinander folgenden Ereignissen. Sie ist vielmehr eine Kette von verschiedenen Antizipationen und gipfelt in der Inkarnation des Logos, in der diese Antizipationen ihre geschichtlich einmalige Konzentration und Fülle erfahren haben. Von dem raumzeitlichen Moment der Inkarnation breitet sich Gottes Erlösung auf alle vorangehenden und folgenden Zeiten und Räume aus.

Erst an diesem Punkt in Artikel 7 führt die Konzilskonstitution die »Heilige Schrift« ein. Obwohl das Dokument vorher Mose erwähnt (DV 3) und auch »die Propheten« (DV 3; 7), werden diese nur genannt in ihrer Rolle, dass sie Gottes Wort gesprochen haben – so als wäre es eine mündliche Offenbarung. Erst an dieser Stelle im Zusammenhang mit der vollen Botschaft der Offenbarung Christi spricht das Konzilsdokument das erste Mal ausdrücklich von einer Verschriftlichung der Offenbarung: »Jene Apostel und apostolischen Männer, die unter der Inspiration des gleichen Heiligen Geistes die Botschaft vom Heil niederschrieben13 Und darauf erläutert die Konstitution das erste Mal ausdrücklich in einem feierlichen Satz die Bedeutung der Heiligen Schrift (DV 7):

Diese Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift beider Testamente sind gleichsam ein Spiegel, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie er ist (vgl. 1 Joh 3,2)

83 Hier zeigt sich ein erster Aspekt der Geschichtsschreibung der Evangelien: Sie sind biblische Geschichtsschreibung und lassen sich nur in einer gesamtbiblischen Heilsökonomie verstehen. An den Anfängen der Evangelien lässt sich beobachten, wie sorgfältig die Evangelien ihre Geschichtsschreibung mit der des Alten Testaments verbunden haben.14 Sie beginnen alle in unterschiedlicher Weise, aber jedes knüpft an das Alte Testament an.

Bei Matthäus ist die Kontinuität vielleicht am deutlichsten spürbar. Er beginnt mit der Genealogie Jesu, die seine Familie über David bis zu Abraham zurückverfolgt. Auf diese Weise zeigt Matthäus, dass Jesus ein direkter Nachkomme Abrahams ist, dem Gott verheißen hat, dass sein Nachkomme ein Segen für alle Völker sein werde. Aber die Genealogie erinnert auch an die ganze Geschichte Israels, sie ist so etwas wie ein kondensiertes Inhaltsverzeichnis des gesamten Alten Testaments.

Wie Markus den Anfang seines Evangeliums mit dem Alten Testament verknüpft, ist kürzer und einfacher. Er zitiert die Prophezeiung aus Jesaja von der »Stimme eines Rufenden in der Wüste« (Mk 1,3). Darauf zeigt er, wie sich diese Prophezeiung schon mit dem ersten Ereignis, das er erzählt, erfüllt: mit dem Täufer, der in der Wüste dem Erscheinen Jesu den Weg bereitet. Hier verwebt Markus die Geschichte Jesu enger mit der alttestamentlichen Überlieferung, als es auf den ersten Blick scheint. Das Zitat, mit dem Markus beginnt, stammt aus Jesaja 40, dem Beginn des Deuterojesaja, einem Abschnitt, in dem die ersten Christen eine besondere Verheißung der gesamten Geschichte Jesu sahen, bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung. Wenn Markus mit Jesaja 40 beginnt, zeigt er folglich: Schon hier am Beginn der Erzählung beginnt die Erfüllung Jesajas, und sie wird sich weiter erfüllen bis zum Ende der Erzählung mit der Auferstehung Jesu.

Wieder anders beginnt Lukas: Nur er hat unter den Evangelien ein Vorwort, mit dem er sich in der Art antiker Historiker mit seiner Geschichtsschreibung auf Augenzeugen beruft. Aber er beginnt dann seine Erzählung mit dem Tempel in Jerusalem. Der Vater des Täufers dient als Priester im Tempel. Der Tempel führt zurück in das Zentrum 84 der Tora, in dem Gott auf dem Berg Sinai Mose seinen Plan offenbart. Am gleichen Ort endet das Evangelium des Lukas: Mit dem Segen des Auferstandenen kehren die Jünger vom Ölberg in den Tempel zurück.

Johannes’ Evangelium schließlich beginnt nicht mit der Geschichte Israels. Er setzt noch früher ein, so weit zurück wie es überhaupt nur möglich ist: »Im Anfang …« sind seine ersten Worte, genauso wie die ersten Worte des Buches Genesis. Dort, so weit zurück, dass es Geschichte fast nicht mehr fassen kann, vor der Schöpfung und vor Israel, hat die Geschichte Jesu begonnen. Jesus war das Wort, das Gott gesprochen hat, als er die Schöpfung ins Dasein rief. So geht das Johannesevangelium auch weiter, nicht nur als Geschichte Israels, sondern auch als kosmische Geschichte, mit der Gottes Schöpfung begonnen hat, aber in der Bibel: in Genesis 1.

Die Anfänge der Evangelien machen deutlich: Als Geschichte Jesu sind sie Teil biblischer Geschichtsschreibung. Die Schreiber der Evangelien haben ihre Arbeit als Fortsetzung der biblischen Geschichte des Alten Testaments verstanden.

Der französische Philosoph Jean-François Lyotard (1924–1998) hat den Verlust der »Großen Erzählung« als das Merkmal der Postmoderne bezeichnet. Damit meinte er den Niedergang von Metaerzählungen, die eine bestimmte Geschichtsperspektive und Zukunftsverheißung beinhalten. Solche Metaerzählungen zwingen nach Lyotard eine vielgestaltige geschichtliche Wirklichkeit in die Einheitlichkeit einer Geschichte.15 Auch die Moderne mit ihrer Metaerzählung von Emanzipation durch Vernunft und Aufklärung gehört 85 noch in den Bereich solcher Großer Erzählungen. Mit der Postmoderne bejaht Lyotard grundsätzlich eine Multiplizität von Geschichten. Wie verhalten sich die Evangelien zu einer solchen Großerzählung? Auf diese Frage werden wir noch zurückkommen müssen. Zunächst lässt sich festhalten: als biblische Geschichtsschreibung ordnen sie sich in eine vielgestaltige große Erzählung ein, die in den Schriften des Alten Testaments begonnen hat.

1.2Die Evangelien als Biographie

Wenn die Konzilskonstitution in ihrem fünften Kapitel über das Neue Testament ausdrücklich die Evangelien behandelt, spricht sie über deren historicitas. Dieses neulateinische Wort findet sich in dem gesamten Konzilsdokument nur an dieser Stelle über die Evangelien. Es steht im Rahmen einer feierlichen Erklärung über die Zuverlässigkeit und Treue der Überlieferung, die sich in den Evangelien niedergeschlagen hat.16 In einem eingeschobenen Relativsatz wird fast wie in einem Nebengedanken über die vier Evangelien gesagt: quorum historicitatem incunctanter affirmat. Das lateinische historicitas wird im Deutschen gewöhnlich mit »Geschichtlichkeit« wiedergegeben, was keine glückliche Übersetzung ist. Geschichtlichkeit meint im Deutschen ein Grundmoment menschlichen Daseins. Das lateinische historicitas meint im Konzilstext aber die historische Zuverlässigkeit der Evangelien. Sie wird im Zusammenhang des Artikels 19 durch die Zuverlässigkeit ihres Überlieferungsprozesses formal begründet.

In dem Wort historicitas ist aber noch eine andere Voraussetzung enthalten, auf die der Konzilstext nicht weiter eingeht: Die Evangelien geben Zeugnis von Vergangenem. Sie sind historia. Auf welche Art auch immer sind die Evangelien eine Form von Geschichtsschreibung. Die Form ihrer Geschichtsschreibung fällt in den Aufgabenbereich einer historisch-kritischen Exegese. Sie gehört in den Zusammenhang der Untersuchung der literarischen Form, die Dei Verbum 12 86 als erste Methode des professionellen Exegeten nennt: »Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten.« Das Konzilsdokument hat sich, wenn es hier von der intentio – »der Aussageabsicht« – spricht, ein modernes subjektbezogenes Autorenkonzept angeeignet. Die Gattung einer Schrift wird aber nicht nur von der Aussageabsicht des Autors bestimmt, sondern in einem vielfältigen interaktiven Zusammenspiel von Leserinnen und Lesern, Autor und Medium einer Schrift. Die literarische Gattung ist für das Verstehen einer Schrift von entscheidender Bedeutung, denn die Gattung bestimmt die Erwartungen der Leser an einen Text. Ein historischer Roman liest sich anders als eine historische Monographie.

Als welche Gattung haben die ersten Leser die Evangelien wahrgenommen? Für weite Teile der exegetischen Forschung des 20. Jahrhunderts – auch für die katholische Exegese vor und nach dem Konzil – stand als Ausgangsdatum fest, dass die Evangelien keine Biographien Jesu seien. Diese Auffassung ist als eine negative Gattungsbestimmung fast zu einem Dogma ihrer modernen Auslegung geworden. Die Abgrenzung der Evangelien von der Biographie hat sicherlich verschiedene Beweggründe gehabt. Dem ältesten Evangelium nach Markus etwa lässt sich nur sehr schwer ein chronologischer oder geographischer Rahmen des Lebenslaufes Jesu entnehmen. Es beginnt mit einem ganzen Tag Jesu in Kafarnaum, einem Schabbat, und es endet mit einer Woche in Jerusalem; dazwischen sind die Ereignisse aber sehr locker und ohne chronologische Angaben miteinander verbunden.

Der Hauptgrund aber war, dass die moderne Exegese die Evangelien als Kerygma verstanden hat, nicht als Geschichtsschreibung. Die Evangelien würden im Licht der Auferstehung Jesu seine gegenwärtige Bedeutung für die Leser und Hörer verkünden, nicht seine historicitas. Einige Sätze aus Dei Verbum 19 haben ein solches Verständnis durchaus begünstigen können.17 Aus dieser Grundannahme erklären sich viele der reduktionistischen historischen Überzeugungen der 87 Evangelienauslegung Mitte der 80er Jahre. Aus der Überlieferung vom einfachen Leben des jüdischen Messias Jesus habe die nachösterliche Verkündigung eine sukzessive Vergöttlichung vorgenommen. Mit der Jungfrauengeburt sei der Beginn des Lebens Jesu an die Lebensbeschreibungen griechischer Halbgötter angeglichen worden. Jesu Geburt in der Davidstadt Bethlehem sei nicht historisch, sondern aufgrund der Verkündigung Jesu als Messias und Sohn Davids später mit seiner Überlieferung verbunden worden. Die Verklärung auf dem Berg galt – so etwa bei Rudolf Bultmann18 – als dislozierte Ostergeschichte.

Nach diesem Ansatz sind die Evangelien einem Stab Zuckerwatte vergleichbar, den man auf einem Jahrmarkt kaufen kann. Wie sich der geschleuderte Zucker in einem riesigen luftgefüllten Wattebausch um den Stab herumwickelt, so hat sich um ein dünnes historisches Skelett die gesamte nachösterliche Evangelienüberlieferung gebildet. Aus der Fülle der Evangelienüberlieferung müssten demnach in mühsamer historischer Analyse die ipsissima vox und die ipsissima gesta Jesu heraus destilliert werden.

Das Konzil ist in diesem Punkt viel ausgewogener gewesen: Die Evangelien seien der schriftliche Niederschlag der mündlichen Überlieferung, die auf Augenzeugen Jesu zurückgeht. Drei Eigenschaften dieser Überlieferung hält die Konstitution fest: Sie sei (1) eine getreue Wiedergabe der Taten und Lehren Jesu, sie sei (2) aus der Erfahrung der Verherrlichung Christi und (3) aus dem Licht des Geistes verstanden worden.19

 88 Hier zeichnet sich in den letzten 20 Jahren ein Paradigmenwechsel im Sinne des Konzils ab.20 Im angloamerikanischen Bereich hat Richard Burridge 1992 mit seinem Buch »What are the gospels?« die Diskussion neu angeworfen und überzeugende Argumente aufgebracht, dass die Evangelien bei allen Unterschieden im Detail doch Biographien seien. Im deutschsprachigen Bereich hat die Dissertation von Dirk Frickenschmidt »Evangelium als Biographie« diese These unterstützt. 142 Werke der antiken Literatur hat er einer Literaturfamilie der Biographie zuordnen können, darunter so unterschiedliche Erzählungen wie die frühjüdischen Prophetenlegenden, Philosophenviten oder biographische Schelmengeschichten aus dem Leben des Fabeldichters Aesop. Dieser Literaturfamilie ordnet Frickenschmidt auch die Evangelien zu.

Biographien im antiken Umfeld der Evangelien sind nicht mit modernen vergleichbar. Sie sind weniger an einzelnen historischen Daten einer Figur interessiert als an ihrem moralischen Charakter. Sie erzählen nicht genau in chronologischer Reihenfolge, sondern stellen die Person in einen groben chronologischen Rahmen. Dieser gibt ihnen Raum für verschiedenste Anekdoten über ihren Titelhelden. Biographien sind oft geschrieben, um das Leben der Leser durch die dargestellten Personen zu beeinflussen: Das Leben eines Philosophen sollte die Leser von dessen Philosophie überzeugen oder das leuchtende Beispiel eines Helden wie Herakles sollte den Lesern ein Vorbild geben, um es zu imitieren. Die Gattung Biographie erweist daher auch die Alternative von Geschichte oder Kerygma als falsch. Die antike Literaturfamilie der Biographie bot Geschichte als Kerygma. 89

1.3Geschichte von unten und Mikrohistorie

In einem aufschlussreichen Vergleich mit neuen Ansätzen postmoderner Historiographie hat Richard Bauckham das neue Biographie-Paradigma für die Evangelien noch geschärft.21 In den sechziger Jahren – etwa gleichzeitig mit dem Konzil – hat sich in den Geschichtswissenschaften die »Geschichtevon unten« entwickelt. Sie entstand zunächst in den USA als sozialkritische »grassroots history« und befasste sich mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren. Die Schrift des englischen Historikers E. P. Thompson »The Making of the English Working Class« von 1963 ist zu einem Klassiker der »Geschichte von unten« geworden. Die »Geschichte von unten« brach mit dem Ansatz traditioneller Geschichtswissenschaft, Geschichte allein aus der Perspektive der herrschenden Eliten zu untersuchen. Gegen eine hegemoniale Perspektive wollte Geschichte von unten nicht nur über die unteren gesellschaftlichen Schichten schreiben, sondern auch aus ihrer Perspektive: aus dem Blickwinkel gewöhnlicher Arbeiter oder rechtloser Schwarzer.

Wenn man aus dieser Perspektive auf die Evangelien blickt, zeigt sich, dass die meisten dort dargestellten Personen nicht wirklich aus der Schicht der Armen stammen, sondern aus einer Mittelschicht mit kleineren eigenständigen Unternehmen, einem Fischereibetrieb, einer kleinen Landwirtschaft oder einer kleineren Zollstelle. Zachäus ist als Oberzöllner schon eine Ausnahme. Richard Bauckhams Untersuchungen bestätigen dies. Er hat die etwa 70 Figuren im Markusevangelium ihrer sozialen Herkunft nach geordnet und die gleichen Untersuchungen für die übrigen Evangelien angestellt. Die weitaus größte Mehrheit der Figuren, etwa 70 bis 80 %, stammt aus der Mittelschicht, eine verschwindend geringe Zahl nur etwa 2 % stammen aus der Oberschicht, und etwa 5 bis 7 % sind aus den unteren Schichten der Gesellschaft.

Im Vergleich mit heutiger Geschichtsschreibung lassen sich die Evangelien daher nicht als »Geschichte von unten« betrachten, sie stellen eher eine Perspektive der Mittelschicht dar. Im Vergleich zur antiken Literatur allerdings zeigt sich in den Evangelien ein deutlicher Perspektivwechsel. Hauptthema antiker Biographien sind nach Frickenschmidt »maßgebende Menschen«, »große Männer« oder 90 »hochgestellte Persönlichkeiten«.22 Biographien sind Geschichtsschreibung großer Leute. Leute aus der Mittelschicht stehen so gut wie nie im Mittelpunkt. Wenn sie als Individuen aus der Mittelschicht auftreten, so nur weil sie für die Erzählungen über die Elite nötig sind. Vor allem aber treten sie in Massen auf: als Volksmenge, als politische Versammlung oder im Heer. Hier stehen die Evangelien im deutlichen Kontrast zur antiken Historiographie. Sie stellen Mittelschicht und Arme in die Mitte, allerdings nicht wiederum aus politischen Motiven. Politisch ist ihre Geschichte von unten weitgehend absichtslos. Sie erzählen vielmehr das Entstehen einer Anhängerschaft um Jesus, die das gesamte soziale Spektrum umfasst von dem Aristokraten Josef von Arimatäa bis zu dem geheilten Leprakranken Simon und sogar Heiden wie dem Centurio in Kafarnaum.

Ein zweiter Trend der neueren Geschichtsschreibung lässt das Profil der Evangelien noch deutlicher erkennen. In den 70er und 80er Jahren hat sich in Italien die Mikro-Historie entwickelt. Eines der meistgelesenen Bücher dieser Mikrohistorie stammt von dem italienischen Kulturwissenschaftler Carlo Ginzburg »Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600«. Es handelt von dem italienischen Bauern Menocchio und seinem Blick auf die Gesellschaft. Die Mikrohistorie lenkt ihren Fokus auf die Ebene kleiner alltäglicher Details, die bei der Konzentration auf die Großentwicklungen der Makohistorie verborgen bleiben. Sie blickt auf ein Individuum, eine soziale Gruppe, ein Dorf, eine Stadt oder einen Stadtteil. Mikrohistorie wählt als Untersuchungsgegenstand gerade das Ungewöhnliche nicht Gesetzmäßige, das auf der Makro-Ebene verborgen bleibt. Die sozialen Gruppen, Institutionen und gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen dabei nicht mehr als strukturelle und unhintergehbare Vorgegebenheiten, sondern zeigen sich, wie sie von Individuen in den Grenzen ihrer Handlungsspielräume, in Konflikten und Verhandlungen mitgestaltet werden.23

Wenn wir von da aus zu der antiken Umwelt des Neuen Testaments zurückkehren zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Biographie. Antike Historiographie bewegt 91 sich auf der Makro-Ebene. Geschichte wie in Caesars Bellum Gallicum ist die Erzählung von Politik und Kriegen. In der Zeit der Evangelien ist die Geschichtsschreibung einer dominierenden Großerzählung zugeordnet: dem unaufhaltsamen Aufstieg Roms und seinem Triumph über äußere und innere Bedrohungen seiner Macht. Die Biographie hingegen bot, selbst da, wo Politiker und militärische Führer ihr Gegenstand waren, die Möglichkeit zur Mikrohistorie: Ihre bevorzugte literarische Technik der Anekdote zeigt an Details, in einer kurzen und bündigen aber offenbarenden Art die Charaktere ihrer handelnden Figuren. Die Evangelien sind solche kleinen Erzählungen über kleine Leute, deren Leben außer durch ihre Beziehung zu Jesus sonst niemals wahrgenommen worden wäre. Als Biographien sind die Evangelien für die Antike ein Spezialfall von Mikrohistorie. Mit diesem Charakter teilen sie ein typisches Phänomen der Postmoderne: Sie ermöglichen Multiplizität im Angesicht der großen totalitarisierenden Meta-Erzählung vom Aufstieg des römischen Reiches. Geschichte war für die Antike politische oder militärische Geschichte, die Geschichte eines Volkes, eines Staates oder einer Polis. Biographie hingegen ist erzählte Geschichte mit einer Konzentration auf die Mikroperspektive einer einzelnen Person.

1.4Die Evangelien sind perspektivische Geschichtsschreibung

Diese Aspekte der Evangelien gehören zur Frage ihrer Gattung. Sie sind Teil der Untersuchung, die Dei Verbum 12 als die Aufgabe der professionellen historischen Exegese beschreibt.

Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen und nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. (DV 12)

Und die Konstitution führt an der gleichen Stelle weiter aus:

Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muss man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren.

92 Dei Verbum spricht hier von den Aufgaben exegetischer Forschung, von der Auslegung des »Exegeseprofessors im Hörsaal«24. Es ist sicherlich der Hauptakzent und das bleibende Verdienst von Dei Verbum, dieser Form von historischer Kritik die Möglichkeit eröffnet zu haben. Damit hat das Konzil ein Aggiornamento zu einer modernen Exegese gegeben, das sich aber durchaus in Richtung postmoderner Ansätze weiterdenken lässt. Die Konzilskonstitution hat der Bibel eine Stimme im theologischen Gespräch verliehen, die verhindert, dass Theologie die Vielfalt menschlicher Lebensgeschichten einer selbstgemachten Großen Erzählung einverleibt.

Die vielleicht größte Herausforderung der Postmoderne für eine traditionelle Geschichtsschreibung ist, dass alle Geschichte perspektivisch bleibt. Bauckham schreibt:

Wir können nicht die Sicht von Gottes Auge auf die Geschichte einnehmen, oder, wie jemand es genannt hat, die Sicht von nirgendwo. Wir sind selbst immer in einem hier und jetzt situiert so ist es immer die partikulare Sicht von jemandem, die wir in der Vergangenheit sehen. […] Wir rekonstruieren deutende Darstellungen von Geschichte, die als höchstes immer nur Teil der Erzählung sind.25

Die Evangelien bieten in ihrer Viergestalt immer schon eine Pluralität von Perspektiven auf die Geschichte.

Wie verhalten sich die Evangelien nun zu dem Niedergang der Großen Erzählungen, nach Lyotard dem typischen Kennzeichen der Postmoderne? Lyotard hatte den Zerfall der Großen Erzählungen ja nicht nur festgestellt, sondern ihn auch als Postulat für eine postmoderne Konstruktion der Wirklichkeit gefordert. In seiner Darstellung der postmodernen Philosophie für Kinder spricht er vom »Krieg dem Ganzen«: »Aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, 93 retten wir die Ehre des Namens.«26 Die vier Evangelien stellen im Neuen Testament eine »Pluralität von Perspektiven« dar, in die sich »die eine Erzählung« von dem jüdischen Messias und Retter der Welt Jesus von Nazaret je neu ausdifferenziert. Ganzheit entsteht von Anfang ihrer Auslegungsgeschichte an nur durch das Inkraftsetzen ihrer differenzierten Multiplizität. Nach Irenäus von Lyon ist das beschränkte Auswählen nur eines der Evangelien ein Kennzeichen von αἵρεσις – »Spaltung«.27 Die Ganzheit des Gottmenschen Jesus wird nur im Ernstnehmen der Pluralität der vier Perspektiven auf ihn erfahrbar.28

Jedoch können die Evangelien nicht nur für sich gelesen werden, sie sind Teil der gesamten Bibel und nur so verstehbar. Als solcher sind sie oft als ein Kapitel der Großerzählung der einen Bibel verstanden worden. So tun es schon viele katechetische Kurzfassungen der Bibel. Sie lassen die biblische Geschichte chronologisch mit der Schöpfung beginnen und mit der Wiederkunft Jesu enden. Ordnen sich die Evangelien tatsächlich nicht doch einfach in die eine große biblische Erzählung ein?

Nun kann man Lyotards Beobachtung vom Zerfall der Großen Erzählungen sicherlich auch anfragen. J. R. Tolkiens »Herr der Ringe« ist das Beispiel einer Großerzählung, die offenbar weiterhin eine breite Zustimmung findet.29 Seine Trilogie lässt eine Mehrzahl auch hete-94rogener Lese-Perspektiven zu: als Entwicklungsromans Frodos, als Wegerzählung von den Gefährten des Ringträgers, als apokalyptisches Drama, als Wiederkunft des rettenden Königs. Nicht jede Großerzählung zwingt also partikulare Sichtweisen in einen Zentralmythos ein. Andere Beispiele ließen sich ergänzen: C. S. Lewis’ »Chroniken von Narnia«, Joanne K. Rowlings »Harry Potter«. Einheit, Kohärenz und Konsistenz, die Merkmale von Großerzählungen, antworten auf die Sehnsucht von Menschen und sind offenbar auch in der Postmoderne noch erforderlich. Wie fügen sich die Evangelien in eine Großerzählung der gesamten Bibel ein, die gleichzeitig ihre Multiplizität zulässt?

2.Die Einheit der Schrift

Eine Antwort auf diese Frage hat Dei Verbum nur angedeutet. Es spricht die Einheit der Schrift mit einem kleinen Passus an, den Norbert Lohfink als weißen Fleck von Dei Verbum 12 bezeichnet hat.30 Schon der Beginn des Artikels lässt aber die Perspektive der Einheit der Schrift anklingen: Der Exeget oder die Exegetin muss sorgfältig erforschen, »was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte«.31 Die historische Kritik, deren Linien wir für eine zukünftige Exegese bislang nachgegangen sind, ist nur ihre erste Aufgabe, die zweite geht weiter. Dei Verbum lässt den professionellen Ausleger und die Auslegerin der biblischen Schriften also durchaus auch nach dem fragen, was Richard Bauckham »a God’s eye view of history« nennt, und die Konzilsväter geben auch an, in welche Richtung dieser weitere methodische Schritt geht:

Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens (DV 12).32

Zur Erfassung der Bedeutung einer Schriftstelle muss der methodische Blick der Exegese ihren Zusammenhang in der Einheit der Schrift betrachten.

Nun ist die Bibel kein Buch wie ein moderner Fortsetzungsroman. Wer sie wie die katechetischen Kurzfassungen als ein fortlaufendes Geschichtsbuch versteht, übersieht ihre verschiedenen Gattungen und vielfältigen literarischen Formen. Auch setzt sich die Geschichte in den Büchern der Schrift nicht kontinuierlich fort.

Die Geschichte Israels beginnt mit Abraham in der Genesis; das Buch Exodus erzählt von der Befreiung seiner Nachkommen aus dem Sklavenhaus Ägypten, die weiteren Bücher der Tora von ihrem Weg durch die Wüste bis vor Israels Grenzen im Ostjordanland. Dort stirbt Mose mit dem Blick auf das Gelobte Land. Danach zieht das Ende der Tora eine Zäsur in die Geschichte Israels. Die Tora ist das Zentrum der hebräischen Schrift, Israels Einzug in das Gelobte Land und die weitere Geschichte bis zu König David und schließlich dem Exil seiner Söhne stehen aber nicht mehr in der Tora, sondern in den Geschichtsbüchern, die die jüdische Kanoneinteilung schon zur Zeit Jesu »Propheten« nennt.

Ähnlich ist es mit dem Neuen Testament: Die Geschichte Jesu setzt wieder am Ende der Tora ein. Sie beginnt im Ostjordanland, dort, wo Israel am Ende der Tora auf den Einzug in das Gelobte Land wartet. Dort lässt sich Jesus von Johannes taufen und darauf zieht er wie das Volk Israel von jenseits des Jordans in das Land ein.33 Jesu Geschichte endet mit seiner Auferstehung. Die weitere Ausbreitung des Gottesworts steht nicht mehr in den Evangelien, sondern in der Apostelgeschichte. Die Apostelgeschichte ist ursprünglich der zweite Teil des lukanischen Doppelwerks, aber in der Einteilung des Neuen Testaments sind die beiden Teile auseinander genommen und das Johannesevangelium ist dazwischen gesetzt. So enden die Evangelien mit der Rückkehr des Sohnes zum Vater. Nach dieser Zäsur setzt wieder eine neue Geschichte ein. Die Einheit der biblischen Geschichte ist 95 also in den verschiedenen Büchern der Schrift keine bruchlose Erzählung von einem Anfangspunkt Alpha bis zu einem Zielpunkt Omega. Ihre Einheit ist immer wieder fragmentiert und zum Teil – wie etwa im Fall des lukanischen Doppelwerks – bewusst dekonstruiert.

Mit dem weiteren methodischen Schritt, den Dei Verbum nur andeutet, soll die Exegese die Bedeutung einer einzelnen Schrift also in diese fragmentierte und in sich differenzierte Einheit der Schrift hineinstellen. Wie verhalten sich diese beiden methodischen Perspektiven zueinander: die Aussage einzelner Schriften und Gottes Absicht in der Einheit der Schrift? Wie treten die vielfältigen Aussagen einzelner Schriften zu Gottes Aussageabsicht mit der gesamten Bibel miteinander in Beziehung?

Unter dem Stichwort »kanonische Exegese« lassen sich in der Zeit seit dem Konzil verschiedene Ansätze in der Bibelwissenschaft zusammenfassen, die die Einheit der Schrift wieder in den Blick nehmen.34 In ihren Anfängen, als christliche Theologie im Wesentlichen Schriftauslegung war, war diese Einheit selbstverständlich. In der Exegese heute sind die Ansätze kanonischer Exegese nicht unumstritten.

 97 Es braucht vermutlich noch Zeit, bis die Andeutungen von Dei Verbum in einer konsensfähigen Exegese integriert werden können.35

2.1Die symbolische Exegese Ephräms

Die Offenbarungskonstitution deutet an, dass die Menschwerdung die Grundlage ist, auf der eine christliche Einheit der Schrift gewonnen werden kann. Das verweist die Suche nach der Einheit der Schrift wiederum auf die Evangelien. Allerdings darf die Menschwerdung Jesu dabei nicht exklusiv verstanden werden, sonst verliert sie ihre Multiplizität integrierende Kraft. Einer zukünftigen kanonischen Exegese fehlt wohl auch noch ein Konzept von Wirklichkeit, welches das historische Konzept der Moderne weiterführt.

Das symbolische Wirklichkeitsverständnis Ephräms, eines syrischen Theologen aus dem Einflussbereich der antiochenischen Exegese im 4. Jhdt., kann hier m. E. in die Zukunft weisen. Ephräms Exegese zeigt, wie tief neuere Ansätze zum Symbolverständnis bei Karl Rahner oder bei Ricoeur bereits in der Geschichte der Exegese verwurzelt sind. Ephräm ist auch Exeget, aber mehr noch als Exeget ist er Dichter, der größte Dichter der Väterzeit. Robert Murray bezeichnet ihn als den einzigen, der als Dichtertheologe neben Dante zu setzen sei.36 Ephräm bleibt in seiner syrischen Welt der ursprünglichen Sprache und Umgebung Jesu nahe. Gleichzeitig findet sich bei ihm eine Weiterentwicklung der antiochenischen »Theoria« zu einer symbolischen Lektüre der gesamten Schrift. Ihr bleibt die einzelne Geschichtsperspektive wichtig und wird nicht aufgehoben; aber durch die Geschichte und in ihr erblickt der gläubige Leser noch etwas Tieferes und weniger Zeitbedingtes. Der Lektüre der Schrift eröffnet sich so eine nicht zu erschöpfende Fülle je wieder neu zu findender Deutungen:

98 Wer könnte den Reichtum (alles) Auffindbaren in einem deiner Worte erfassen, da doch das, was wir nicht mit dem Verstand begreifen, größer ist als das, was wir wie Durstige von der Quelle aufnehmen. Es gibt ebenso viele Möglichkeiten sein Wort zu deuten, wie Menschen die es studieren.37

Ephräm gewinnt sein Wirklichkeitskonzept aus dem syrischen Wort für Symbol râzâ.38 Der Ausdruck ist über das alte Persisch und Aramäische in das Syrische gelangt und bedeutet zunächst »Geheimnis«. In dieser Bedeutung findet es sich etwa in Dan 2,18. Gottes Offenbarung ist nach Ephräm auf solche râzê verwiesen. Namen und Bezeichnungen Gottes, sind manifeste Symbole, mit denen Gottes Gnade dem menschlichen Geist Aspekte seiner verborgenen Wirklichkeit oder Wahrheit (shrārâ, qushtâ)râzêrâzâTypos (typos, upsâ)râzêTheoria99