Men of Inked 2
© 2020 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Übersetzung Martina Campbell
© Covergestaltung Andrea Gunschera
© Originalausgabe Chelle Bliss 2014
ISBN Taschenbuch: 9783864438967
ISBN eBook-mobi: 9783864438974
ISBN eBook-epub: 9783864438981
www.sieben-verlag.de
Für meine Eltern, denen ich ewig für alles dankbar sein werde.
Und für Kaylee. Danke, dass du mich in den vergangenen Monaten
bei Verstand gehalten hast. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft!
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Die Autorin
Ich wischte mir das Blut von den Augenbrauen und sah Tito an. Die Wunde stach, als Schweiß aus dem Schnitt über dem geschwollenen Auge hineinlief. Zwar bewegte er sich schnell, doch ich besaß mehr Kraft. Es war wie ein Katz- und Mausspiel. Ich überließ ihn seiner Selbstsicherheit, ehe ich angriff und ihn flachlegte.
Ich trat ihm an den Oberschenkel. Ein spitzer Schmerz raubte mir den Atem, bevor mein Handballen sein Kinn traf. Sein Kopf flog zurück, ich packte ihn an der Taille, hob ihn vom Boden und warf ihn auf seinen Hintern. Mein Körper krachte auf seinen und der Schmerz in meinen Rippen wurde unerträglich. Doch ich konnte nicht nachlassen oder ihn befreien. Ich kämpfte trotz der Schmerzen weiter und drückte ihn zu Boden, während er wie ein gefangenes Tier um sich schlug und trat.
Als sein Stöhnen lauter wurde, er sich in meinem festen Griff befand und unter meiner Armbeuge rot anlief, nutzte ich die Gelegenheit und schlug ihm ins Gesicht. Sein Hacken bohrte sich in meine Wade und meine Muskeln verkrampften. Doch obwohl mein Körper nach Aufhören schrie, war ich entschlossen genug, den Kampf zu gewinnen, die Schmerzen zu ertragen und nicht loszulassen.
Der Schiedsrichter blies in die Pfeife und beendete den Kampf. Ich ließ von Tito ab, humpelte auf die Füße, hielt mir die Rippen und versuchte, zu Atem zu kommen. Tito kroch auf seinen Trainer zu und ich grinste für die jubelnden Zuschauer. Am liebsten hätte ich mich auf dem kühlen Plastikboden lang ausgestreckt, doch noch war es nicht soweit.
Rob schlug mir auf den Rücken und brüllte in mein Ohr: „Du hast gewonnen!“
Ich zuckte zusammen und schloss die Augen, um alles auszublenden. Durch zusammengebissene Zähne antwortete ich: „Fuck, hör auf mit dem Scheiß.“ Zittrig atmete ich aus und sah Rob wieder an.
Seine Augen weiteten sich und er betrachtete mich prüfend, sein Blick blieb an meiner Hand hängen. „Was ist los?“, fragte er.
„Meine verdammten Rippen. Ich glaube, es sind ein paar gebrochen. Ich kann nicht gut atmen“, brachte ich hervor. Das Sprechen fiel mir schwer.
„Das muss untersucht werden. Nicht, dass sich was in deine Lungen bohrt oder so was“, sagte er, legte vorsichtig den Arm um mich und half mir aus dem Ring.
Mit geschlossenen Augen lauschte ich den Geräuschen vor meinem Zimmer. Stimmen hallten durch die Flure, Schreie, Rufe, das Piepsen von medizinischen Geräten und klingelnde Telefone. All das machte es unmöglich, sich zu erholen. Ich konzentrierte mich auf die Atmung, holte kurz und oberflächlich Luft, um den stechenden Schmerz im Zaum zu halten.
„Mr. Gallo?“, sagte eine Stimme an der Tür.
Ich zuckte zusammen und wollte mich weiter aufsetzen, doch der Schmerz jagte wie eine Messerklinge durch mich hindurch. Ich sackte auf die Matratze zurück und hob den Arm. „Hier“, sagte ich und ließ die Hand locker auf meine Brust sinken.
Die Frau legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte. „Ich sehe, dass Sie wegen Ihrer Rippen hier sind.“
„Was hat mich verraten?“, fragte ich und klang leicht genervt.
Sie entspannte die Lippen, um ihr Grinsen zu verbergen. „Wie heftig ist der Schmerz auf einer Skala von eins bis zehn?“
„Sieben, wenn ich zu tief atme, und zwei, wenn ich mich nicht bewege und oberflächlich atme.“
„Ich muss Ihnen das Shirt ausziehen“, sagte sie und griff nach dem Rand meines Tanktops. „Das wird wehtun.“
„Ich halte es aus, Doc. Tun Sie Ihr Schlimmstes.“
Mit den Fingerspitzen berührte sie meinen Bauch und ich zuckte zusammen, als ihr Nagel kurz über meinen Shorts entlangstrich. „Entschuldigung“, sagte sie und errötete etwas. „Es wäre leichter, wenn Sie sich hinsetzen würden. Nehmen Sie meine Hand.“ Sie ließ mein Shirt los und hielt mir ihre Hand hin.
Ich hielt die Luft an und zog mich mit ihrer Hilfe in eine sitzende Position. Es tat nicht so weh, wie als ich es allein versucht hatte, doch es war trotzdem nicht angenehm. „Puh“, stieß ich aus, atmete ein und verzog das Gesicht.
„Bleiben Sie einfach so sitzen, ich kümmere mich um alles andere.“ Sie stellte sich zwischen meine Beine und ergriff erneut mein Shirt.
Wenn mir eine schöne Frau anbietet, mich auszuziehen, dann bitte sehr – gern bleibe ich sitzen und sehe zu.
Sie hatte schmale Gesichtszüge, eine kleine Nase, hohe Wangenknochen und große, haselnussbraune Augen. Sie zog das Shirt über meinen Bauch und sah mich an. Ihre Fingerspitzen an meinen Seiten schickten ein Kribbeln über meine Wirbelsäule.
„Können Sie die Arme heben, oder soll ich das Hemd aufschneiden?“
„Das geht schon.“ Ich hob die Arme, lächelte über den Schmerz hinweg und hielt die Luft an.
„Schon passiert“, sagte sie und zog mir das Hemd über den Kopf.
Sie stellte sich neben mich und legte eine Hand auf eine Seite und die andere auf meine Brust. Die Berührung versengte mir die Haut.
„Legen Sie sich wieder hin“, sagte sie sanft.
Mit ernstem Gesichtsausdruck stützte sie mich, während ich mich ablegte.
„Welche Rippe tut am meisten weh?“ Sie betrachtete meine Brust, neigte den Kopf zur Seite, ihr Blick fuhr über meine Haut, ihre Zungenspitze wurde sichtbar und sie leckte sich die Unterlippe.
Ich musste dringend an etwas anderes denken, als an diesen verdammt sinnlichen Mund. In dieser Position wäre ein Ständer etwas recht Peinliches.
„Auf der linken Seite.“ Ich dachte an den Kampf und meine Schwester draußen im Wartezimmer, während die Ärztin mit den Fingerspitzen über meinen Körper glitt. Ich spürte ihre Berührungen überall, bis hinab in die Zehenspitzen. Ich starrte an die Decke, versuchte, nicht an sie zu denken, doch das war verfickt unmöglich, wenn mich eine schöne Frau streichelte.
„Genau da?“ Sie drückte auf die Stelle.
Ich zuckte heftig zusammen. Ruckartig fuhr mein Kopf von dem winzigen, albernen Kopfkissen hoch und ich spannte mich total an. „Fuck, Doc. Hätten Sie mich nicht warnen können?“
Sie biss sich auf die Lippe und ihre Wangen wurden rosa. „Entschuldigung. Ich nehme an, ich habe wirklich mein Schlimmstes getan.“ Sie kicherte. „Wir brauchen eine Röntgenaufnahme, um zu sehen, ob die Lunge verletzt wurde. Wie ist das überhaupt passiert?“
„Bei einem Kampf. Der Kerl hat mich mit dem Knie erwischt.“
Sie verzog das Gesicht und seufzte. „Männer. Ich werde sie nie verstehen.“
„Doc.“ Ich legte eine Hand auf ihre und hielt sie auf, bevor sich in meiner Hose ein Zelt aufbauen würde. „Es war ein professioneller Kampf. Ich schlage mich nicht auf der Straße und prügele mich auch nicht in Kneipen.“
„Wenn jemand hier landet, macht es kaum einen Unterschied. Gewalt ist Gewalt.“
Ich grinste. „Ach, kommen Sie schon. Haben Sie noch nie jemandem eine reingehauen?“
„Höchstens zur Selbstverteidigung.“ Sie entzog mir ihre Hand und nahm sich Papiere von dem Tisch neben uns.
„Nun, ich habe mich gegen sein verdammtes Knie verteidigt.“ Ich lachte. „Autsch! Fuck!“ Lachen tat weh.
„Haben Sie wenigstens gewonnen?“ Sie hob die Brauen und sah mich mit leicht geöffneten Lippen an.
Am liebsten hätte ich sie mir geschnappt und mit meiner Zunge ihren Mund erkundet. Ihr gezeigt, wie ein wahrer Mann so etwas machte. Ich war nicht nur kraftvoll im Ring, sondern ich konnte sie auch mit Leichtigkeit an eine Wand stemmen und schmutzige Dinge mit ihr anstellen. „Ich gewinne immer.“ Ich grinste und zwinkerte ihr zu.
„Gar nicht eingebildet“, murmelte sie.
„Mir tun zwar die Rippen weh, aber mein Gehör funktioniert ausgezeichnet, Doc.“
Sie strich sich über die Wange und versuchte, ihr Lächeln zu verbergen. „Entschuldigen Sie, das war unhöflich von mir.“
„Das können Sie bei einem Abendessen mit mir wiedergutmachen.“ Ich berührte ihre Hand und spürte, wie sie zusammenzuckte.
Sie spürte es auch. Die Verbindung und die Funken zwischen uns.
„Mr. Gallo, ich gehe nicht mit Männern aus, die ihre Fäuste einsetzen.“
„Meine Hände haben noch viele andere Talente, die Ihnen sicher sehr gefallen würden.“
Sie schluckte so schwer, dass ich es hören konnte, sah auf die Krankenakte und dann wieder mich an. „Ich gehe weder mit Patienten aus noch mit arroganten Kerlen.“ Sie kicherte.
„Sie wissen nicht, was Ihnen da entgeht.“
„Ich muss Sie jetzt in der Radiologie anmelden, Mr. Gallo, und mich um andere Patienten kümmern. Wir sehen uns dann wieder, wenn ich die Bilder habe.“
„Denken Sie bitte darüber nach? Sie haben meinen Stolz verletzt.“ Ich tat ergriffen und fasste mir ans Herz.
„Ihrem Stolz geht es gut, ich sorge mich mehr um ihre Lungen. Nicht weglaufen.“ Sie wollte rausgehen.
„Wohin sollte ich schon gehen? Ich kann mich nicht mal ohne Ihre Hilfe hinsetzen.“
„Gut, dann weiß ich ja, wo ich Sie finde.“ Sie lachte und verließ das Zimmer.
Ich griff nach unten und richtete meinen Schwanz in den Shorts bequemer aus. Fuck, allein mit ihr zu sprechen machte mich mittelhart.
Das halbe Zelt in meiner Hose war verschwunden, als ein Kerl mit einem mobilen Röntgengerät hereinkam. Nie hätte ich gedacht, mich einmal zu freuen, einen Mann zu sehen. Er war kräftig genug, um mich leicht herumzuheben. Nach ein paar Aufnahmen half er mir, mich aufzusetzen und ging wieder.
Ich überlegte, welche Anmachsprüche ich bei der Ärztin schon verbraucht hatte. Ich wollte sie unbedingt ausführen, aber wie konnte ich sie bloß dazu bringen?
Meine Hoffnungen sanken, als ich nicht die sexy Ärztin sprechen hörte, sondern einen Arzt. „Nun, Mr. Gallo, sieht nach einem glatten Bruch aus.“
„Wo ist die Ärztin?“ Ich wollte sie noch mal sehen, bevor ich ging.
„Beschäftigt. Sie bat mich, Ihnen die gute Nachricht zu bringen und Sie zu entlassen.“
„Fuck“, murmelte ich. Sie hatte meinen Plan vereitelt. Ich seufzte. „Dann kann ich also gehen?“
„Ja. Die Heilung wird um die vier bis sechs Wochen dauern. Wenn Sie es als angenehmer empfinden, können Sie die Rippen umwickeln.“
„Ich weiß. Es ist nicht meine erste gebrochene Rippe.“
„Hier sind die Papiere und verpassen Sie nicht, in einer Woche zu Ihrem Hausarzt zu gehen.“
„Verstanden.“ Ich nahm ihm die Papiere aus der Hand.
Mit meinem Tanktop ging ich aus dem Zimmer, um Izzy zu finden. Die Ärztin hatte mir einen Korb gegeben und das ärgerte mich.
Das menschliche Leben schien den meisten Leuten nichts wert zu sein. Das hatte ich in meiner Zeit als Notärztin gelernt.
Solange ich denken konnte, wollte ich schon den Menschen helfen. Mom sagte, bereits als kleines Mädchen plünderte ich den Medizinschrank, um meine Cabbage Patch Puppen zu verarzten.
Jeden Tag, wenn ich vor meinen Patienten stand und versuchte, ihre leblosen Körper zu retten, fühlte sich meine Ausbildung bedeutungslos an. Medizin war immer noch Erfahrungssache, nicht perfekt und auch bei allem Fortschritt konnte man nicht alles heilen oder reparieren. Harte Fakten, die ich nicht immer akzeptieren wollte, aber leider musste.
Das Schlimmste an meinem Beruf, was ich am wenigsten gern tun wollte, war eine Familie zu informieren, dass man den geliebten Angehörigen leider nicht retten konnte, auch wenn man sein Bestes dafür getan hatte.
Zweimal hatte ich diese Worte heute sagen müssen, und jedes Mal hatte es mir in der Seele wehgetan.
„Hören Sie auf, Dr. Greco“, sagte Dr. Patel neben mir.
Ich musste es noch einmal versuchen. Schweiß lief mir über die Wangen und in meiner Kehle formte sich ein Kloß. Wenn ich noch einmal anlegte, würde sein Herz vielleicht wieder zu schlagen beginnen.
„Ich kann nicht. Geben Sie mir noch ein paar Minuten.“ Ich drückte mit einer Kraft zu, dass ich wusste, ich hatte ihm ein paar Rippen gebrochen. Aber sein Leben hatte noch nicht einmal richtig angefangen und nun sollte ich ihn für tot erklären.
„Mia.“ Dr. Patel legte eine Hand auf meine, holte mich aus meiner mentalen Trance, in der ich das Leben dieses Jungen retten wollte. „Es ist vorbei. Sie arbeiten schon seit über dreißig Minuten an ihm. Seine Verletzungen sind zu schwer. Erklären Sie seinen Tod, oder ich werde es tun.“
Dr. Patel war heute an meiner Seite und wusste, was wir heute nicht hatten richten können. Zwei Autounfälle, ein Schussopfer, und der kleine blonde Engel vor mir, Opfer eines flüchtigen Autofahrers.
Wie konnte jemand ein Kind überfahren und es auf der Straße zum Sterben liegenlassen?
Ein Kind, einen unschuldigen kleinen Jungen.
Ich sah Dr. Patel an und war erschrocken, wie abgespannt er aussah. Seine Augen waren blutunterlaufen, die kleinen Lachfältchen wirkten tiefer und er hatte dunkle Tränensäcke. Man sah ihm an, dass es auch für ihn ein schwerer Tag war. Ich war in meiner Verzweiflung nicht allein.
Ich legte die Hände auf die Brust des Jungen und spürte die Stille darin. Es war kein Leben mehr in ihm, das man hätte retten können. „Todeszeit: 19:21 Uhr.“ Ich schloss die Augen und atmete tief durch, bevor ich die Hände zurückzog. Am liebsten wäre ich zur Toilette gerannt und hätte mich übergeben. Das dritte Leben, das ich nicht hatte retten können.
„Ich gehe zu den Eltern, Mia. Sie haben heute schon genug getan“, sagte Patel, legte eine Hand auf meine Schulter und drückte sie.
„Danke, Eric.“
Normalerweise widersprach ich ihm. Ich wollte immer mit den Familien reden und versuchen, sie zu trösten, doch heute war ich leer. Er tätschelte meine Schulter, ging dann raus und ließ mich bei dem Jungen zurück, der niemals altern oder alle Freuden des Lebens erfahren würde.
Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, der an der Wand stand, zog an meinem Haargummi und öffnete die Haare. Ich stützte den Kopf auf die Hände, vergrub die Finger in den Haaren, während ich meine Gedanken sortierte. Zwar waren da noch mehr Patienten, die mich brauchten, doch ich musste mich erst sammeln. Momentan konnte ich keinen weiteren Verlust ertragen. Es war nichts mehr in mir, das ich geben konnte. Jedes Mal, wenn ich jemanden verlor, starb auch ein kleines Stück von meinem emotionalen Herzen.
Leise Schritte unterbrachen den Moment der Stille, während ich meine Entscheidung infrage stellte, in der Notaufnahme zu arbeiten, anstatt in einer Arztpraxis, wie die meisten meiner Studienkollegen.
„Entschuldigen Sie die Störung, Dr. Greco. Ich muss den Körper für die Familie herrichten, damit sie sich von ihm verabschieden können“, sagte die Krankenschwester, nahm ein Tuch und wischte das Blut von seinem Gesicht.
„Schon gut. Ich habe sowieso noch Patienten. Ich brauchte nur einen Moment für mich selbst.“
Sie lächelte schwach und säuberte weiter den kleinen Körper. Ich konnte nicht zusehen. Konnte die Geräusche des Weinens und tiefer Trauer nicht ertragen, die gleich den Raum erfüllen würden. Nur mit Mühe kam ich auf die Füße und riss mich zusammen.
In der Notaufnahme herrschte ein ständiger Strom an Menschen. Ich hatte noch eine Stunde, bevor ich nach Hause gehen und ins Bett kriechen konnte.
Ich hatte darüber nachgedacht, nach dem Praktikum wieder nach Minnesota zu gehen, doch Florida war zu einem Teil von mir geworden. Ich wollte lieber das ganze Jahr Sandalen tragen, die Sonne auf dem Gesicht spüren und den Sonnenuntergang über dem Golf von Mexiko von meiner Strandwohnung aus betrachten. Ich konnte nicht mehr zurückgehen, der Schnee und ich hatten uns nie gut vertragen.
Meine Arbeit war zu meinem Leben geworden, besonders im Sommer, wenn meine Eltern nach Hause zurück fuhren. Sie waren Schneevögel, die nur nach Florida kamen, um die Sonne und das warme Wetter zu genießen, wenn der hohe Norden tiefgefroren war. Seit einem Monat waren sie wieder zu Hause, wo der Frühling begann. Wenn ich nicht in der Klinik war, war die Stille meines Lebens fast ohrenbetäubend. Doch heute war ich froh, dass ich kein fröhliches Lächeln für meine Eltern vortäuschen musste.
Hier fühlte ich mich gebraucht. Ich hatte etwas zu geben, was viele Leute nicht taten. Die Einwohner waren arm und ich wollte helfen. Es war zu meiner Berufung geworden. Meine Freizeit verbrachte ich in einer kostenlosen Klinik in der Stadt und half, für obdachlose Jugendliche Spenden zu sammeln, die in der Gegend ihr Unwesen trieben. Ich blieb für die Klinik, in der ich ehrenamtlich arbeitete, und für die Möglichkeit, etwas zu bewirken.
Mit jedem Kicken beschwerten sich meine Muskeln. Jeder einzelne schrie, dass ich aufhören sollte, doch ich konnte nicht. Ich hatte viel zu hart gearbeitet, um an diesen Punkt zu kommen, um jetzt aufzugeben. Manchmal stellte ich meinen Verstand infrage, wenn ich nachts um drei aufwachte und stundenlang im Fitnessstudio trainierte, doch mein Körper musste stark werden und ich musste vorbereitet sein, um den nächsten Kampf zu gewinnen.
„Weichei“, rief Rob. „Fester. Deine Rippen sind schon seit Wochen geheilt. Zeig mir endlich, was in dir steckt, Mike.“
Er stachelte mich an und tat was er konnte, um mich aggressiv zu machen. Rob war seit zwei Jahren mein Trainer. Meistens, so wie heute, wollte ich ihm gern die Lichter ausblasen, aber mir war klar, dass seine Methoden am Ende die richtigen waren.
„Deine Schwester schlägt härter zu als du.“ Er grinste unverschämt.
Bei meiner Schwester Izzy überschnitt sich unsere Freund/Trainerlinie. Sie waren einmal für kurze Zeit ein Paar. Als ihn Izzy fallengelassen hatte, dachte ich erst, wir könnten nicht weiterhin zusammenarbeiten. Doch ganz typisch Rob zuckte er nur mit den Schultern und suchte sich die nächste Kerbe an seinem Bettpfosten.
„Arschloch“, sagte ich und schlug so fest gegen das Pad in Robs Hand, dass dieser rückwärts taumelte.
Er fing sich ab und sagte: „Schon besser. Noch zehn Minuten und dann hören wir auf für heute.“
Mein Wille, der nächste Champion zu werden, war so stark, dass ich den Sieg schon fast schmecken konnte. Ich wollte meiner Familie beweisen, dass ich Talent hatte und die Fähigkeit dazu, auch wenn sie mich manchmal, besonders am Anfang, nur wenig unterstützten. Als ich die ersten beiden Kämpfe gewann, wurde es langsam besser, und mein Dad begann, an mich zu glauben. Als Mom mir erzählte, dass er vor seinen Freunden mit mir angab, wusste ich, dass ich ihn auf meiner Seite hatte.
Als ich aufwuchs, hatte ich mir die Kämpfe immer mit Dad und seinen Kumpels zusammen angesehen. Sie brüllten den Fernseher an und schlossen Wetten ab. Er nannte meine Karriere ein Hobby, und ich wollte ihm beweisen, dass es viel mehr als das war. Ich war dazu bestimmt, ein Champion zu werden.
Damit ich das Fitnessstudio für mich allein hatte, bezahlte ich den Inhaber dafür, für die Allgemeinheit erst um 6:00 Uhr morgens zu öffnen. Ihm gefiel der Gedanke an die Werbung, die meine Siege seinem Kleinstadtstudio irgendwo am Arsch von Florida bringen könnten, und außerdem war auch hilfreich, dass er Robs Bruder war.
„Bodies“ von Drowning Pool dröhnte aus den Lautsprechern, was mir den letzten Schub an Motivation gab, den ich brauchte. Schweiß tropfte mir von den Brauen und brannte in den Augen. Ich kickte in einer Drehung, verfehlte fast das Ziel und hätte beinahe Robs Kopf getroffen.
„Spinner. Ich befördere dich auf deinen Arsch, wenn du das noch mal machst.“
„Nur in deinen Träumen, mein Freund.“ Ich lachte und trat noch einmal gezielter zu. Meine Arme brannten, meine Schenkel zitterten, doch ich gab nicht auf. Ich beherrschte diesen Scheiß.
„Ende“, sagte Rob und legte das Pad weg.
„Ich könnte noch eine Stunde weitermachen“, sagte ich. Natürlich war das glatt gelogen. Bevor ich heute hergekommen war, hatte ich bereits eine Stunde Joggen hinter mir. Meine Beine zitterten und waren total am Ende.
„Klar doch, Tiger.“ Er lachte und hielt sich den Bauch. „Aber deine Muskeln brauchen Ruhe und müssen sich erholen. Bei dem Kampf, der auf dich wartet, übertreiben wir es besser nicht.“
„Gott sei Dank“, murmelte ich.
„Was hast du gesagt?“ Er überkreuzte die Arme und hob eine Augenbraue.
„Nichts.“
„Wieso bist du heute so mies drauf, Mike? Hast du ihn gestern nicht hochgekriegt oder was?“
„Das wäre glatt ein Segen.“ Ich setzte mich auf die Bank, streckte die Beine aus und zog das Tape von den Fäusten. „Tammy. Sie ist echt total abgedreht.“
„Hab dir doch gesagt, dass das eine Irre ist. Hör auf, mit deinem Schwanz zu denken und benutz lieber den Rest Hirn, der noch in deinem Dickschädel ist.“
Ich schnaubte. Das war das Witzigste, was er seit Langem gesagt hatte. Ganz sicher war er kein Doktor-Sommer-Typ. „Wann bist du zu einem Experten für Beziehungen geworden? In Sachen Frauen bist du selbst nicht gerade ein Paradebeispiel, Rob.“
„Vielleicht nicht, aber ich hab dir gleich gesagt, dass Tammy überdreht ist. Sie ist zu anhänglich und total verrückt.“
„Verrückt ist eine Untertreibung, Mann.“ Ich schüttelte den Kopf. Innerlich diskutierte ich mit mir selbst, ob ich die Details der ganzen verfluchten Situation mit ihm besprechen sollte oder nicht. „Gestern Abend war ich bei ihr, um sie flachzulegen.“
„Und?“ Interessiert lehnte er sich an die Wand und hörte zu.
„Und diese Irre hatte ein Notizbuch auf dem Tisch liegen, so eine Art Tagebuch. Und was glaubst du, was auf dem Einband zu sehen war?“
Er fing an zu lachen und biss sich auf die Lippen, um nicht in hysterisches Gackern zu verfallen.
„Du ahnst es, oder?“ Ich sah ihn finster an.
„Ich hab Gerüchte über sie gehört, aber immer gedacht, die Leute haben das alles bloß erfunden.“
„Ein Bild von einem Hochzeitspaar. Mit unseren Gesichtern überklebt. Als sie nicht im Zimmer war, habe ich es durchgeblättert. Es ist voll mit ihrer Vorstellung unserer Zukunft! Das ist mehr als nur abgedreht. Es hat mich zu Tode geängstigt.“
Seite um Seite beinhaltete Fotos von unseren Kindern mit Namen und Bildern aller Art. Kleine bunte Herzen umrahmten die Bilder. Sie hatte bereits unser Leben durchgeplant, dabei wollte ich doch nur ein bisschen mit einer Pussy spielen.
Sie war nicht klug genug, um mich zu faszinieren, ganz zu schweigen davon, ihrem endlosen Geplapper über Leute wie die Kardashians zu lauschen. Tammy wollte Statussymbole und Geld, und das waren zwei Dinge, die ich nicht mit einer Frau wie ihr teilen wollte.
Dabei kannte sie ihre Rolle in meinem Leben durchaus. Mit ihr ging ich auf nächtliche Partys. Noch nie hatte ich sie romantisch ausgeführt oder ihr ein Happy End versprochen. Dazu sagte sie stets nur: „Du wirst deine Meinung schon noch ändern.“
Aber nein, würde ich nicht.
„Wow, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, antwortete Rob und ging an die Tür, um sie aufzuschließen.
„Da habe ich die Sache sofort beendet. Sie hat geheult, als ob wir schon jahrelang zusammen wären. Was für eine verfluchte Kacke. Ich kann so einen Scheiß nicht brauchen, besonders nicht momentan.“
„Dann konzentrier dich auf dein Ziel. Kämpfen. Keine Weibergeschichten, keine Pussys.“
„Hast du nicht gelernt, dass solche Ausdrücke über Frauen verboten sind?“ Ich lachte.
Seine Wangen wurden rot und er wandte den Blick ab. „Sie ist deine Schwester, und mehr habe ich über die Sache nicht zu sagen.“
Ich wusste, dass er eine Million Sachen darüber zu sagen hätte, doch er schwieg, weil er wusste, dass er sonst Ärger mit ihr bekommen würde.
Rob war immer ziemlich direkt. Einmal hatte er eine Frau als Bitch bezeichnet und Izzy hatte es gehört. Sie erwischte ihn eiskalt und beförderte ihn auf seinen Arsch. Für mich war es ein verdammt stolzer Brudermoment. Sie legte einen Mann auf den Rücken, der doppelt so groß war wie sie, und das aus gutem Grund. Meine Schwester hatte dickere Eier als so mancher Mann, den ich kannte. Mit vier Brüdern aufzuwachsen hatte sie gestählt, und sie ließ sich von niemandem etwas gefallen.
„Weise Entscheidung.“ Mit einem Handtuch rieb ich mir den Schweiß vom Körper. Ich schnappte mein Handy und legte mir die Sporttasche über die Schulter. „Morgen um dieselbe Zeit?“
„Ganz genau.“
Rob ließ sich auf den Stuhl am Empfang fallen, legte die Beine auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er sah aus, als sei er bereit für ein Nickerchen.
Bei Inked würden wir uns nie so benehmen.
Das Display meines Handys leuchtete auf.
Tammy. Mindestens ein Dutzend Nachrichten von ihr.
Wir gehören zusammen.
Ruf mich später an.
Du fehlst mir.
Gestern Abend hatte ich ihr erklärt, dass es zu Ende war. Obwohl es nie richtig angefangen hatte …
Ich hatte sie nie gefragt, ob sie meine feste Freundin sein wollte.
Verdammt sein sollten sie und ihr Wahnsinn.
Ich schaltete das Display aus und griff nach der Tür. Mein Kopf schlug dagegen, und dann rammte ich die Glastür mit der Brust.
Ich sah Sternchen.
Nachdem ich ein paarmal geblinzelt hatte, sah ich eine Frau auf dem Boden. Sie sammelte Dinge ein, die ihr aus der Handtasche gefallen waren.
„Fuck“, murmelte ich und öffnete die Tür für die sehr wütende Frau. „Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich und bückte mich vor ihr.
„Warum achten Sie nicht besser darauf, wo Sie hintreten?“, zischte sie und stopfte Dinge in ihre Tasche.
„Ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Ich sammelte einen Lipgloss ein, der davongerollt war, und hielt ihn ihr hin.
Sie nahm ihn mir aus der Hand und sah mich mit faszinierenden braunen Augen an. „Ganz offensichtlich.“ Ihr Blick suchte den Boden ab.
Anstatt ihr zu helfen, starrte ich sie nur wie ein Vollidiot an. Ihr Haar hatte einen wundervollen braunen Glanz mit einem Hauch von Rot, das im Licht glänzte. Die gleichmäßigen Locken reichten ihr bis kurz unter die Schultern. Sie hatte eine kleine Nase, volle rote Lippen, hohe Wangenknochen, und eben diese großen braunen Augen mit goldenen Sprengseln.
„Hey, ich habe mich entschuldigt und es tut mir echt leid.“ Ich versuchte, mich wie ein Gentleman zu benehmen und hielt ihr meine Hand hin.
Ihr Blick wanderte über mich, zunächst langsam, dann hielt er auf meinem Gesicht an. Sie runzelte die Stirn. Ihre Haut fühlte sich wie Seide an, als sie ihre Hand in meine raue legte. Mit einer schnellen Bewegung zog ich sie auf die Beine. Die gerunzelte Stirn wurde glatt und ihr harter Ausdruck verschwand. Stattdessen blickte sie mich warm an. Mit einem schwachen Lächeln und gerötetem Gesicht entzog sie mir ihre Hand.
„Wie kann ich das wiedergutmachen?“, fragte ich und starrte sie immer noch an. Es war nicht wegen ihrer Schönheit, sondern etwas in ihren Augen. Sie kam mir bekannt vor, doch ich wusste nicht woher.
Mit dem Handrücken wischte sie sich über ihre Yogahosen. „Alles okay. Sie müssen nichts wiedergutmachen. Vielleicht einfach nur das nächste Mal besser aufpassen. Bei Ihnen hat man das Gefühl, von einem Laster angefahren worden zu sein.“ Sie lachte. „Hey, entschuldigen Sie bitte, dass ich so eine Zicke bin. Ich hatte nur einen bescheidenen Abend und einen noch schlimmeren Morgen, und Sie sind einfach noch der Zuckerguss auf meinem Kuchen.“
Ich neigte leicht den Kopf zur Seite und lächelte. „Verstanden. Die letzten zwölf Stunden waren auch für mich nicht gerade berauschend.“
Sie hantierte mit ihrem Handy herum, hielt aber meinen Blick.
„Haben Sie alles?“, fragte ich. Ich musste los. Meine Lage noch komplizierter zu machen, konnte ich gerade nicht brauchen.
„Ja, ich glaube schon. Danke, dass Sie mir geholfen haben.“
„Ich bin schließlich kein Arsch. Na ja, zumindest nicht immer.“ Ich grinste. „Wie könnte ich nicht anhalten und der schönen Lady helfen, die ich umgerannt habe? Ich hoffe wirklich, dass Ihr Tag ab jetzt besser wird.“ Himmel, ich hörte mich wie ein Vollidiot an, aber ich konnte den verbalen Durchfall nicht stoppen. „Ich halte Ihnen die Tür auf.“ Ich eilte nach vorn und drückte diese auf.
„Vielen Dank“, sagte sie und rieb sich an mir, als sie versuchte, durch die Tür zu passen, die ich jedoch mit meinem Torso halb versperrte.
Ein Hauch von Flieder oder irgend so ein blumiger Kram füllte die Luft und entschwand, als wir uns wieder distanzierten.
„Vielleicht sieht man sich mal wieder“, sagte ich. Ich war noch nicht bereit, einfach zu gehen.
Sie lächelte mich an, drehte sich um und ging ins Studio.
„Ich komme jeden Tag her.“ Wann war ich zu so einem Plappermaul geworden? Ich konnte einfach nicht aufhören. „Vielleicht können wir mal zusammen trainieren oder so?“, rief ich ihr hinterher.
Jetzt ist es amtlich, ich bin ein verdammtes Weichei.
„Klar doch.“
Sie klang nicht besonders begeistert, aber immerhin war es kein Nein. Sie stellte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab und meldete sich an.
Ich ging zu meinem Auto und sah ihr dabei zu.
Als ich gestern zu Tammy ging, hatte ich einen Harten, was zu einer Katastrophe epischen Ausmaßes führte, ohne dass ich wenigstens als Entschädigung zum Schuss gekommen wäre. Und jetzt diese Frau in dem engen, heißen Trainingsoberteil und der schwarzen Fitnesshose zu sehen, verwandelte meinen Schwanz in Granit.
Anscheinend musste ich mir echt mal den Kopf untersuchen lassen.
Im Inked-Studio schaltete ich das Licht ein und betrat die friedlichen, stillen Räume. Auch die kalte Dusche hatte nichts gegen meine Gedanken an den heißen Hintern ausrichten können, dem ich im Fitnessstudio begegnet war.
Ich setzte mich an den Empfang und mein Handy tanzte vibrierend über das Terminbuch. Die ununterbrochen eingehenden Nachrichten rissen nicht ab.
Diese Frau wollte es einfach nicht begreifen.
Gestern Abend hatte ich ihr wörtlich gesagt: „Ruf mich nie wieder an, du Verrückte.“ Ich dachte, das wäre recht deutlich gewesen. Simpel zu verstehen, doch anscheinend war die Botschaft nicht bei ihr angekommen.
Als ich das Auto meiner Schwester draußen beim Einparken piepsen hörte, machte ich mich auf ihre Kommentare gefasst. Wenn sie von Tammy erfuhr, würde sie voll auf ihre Kosten kommen. Ich hielt innerlich die Luft an, tippte mit dem Stift neben meinem vibrierenden Handy auf die Theke, und hielt den Blick gesenkt, als Izzy hereingeweht kam und per Handy mit ihrer Flamme des Monats chattete. Izzy war kein einfacher Mensch. Bei ihr musste sich ein Mann alles erst verdienen, was sie zu geben bereit war.
Mit vier Brüdern aufzuwachsen war sicherlich nicht leicht für sie, dazu gaben wir ihr keine Gelegenheit. Als sie jünger war, schreckten wir fast alle ihre Freunde in die Flucht. Zwar konnte sie gut auf sich selbst aufpassen, doch wir achteten trotzdem darauf, dass sie nicht in Schwierigkeiten geriet.
Sie stellte ihre Tasche neben ihrem Arbeitsplatz ab und hielt dann vor mir an. Ich schielte zu ihr hoch. Sie verengte die Augen, las mich wie ein offenes Buch und schüttelte den Kopf.
„Ich muss aufhören, John“, sagte sie in ihr Handy, machte eine Blase mit ihrem Kaugummi und sah kurz zur Zimmerdecke hoch. Sie öffnete und schloss die Hände, berührte ihre Fingerspitzen, was mir zeigte, dass sie jetzt nur noch plapperte. „Tschüss, John. Ich hab jetzt keine Zeit für den Scheiß. Wir reden später.“ Sie drückte das Gespräch weg und machte einen Pfft-Laut beim Ausatmen. Sie beugte sich vor und spuckte den Kaugummi in den Papierkorb. Typisch Izzy.
„Hi, Schwessi.“
„Was ist los?“ Sie rieb sich mit einem Finger über die Lippe, neigte den Kopf seitlich und wartete.
„Nichts.“ Ich wollte nicht darüber reden, doch es war unausweichlich.
„Ihr Jungs seid so schlecht im Dinge verheimlichen. Ich habe euch Idioten schon mein ganzes Leben analysiert. Und ich kenne euch besser als ihr euch selbst. Ich schätze, es geht um Probleme mit einer Frau. Erzähl es mir einfach, denn ich werde sowieso nicht lockerlassen.“
„Tammy.“
„Aha, die Wahnsinnige.“ Sie gackerte.
„Was weißt du über sie?“ Mein Handy tanzte erneut auf der Theke herum und ich griff danach, um es zu stoppen.
„Man hört so einiges. Wir alle haben Geschichten gehört.“ Sie hob die Hände und setzte das Wort in Anführungszeichen.
Meine Schwester hatte mir also etwas vorenthalten. „Was hast du mir nicht erzählt, Isabella?“
„Oh, mein formeller Name. Fühlt sich da jemand gefoppt?“
„Ich schwöre bei Gott, Izzy … warum hast du mich nicht gewarnt? Ich meine, an deiner Stelle hätte ich es dir gesagt, wenn du dich mit einem irren Arschloch getroffen hättest.“
„Das habe ich ja versucht, aber du hast mir unter die Nase gerieben, dass du alleine groß bist.“
Wenn sie noch einmal Anführungszeichen benutzen würde, würde ich sie mir schnappen und so lange ihre Frisur zerzausen, bis sie schreien würde.
„Du hast mir gesagt, ich soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Also dachte ich mir, lass ihn auf die harte Tour selbst lernen. Großer Bruder.“ Sie konnte sich kaum halten vor Lachen.
Ich seufzte. „Das nächste Mal haust du mir bitte eins in die Fresse, okay?
„Gern.“ Sie fuhr mit den Fingern in meine Haare und verwuschelte jetzt meine Frisur. „Also, sag mir was passiert ist und wieso du nicht ans Handy gehst, was gerade einen hysterischen Anfall hat.“
„Keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Ich habe mit Tammy Schluss gemacht, und jetzt dreht sie seit zwölf Stunden total durch.“
„Warum hast du Schluss gemacht? Warte mal, wart ihr überhaupt ernsthaft zusammen?“ Sie lehnte sich auf den Tresen und stützte ihr Kinn auf einer Hand auf.
„Wir waren nur Fickfreunde, zumindest dachte ich das. Allerdings hat sie schon unsere Zukunft geplant. In einem Notizbuch, Izzy. Einem verfickten DIN-A4-Buch!“ Ich schlug mit der Faust auf den Tresen und musste lachen. „Das wäre echt komisch, wenn es jemand anderem passiert wäre, aber die Frau ist echt irre.“
„Was war denn in dem Buch?“ Sie zog die Brauen enger zusammen.
„Auf dem Deckel war das Foto von einem Hochzeitspaar mit unseren Gesichtern draufgeklebt. Ich habe alles durchgeblättert. Es enthält unser ganzes zukünftiges Leben in Bildern. Das ist doch nicht normal, Izzy, oder?“
Sie beugte sich lachend vor und schlug mit der Hand auf den Empfangstresen. „Nein. Warte mal.“ Sie konnte sich kaum beruhigen, Lachtränen strömten über ihre Wangen. „Hast du das Buch wenigstens mitgenommen? Ich muss mir den Scheiß unbedingt ansehen.“
„Verdammt, ich war so sauer, dass ich daran nicht einmal gedacht habe.“ Ich rieb mir die Stirn und ärgerte mich über meine Dummheit. „Seit gestern hört sie jedenfalls nicht auf, mir zu schreiben und mich anzurufen.“
Sie hielt sich den Bauch, schnappte nach Luft und streckte ihre Hand aus. „Gib es mir.“
„Was soll ich?“
„Gib mir dein Handy, Esel.“
Mit der Zungenspitze zwischen den Lippen tippte sie auf dem Handy herum.
„Was machst du da? Bitte antworte ihr nicht, Iz.“
Sie funkelte mich an und sah dann wieder aufs Handy.
Ich seufzte, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und wartete.
„Hier“, sagte sie und legte es vor mich hin.
„Was hast du gemacht?“
„Du musst endlich lernen, mit deinem Handy umzugehen, Michael. Ich habe sie blockiert.“ Sie verdrehte die Augen.
„Das geht wirklich?“ Ich war erstaunt und hatte nicht gewusst, dass es so einfach sein konnte. Sonst hätte ich es schon vor Stunden getan und mir den ganzen Mist erspart.
Izzy schüttelte den Kopf und ließ mich allein.
Joe und Anthony erschienen lachend. Sie sagten ihr übliches „Hi“ und gingen an ihre Arbeitsplätze.
Ich wartete darauf, dass alle arbeitsbereit waren, und prüfte inzwischen den Terminkalender. Anthony setzte sich als Erster zu mir und tippte in einem bestimmten Takt mit den Fingern gegen den Plastikstuhl. Dabei lehnte er sich an die Wand, schloss die Augen, und verlor sich in seinem Rhythmus. Als Izzy und Joe sich zu uns gesellten, war ich soweit, Anthony die Finger abzureißen und sie ihm in die Kehle zu rammen.
Izzy setzte sich neben Anthony und lehnte dem Kopf an seine Schulter.
„Irgendwas Neues seit gestern?“, wollte Joe von mir wissen. Er lehnte sich an den Tresen und renkte sein Genick ein.
Izzy lachte und flüsterte etwas in Anthonys Ohr. Sie sahen mich an und lächelten.
„Wir sind total ausgebucht. Keine Zeit für Leute ohne Termin, es sei denn, jemand will Überstunden machen.“ Niemand sah mir in die Augen. „Dachte ich mir.“ Ich tippte mit dem Stift auf dem Terminbuch herum und vermied die Blicke der beiden Arschlöcher an der Wand.
Joe wandte sich an sie. „Worüber kichert ihr da drüben?“