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Der zweiundzwanzigjährige Martin Schwammer lebt seit Kurzem in Bern, wo er eine Stelle in der Sterilgutversorgung des Krankenhauses angenommen hat. In diesem Bern fließt die Aare von Norden nach Süden und mündet im Mattequartier direkt ins Mittelmeer. Ein Inselchen, das Kirchenfeld, ist der Küste vorgelagert. Städte wie Genua oder Marseille gibt es nicht, die Alpen sind ein Mythos. Während Martin als Kind wegen seiner Ehrlichkeit immer wieder in Schwierigkeiten geraten ist, hat er inzwischen gelernt zu lügen. Eines Tages inszeniert er am Strand eine Begegnung mit der neunzehn Jahre älteren Valerie und spielt ihr ein romantisches Interesse vor. Sein eigentliches Augenmerk gilt aber ihrer Familie und deren Vergangenheit. Ihn plagen Schuldgefühle und Träume von eingesperrten Insekten und Spinnen, Krebsen, Schnecken und Würmern – von wirbellosen Tieren. Und als rückgratlos sieht er sich auch selbst …

Nach seinem erfolgreichen Debütroman Scheinwerfen, in dem er der Macht der Erinnerung nachspürt, erzählt Giuliano Musio in Wirbellos von Feigheit und der Kunst der Lüge. Mit großer Lust lässt er seinen Protagonisten ein Lügengebilde aufbauen, bis dieser selbst den Überblick verliert. Und spätestens als die gekenterte Costa Concordia vor der Berner Küste liegt, droht alles einzustürzen.

GIULIANO MUSIO, * 1977 in der Nähe von Bern, hat Germanistik und Anglistik studiert. Neben dem Schreiben ist er als Korrektor bei der NZZ tätig. 2015 erschien sein Debütroman Scheinwerfen bei Luftschacht.

giulianomusio.com

Giuliano Musio

Wirbellos

Roman

Luftschacht Verlag

Kapitel 1

Worin man bis zum Horizont sieht

Einen Tag nach seinem Selbstmordversuch hatte Martin ein Vorstellungsgespräch. Auf der zentralen Sterilgutversorgungsabteilung des Inselspitals fragte man ihn, ob ihm ein Arbeitsraum ohne Tageslicht, ein multikulturelles Team oder Spätschichten Schwierigkeiten bereiteten, ob er Rücken- oder Knieprobleme habe. Danach führte man ihn durch die Anlage. Sie war in drei Bereiche aufgeteilt. Im unreinen Bereich wurden die Instrumente aus den Operationssälen entgegengenommen und gesäubert. Im reinen Bereich wurden sie sortiert, mit einem Strichcode beklebt und in einen Sterilisator eingeräumt. Im sterilen Bereich schließlich ließ man sie abkühlen und lagerte sie nach ihren Bestimmungsorten. Es waren exakt dieselben Handgriffe wie bei Martins letzter Stelle. Dasselbe Scheppern, Piepsen und Klirren. Dieselben Grundsätze, die der Abteilungsleiter nachdrücklich aufzählte: Vermeiden von Keimverschleppung, Patientensicherheit, gesetzliche Vorgaben gemäß Medizinprodukteverordnung des Bundesamts für Gesundheit, Artikel neunzehn und zwanzig.

Drei Wochen später lud man Martin zu einem Probetag ein. Man teilte ihn einer Gruppe von Männern mit Schutzbrillen, Handschuhen und hellblauen Schürzen zu. Sie redeten und lachten miteinander, während sie zum Gedudel aus dem Radio über den Waschbecken das Blut von den Geräten schrubbten. Um halb vier konnte er gehen. Er beeilte sich so, dass sein T-Shirt nass war, als er zu den Schließfächern beim Bahnhof kam. Er nahm die Papiertüte mit den leeren Dosen und Flaschen raus, die er am Morgen hier deponiert hatte, klemmte sie auf sein Fahrrad, raste über den Bubenbergplatz und bog in die Monbijoustraße ein. Er fuhr neben den Tramschienen her. Sie führten schnurgerade bergab. Kastanienbäume säumten die Straße, eine Möwe schrie. Martin schaute hoch. Ein ganzer Schwarm flog über ihn, segelte bis zu den hintersten Baumkronen, deren Zwischenraum einen schmalen, dunkelblauen Streifen unter dem Himmel preisgab. Martin fixierte dieses Blau, bis er wieder abbog.

Bei der Müllsammelstelle stieg er vom Rad. Mit der Tüte in der Hand ging er zwischen den Behältern hin und her, las die Aufschriften durch, obwohl sie ihn nicht interessierten: Alu, Papier, braunes, grünes, weißes Glas. Und behielt doch die ganze Zeit die Straßenecke mit den Garagen im Auge, um die Valerie jeweils bog. Dienstags und mittwochs zwischen elf und neun Minuten vor fünf, donnerstags zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Minuten nach sieben. Martin warf nur dann etwas in einen Behälter, wenn er sich beobachtet fühlte. So oft wie er hierherkam, musste er sparsam mit seinem Müll umgehen.

Als er sie kommen sah, trat er einen Schritt zurück. Mit einer Tasche über der Schulter, an deren Griff sie sich mit einer Hand festhielt, ging Valerie neben den Garagen vorbei. Sie trug große, runde Ohrringe, ein gestreiftes Oberteil, das eine Schulter freigab, und eine weiße Jeans. Ihr Haar war halblang, leicht gewellt, mit hellen Strähnen, von denen Martin nicht sagen konnte, ob sie gefärbt oder sonnengebleicht waren. Obwohl sie schlank war, hatte sie nicht das, was Martin sich unter einer guten Figur vorstellte. Vielleicht hatte dieser Eindruck auch nur damit zu tun, wie sie sich bewegte. Sie ging in kleinen Schritten, wie jemand, der fürchtet, etwas falsch zu machen. Außerdem spielte sie im Gehen nervös mit ihren Fingern, streckte manchmal ihren Arm durch, um ihn gleich wieder zu beugen. Bildete er sich nur ein, dass er selbst auf diese Distanz die Krähenfüße um ihre Augen sah? Die Fältchen um ihren Mund und an ihrem Hals? Sie war viel zu alt für ihn. Und leider nicht einmal hübsch.

Sie ging auf den sandfarbenen Wohnblock zu, in dessen Hochparterre sie wohnte. Er hatte sie schon auf dem untersten Balkon rauchen gesehen, der nur so weit über den Erdboden reichte, dass ihr Fahrrad gerade darunter Platz hatte, wenn man es etwas schräg stellte. Sie klaubte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, wobei kurz die Tätowierung an der Innenseite ihres Oberarms zu sehen war. Auch diesmal konnte Martin das Motiv nicht erkennen. Dann nahm sie die Post aus dem Briefkasten und trat ein. Er schaute zu, wie sich die Tür langsam schloss. Immer nach ihrem Verschwinden fühlte es sich ähnlich an, wie wenn man einem Satz nachlauscht, den jemand in eine lange Stille hineingesagt hat.

Er lebte erst seit wenigen Monaten in Bern. Im Mattenhofquartier hatte er ein Zimmer für nur dreihundertzwanzig Franken gefunden. Ein Raum im Untergeschoss eines Wohnhauses, zwei auf drei Meter; mehr als ein Bett und eine Kommode passte nicht rein. An der Wand war ein Radiator befestigt, in einer Einbuchtung befanden sich die Toilette und ein Waschbecken, abgetrennt durch einen muffigen Vorhang. Tageslicht kam nur durch ein schmales Klappfenster mit einem Fliegengitter. Manchmal wenn er in den ersten Nächten aufgewacht war, hatte er kurz geglaubt, nun tatsächlich in einer Gefängniszelle zu sein. Inzwischen aber gefiel ihm sein kleines, verstecktes Zimmer. Wenn es draußen heiß war, blieb es hier unten angenehm kühl. Die Geräusche der Waschmaschine im Raum nebenan beruhigten ihn, sogar der Schleudergang, der die Wände und sein Bett erzittern ließ.

In der Waschküche befand sich auch seine Dusche. Das Duschen ging normalerweise problemlos an der Waschküchenbenutzung der Hausbewohner vorbei. Nur wenn die fast erblindete Frau Wüthrich aus dem Erdgeschoss ihre Wäsche machte, war der Raum über Stunden blockiert, da sie während des gesamten Waschgangs auf einem Schemel neben der Maschine saß und wartete. Sie trug eine sprechende Uhr um den Hals, die sie reflexartig drückte, wenn jemand sie erschreckte. Martin brauchte nur »Guten Tag, Frau Wüthrich« zu sagen, dann drückte sie sofort den Knopf, und eine computerisierte Frauenstimme erwiderte etwa: »Es ist siebzehn Uhr fünfunddreißig.«

Martin spürte ein Kratzen im Hals. Er hatte lange nicht mehr so viel geredet wie heute am Probetag. Als er hierhergezogen war, hatte er begonnen, seine Stimme leicht zu verstellen. Er gab einfach etwas mehr Druck darauf, so ähnlich, als wollte er kurz die Luft anhalten, und dann setzte er etwas tiefer an, um die Stimme besser kontrollieren zu können. Martin hatte sich die ganze Jugend hindurch für seine Stimme geschämt, auch wenn ihm immer wieder gesagt worden war, dass man nichts Ungewöhnliches bemerke. Aber er war ja nicht blöd. Er hatte sich selbst auf Aufnahmen reden gehört. Er klang wie Willi von »Biene Maja«.

Hier, wo ihn keiner kannte, konnte er endlich etwas ändern. Die letzten Wochen hatte er in seinem Zimmer geübt, indem er laut Texte aus Zeitungen oder Werbeprospekten gelesen hatte. Er stellte dabei sogar einen angenehmen Nebeneffekt fest: Die tiefere Stimme erzeugte ein sachtes Brummen in seinem Bauch, das ihn entspannte.

Er wusch sich das Gesicht über dem Waschbecken. Wegen des kalten Wassers war der Hahn beschlagen. Martin fuhr mit dem Daumen darüber. Für eine Sekunde spiegelte er sich im Metall, bevor die Oberfläche erneut anlief. In den letzten Monaten war er sichtlich gealtert. Es sollte kein Problem sein, als Fünfundzwanzigjähriger durchzugehen. Am liebsten hätte er sich neben neuer E-Mail-Adresse und Handynummer auch gleich einen neuen Namen gegeben, aber das traute er sich nicht.

Er griff nach der Plastikmappe auf der Kommode, in der er den Zeitschriftenartikel aufbewahrte, gemeinsam mit dem kleinen, blau-roten Speicherchip. Den Artikel nahm er heraus. Dreimal war Valerie abgebildet: verbittert, abgekämpft oder wütend. Das war zwei Jahre her. Er musste sie endlich ansprechen. Doch wie? Er könnte sie nach Feuer fragen. Nach dem Weg. Nach der Uhrzeit. Oder sie bitten, Kleingeld für ihn zu wechseln. In den Filmen und Büchern ist das ja immer so einfach: Da spaziert man mit einem Glas Wein um jemanden herum, bis die Person sich abrupt umdreht und man das Glas über sie ausleert. Und drei Sätze später hat man schon ihre Nummer.

Er legte sich hin. Von draußen fiel das Licht der Straßenlampen herein. Der schmale Schatten des Fliegengitters an der Wand sah aus wie ein schiefes Bild.

Martin dachte an seinen Selbstmordversuch zurück. Das fühlte sich gut an. Hatte er damit nicht bewiesen, dass er ein gewissenhafter Mensch war? Jemand, der Schuld und Reue spürte? Ein Egoist hätte einen Suizid gar nicht erst in Betracht gezogen.

Das war doch kein Selbstmordversuch, sagte eine kritische Stimme in ihm. Du weißt es ja genau. Das war ein Witz, nicht mehr.

Aber Martin erinnerte sich doch daran. Er erinnerte sich an den Schwindel, die Atemlosigkeit, an das Wasser, das in seine Lungen drang. Er drehte sich auf den Bauch und hörte den Verkehrsgeräuschen zu, bis er einschlief.

In einer Fabrik wurden Grillen in durchsichtige Audiokassetten gepresst. Sie wanden sich im engen Raum zwischen den aufgewickelten Magnetbändern, die Hinterbeine an den Körper gedrückt, die Fühler zusammengestaucht. Ein dumpfes Zirpen drang nach außen.

Er schreckte aus dem Schlaf hoch und schaute auf sein Handy. Es war halb vier. Seine Nase juckte. Ob es stimmt, dass man vom Niesen sterben kann? Er setzte sich aufrecht hin, sodass er gegen die kühle Wand lehnte, griff nach seinem Laptop und gab die Frage auf Google ein.

Beim Niesen kann man sich eine Rippe brechen. Die Rippe sticht dann in die Lunge, und man erstickt. Wenn man das Niesen unterdrückt, kann ein Gefäß im Hals reißen, und man verblutet innerlich.

Er erhielt eine Zusage von der Zentralsterilisation. Er habe einen zuverlässigen und ausgeglichenen Eindruck hinterlassen, sagte man ihm am Telefon. Sein Erspartes hätte nicht mehr lange gereicht.

Nach seinem ersten Arbeitstag irrte er durch die Gänge des Krankenhauses, bis er einen Aufzug fand, der aufs Dach führte. Er trat auf die sonnenbeschienene Terrasse, stellte sich neben den Schriftzug des Inselspitals, der nachts grün über der Stadt leuchtete. Er schaute hinunter auf Baumkronen, Hausdächer, Autos und Trams. Dann hob er den Blick, sah Hochhäuser in der Ferne, Kräne, das geschwungene Dach des Berner Bahnhofs und die zahlreichen Schienen, die hineinführten. Er vernahm ein dumpfes Rauschen. Zuerst dachte er, es sei das Scheppern der Güterzüge, aber dafür war das Geräusch viel zu beständig.

Was er hörte, war das Meer. Bis hierhin. Hinter dem Münster und dem Bundeshaus tat sich die weite, blaue Fläche auf, die in der Sonne glitzerte. Die Wellen schlugen an die Sandsteinklippen, ein paar weiße Segelboote schaukelten auf dem Wasser, weit draußen zog ein Frachter über den Horizont. Bei klarerem Wetter konnte man von hier aus vielleicht sogar die beiden Inseln Genf und Greyerz erkennen, die der Schweizer Küste vorgelagert sind.

Er erinnerte sich an den Geografieunterricht in der fünften Klasse, an die fotokopierte Landkarte Mitteleuropas mit den beiden Knubbeln im Meer, die er hellbraun ausgemalt hatte. Der Lehrer hatte ihnen von europäischen Mythen erzählt: von den Alpen, über die es tausend Geschichten gibt, aber niemanden, der weiß, wo sie sich befinden, von sagenhaften Städten wie Marseille, Turin, Genua, die im Meer untergegangen sein sollen. Martin erinnerte sich, wie er als Schüler mit dem Finger die Mittelmeerküste entlanggefahren war, um sich ihren Verlauf einzuprägen. Von Bern hinab zur Thuner Bucht, durch das kaum besiedelte Schweizer Ödland mit seinen felsigen Küsten, über die Grenze, vorbei an Mailand, Parma, Neapel, bis nach Sizilien.

Kapitel 2

Larve

Er ist nicht der richtige Martin. Ein Jahr vor ihm gab es schon einen anderen, der wenige Stunden nach der Geburt starb. Der Einfachheit halber wählten die Eltern für das zweite Kind denselben Namen. Fast, als wäre nichts passiert. Als wäre es nur eine kleine Schummelei, die kaum einer bemerkt.

Die Geburt fand zu Hause statt, in Bleienbach, einer dreieckigen kleinen Siedlung im Oberaargau. Ein paar Häuser und Bauernhöfe, dazwischen eine Kirche, ein Gasthof, zwei Dorfläden und ein Schulhaus, am Rand ein kleiner Flugplatz. Hier schiebt jemand eine Schubkarre vor sich her, da wird im Garten gejätet, dort ein Vorplatz gewischt, Zäune werden ausgebessert, Teppiche geklopft, Pferde gestriegelt und Zweige gestutzt. Jeder hantiert oder bastelt an irgendetwas herum, und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, dass hier oft nur um des Werkelns willen gewerkelt wird. Dass man Nachbarn und Fußgängern vorführen will, wie fleißig man ist.

Martins Mutter wollte den Jungen nicht halten. »Er will mich ja auch nicht sehen«, erklärte sie, denn die Hebamme hatte ihr gesagt, dass Martin während der Geburt den Arm über dem Kopf gehabt hatte, das Gesicht hinter dem Ellbogen. Stattdessen drückte sie den Kopf ins Kissen und weinte zum Geschrei des Babys; vor Schmerz und auch weil sie sich vor dem Gedanken ekelte, dass sie demnächst einen Liter Milch pro Tag produzieren würde, so viel etwa wie eine schlechte Ziege.

Bald wurden das Baby und die Mutter aber müde vom Weinen, und endlich trat Ruhe ein. Nur noch das Ticken der Uhr und das leise Flüstern der Hebamme waren zu hören. Erst in diesem stillen Frieden stieg bei Martins Mutter das Gefühl auf, von dem jede Mutter nach der Niederkunft ergriffen wird: Hunger. Sie trug Martins Vater auf, den Grill anzuwerfen. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an Koteletts, Würste und Zwischenrippenstücke.

Als Kind werkelte Martin Schwammer ebenso gern an irgendwelchem Zeug herum wie die Dörfler. So oft wie er Holzstücke entzweisägte und sie willkürlich wieder zusammenhämmerte oder irgendwo nutzlose Löcher hineinbohrte, wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass er sich zu einem ganz gewöhnlichen Bleienbacher entwickeln würde. Martin stellte jedoch bald fest, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Vor den anderen Kindern gab er als Einziger zu, dass er noch nie vom Fünfmeterbrett ins Wasser gesprungen war oder dass er die Lehrerin hübsch fand. Auf die Frage, wann und warum er zum letzten Mal geheult hatte, gab er immer ehrlich Antwort – eine Gelegenheit, die von jedem genutzt wurde, der sich gerade blamiert hatte und von sich ablenken wollte. Wenn vor Weihnachten in der Schule gewichtelt wurde und man einem Mitschüler heimlich Süßigkeiten ins Pult legen sollte, flog Martin immer schon am ersten Tag auf. Mal ging er zu Hause ans Telefon, als ein Nachbar anrief. Sein Vater flüsterte ihm zu, er sei nicht da, und Martin begriff erst gar nicht, was er meinte. Ihm fiel nichts anderes ein, als zu erwidern: »Aber ich sehe dich doch«, worauf sein Vater ihm wütend den Hörer aus der Hand riss.

Ihm war längst klar, dass man einfacher durchs Leben kommt, wenn man nicht immer die Wahrheit sagt. Natürlich hätte er lieber für sich behalten, dass er nur deswegen manchmal Umwege ging, weil er Angst vor Kühen hatte, und dass er ohne Nachtlicht nicht einschlafen konnte – oder auch dass er beim jährlich stattfindenden Flugtag immer ernsthaft fürchtete, die Segelflieger und Entenflugzeuge würden gleich in ein Maisfeld abstürzen. Aber er konnte schlicht nicht lügen. Nicht einmal aus Höflichkeit gelang es ihm. Wenn er es versuchte, bekam er meist einen Niesanfall. Und einmal, als er sich zwang, seiner Tante zu sagen, ihm gefalle das selbst gestickte Bild eines verliebten Vogelpaars, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, begann sogar seine Nase zu bluten.

Das größte Problem war aber, dass ihn seine Unfähigkeit, zu lügen, zum Verräter machte. Zwei Klassenkameraden hatten an die Wand um den Schulhausbrunnen die Umrisse eines Mannes hingesprayt, exakt so, dass der Brunnenhahn zwischen seinen Beinen herausragte. Als die Lehrerin wissen wollte, wer es gewesen war, sah sie Martin wohl bereits an, dass er Angst hatte, aufgerufen zu werden. Sie brauchte ihn nur streng anzuschauen, und Martin rückte die Namen seiner Kameraden heraus. Wenn den Lehrern fortan ein Streich gespielt wurde oder im Schulhaus etwas kaputtging, wurde immer als Erstes Martin nach den Tätern gefragt. Manchmal versuchte er es noch mit beharrlichem Schweigen, aber spätestens wenn die Lehrer begannen, Namen aufzuzählen und dabei seine Reaktion zu beobachten, gab er auf. Er wurde zum unbeliebtesten Kind der Schule.

Zu Beginn des vierten Schuljahrs unternahm die Klasse einen Ausflug ins Elsass, wo man eine Sonnenfinsternis sehen konnte. Der Bus hielt in einer öden Wiesenlandschaft, auf der sich schon mehrere Menschengruppen versammelt hatten. Sie saßen auf Gartenstühlen, breiteten Wolldecken aus, stellten Stative auf. Martins Mitschüler packten ihre Sonnensichtbrillen aus, simple Papiergestelle mit Filterfolie, die längst alle ausverkauft gewesen waren, als Martins Vater sich endlich darum gekümmert hatte, ihm auch eine zu besorgen. Martin hatte stattdessen eine Glasscherbe dabei, die er über einer Kerze geschwärzt hatte.

Der Himmel war etwas bedeckt, aber die Sonne noch frei, lediglich von ein paar harmloseren Wolken umgeben. Martin setzte sich am Rand der Wiese ins Gras. Der einzige Mitschüler, der sich nicht von ihm distanzierte, war Oskar, der gerade erst nach Bleienbach gezogen war. Er gehörte, wie auch seine Schwestern, zu jenen Schweizern, die eindeutig südländisch aussehen, ohne dass jemand eine Ahnung hat oder haben will, woher dieser Einschlag kommen könnte. Er hatte einen bräunlichen Teint, dunkle Augen und schwarzes Haar. Und obwohl es ja nicht gerade einfach ist, der Neue in der Klasse zu sein, lachte er oft.

Neben ihnen befanden sich eine deutsche Familie mit zwei kleinen Kindern, ein junges Paar und ein Typ mit langem Haar und Schnauzbart, der ein T-Shirt mit der Aufschrift »I’ve seen the eclipse in Mexico« trug und sich eine Kamera und eine Stoppuhr um den Hals gehängt hatte.

Oskar hielt einen Fotofilmstreifen in der Hand. Er hatte auch keine Sonnensichtbrille mehr gekriegt. Die Brillen waren schließlich aber auch gar nicht nötig: Kurz bevor es losging, schob sich eine Wolke vor die Sonne. Dann verstummte das Vogelgezwitscher, ein Windstoß fegte über die Menge, das Grün der Baumkronen und Sträucher bekam einen mattsilbernen Schimmer, und als Martin aufs Gras schaute, schien ihm, als wäre auch jeder einzelne Halm von dieser gräulichen Glasur überzogen. Oskar und er standen gleichzeitig auf. Am Horizont baute sich eine schwarze Wand auf, ein fetter Schatten, der sich rasend schnell über die Menschenmenge schob und alle in Dunkelheit tauchte. Mit einem Mal war tiefe Nacht. Zwischen den Wolken leuchtete ein einziger Stern. Es war, als hätte man der Welt den Stecker gezogen. Martin und Oskar schauten sich an, dann grinsten sie beide, weil das so viel krasser war, als sie erwartet hatten. In diesem Moment war klar, dass sie Freunde waren.

Im Hintergrund leuchtete bald eine gelbe Wolke, und gleich darauf riss der Himmel über ihnen wieder auf. Der Typ mit der Stoppuhr rief: »Zwei Minuten, dreiundzwanzig Sekunden!«

Als am nächsten Tag die Schule aus war, wollte Oskar ihm sein Haus zeigen. Mit den Schulranzen am Rücken gingen sie durchs Dorf, und Martin fragte ihn, wo er denn bis jetzt gewohnt habe. Oskar erklärte ihm, er habe die letzten Jahre auf einem Piratenschiff gelebt. Einmal sei er fast von einem Hai gefressen worden. Außerdem würden in seinem neuen Haus drei Geister herumspuken. Einer sei ein kleiner Junge, der von Oskars Vater getötet und danach von Raben ausgefressen worden sei. Und übrigens habe er mal in einem Kinofilm namens »Killerblut« mitgespielt, und zwar die Hauptrolle.

Sie verließen den Dorfkern und gingen über das offene Feld, durch hohes Gras. »Ich weiß einen Trick, wie man unter Wasser atmen kann«, sagte Oskar. »Man muss nur ganz leicht ein- und ausatmen, dafür aber richtig schnell. So kann kein Wasser in die Nase kommen.« Martin war beeindruckt. Oskar fuhr fort: »Und wenn mich ein Auto überfahren will, dann drücke ich mich platt auf den Boden und achte darauf, dass die Räder auf den Seiten sind. Dann fährt das Auto über mich drüber, ohne dass mir etwas passiert.«

Er blieb vor einem Hang stehen, der dicht mit dünnen Nadelbäumen überwachsen war, und sagte: »Ich glaube, das ist eine Abkürzung.« Er stieg in das Dickicht hinein, es krachte und knackte, während er den Hang hinunterging, die Zweige fuhren ihm übers Gesicht. Martin folgte ihm, und Schritt für Schritt kämpften sie sich durch die Verästelungen hindurch, unter den Schuhen Laub und glitschige Erde. Als sie aus dem Gesträuch hervortraten, standen sie mit schmutzigen Kleidern im Vorgarten zu Oskars Haus.

Es war ein verlottertes Gebäude mit riesigen Fenstern, das direkt am Bach lag. Im Garten stand eine einfache Bank, daneben eine rostige Feuerschale, an der Hauswand stapelten sich Holzscheite. Durch eine Glastür kamen sie ins Wohnzimmer, wo es ein bisschen wie in einem Schrebergarten aussah. Da standen Klappstühle und Gartentische herum, in einer Ecke befand sich sogar ein Grill, auf dem Holzboden gab es Flecken und Fußabdrücke weißer Malfarbe, und der Fernseher hing von der Decke herunter wie in einer Bar. Auf dem Sofa lagen Zeitschriften, die Gesichter auf den Titelseiten mit Filzstift bemalt: Ruth Dreifuss mit Schnurrbart, Michelle Hunziker mit Brille.

Von nun an spielten sie nach der Schule oft in diesem Raum oder in Oskars Vorgarten zusammen. Auf dem Weg zu Oskars Haus gingen sie immer durchs Dickicht, statt die Straße zu nehmen, die darum herumführte. Es war ihr Geheimweg, und darauf waren sie stolz, auch wenn sie sich jedes Mal Arme und Knöchel zerkratzten.

Als die Umgebung um Oskars Haus nicht mehr interessant genug war, rannten sie an freien Nachmittagen oft nordwärts über die Felder und ein kurzes Stück durch den Wald zu zwei nebeneinanderliegenden Gewässern: dem grünlichen Sängeliweiher, auf den die umstehenden Sträucher ihre Zweige ausstreckten, sodass sie fast die Oberfläche berührten, und dem Torfsee mit seiner dunklen Farbe, die zwischen den Seerosenblättern hervorschimmerte. Reiher wateten durchs Wasser, Enten schnatterten, es zirpte, summte und gluckerte um sie herum. Oskar behauptete einmal, er habe einen Außerirdischen aus dem Weiher gefischt. Seither hörten sie immer wieder ein verdächtiges Blubbern, das vom Grund zu kommen schien. Sie fanden Steine, die vom Weltraum heruntergefallen waren. Und wenn sie um den Torfsee herumgingen, mussten sie gegen Mördereichhörnchen kämpfen, die in den Baumkronen lebten. Der Schuppen eines kleinen Gartenbauunternehmens, an dessen Haustür ein Schild mit der Aufschrift »Schöner Garten? Wieso noch warten?« hing und wo man außerdem Honig und Eier kaufen konnte, wurde zur Behausung der gemeingefährlichen Altacher Familie, benannt nach der Altache, einem Bach, der in der Nähe durchfloss: Es handelte sich um ein irres altes Ehepaar und ihren noch viel irreren Sohn, und alle drei versuchten ständig, Oskar und Martin umzubringen. Oskar wollte später Stuntman werden, Martin Meeresbiologe. Es fiel ihnen nicht schwer, sich Geschichten auszudenken, in denen genau diese beiden Berufe gefragt waren, Aufgaben, die sie nur gemeinsam bewältigen konnten.

Martin bewunderte Oskar dafür, dass das Lügen für ihn so selbstverständlich war. Er erzählte einfach, was ihm gerade passte. Dazu schaute er Lehrern, Mitschülern oder auch seinen Eltern in die Augen, lachte ihnen ins Gesicht. Er bestritt Zeug, das offensichtlich war, und behauptete anderes, was er gar nicht wissen konnte. Wenn er sagte, er habe einen Zwanziger am Boden gefunden, konnte es höchstens ein Fünfliber gewesen sein. Keinen Moment zögerte er bei seinen Behauptungen oder wirkte verlegen. Nur Martin gegenüber zeigte sich Oskar immer wieder ehrlich. Auf dem Weg durchs Dickicht blieben sie manchmal stehen, und dann verlor Oskar von einer Sekunde auf die andere seine Sicherheit. Er erzählte Martin, wenn er neidisch auf einen Mitschüler war. Er ließ ihn wissen, wen er hasste und wen er mochte. Einmal weinte er sogar, weil seine Schwestern ihn geärgert hatten. Vielleicht weinte er auch deshalb, weil er überhaupt nur Schwestern hatte. Bei jeder Schwangerschaft seiner Mutter hatte er sich einen Bruder gewünscht.

Sie waren inzwischen so oft durchs Gestrüpp gegangen, dass sich sichtbare Spuren gebildet hatten: Eine Art Tunnel führte durchs Dickicht, die Erde war entlang einer Linie festgetreten. Bald konnte man den Trampelpfad sowohl von der Straße wie auch von Oskars Haus aus sehen. Die Bezeichnung »Geheimweg« passte längst nicht mehr, und sie suchten nach einem neuen Namen. Es sollte etwas möglichst Furchteinflößendes sein, wie Terrortunnel oder Straße des Zorns. Sie hatten mehrere Ideen, doch keine überzeugte sie wirklich. So blieben sie letztlich doch bei »Geheimweg«. Auf einem mit einem Feuerzeug geschwärzten Stück Papier vereinbarten sie zwei Regeln: Sie durften nur gemeinsam hinein, und kein Mensch außer ihnen beiden hatte die Erlaubnis, den Weg zu betreten. Zwar wiederholten sie mehrmals, dass einem Fremden, der durch das Dickicht gehe, eine schreckliche Strafe blühe, allerdings wussten sie beide nicht, wie diese aussehen sollte. Bis es zum Ernstfall kam.

Oskars Familie hatte eine Putzfrau, die zweimal im Monat vorbeikam. Manchmal nahm sie ihre Tochter mit, ein Mädchen mit blonden Zöpfen. Sie half beim Abstauben oder spielte allein im Vorgarten. Einmal folgte sie ihnen, als sie den Hang hinaufstiegen. Martin und Oskar fesselten sie an einen dürren Baum und jagten ihr Angst ein, indem sie drohten, das Dickicht in Brand zu setzen. Sie wurden nie dafür gerügt. Martin konnte nur vermuten, dass das Mädchen seiner Mutter nichts davon erzählt hatte.

Das Zuhause der Familie Schwammer war weniger aufregend. Martins Vater war Außendienstmitarbeiter eines Tierfutterproduzenten im nahe gelegenen Herzogenbuchsee. Beim Abendessen erklärte er Frau und Kind die Unterschiede zwischen Kälbermast und Rindviehmast, zwischen Ferkel-, Mastschwein- und Zuchtsauenfutter. An den Wochenenden frickelte er meist irgendwas im Haus herum, installierte Lampen, wo man keine brauchte, oder entfernte welche, wo man sie später vermisste. Außerdem hatte er eine Bauchrednerpuppe, ein struppiges Monster mit Glubschaugen, das Martin schon doof gefunden hatte, als er noch ganz klein gewesen war. Er hörte seinen Vater manchmal hinter der Schlafzimmertür üben. Dass es beim Bauchreden nicht nur um unauffälliges Sprechen, sondern auch um witzige Äußerungen geht, die etwas mehr umfassen als »Hallihallo« und »Wie geht’s, wie steht’s?«, schien Martins Vater nicht zu kümmern. Bei Treffen mit Verwandten, an Kindergeburtstagen und manchmal auch vor seinen Trinkkumpanen im Gasthaus drängte er den Leuten seine Künste auf. Wer nett war, störte sich nicht an den drei, vier immer gleichen Sätzen und gab vor, dass sich seine Lippen tatsächlich weniger bewegten, als wenn er ganz normal sprach.

Martins Mutter hatte Friseurin gelernt, schnitt inzwischen aber nur noch Freunden die Haare. Seit ihrer Jugend litt sie unter starken Gewichtsschwankungen. Noch bevor Martin in die Schule kam, begann sie, ihre Frisur dem Jahr anzupassen, dem ihr Gewicht entsprach. Wog sie um die fünfundsechzig Kilo, dann toupierte sie ihr Haar, überschritt sie die Siebzigergrenze, legte sie sich eine Föhnfrisur mit Mittelscheitel zu, und wenn sie noch mehr zunahm, wechselte sie zu einem seitlichen Pferdeschwanz und einem knallbunten Stirnband. Im Dorf hatte sie kaum Freundinnen. Sie traf sich lieber mit Frauen aus den größeren Nachbarorten.

Unterhalb von Martins Zimmer lag ein kleiner Gartenteich. In etlichen Nächten seiner Kindheit und Jugend wurde er von Stechmücken belästigt. Müde suchte er dann die Wände nach einem dunklen Punkt ab, das Kissen, mit dem er zuschlagen wollte, bereits in den Händen. Er horchte reglos, ob irgendwo ein Summen zu hören war. Oft legte er sich erfolglos zurück ins Bett, nur um Sekunden später wieder von der Mücke genervt zu werden. Er begann Kampfstrategien zu entwickeln. Die erste war noch nicht gerade vielversprechend und bestand nur aus der Idee, der Mücke einfach zu geben, was sie wollte, statt sie zu verscheuchen. Martin ließ sich stechen, in der Hoffnung, das Viech würde sich dann vollgefressen in eine Ecke setzen und Ruhe geben – was es natürlich nicht tat. Später fand er eine bessere Technik: Wenn das Summen sich näherte, ließ er seine Hand zum Schalter der Nachttischlampe gleiten. Sobald er die Mücke direkt über seinem Gesicht wusste, drückte er den Knopf. Dann sah er sie torkelnd vor sich, verloren im Scheinwerferlicht, und er konnte sie mit der freien Hand packen. Die Erfolgsquote lag immerhin bei etwa fünfzig Prozent. Als ihm auch das zu blöd wurde, bat er seine Mutter um Hilfe. Sie nahm sein Problem nach langem Quengeln endlich ernst und brachte ihm aus der Apotheke allerlei Mückenschutzmittel, die er nacheinander ausprobierte: Insektensprays, Räucherspiralen, Armbänder mit ätherischen Ölen und Chemie für die Steckdose.

Sogar bei den Waldspaziergängen mit seinen Eltern wurde Martin immer wieder gestochen. Er begleitete sie jeweils zum Steinpilzsammeln, dem sie beide mit derselben Verbissenheit nachgingen. Verschwiegenheit und Tarnung, das seien für einen Pilzsammler die wichtigsten Grundsätze, lehrten sie ihn. Fundplätze wurden vor den Nachbarn streng geheim gehalten, Fußabdrücke und Schnittstellen überdeckte man mit Erde. Der Pilzkorb wurde eiligst hinter einem Gebüsch versteckt, wenn einem ein Bekannter entgegenkam. Diesem erzählte man dann, man sei nur auf einem Sonntagsspaziergang. Später hatte Martins Vater die Idee, einen Rucksack anstelle eines Korbes mitzunehmen, um weniger aufzufallen. Doch alles nützte nichts, solange Martin dabei war. Nachdem er sich ein paarmal verplappert hatte, entschieden seine Eltern, dass es sinnvoller war, wenn er nicht mehr mitkam.

Das Pilzsammeln war die einzige Leidenschaft, die sie teilten – und bald eine der wenigen Tätigkeiten, bei denen sie nicht stritten. Dass sich seine Eltern nicht mehr vertrugen, erkannte Martin zum ersten Mal an ihren unsinnigen Diskussionen über kalte und warme Hände: Martins Mutter wollte vom Vater nicht mehr angefasst werden, weil er, wie sie sagte, zu kalte Hände habe. Der Vater behauptete, das stimme nicht, seine Hände seien warm. Er streckte sie Martin hin, der sie berühren und seine Meinung dazu abgeben sollte. Martins Mutter blieb dabei: Die Hände seien kalt. Der Vater begann, sie unter heißem Wasser zu wärmen, und trug einmal sogar trotzig Handschuhe.

Als das Thema endlich durch war, legten sie es darauf an, beim anderen möglichst viele Fehler zu finden. Martin diente ihnen als Quelle und schürte damit die Wut zwischen ihnen. Nie hatte er seine Unfähigkeit, zu lügen, so sehr verflucht wie jetzt. Seine Mutter erfuhr es, wenn sein Vater im Gasthaus einen Witz über sie machte, umgekehrt konnte der Vater bei Martin erfragen, was die Mutter während der Telefonate mit ihren Freundinnen über ihn gesagt hatte. Zu Martins fünfzehntem Geburtstag plante seine Mutter für ihn eine Überraschungsfahrt in einen Wasserpark. Sein Vater verriet es ihm und bot ihm einen Fünfziger, wenn er es hinkriegen sollte, der Mutter nichts davon zu sagen. Martin gab sich wirklich Mühe, überrascht zu wirken, aber er hatte keine Chance. Während des Ausflugs in den Wasserpark schimpfte seine Mutter stundenlang. Und abgesehen davon mochte Martin Wasserparks gar nicht. Die meisten Bahnen schienen ihm viel zu gefährlich.

»Wir wollten mit der Scheidung eigentlich warten, bis du volljährig bist«, sagte seine Mutter am nächsten Tag zu ihm, als sie zu dritt im Wohnzimmer saßen. Und sein Vater meinte: »Diese Geduld haben wir nicht.« Sie zeigten eine Einigkeit, wie Martin sie bei ihnen kaum je gesehen hatte.

Nachdem die Entscheidung getroffen worden war, entdeckte seine Mutter die Liebe zum Internet und kurz darauf diejenige zu einem Banker aus der deutschen Bodenseeregion. Er hatte sie auf einer Dating-Website angeschrieben. Sie machte eine strenge Diät, sodass sie sich eine Rockabilly-Frisur zulegen konnte, und verbrachte bald mehr Zeit in Ravensburg als in der Schweiz. Die Nachricht, dass sie noch einmal heiraten und nach Deutschland ziehen würde, kam für niemanden überraschend. Martin blieb mit seinem Vater und der Bauchrednerpuppe im Häuschen in Bleienbach zurück.

Ihm war klar, dass sich seine Eltern auch ohne sein Zutun getrennt hätten, wenn auch vielleicht etwas später. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre er schuld. Er spürte ein dunkles Gewächs in sich, das wie eine Krankheit durch seinen Körper wucherte, ohne dass es sich äußerlich zeigte. Nur die paar Leberflecken auf seinen Armen kamen ihm manchmal vor, als wären es winzige Stellen, an denen das Gewächs nach außen drang. Das ist nur der Anfang, dachte er, bald wird meine Haut überall faul und schwarz. Neu war das Gefühl nicht. Er hatte sich ja schon als Kind immer verantwortlich gefühlt, wenn er ein totes Tier am Wegrand gesehen hatte, wenn irgendwo eine Fensterscheibe eingeschlagen worden war, sogar wenn er ein Baby hatte schreien hören. Auf seinen Wegen durchs Dorf spürte er die Blicke der Menschen auf der Straße, er spürte, dass sie schlecht über ihn dachten.

Oskar hatte ihm mal erklärt, jedes Gesicht bestehe aus einer guten und einer bösen Hälfte. Man brauche nur ein Foto und einen Taschenspiegel, um es zu überprüfen. Vor dem Küchenfenster hing noch ein Windspiel aus Spiegelstücken, das seine Mutter dort aufgehängt hatte. Martin entfernte einen der kleinen Spiegel und setzte ihn aufrecht auf das Foto in seinem Pass, spiegelte zuerst die linke, dann die rechte Hälfte. Es kam zweimal ein böses Gesicht raus.

Kapitel 3

Worin Martin auf eine Pilzsammlerin trifft

Die Gelegenheit, auf die Martin gewartet hatte, kam an einem Donnerstag im Juli. Er war in der Altstadt, um sich ein besseres Fahrradschloss zu kaufen, und als er unter den Lauben zurück Richtung Bahnhof ging, sah er in der Menschenmenge, die ihm entgegenkam, Valeries Gesicht. Er hatte sie kaum erkannt, da war sie schon an ihm vorbeigegangen. Sie hatte zu Boden gesehen und hektischer gewirkt als sonst. Es war erst kurz nach sechs. Er hätte erwartet, dass sie um diese Zeit noch bei der Arbeit war.

Martin drehte sich um und eilte durch die Menschen, um sie einzuholen. Zwischen den fremden Köpfen sah er ihren Haarschopf, in dem ihre Sonnenbrille steckte. Bald war er dicht hinter ihr. Sie trug eine beigefarbene Hose, ein weißes Top, wieder auf einer Seite schulterfrei, und Schuhe, die zwar hochhackig waren, aber zugleich offen wie Sandalen. Im Gehen verstaute sie eine Flasche Weißwein, die sie vermutlich gerade gekauft hatte, in ihrer Tasche. Eine Asiatin, die einen riesigen Koffer vor sich herschob, versperrte Martin den Weg, dann ein alter Mann mit Krücken, ein Paar mit einem Kinderwagen. Und zwei Eis essende Kinder konnten sich nicht entscheiden, ob sie vorwärtsgehen oder blöd herumstehen wollten. Er verlor Valerie aus den Augen, sah sie aber nach einer Weile am Zytglogge vorbeigehen, zwischen Urlaubern hindurch, die ihre Smartphones auf den Turm richteten.

Sie ging, nun etwas langsamer, die Kramgasse hinunter, wo weniger Menschen unterwegs waren. Martin folgte ihr mit ein paar Metern Abstand. Je weiter sie kamen, desto leerer waren die Geschäfte, in einem wurde gestaubsaugt. Valerie ging außerhalb der Lauben weiter, setzte sich die Sonnenbrille auf, und auch Martin ging nach draußen, über die Pflastersteine, an den bemalten Brunnenfiguren vorbei. Ein roter Linienbus überholte ihn mit einem regelmäßigen Piepsen, Fahrräder säumten die Gassen, vor den Fenstern hingen Geranien. Manchmal ließ das Abendlicht die Metallteile an Valeries Tasche aufblitzen.

Auf der Nydeggbrücke musste er langsamer gehen, weil Valerie beim Kioskhäuschen stehen blieb. Die Verkäuferin reichte ihr eine hellblaue Schachtel Zigaretten. Es roch nach Salz und Sommer. Martin blickte von der Brücke hinunter, auf die Aare, die von Norden her bis hierhin floss, wo sie sich auffächerte und ins Meer mündete. Die Wellen brachen sich an den Felsen. Schaumflecken und Boote schufen einen scharfen Kontrast im kräftigen Blau. Weit draußen war ein Containerschiff zu sehen. Zu Martins linker Seite lag das Kirchenfeldinselchen mit dem schmalen Leuchtturm. Knapp konnte er die beiden Sockel mit den sitzenden Bärenskulpturen links und rechts des Turms ausmachen. Es war richtig gewesen hierherzuziehen. Martin hatte sich oft gewünscht, am Meer zu leben.

Am Ende der Brücke nahm Valerie eine schmale Treppe, die hinunter zur Flussmündung führte. Die Kirchenglocken läuteten, Krähen und Möwen schrien durcheinander, dazwischen das leise Dröhnen eines Flugzeugs und das entfernte Rauschen der Wellen. Er folgte ihr, vorbei am Hotel Landhaus, über dessen kuriosen Namen er sich schon einmal gewundert hatte, wo man doch zumindest in den oberen Zimmern Aussicht auf die Küste haben musste. Sie gingen durchs Mattequartier, am Hafen vorbei, wo sich auch die Anlegestelle der Fähren zu den Inseln befand. Eine Gruppe von Jugendlichen saß auf der Kaimauer, hörte laut Musik und rauchte. Die Segelschiffe schwankten auf der Wasseroberfläche, die Takelagen klapperten im Wind. Die Taue, an denen die Boote und Jachten befestigt waren, knarrten gleichmäßig mit dem Heben und Senken des Wasserspiegels. Ein langer Pier führte hinaus ins Meer. Am Ende befand sich das Restaurant Schwellenmätteli.

Unterhalb des Bundeshauses verließ Valerie den Gehweg. Sie zog die Schuhe aus und ging barfuß durch den Sand, zwischen Liegestühlen, Sonnenschirmen und Teenagern auf Badetüchern hindurch. Einige Leute machten sich bereits auf den Heimweg und kamen ihnen mit Taschen und Schwimmsäcken unter dem Arm entgegen. Andere quietschten und kreischten noch im Meer herum, hielten sich an aufblasbaren Bällen und Kissen oder an Schaumstoffschlangen fest. Ein Gummiboot mit ein paar jungen Leuten schaukelte im Wasser. An der Promenade reihten sich Souvenirläden, Cafés, Fischrestaurants und Eisstände aneinander.

Valerie ging bis zum Ende des Strandes, bis kurz vor die Felsen des Sandrains. Hier waren kaum noch Menschen. Am Ufer ragten große, dunkle Steine aus der Oberfläche, teilweise überwachsen mit leuchtendem Seegras oder Muscheln. Valerie warf ihre Schuhe in den Sand und setzte sich auf den Boden. Sie zündete sich eine Zigarette an und öffnete die Flasche, dann nahm sie einen Kaffeebecher aus Pappe aus ihrer Tasche und füllte ihn mit Weißwein.

Martin setzte sich etwas oberhalb auf einen Stein, neben einen Haselstrauch, vielleicht zehn Meter von Valerie entfernt. Er schaute zu, wie sie den Becher zweimal nachfüllte und dazwischen die Weinflasche mehrmals umstellte, von einer Seite auf die andere, dann zurück in die Tasche, wieder hinaus, um sie in den Sand zu drehen, wo sie schief stehen blieb. Das Abendlicht hatte bereits einen dunstigen Filter über das Meer gelegt und das Blau etwas verblassen lassen. Ein schwerer Dampfer war am Horizont sichtbar. Er verschwand hinter Valeries Körper und wuchs nach einer Weile wieder aus ihrer rechten Schulter hervor. Martin starrte Valerie so lange an, bis die Dimensionen sich zu einer Tunnelsicht verzerrten, die Farben aus seinem Blick wichen und Valerie nur noch eine fahle Silhouette in einem Fadenkreuz war. Er rieb sich die Augen und dachte nach.

Unter einem Stein neben ihm krabbelte ein Krebs. Martin stand auf und packte ihn. Er hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger in der Mitte fest, sodass er mit Zangen und Beinen nutzlos durch die Luft ruderte. Unter den Fingerkuppen fühlte Martin die kräftigen Bewegungen im Innern der Schale, ein mechanisches, gleichmäßiges Drehen und Winden wie bei einem Aufziehspielzeug. Er gab sich einen Ruck und stapfte mit dem Krebs in der Hand durch den Sand auf Valerie zu. Auf dem Weg zu ihr dachte er noch kurz darüber nach, ob er sie duzen oder siezen sollte, und er erinnerte sich daran, die Stimme zu verstellen.

»Entschuldige«, sagte er, als er vor ihr stand. Dabei steckte er hastig seine Hand in ihre offene Tasche. Sie schien nicht gemerkt zu haben, dass er sich genähert hatte, und zuckte zusammen. Sein Gesicht spiegelte sich in ihrer Sonnenbrille. Er zog die Hand wieder heraus, den zappelnden Krebs immer noch zwischen den Fingern. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich hab grad den da in deine Tasche krabbeln sehen.«

»Oh«, sagte sie, »danke.« Sie hielt ihm die offene Hand hin. Ihm fiel auf, dass ihr rechts der kleine Finger fehlte.

Martin zögerte kurz, dann legte er den Krebs auf ihre Handfläche, wo dieser ruhig verharrte.

Valerie betrachtete das Tier ein paar Sekunden und setzte es dann behutsam neben sich in den Sand. »Danke«, sagte sie noch mal, jetzt allerdings in einem Ton, aus der er die Aufforderung heraushörte, wieder zu gehen.

»Kennen wir uns nicht aus dem Pilzkurs?«, fragte er.

»Kaum. Ich weiß nicht mal, was ein Pilzkurs ist.«

»So ein Kurs für Pilzsammler halt. Ich hab den als Jugendlicher mal besucht.«

»Du verwechselst mich.« Sie schaute wieder hinaus aufs Wasser.

Er starrte auf die stumpfe Stelle an ihrer Hand, dann lenkte er seinen Blick zur Tätowierung auf der Innenseite ihres Oberarms. »Ist das ein Teebeutel auf deinem Arm?«, fragte er.

Sie schob die Sonnenbrille hoch und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hinauf. »Nimm’s mir nicht übel, aber mir ist nicht nach Reden. Erstens bin ich beschwipst und zweitens betrunken.«

»Also, was nun?«, fragte Martin. »Beschwipst oder betrunken?«

»Siehst du, ich kriege nicht mal mehr einen richtigen Satz zustande. Ich wollte sagen: erstens beschwipst und zweitens schlecht gelaunt. Ja, so stimmt’s.«

»Wirkt das Erste denn wenigstens ein bisschen gegen das Zweite?«

Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Die Frage ist mir zu kompliziert.« Sie nahm einen Schluck aus dem Pappbecher.

»Okay«, sagte Martin, »entschuldige die Störung.« Ihm fiel nichts ein, was er noch hätte sagen können. Er wandte sich ab.

»Jetzt gehst du?«, rief sie ihm hinterher. »Erst anquatschen und dann einfach abhauen, ja?«

»Du sagtest doch …«

Sie zeigte auf seine Füße. »Trägst du immer Socken im Hochsommer? Ich kann das nicht mit ansehen. Komm, zieh die blöden Dinger aus.«

Martin setzte sich neben sie und streifte sich Schuhe und Socken ab.

»Eine Kaulquappe«, sagte sie dann.

»Was?«

»Es ist eine Kaulquappe. Niemand erkennt es, ich hätte zu einem besseren Tätowierer gehen sollen.« Sie klopfte mit den Fingerkuppen gegen den Becher, was Martin noch nervöser machte.

»Wieso gerade eine Kaulquappe?«

Sie streckte ihm den Becher hin. »Ich bin Valerie.«

Er nahm einen Schluck und reichte ihn ihr wieder. »Martin.«

Sie schenkte nach, obwohl der Becher noch gar nicht leer war.

»Und warum bist du schlecht drauf?«

»Nur der Job. Vorhin bin ich mitten in der Lektion rausgelaufen, weil ich genug hatte.«

»Ist doch bestimmt nicht so schlimm.«

Sie lachte trocken. »Sag das mal meiner Bewährungshelferin.« Dann drehte sie den Kopf zu ihm. »Schau mich nicht so an. Ich war nicht im Knast oder so. Eigentlich hab ich gar niemandem wehgetan. Aber das interessiert natürlich keinen. Ich hör immer nur, dies und das hätte passieren können. Hätte, hätte, Fahrradkette. Zudem ist es ein Witz, dass man mich überhaupt zur Bewährungshilfe schickt. Ich könnte gar nicht rückfällig werden, selbst wenn ich wollte.«

Von einer Straftat hatte Martin trotz seiner Recherchen nichts gewusst. Er traute sich nicht, nachzuhaken. Stattdessen fragte er: »Bist du Lehrerin?«

»Nicht mehr. Mich stellt ja keine Schule mehr an. Ich arbeite seit einem halben Jahr als Katechetin. Im Monbijou, Pfarrei Drei Könige. Sagt dir eh nichts.«

»Dann bist du so was wie eine Nonne?«

Endlich grinste sie. »Du willst wohl, dass ich dir eine reinhaue.« Sie schaute in den Becher und schwenkte ihn ein bisschen, bevor sie noch mal einen Schluck nahm. »Ich kann mit dem frommen Zeug nicht so viel anfangen.« Sie richtete ihren Oberkörper etwas auf, nickte dann, mehr für sich selbst, als müsste sie sich Mut zusprechen, und sagte: »Trotzdem ist es ein toller Beruf. Eigentlich wüsste ich gar nichts, was ich lieber täte.«

»Wenn es so toll ist, wieso brichst du dann die Lektion ab?«

»Das war eine Ausnahme. Ich geh sehr gern dorthin. So gern, dass ich das gar nicht als Arbeit empfinde.« Sie hielt inne. »Du starrst ständig auf meine Hand, ich merke es.«

»Entschuldige.«

»Schon okay.«

»Wie ist das passiert?«