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Sophienlust
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5 unveröffentlichte Romane

Ursula Hellwig
Clara Maria Sollner
Bettina Clausen
Gitta Peters

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-517-5

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Leseprobe:
Mami Bestseller Nr. 42

Leseprobe

»Ich bin schon fertig, schau mal«, rief die kleine Nicole, als die alte Kinderfrau Grete sie nach dem Nachmittagsschlaf aus dem Bett holen wollte. Strahlend deutete das flachsblonde Mädelchen auf seine Kleidung, die es zusammengetragen und angezogen hatte. »Ja mei, Dirndl, schaust ja aus wie im Fasching, aber hast es trotzdem gut gemacht, das muß ich schon sagen«, stellte Grete Hofer fest. Sie lächelte, als sie Nicole betrachtete, die zu giftgrünen kurzen Hosen lila Ringelsöckchen und ein knallrotes Hemd angezogen hatte. Kinder liebten nun einmal das Bunte, und für eine Dreijährige war es eine große Leistung, sich fix und fertig anzuziehen. Grete Hofer beugte sich aus dem Fenster und schaute zu den Bergen hinauf, über denen eilig die watteweißen Föhnwolken wie eine kleine Herde wuscheliger Lämmer dahinzogen. »Es geht ein Wind, wenn wir zur Dis­telalm hinauf wollen, dann ist es besser, etwas Warmes mitzunehmen«, sagte sie und packte eine lange Hose und eine Lodenpelerine für Nicole ein. Auf keinen Fall wollte sie ihr jetzt die Freude verderben und sie gleich umziehen, wo sich die Kleine doch so redlich geplagt hatte. Nicole plapperte vor sich hin, als sie vor Grete die Holztreppe hinunterging. Dann lief sie zum Eckzimmer im ersten Stock des großen Jagdhauses und klopfte zaghaft an die schwere Eichentür. Als keine Antwort kam, patschte Nicole kräftig mit beiden kleinen Fäusten an die Tür. »Ja, was ist denn?«, kam von drinnen eine verschlafene, mißmutige Stimme, die Nicole jedoch nicht abhielt, ins elterliche Schlafzimmer zu stürzen. »Mami, Mami, aufstehen, wir wollen doch Blumerln pflücken geh’n, aufsteh’n, bitte, komm«, rief Nicole und kletterte auf das Bett der Mutter. »Ist ja ganz finster hier drin bei dir!« »Wenn es hell ist, kann ich nicht schlafen«

Jessicas schlauer Plan

Gelingt es ihr, ihren Onkel zu verheiraten?

Roman von Ursula Hellwig

Das seidige Fell der beiden dunkelbraunen Pferde glänzte in der Sonne. Der siebzehn Jahre alte Dominik von Wellentin Schoenecker, der im Allgemeinen nur Nick genannt wurde, ergriff die Zügel­enden, stellte den linken Fuß in den Steigbügel und saß schwungvoll auf. Sofort setzte sich sein Reittier in Bewegung.

»Langsam, Aron«, meinte Nick. »Wir müssen doch noch auf Pünktchen warten.«

Bei Pünktchen handelte es sich um ein vierzehnjähriges blondes Mädchen, in dessen Gesicht man zahllose Sommersprossen entdecken konnte. Diese kleinen Pigmentflecken hatten ihr ihren Spitznamen eingebracht. Mit richtigem Namen hieß Pünktchen Angelina. Doch das hatte sie selbst schon fast vergessen. Alle sagten Pünktchen zu ihr, sogar ihre Lehrer in der Schule. Im Laufe der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt und fand es ganz normal. Pünktchen stieg nun auch in den Sattel.

»Von mir aus können wir starten«, erklärte sie und lächelte Nick zu. »Wir sollten uns beeilen, bevor wieder jemand auftaucht und dumme Witze macht.«

Nick wusste, wovon Pünktchen sprach. Sie befanden sich beide auf dem Gelände des Kinderheims Sophienlust. Das alte Herrenhaus, das mitten in einem großen Park lag, hatte früher einmal Nicks Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, gehört. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Nick das Anwesen geerbt, das entsprechend dem letzten Willen der alten Dame zu einem Kinderheim umgebaut wurde. Nicks Mutter hatte diesen Wunsch stellvertretend für ihren damals noch kleinen Sohn gerne erfüllt und verwaltete Sophienlust heute noch. Das Heim hatte gerade erst die ersten Kinder aufgenommen, als Nick auf der Straße ein kleines, völlig verwirrtes Mädchen fand. Instinktiv hatte der Junge gespürt, dass dieses Mädchen Hilfe benötigte. Deshalb nahm er es mit nach Sophienlust. Dort stellte sich später heraus, dass das kleine Mädchen Angelina Dommin hieß. Die Eltern waren bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen, und es gab keine Verwandten, die sich um das Kind hätten kümmern können. Also blieb Angelina, die vom ersten Tag an Pünktchen gerufen wurde, in Sophienlust. Nick fühlte sich für die Kleine in besonderer Weise verantwortlich. Schließlich war er es gewesen, der sie gefunden und nach Sophienlust gebracht hatte.

Aus der zunächst kindlichen Freundschaft war im Laufe der Zeit mehr geworden. Die Beziehung zwischen Nick und Pünktchen trieb zarte Knospen der Zuneigung. Niemand zweifelte heute mehr daran, dass diese beiden jungen Menschen eines Tages heiraten würden, und der Gedanke, dass Pünktchen und Nick das Kinderheim irgendwann gemeinsam weiterführen würden, gefiel allen. Trotzdem konnten die meisten Kinder es nicht lassen, immer wieder auf die große Liebe der beiden hinzuweisen. Das taten sie besonders gern, wenn Nick und Pünktchen etwas zusammen unternahmen. Der gemeinsame Ausritt würde sicher auch wieder Anlass für entsprechende Bemerkungen sein, und die waren den beiden Jugendlichen peinlich. Sie hatten Glück und konnten das Gelände unbemerkt verlassen. Zunächst ging es in gemäßigtem Tempo durch den angrenzenden Wald. Später wurden Galoppstrecken eingelegt, an denen nicht nur die Reiter, sondern auch die Pferde ihre Freude zu haben schienen.

»Es ist ziemlich warm, und die Pferde schwitzen«, stellte Pünktchen schließlich fest. »Ich glaube, wir sollten eine Pause einlegen.«

»Einverstanden«, meinte Nick. »Da drüben am Bach ist das Gras besonders saftig. Dort können wir absitzen und die Pferde ein bisschen weiden lassen.«

Wenige Minuten später saßen Nick und Pünktchen einträchtig im hohen Gras beisammen. Die beiden Pferde hatten ihre Köpfe in die üppig wachsenden Halme gesteckt und machten einen zufriedenen Eindruck.

»Schau mal, was da hinten kommt!«, forderte Pünktchen Nick auf. »Heute scheinen noch mehr Reiter unterwegs zu sein.«

Auf der anderen Seite des Bachlaufes trabte ein Haflinger mit einer jungen Reiterin auf dem Rücken. Als das Mädchen Nick und Pünktchen erblickte, ließ es das Pferd angaloppieren, setzte über den Bach und kam auf die rastenden Reiter zu.

»Hallo, ihr zwei. Habt ihr das gute Wetter auch für einen Ausritt genutzt? Ich bin mit Palma schon seit zwei Stunden unterwegs. Übrigens heiße ich Jessica Oldenbrink. Verratet ihr mir auch eure Namen?«

Jessica stieg aus dem Sattel, beobachtete, wie Palma sich zu den beiden anderen Pferden gesellte und ließ sich dann im Gras nieder. Pünktchen und Nick stellten sich vor.

»Eine hübsche Stute hast du«, meinte Nick. »Gehört sie dir oder hast du sie dir von deinen Eltern ausgeborgt?«

»Palma gehört mir. Mein Onkel hat sie vor zwei Jahren gekauft und mir geschenkt. Eltern habe ich schon lange nicht mehr. Sie sind vor sechs Jahren beim Absturz eines Privatflugzeugs ums Leben gekommen. Ich war damals gerade erst sechs Jahre alt. Seitdem lebe ich bei meinem Onkel. Anfangs war das sehr ungewohnt, und ich habe lange um meine Eltern getrauert. Aber mit der Zeit wurde es besser. Außerdem ist mein Onkel ein netter Mensch. Er hat mir jeden Wunsch erfüllt. Ich durfte auch reiten lernen. Nachdem ich die Prüfung für mein Reitabzeichen bestanden hatte, hat er mir ein eigenes Pferd geschenkt. Palma steht ganz in der Nähe unseres Hauses in einer Reitschule. Ich fahre jeden Tag mit dem Fahrrad zu ihr. Der Weg ist nicht weit. In fünf Minuten bin ich da.«

»Es ist wirklich Glück für dich gewesen, einen solchen Onkel zu haben«, stellte Pünktchen fest. »Ohne ihn wärst du wahrscheinlich arm dran gewesen.«

»Ja, ich weiß. Onkel Arnold ist wie ein Vater zu mir. Wir beide verstehen uns prima. Er hat eigentlich nur einen einzigen Fehler. Mich hat es nie gestört, dass er nicht verheiratet ist. Jetzt hat er sich allerdings in den Kopf gesetzt, dass unbedingt eine Frau ins Haus muss. Es gibt sogar schon eine, die er heiraten will. Vera Johann heißt sie, und sie ist Grundstücksmaklerin. Auch mein Onkel ist Grundstücksmakler. Die beiden glauben, dass es eine tolle Idee ist, wenn sie ihre Betriebe zusammenlegen.«

»Der Gedanke ist gar nicht schlecht«, bemerkte Nick. »Ein großes Geschäft ist besser als zwei kleine. Finanziell gesehen könnte eine Zusammenlegung ein Vorteil sein.«

»Ach was«, erwiderte Jessica und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mein Onkel ist reich genug. Er kann sich und mir fast jeden Wunsch erfüllen. Wir haben ein schönes Haus mit großem Garten, unternehmen in den Ferien weite Reisen und haben keine Geldsorgen. Einen zweiten Betrieb brauchen wir nicht. Außerdem kann ich Vera Johann nicht leiden. Sie ist eine blöde Ziege. Stundenlang steht sie vor dem Spiegel und prüft, ob sie das richtige Make-up aufgetragen hat. Zweimal in der Woche rennt sie zu ihrer Freundin in den Schönheitssalon. Da lässt sie sich auftakeln und falsche Augenwimpern ankleben. Sie sagt, dass eine Geschäftsfrau immer gut aussehen muss. Das mag ja sein, aber Vera übertreibt die Sache. Wenn sie bei uns ist, beklagt sie sich oft darüber, dass ich nach Pferd rieche und Stalldunst ins Haus trage. Sie mag keine Tiere, und Kinder kann sie auch nicht leiden. Vera Johann ist eine schreckliche Person. Ich will nicht, dass mein Onkel sie heiratet.«

»Leider hast du das nicht zu entscheiden«, meinte Pünktchen. »Was willst du dagegen machen, dass die beiden heiraten wollen?«

»Da fällt mir schon etwas ein. Bis jetzt habe ich meinen Onkel immer um den Finger wickeln können. Ich glaube nicht, dass er Vera so sehr liebt, dass er ohne sie nicht leben kann. Wenn ich vernünftig mit ihm rede, sieht er bestimmt ein, dass sie nicht zu uns passt. Ich muss nur einen günstigen Augenblick abwarten. Jetzt habe ich euch eine Menge über mich erzählt. Von euch weiß ich nur die Namen. Wohnt ihr hier in der Nähe? Seid ihr Geschwister oder einfach nur gute Freunde?«

»Freunde«, erwiderte Pünktchen. »Nick wohnt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater auf Gut Schoeneich.«

»Stiefvater? Dann geht es dir so ähnlich wie mir. Ist dein richtiger Vater auch gestorben?«

»Er ist schon sehr lange tot«, erklärte Nick. »Ich habe ihn nie kennengelernt. Erst kurz nach seinem Tod bin ich zur Welt gekommen. Meine Mutter hat später den Gutsbesitzer Alexander von Schoenecker geheiratet. Er war damals Witwer und hatte zwei Kinder. Sascha und Andrea sind heute längst erwachsen. Sascha studierte in Heidelberg, Andrea ist mit einem Tierarzt verheiratet. Sie wohnt mit ihrer Familie in Bachenau. Da ist auch die Praxis und ein kleines privates Tierheim. Zu meiner Familie gehört auch noch Henrik, mein jüngerer Halbbruder. Er ist jetzt zehn und hat lauter Dummheiten im Kopf. Meine Mutter verwaltet übrigens das Kinderheim Sophienlust, in dem auch Pünktchen wohnt.«

»Du wohnst in einem Kinderheim?«, fragte Jessica verwundert. »Wieso lebst du nicht bei deinen Eltern?«

»Meine Eltern sind vor langer Zeit durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen. Sie starben bei einem Zirkusbrand. Ich war damals noch ganz klein. Seit jener Zeit lebe ich in Sophienlust. Das Kinderheim ist meine Heimat geworden. Ich möchte nicht woanders sein. Es ist prima dort.«

»Wohnen viele Kinder, die keine Eltern mehr haben, in Sophienlust? Ist es ein großes Haus?«

»Sehr groß und sehr schön. Trotzdem gibt es nicht sehr viele Dauerkinder. Da ist Irmela, mit sechzehn Jahren die älteste von uns. Ihre Mutter hat nach dem Tod ihres Vaters wieder geheiratet und ist nach Bombay ausgewandert. Irmela wollte in Deutschland bleiben.

Vicky und Angelika haben ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren. Sie sind elf und dreizehn Jahre alt. Martin, ein elfjähriger Junge, ist nach dem Tod seiner Mutter mit seinem Vater allein gewesen. Dann starb auch der Vater, und Martin kam zu uns.

Dann sind da noch unsere beiden Nesthäkchen, Heidi und Kim. Heidi ist sechs Jahre alt. Sie hat ihre Eltern nie kennengelernt und fand schon als Baby einen Platz in Sophienlust. Kim ist ein fünfjähriger vietnamesischer Waisenjunge und landete auf Umwegen bei uns.

Mehr Dauerkinder haben wir nicht. Aber es kommen oft Gäste zu uns, die nur vorübergehend bleiben. Oft sind es Kinder, deren Eltern dringend verreisen müssen oder sich durch einen notwendigen Krankenhausaufenthalt nicht um ihren Nachwuchs kümmern können.«

»Darum ist Sophienlust also auch so etwas wie ein Hotel für Kinder«, stellte Jessica fest.

»Ganz so würde ich das nicht nennen«, meinte Nick. »Aber im Grunde genommen hast du recht. Es wird kein Kind abgewiesen, das für ein paar Wochen oder Monate eine Unterkunft benötigt. Manche Kinder bringen auch Tiere mit, mitunter sogar ein Pferd. Das ist in Sophienlust kein Problem. Wir haben selbst Pferde und Ponys und natürlich auch Ställe. Für ein Gastpferd ist meistens noch eine Box frei. Na ja, und tagsüber auf der Weide fällt es gar nicht auf, wenn ein Pferd mehr dort herumläuft.«

Jessica erwies sich als aufmerksame Zuhörerin. Nachdem Nick und Pünktchen ihr auch von den beiden Hunden, dem Bernhardiner Barri und der Dogge Anglos berichtet und das alte Herrenhaus in allen Einzelheiten beschrieben hatten, glaubte Jessica, das Haus Sophienlust schon lange zu kennen.

»Vielleicht besuche ich euch einmal«, erklärte sie. »Aber jetzt muss ich mich wieder auf den Weg machen. In einer Stunde ist es Zeit für die Fütterung. Palma soll nicht zu spät in den Stall kommen.«

Die Zwölfjährige steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff erschallen. Die Haflingerstute hob sofort den Kopf und kam angetrabt.

»Das ist ja toll«, stellte Pünktchen bewundernd fest. »Hast du ihr das beigebracht?«

»Na klar! Ich habe ihr eine ganze Menge Tricks beigebracht. Palma legt sich auch auf Kommando hin, und wenn ich ihr den Zipfel eines Taschentuches ins Maul stecke, dann winkt sie damit. Ich glaube, sie wäre ein gutes Zirkuspferd geworden. Tschüs, ihr zwei. Vielleicht sehen wir uns demnächst einmal wieder.«

Nick und Pünktchen schauten Jessica nach, wie sie mit Palma die Wiese entlangtrabte, über den Bach sprang und im nahen Wald verschwand.

»Diese Jessica ist ein richtiger Temperamentsbolzen«, stellte Nick fest. »Sie scheint vor Lebensfreude nur so zu sprühen. Hoffentlich schafft sie es, ihrem Onkel die geplante Hochzeit tatsächlich auszureden. Es täte mir leid, wenn sie eine Stieftante bekäme, die sie nicht leiden kann.«

»Diese Vera Johann täte mir aber auch leid«, entgegnete Pünktchen grinsend. »Jessica ist ausgesprochen einfallsreich und selbstbewusst. Sie würde der Frau ihres Onkels das Leben bestimmt ganz schön schwer machen.«

Nick und Pünktchen wanderten hinüber zu ihren Pferden und stiegen auf. Durch das unerwartete Zusammentreffen mit Jessica hatten sie länger Rast gemacht als geplant. Es wurde Zeit, wieder nach Sophienlust zurückzukehren.

*

Nachdem Jessica Palma in den Stall gebracht und versorgt hatte, fuhr sie mit dem Rad nach Hause. Als sie in die Sackgasse einbog, an deren Ende das Haus ihres Onkels lag, kam ihr Vera Johann in ihrem feuerroten Sportwagen entgegen. Die junge Frau nickte Jessica im Vorbeifahren nur beiläufig zu, ohne dabei das Tempo zu verringern.

»Was wollte diese Vera denn schon wieder hier?«, fragte Jessica wenig später ihren Onkel. »Muss sie unbedingt andauernd bei uns aufkreuzen?«

Arnold Oldenbrink, ein sportlich wirkender Mann von dreiunddreißig Jahren, schaute seine Nichte amüsiert an. »Vera ist eben gern und oft in meiner Nähe. Das ist ganz normal. Du weißt doch, dass wir in Kürze heiraten werden. Nach der Hochzeit wird sie sogar ganz in unserem Haus wohnen.«

»Wann werdet ihr denn heiraten? Habt ihr den Termin schon festgelegt?«

»Nein, noch nicht. Das hat noch ein wenig Zeit. Wir müssen nichts überstürzen.«

»Wenn du Vera lieben würdest, könntest du es gar nicht abwarten, endlich mit ihr verheiratet zu sein. Du hast es aber überhaupt nicht eilig. Das ist ein Beweis dafür, dass du sie eigentlich gar nicht liebst. Warum willst du sie dann unbedingt zur Frau haben? Sie passt gar nicht zu dir. Vera Johann ist eine grässliche Person. Für sie ist nur ihr Geschäft und ihr Aussehen wichtig. Den ganzen Tag passt sie auf, dass ihr nur ja kein Fingernagel abbricht und dass sie mit ihrem Make-up nicht in einen Regenschauer gerät. Das wäre für sie eine Katastrophe. Vera mag weder Kinder noch Tiere. Sie ist eine Modepuppe und passt nicht in dieses Haus. Heirate sie nicht, Onkel Arnold. Mit ihr wirst du nicht glücklich. Es gibt viele andere Frauen, die weitaus netter sind. Du bist doch noch jung und musst nicht gleich die erste Frau vor den Traualtar zerren, die dir über den Weg läuft. Warte lieber, bis eine kommt, die du wirklich liebst.«

Arnold schüttelte lächelnd den Kopf. »Du irrst dich, Jessica. Ich habe Vera sehr gern. Es wundert mich nicht, dass du ein bisschen eifersüchtig auf sie bist. Wir beide sind eben schon viel zu lange allein gewesen. Es wird Zeit, dass endlich eine Frau ins Haus kommt. Du wirst dich schon an Vera gewöhnen, so wie sie sich an dich gewöhnen wird. Wenn ihr beide euch ein bisschen Mühe gebt, versteht ihr euch bestimmt bald recht gut. Vera ist nicht so oberflächlich, wie du glaubst. Das scheint jetzt nur so. Natürlich achtet sie auf ihr Äußeres. Das finde ich ganz in Ordnung. Sie wird dir ein Vorbild sein, und sie ist sicher keine schlechte Stieftante. Das heißt, für dich wird sie so etwas wie eine Stiefmutter sein, weil sie die Mutterstelle an dir vertritt. Ich mag Vera und sehe in unserer Ehe noch einen weiteren Vorteil. Bis jetzt sind unsere Betriebe Konkurrenzunternehmen gewesen. Wenn wir sie zusammenlegen, ist das die ideale Lösung.«

»Aber du kannst doch nicht nur an dein Geschäft denken«, warf Jessica ein. »Ich werde Vera nie mögen. Willst du denn auf mich gar keine Rücksicht nehmen?«

»Jessica, du weißt, dass ich für dich immer alles getan habe«, erwiderte Arnold ernst. »Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber ich habe auch mein eigenes Leben zu führen. Dazu gehört, selbst zu entscheiden, wen ich heiraten will und wen nicht. Vera Johann wird meine Frau. Das steht unwiderruflich fest. Du wirst diesen Entschluss akzeptieren müssen, und es liegt weitgehend an dir, ob das Verhältnis zwischen ihr und dir gut sein wird.«

»Ist das wirklich dein letztes Wort in dieser Angelegenheit?«, wollte Jessica wissen.

Arnold nickte. »Ja, das ist es. Es ist noch nicht entschieden, wann die Hochzeit stattfindet, aber dass sie stattfindet, ist sicher.«

Jessica seufzte hörbar auf, wandte sich ab und verließ den Raum. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und dachte nach. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass ihr Onkel es mit der Hochzeit nicht allzu ernst genommen hatte. Das war offensichtlich ein Irrtum gewesen. Durch nichts würde er sich davon abbringen lassen, Vera Johann zu heiraten. Oder gab es vielleicht doch noch eine Möglichkeit? Krampfhaft suchte die Zwölfjährige nach einem Ausweg. Noch wollte sie nicht kampflos aufgeben. Dann kam ihr plötzlich eine Idee. Mit schönen Worten konnte sie bei ihrem Onkel nichts erreichen. Möglicherweise half es aber, wenn er unter Druck gesetzt wurde und sich zwischen Vera und ihr entscheiden musste. Es war unwahrscheinlich, dass er dann der Frau den Vorzug geben würde, die er erst seit einem halben Jahr näher kannte. Jessica schmiedete einen Plan und wusste nun ganz genau, was sie unternehmen musste, um die Heiratsabsichten ihres Onkels zu durchkreuzen.

*

Schwester Regine, die in Sophienlust lebte und dort als Kinder- und Krankenschwester arbeitete, klebte ein großes blaues Pflaster auf Kims Knie. Der kleine Junge war vor dem Haus hingefallen und hatte genau die Steineinfassung eines Blumenbeetes getroffen. Zunächst hatte es dicke Tränen gegeben, die beim Anblick der bunten Pflaster jedoch schnell versiegt waren.

»So sieht dein Knie prima aus«, stellte die Kinderschwester fest. »Du hast dir ein hübsches Pflaster ausgesucht.«

Kim betrachtete nachdenklich sein Bein. Er trug dunkelblaue Shorts. Das ebenfalls blaue Pflaster fiel deshalb nicht so richtig auf.

»Blau ist schön«, erklärte er. »Aber ich glaube, ich hätte rotes Pflaster noch lieber. Rot ist besser. Können wir tauschen um? Du kannst aufheben blaues Pflaster. Das ich nehme nächstes Mal.«

»Pflaster kann man nicht verwahren«, erwiderte Schwester Regine. »Wenn man sie einmal benutzt hat, muss man sie wegwerfen, weil sie nicht mehr ganz sauber sind. Aber tauschen können wir trotzdem.«

Ein paar Minuten später wanderte Kim stolz mit dem leuchtend roten Pflaster umher, das nicht nur auffälliger, sondern auch noch ein bisschen größer war als das blaue. Sein Knie sah nun nach einer recht großflächigen Verletzung aus, die er mit würdevoller Tapferkeit ertrug. Kim sonnte sich in dem Mitleid, das vor allem Heidi ihm entgegenbrachte. Auf ihre wiederholte Nachfrage, ob er große Schmerzen hätte, schüttelte Kim den Kopf, vergaß aber nicht, etwas mehr zu humpeln, als eigentlich erforderlich war. Jeder sollte sehen, dass er als jüngstes Kind von Sophienlust nicht weniger tapfer war als die größeren.

Pünktchen schmunzelte, als sie Kim durch den Park humpeln, dann aber plötzlich losrennen sah, als er Martin mit dessen neuem Fernlenkboot am Teich entdeckte. So schlimm schien die Sache mit dem verletzten Knie also nicht zu sein. Die Vierzehnjährige blickte zur Auffahrt hinüber, als sie Hufschlag vernahm. Sofort erkannte sie die Haflingerstute Palma und Jessica, die gerade das Tor passierten. Erfreut ging Pünktchen den beiden entgegen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du uns tatsächlich einmal besuchst. Schön, dass du gekommen bist. Hast du einen größeren Ausflug vor?«

Pünktchen wies auf die prall gefüllten Packtaschen, die hinter dem Sattel lagen.

»Ich mache sogar einen ziemlich großen Ausflug«, erklärte Jessica, während sie absaß. »Genau genommen sind wir beide auf Wohnungssuche. Kann ich in Sophienlust ein Zimmer mieten und für Palma eine Box bekommen? Wie lange wir bleiben werden, weiß ich noch nicht. Aber ich habe genug Taschengeld dabei. Das reicht bestimmt, um die Miete für einen ganzen Monat zu bezahlen. Mein Gepäck habe ich gleich mitgebracht.«

»Das hört sich nach einer ernsten Sache an«, stellte Pünktchen fest. »Hast du dich mit deinem Onkel gestritten? Geht es etwa um diese Frau, die er heiraten will?«

»Genau! Er lässt sich davon einfach nicht abbringen. Deshalb bin ich ausgezogen. Entweder holt er mich zurück und verzichtet auf Vera oder er heiratet sie und gibt mich auf. Ich bleibe mit Vera nicht einen Tag unter demselben Dach.«

Pünktchen griff nach Palmas Zügeln. »Pass auf, wir nehmen der Stute den Sattel ab und bringen sie zu den anderen Pferden auf die Weide. Dort ist sie vorläufig gut versorgt. Über dein Problem sprechen wir anschließend mit Tante Isi. So nennen wir Nicks Mutter. Sie weiß immer einen Rat und wird dich bestimmt nicht davonjagen.«

»Schön habt ihr es hier«, stellte Jessica anerkennend fest, als sie mit Pünktchen wenig später die Eingangshalle betrat. »So nobel hatte ich mir Sophienlust gar nicht vorgestellt. Ich glaube, dass es mir bei euch gefällt. Jedenfalls möchte ich gerne bleiben, bis mein Onkel endlich zur Vernunft gekommen ist.«

Denise von Schoenecker schmunzelte, als Jessica sie bat, ein Zimmer mieten zu dürfen und Palma gegen Bezahlung Unterkunft zu gewähren.

»Du hast da etwas falsch verstanden, Jessica. Sophienlust ist ein Kinderheim, kein Kinderhotel. Zu uns kommen junge Menschen, die in Not geraten sind. Es spielt keine Rolle, ob sie für ihre Unterkunft bezahlen können oder nicht. Wichtig ist nur, dass sie wirklich Hilfe brauchen.«

Jessica nickte verstehend. »Dann schicken Sie mich also wieder zu meinem Onkel zurück, weil ich nicht in einer Notsituation bin.«

»Nein, das werde ich nicht tun. Es gibt zwar Kinder, die sich in weitaus schwierigeren Situationen befinden als du, aber auch bei dir liegt offensichtlich ein Notfall vor. Für deine Palma ist bereits gesorgt, und auch dich schickt niemand weg. Ich muss allerdings deinen Onkel informieren. Er wird sich wahrscheinlich schon Sorgen um dich machen. Vermutlich kommt er gleich her, nachdem ich ihn angerufen habe. Dann können wir uns alle zusammen in Ruhe unterhalten und versuchen, eine Lösung zu finden.«

»Die Lösung habe ich schon«, entgegnete Jessica. »Wenn er Vera nicht heiratet, gehe ich wieder mit ihm nach Hause. Wenn er sie trotz allem heiraten will, bleibe ich hier. Das ist ganz einfach. Ich glaube übrigens nicht, dass Onkel Arnold mich in einem Kinderheim lassen will. Er wird sich die Sache mit der Hochzeit bestimmt noch einmal genau überlegen.«

Denise erkannte, dass sie eine kleine Erpresserin vor sich sitzen hatte. Aber sie konnte dem Mädchen nicht böse sein. Jessica handelte aus einer inneren Zwangslage heraus und wusste einfach keinen anderen Ausweg. Es lag bestimmt nicht nur an reiner Eifersucht, dass sie die künftige Frau ihres Onkels ablehnte. Vera Johann und Jessica schienen sich absolut nicht zu verstehen. Wer von den beiden für das schlechte Verhältnis verantwortlich war, konnte Denise nicht sagen.

»Ich telefoniere jetzt mit deinem Onkel«, entschied Denise. »Pünktchen wird dir inzwischen sicher gerne die anderen Kinder vorstellen und dir unser Sophienlust zeigen.«

»In Ordnung«, erwiderte Jessica. »Sobald mein Onkel hier ist, werde ich mit ihm sprechen und ihm erklären, was ich vorhabe. Er muss schließlich wissen, woran er ist.«

Schon lange hatte Denise kein Kind mehr vor sich gehabt, das sich so selbstbewusst gezeigt hatte. Die Verhandlungen zwischen Arnold Oldenbrink und seiner Nichte würden mit Sicherheit nicht einfach sein. Jessica war nicht bereit, irgendwelche Kompromisse zu schließen.

*

Bereits seit einer Stunde wartete Arnold auf Jessica. Unpünktlichkeit kannte er von ihr nicht. Sie hätte aus der Reitschule längst wieder zurück sein müssen. Er machte sich Sorgen und wollte gerade in der Reitschule anrufen, als das Telefon läutete und Denise von Schoenecker sich meldete. Arnold fiel aus allen Wolken, als sie ihm berichtete, was sich ereignet hatte.

Er versprach, unverzüglich nach Sophienlust zu kommen.

Jessica hielt sich mit einigen anderen Kindern gerade im Pferdestall auf, als ihr Onkel eintraf. So ergab sich für Arnold die Gelegenheit, zunächst mit Denise zu sprechen.

»Ich begreife Jessica einfach nicht«, gestand er. »Zugegeben, Vera ist nicht das, was man einen mütterlichen Typ nennt. Aber sie wird meine Nichte bestimmt partnerschaftlich behandeln. Bis jetzt hatte ich mit Jessica nie Probleme. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass sie sich nach einer Mutter sehnt.«

»Wahrscheinlich hat sie sich ein festes Bild von einer Mutter gemacht«, erwiderte Denise. »Ihre Verlobte entspricht diesen Vorstellungen vermutlich nicht. Jessica verfügt über ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Sie möchte die Dinge nach ihrem eigenen Kopf regeln, notfalls auch mit Gewalt.«

Arnold nickte lächelnd. »Ja, so ist sie schon immer gewesen. Als ganz kleines Mädchen hat sie bereits immer genau gewusst, was sie wollte. Mein Bruder und meine Schwägerin hatten manchmal ihre liebe Not mit dem Trotzköpfchen. Mir hat Jessicas Art immer gefallen. Das war auch ein Grund dafür, warum ich sie damals nach dem schrecklichen Unglück zu mir genommen hatte. Ich war ganz vernarrt in meine Nichte und bin es auch heute noch. Sie ist ein eigensinniger Wildfang, der eine Menge Wirbel ins Haus bringt. Doch gerade das gefällt mir. Jetzt weiß ich allerdings nicht, wie ich dieses Problem lösen soll. Ich möchte weder auf Vera noch auf Jessica verzichten. Beide bedeuten mir sehr viel.«

Denise empfand Mitleid mit Arnold. »Vielleicht bringt ein Gespräch hier in Sophienlust auf neutralem Boden etwas. Reden Sie mit Jessica. Eine andere Möglichkeit haben Sie im Moment nicht.«

Wenig später saß Arnold seiner Nichte gegenüber und redete mit Engelszungen auf sie ein. Denise hielt sich als stummer Zuhörer im Hintergrund und war erstaunt, wie geschickt und einfühlsam Arnold argumentierte. Doch seine Worte schienen an dem Mädchen abzuprallen.

»Ich brauche keine Stiefmutter und schon gar keine wie Vera Johann«, erklärte sie. »Wenn ich mich jetzt auf etwas einlasse, habe ich sie am Hals, bis ich erwachsen bin. Sobald ihr beide verheiratet seid, lässt sich nichts mehr ändern. Dann kannst du sie nicht mehr wegschicken, weil sie sich nicht mit mir verträgt. Legt eure Betriebe ruhig zusammen. Dagegen habe ich nichts. Aber ich will nicht, dass Vera zu unserer Familie gehört. Sie ist kein guter Mensch und kann mich nicht leiden. Wahrscheinlich wird sie mir sogar verbieten, in die Reitschule zu gehen, weil ich dann nach Pferd rieche. Wenn sie erst deine Frau ist, kann sie über mich bestimmen, und das wird sie auch tun. Ich will mich nicht nach dieser Vera Johann richten müssen. Es bleibt dabei: Wenn du sie heiratest, bleibe ich in Sophienlust.«

Arnold warf Denise einen hilfesuchenden Blick zu. Sie erhob sich und kam näher. »Ich möchte einen Vorschlag machen. Im Augenblick sind die Fronten verhärtet. Es kann bestimmt vorerst keine Einigung erzielt werden. Ich meine, Jessica sollte eine Weile in Sophienlust bleiben. Hier kann sie in Ruhe über alles nachdenken. Auch Sie, Herr Oldenbrink, können leichter klare Gedanken fassen, wenn Sie die nötige Ruhe dazu haben.«

Jessica war sofort einverstanden, und auch Arnold ging auf diesen Vorschlag ein. Bei Sophienlust handelte es sich zwar um ein beispielhaft geführtes Kinderheim. Aber vielleicht würde Jessica trotzdem erkennen, dass das Leben in einer Familie vorzuziehen war. Sie hatte keine Geschwister und war nicht daran gewöhnt, alles mit anderen Kindern teilen zu müssen. Möglicherweise würde sie das so sehr stören, dass sie bald einsah, bei ihrem Onkel und Vera doch besser aufgehoben zu sein.

Die Zwölfjährige selbst sah die Sache ganz anders. »Ich bleibe jetzt erst einmal bei euch«, verkündete sie später den anderen Kindern. »Mein Onkel überlegt sich inzwischen, ob er Vera Johann tatsächlich heiraten will oder ob ich ihm doch wichtiger bin als sie.«

Die Kinder freuten sich über ihren neuen Gast. Jessica war ein umgängliches Mädchen, das sie gerne in ihren Kreis aufnahmen. Schwester Regine zeigte Jessica das Zimmer, in dem sie wohnen sollte. Es störte die Zwölfjährige nicht im Geringsten, dass sie diesen Raum mit Pünktchen teilen musste. Sie war sogar froh, etwas Gesellschaft zu haben und nicht allein sein zu müssen.

*

Schon am nächsten Tag zeigte sich, was Arnold damit gemeint hatte, als er seine Nichte als Wildfang bezeichnet hatte, der Wirbel ins Haus bringt. Jessica steckte voller Unternehmungsgeist. Jessica stellte in ihrem Zimmer die Möbel um, weil sie fand, dass es so viel hübscher aussähe. Pünktchen ließ sie gewähren. Ihr war es egal, an welcher Stelle die Möbelstücke standen.

Jessicas nächste Handlung bestand darin, dem Papagei Habakuk, der im Wintergarten des Kinderheims wohnte, zu einem neuen Kletterbaum zu verhelfen.

»Papageien klettern für ihr Leben gern«, erklärte sie, während sie einen mächtigen, vielfach verzweigten Ast in den Wintergarten schleppte. »Habakuk freut sich bestimmt, wenn er jetzt noch ein zweites Klettergerüst hat. Das alte kann er ruhig zusätzlich behalten.«

»Wie willst du den dicken Ast denn aufstellen?«, erkundigte Vicky sich. »Der hält doch nicht von ganz allein und fällt um, wenn Habakuk darin herumklettert.«

»Daran habe ich schon gedacht«, erwiderte Jessica. »Vorhin habe ich gesehen, dass der alte Justus drüben neben dem Stall die Futterkammer ausbessert und neuen Zement gießt. Davon holen wir uns etwas. Komm mit, du kannst mir helfen.«

Jessica hatte der Köchin Magda eine flache Blumenschale abgebettelt. Damit zog sie nun zu Justus und bat ihn, die Schale mit Zement zu füllen. Gemeinsam mit Pünktchen transportierte sie die große schwere Schale in den Wintergarten, steckte den Ast hinein und befestigte ihn so an mehreren kräftigen Pflanzen, dass er nicht umfallen konnte.

»So, jetzt brauchen wir nur noch zu warten, bis der Zement richtig trocken ist. Dann steckt der Ast fest darin und kann sich nicht mehr bewegen. Habakuk kann nach Herzenslust darin herumklettern.«

Kaum hatte Jessica diese Arbeit beendet, lief sie zur Weide hinüber und pfiff nach Patina.

Die Stute kam sofort brav angetrabt und ließ sich am Halfter nehmen.

»Willst du ausreiten?«, erkundigte Pünktchen sich, die gerade in der Nähe war.

»Ja, ich muss Palma vorher nur noch putzen. Kommst du mit? Zu zweit macht ein Ausritt viel mehr Spaß. Außerdem kenne ich die Gegend hier nicht so gut. Du könntest mir alles zeigen.«

Pünktchen ließ sich nicht zweimal bitten. Eine halbe Stunde später saßen die beiden Mädchen im Sattel und machten sich auf den Weg. Unterwegs stellte Pünktchen fest, dass Jessica eine ausgesprochen gute Reiterin war, die keinerlei Probleme mit ihrem Pferd hatte. Auch als Palma vor einem plötzlich aus einem Gebüsch auffliegenden Vogel scheute, geriet Jessica nicht in Schwierigkeiten. Sofort hatte sie die Stute wieder im Griff und redete beruhigend auf sie ein.

»Schau mal, da unten liegt ein Luftballon mit einer Karte«, bemerkte Pünktchen und wies einen Steilhang hinunter, der neben dem Weg lag. »Schade, dass er gerade dort gelandet ist. Da können wir ihn nicht erreichen. Ich hätte die Karte gerne zurückgeschickt. Sie stammt bestimmt von einem Ballonwettbewerb.«

Jessica saß ab und reichte Pünktchen die Zügel ihres Pferdes. »Halte Palma bitte fest, ich hole den Ballon herauf.«

»Das geht nicht«, meinte Pünktchen. »Der Hang ist viel zu steil und zu sandig. Nach unten schaffst du es vielleicht. Aber du kommst sicher nicht wieder nach oben. Lass es lieber bleiben. Du wirst abrutschen und dich verletzen.«

»Ach was!« Jessica winkte ab und kletterte auch schon rückwärts den Abgrund hinunter. Mit angehaltenem Atem schaute Pünktchen der waghalsigen Klettertour zu. Jessica löste die Karte vom Ballon, steckte sie in die Tasche und machte sich auf den beschwerlichen Rückweg. Ihre Hände und Füße fanden in dem lockeren Sand kaum Halt. Mehrmals rutschte sie unterwegs wieder ein Stück abwärts und musste einen neuen Versuch starten. Doch schließlich hatte sie es endlich geschafft. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, als sie den festen Weg endlich erreichte und sicheren Boden unter den Füßen hatte. Doch ihr Gesicht strahlte. Sie klopfte Sand und Erde von ihrer Hose und zog die Karte hervor.

»Hier ist das gute Stück. Der Luftballon wurde von einem Mario Heimersdorf aufgelassen, und zwar in Köln. Mario ist sieben Jahre alt. Bestimmt hofft er darauf, dass sein Ballon gefunden wird und dass er bei dem Wettbewerb einen Preis gewinnt. Es wäre schade gewesen, wenn wir die Karte nicht eingesammelt hätten. Jetzt können wir sie nach Köln zurückschicken und dem kleinen Mario damit eine Freude machen.«

»Das finde ich prima«, meinte Pünktchen. »Du hast wirklich Mut. Ich hätte mich nicht getraut, diesen langen und steilen Hang hinunterzuklettern. Der fällt ja fast senkrecht ab. Hattest du denn überhaupt keine Angst?«

»Angst? Was ist das?«, fragte Jessica grinsend. »Nein, ich hatte keine Angst. So ein kleiner Hügel kann mich nicht bange machen. Komm, jetzt reiten wir zurück nach Sophienlust und schicken die Karte sofort ab.«

Insgeheim bewunderte Pünktchen Jessica. Sie nahm das Leben leicht, war immer gut aufgelegt, und es schien nichts auf der Welt zu geben, was ihr wirklich angst machen konnte. Pünktchen selbst war eher ein vorsichtiger Typ, der nicht bedenkenlos jedes Risiko einging. Die beiden Mädchen wendeten ihre Pferde und trabten zurück nach Sophienlust.

*

Zunächst war es Vera überhaupt nicht aufgefallen, dass Jessica nicht mehr im Haus ihres Onkels war. Erst nach zwei Tagen schnupperte sie prüfend, als sie das Haus betrat.

»Hat Jessica sich ein neues Hobby gesucht und geht nicht mehr in den Stall? Es riecht nicht mehr so streng nach Pferd. Das fällt mir angenehm auf.«

»Jessica wird die Liebe zu den Pferden niemals verlieren«, erwiderte Arnold. »Ihre Palma bedeutet ihr alles. Trotzdem hat deine feine Nase dich nicht betrogen. Ich hätte sowieso heute mit dir darüber gesprochen. Seit zwei Tagen

ist meine Nichte nicht mehr hier. Sie hat es vorgezogen, vorübergehend in einem Kinderheim zu wohnen.«

»In einem Kinderheim? Das verstehe ich nicht. Was will sie denn dort?«

»Es klingt wahrscheinlich albern, aber sie ist deinetwegen gegangen. Jessica will nicht, dass wir beide heiraten. Ich weiß nicht, warum, doch sie hat etwas gegen dich. Nun hat sie mich vor die Wahl gestellt. Wenn ich dich heirate, bleibt sie in Sophienlust. Gebe ich meine Heiratspläne auf, kehrt sie zu mir zurück.«

»So ein ausgekochtes kleines Luder«, bemerkte Vera. »Sie will dich eiskalt erpressen. Das lässt du dir hoffentlich nicht bieten. Immerhin hast du zu bestimmen, wo deine Nichte sich aufhält. Ob wir heiraten werden oder nicht, geht Jessica gar nichts an. Das musst du ihr deutlich machen. Sie ist ein Kind und hat sich zu fügen.«

Arnold schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Es stimmt, dass Jessica noch ein Kind ist. Trotzdem habe ich Rücksicht auf sie zu nehmen.

Schließlich wollen wir nach unserer Hochzeit ein harmonisches Familienleben führen. Das können wir aber nicht, wenn Jessica sich dagegen wehrt. Ich kenne sie. Glaube mir, sie kann dir das Leben zur Hölle machen, wenn wir sie zwingen, unsere Entscheidung zu akzeptieren.«

»Na gut, dann muss sie eben in diesem Kinderheim bleiben. Irgendwann langweilt sie sich dort. Dann wird sie froh sein, wenn wir sie nach Hause holen. Du kannst dein Leben nicht von einem kleinen Mädchen bestimmen lassen. Es geht schließlich um deine ganz persönliche Zukunft. Das darfst du trotz aller Rücksichtnahme nicht vergessen. Deine Nichte wird ihren Trotz früher oder später von ganz allein aufgeben. Lasse dich nicht von ihr zum Narren machen. Wenn du ihr jetzt nachgibst, hat sie dich in der Hand und wird immer wieder versuchen, dich unter Druck zu setzen, wenn ihr wieder einmal etwas nicht in den Kram passt.«

»Du hast ja recht«, gab Arnold zu. »Aber ich möchte, dass Jessica einsichtig wird und dich aus freien Stücken akzeptiert. Das ist wichtig für uns alle. Ich kann mir nicht erklären, was sie gegen dich haben könnte. Vielleicht weißt du mehr. Kannst du mir sagen, warum das Verhältnis zwischen euch so schlecht ist? Habt ihr irgendwann einmal Streit gehabt?«

»Nein, gestritten haben wir uns nie. Ich habe mich nur über diesen unangenehmen Pferdegeruch beklagt. Doch deswegen kann Jessica kaum beleidigt sein. Ansonsten habe ich sie eigentlich kaum beachtet.«

»Vielleicht ist es das. Es kann sein, dass du ihr nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hast.«

»Ach, Arnold, die Kleine ist deine Nichte. Ich habe im Grunde genommen nicht viel mit ihr zu tun. Dabei will ich es auch belassen. Mit Kindern habe ich eben keine Erfahrung, und Jessica ist obendrein ein fremdes Kind für mich. Ich habe nichts gegen sie, aber ich kann auch keine Muttergefühle entwickeln. Nun mache dir nicht so viel Sorgen um sie. Sie kommt von allein wieder zur Vernunft. Wir sollten uns lieber um wichtigere Dinge kümmern und zum Beispiel den Hochzeitstermin planen.«

»Nein«, widersprach Arnold. »Das geht im Moment nicht. Ich muss erst wissen, ob Jessica stur bei ihrer Meinung bleibt. Wir haben es doch nicht eilig. Auf ein paar Wochen mehr oder weniger kommt es nicht an.«

»Das nicht, aber ich sehe nicht ein, dass wir uns nach einem trotzigen Kind richten sollen. Das führt dazu, dass wir in Zukunft immer erst Jessica fragen müssen, bevor wir eine Entscheidung treffen. So habe ich mir ein Familienleben nicht vorgestellt.«

»Keine Sorge«, meinte Arnold beruhigend. »Jessica wird das Kommando nicht übernehmen. Doch jetzt steht sie vor einem schwierigen neuen Abschnitt ihres Lebens. Sechs Jahre lang ist sie mit mir allein gewesen, und nun kommt plötzlich eine Frau, die mit zur Familie gehören soll, und zu der sie noch gar keine Verbindung hat. Habe ein bisschen Geduld. Es wird sich alles finden. In ein paar Monaten sieht die Welt sicher schon ganz anders aus.«

Arnold nahm Vera in den Arm und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie erwiderte sein Lächeln. Er hatte schon recht. Auf ein paar Wochen kam es jetzt wirklich nicht an. Jessicas Trotz würde bestimmt bald gebrochen sein. Dann konnten sie und Arnold ihre Zukunft in Ruhe planen.

*

Die Kinder hatten einen Besuch im Tierheim Waldi und Co. geplant. Jessica war von der Idee sofort begeistert gewesen und hatte sich mit großem Interesse alle Tiere angesehen, die hier ein neues Zuhause gefunden hatten. Besonderes Mitgefühl empfand sie mit Felix, einem etwa einjährigen Mischlingsrüden, in dessen Adern das Blut von Pudel und Schnauzer floss. Mit großen traurigen Augen lag er auf der Terrasse und ließ sich nicht einmal von dem Dackel Waldi, dem Namenspatron des Tierheims, zum Spielen ermuntern.

»Felix trauert bestimmt um seine ehemaligen Besitzer«, meinte Jessica mitfühlend, während sie den Hund streichelte.