Der Autor

Oliver Pötzsch – Foto © Frank Bauer / www.frankbauer.com

Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitete nach dem Studium zunächst als Journalist und Filmautor beim Bayerischen Rundfunk. Heute lebt er als Autor mit seiner Familie in München. Seine historischen Romane haben ihn weit über die Grenzen Deutschlands bekannt gemacht: Die Bände der Henkerstochter-Serie sind internationale Bestseller und wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Homepage des Autors: www.oliver-poetzsch.de

Das Buch

1494 hat Johann Georg als Sechzehnjähriger seine Heimatstadt Knittlingen verlassen. Mit vierzig Jahren kehrt er noch einmal dorthin zurück. Wie er sich damals bei seiner Flucht geschworen hat, ist er ein berühmter Mann geworden; er nennt sich »Doktor Faustus« und zieht als Heiler und Astrologe von Stadt zu Stadt. Doch ein Glücklicher, wie es der Name »Faustus« besagt, ist Johann nicht. Menschen, die ihm nahestanden, hat er durch eigene Schuld verloren, er hat verraten, gelogen und betrogen. Was niemand ahnt: Um sein enormes Wissen, seine ungewöhnlichen Fähigkeiten zu erwerben, hat Johann einst dem geheimnisvollen Magier Tonio del Moravia die Hand gereicht. Längst weiß er, dass Tonio weit mehr ist als bloß ein geschickter Zauberkünstler, dass er zahllose Masken trägt und eine Spur aus Gift, Tränen und Blut hinter sich herzieht. Immer wieder ist Johann vor seinem grausamen Lehrmeister geflohen, doch nun, am Grab seiner Mutter, wird ihm klar, dass er Tonio keineswegs entkommen ist. Die dunkle Macht, die ihn in den Abgrund ziehen will, hat ihn erneut in eine Falle gelockt. Wenn er sich und alles, was ihm lieb ist, retten will, muss er sich dem Bösen stellen.

Nach dem erfolgreichen Roman »Der Spielmann«, der von HISTOcouch.de als »Buch des Jahres« ausgezeichnet wurde, führt Bestseller-Autor Oliver Pötzsch das Abenteuer seines Doktor Faustus einem dramatischen Höhepunkt entgegen.

Oliver Pötzsch

Der Lehrmeister

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1879-0

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Widmung

Für meine Kinder Niklas und Lily.
Lieben heißt auch Loslassen.

Motto

»Please allow me to introduce myself
I’m a man of wealth and taste
I’ve been around for a long, long year
Stole many a man’s soul to waste.«
Rolling Stones: Sympathy For The Devil

Prolog

15. September, Anno Domini 1518,
Rom, in den Kerkern der Engelsburg

Der Heilige Vater folgte den Schreien, die ihm den Weg durch die Katakomben wiesen. Sie waren schrill und hoch und zeigten Papst Leo X., dass die Zeit gekommen war.

Mit eingezogenem Kopf eilte er durch die niedrigen Gänge, wobei seine rote Samthaube gelegentlich die schmutzige Decke streifte. Leo keuchte, er zitterte vor Vorfreude, wie immer, wenn er hier unten war, um die letzte Vernehmung persönlich vorzunehmen. Die Engelsburg am Tiberufer war ein Labyrinth aus Kammern, Sälen und Gängen, vor über tausend Jahren erbaut als Mausoleum römischer Kaiser, mit Fluchttunneln, Geheimtüren und Grabkammern. Auch jetzt noch war sie das Grab vieler bekannter und unbekannter Gefangener. Doch mittlerweile diente der Palast den Päpsten als Festung und Fluchtburg, er galt als uneinnehmbar. In den oberen Stockwerken befanden sich die päpstlichen Gemächer, herrschaftliche Zimmer, bis zur Decke vollgehängt mit Ölgemälden der berühmtesten Maler, so als wären es Tapeten. Aus bronzenen Hähnen quoll kaltes oder warmes Wasser, Diener reichten kandiertes Obst sowie Eis, geschlagen in den fernen Bergen nördlich des Apennin und gesüßt mit dem sündhaft teuren Zucker, der aus den erst jüngst entdeckten Ländern jenseits des Meeres kam, jedes Gramm davon so wertvoll wie Gold. In den oberen Sälen roch es nach Veilchen und Parfum, um den Gestank der römischen Gassen zu vertreiben, und die Mauern atmeten den Geist Gottes.

Hier unten jedoch, tief in den Katakomben, herrschten Tod und Verderben.

Papst Leo X. lauschte, als ein erneuter Schrei ertönte, diesmal noch spitzer und höher, fast wie von einem Kind. Er war eindeutig auf dem richtigen Weg. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen beschleunigte er seine Schritte und wandte sich nach rechts, wo eine Treppe noch tiefer hinabführte. Leo war fett, er wog weit über zweihundert Pfund, seit den Tagen seiner Thronbesteigung hatte er ständig zugenommen. Ihn plagten Kurzatmigkeit und ständig wiederkehrende schmerzhafte Fisteln am Hintern. Er mochte gar nicht daran denken, wie anstrengend es erst werden würde, all die Treppen wieder hinaufzugehen. Doch die wachsende Vorfreude trieb ihn voran.

Vielleicht würde er jetzt endlich die Wahrheit erfahren!

Blakende Fackeln beleuchteten einen engen, von Ruß verdreckten Gang, gelegentlich begegnete dem Papst ein Wachmann der Schweizer Garde, der sich tief vor ihm verneigte. Leo würdigte ihn keines Blickes. Es war ohnehin nicht von Vorteil, wenn man ihn hier unten sah. Doch manchmal ließ es sich eben nicht vermeiden.

Etwa dann, wenn ein Geheimnis nicht bis an die Oberfläche dringen durfte.

Eine weitere Treppe führte noch tiefer hinab in die Finsternis. An ihrem Ende tauchten im Zwielicht des Ganges zwei Wachsoldaten auf. Sie standen links und rechts von einer mit mehreren Eisenbändern verstärkten Tür, in die auf Kopfhöhe ein kleines Gitterfenster eingelassen war. Von dort kamen die Schreie, die nun wieder anschwollen, so als wollte derjenige, der sie ausstieß, den Heiligen Vater auf eine besonders intime Weise begrüßen.

Leo verzog das Gesicht, das Geheul war wirklich kaum auszuhalten. Glücklicherweise endete es ebenso abrupt, wie es begonnen hatte.

Der vor Anstrengung keuchende Papst gab den beiden Wachen ein Zeichen, woraufhin diese die schwere Tür öffneten. Dahinter war ein Raum zu erkennen, der nur mäßig von Fackellicht erhellt wurde, ein süßlicher, rauchiger Geruch ging davon aus, der sich nun auch im Gang davor ausbreitete. Brennende Glutpfannen standen in den Ecken der nahezu quadratischen, aus groben Steinen erbauten Kammer, daran lehnten Zangen und andere Utensilien, deren Zweck Leo nur erraten konnte, auch wenn er sie hier und dort bereits gesehen hatte, zum Beispiel in Florenz, wo er herstammte. Leo nickte anerkennend. Er hatte das feiste Gesicht und auch den Starrsinn eines Bauern, sein Verstand jedoch war der eines Gelehrten. Zugleich war er skrupellos und gerissen wie alle in seiner Familie.

Wir haben die Wahrheit gut versteckt, dachte er. Am tiefsten Punkt Roms.

Giovanni, so sein weltlicher Name, entstammte dem Geschlecht der Medici, jener reichen Dynastie, die seit über hundert Jahren die Geschicke von Florenz, ja, von ganz Norditalien bestimmte. Sein Vater war Lorenzo de Medici, genannt »Il Magnifico«, der Prächtige. Als zweitem Sohn der Familie war für Giovanni eine kirchliche Karriere vorgezeichnet, bereits mit sieben Jahren war er zum Domherrn von Florenz ernannt worden, mit vierzehn Jahren folgte der Posten eines Kardinals. Nach dem Tod seines älteren Bruders Piero stieg er zum Herrscher der Toskana auf. Im Grunde hatte es noch erstaunlich lange gedauert, bis Giovannis Ehrgeiz, seine Machtgier, vor allem aber der Einfluss seiner Familie ihn Papst werden ließen. Fünf Jahre war das nun her, seitdem hatte Giovanni endlich die Stellung inne, die sich seine Familie, die er selbst sich seit seiner Kindheit ersehnt hatte.

Er war der mächtigste und reichste Mann der christlichen Welt.

Giovanni hatte vor, jeden einzelnen Tag seiner hoffentlich noch langen Amtszeit zu genießen. Er wollte in die Geschichte eingehen als der Papst, der Rom zu neuer Blüte verholfen hatte, indem er den neuen gewaltigen Petersdom vollendete. Die ihn preisenden Denkmäler würden aus Gold und Silber geschmiedet werden.

Für all das hatte Leo einiges auf sich genommen, auch Dinge, die ihm nachts den Schweiß auf die Stirn trieben und ihn nicht schlafen ließen. Dinge, so grausam und unsäglich, dass er hoffte, Gott werde seinetwegen die Augen davor verschließen – und sie stillschweigend billigen.

Alles geschieht zum Wohle der Kirche! Zum Wohle der Kirche und natürlich auch zu meinem Wohl. Aber gibt es da überhaupt einen Unterschied?

Der Papst rümpfte die Nase, um sich auf den zu erwartenden Gestank vorzubereiten, dann betrat er den Kerker, wobei er sein rotes Gewand raffte, damit es so wenig wie möglich mit dem mit Asche und Blut verdreckten Steinboden in Berührung kam. Der Geruch in der Kammer warf ihn fast um. Es roch warm und süßlich nach Blut, Kot und Erbrochenem.

Der Gestank der Angst. Der Angst und der Wahrheit …

Leo blickte hinüber zu der Streckbank, die sich in der Mitte des Raums befand. Darauf lag ein dürrer, leblos wirkender Mann, einzig mit einem zerrissenen Lendenschurz bekleidet. Die Arme und Beine waren mit Brandmalen von den vorhergegangenen Befragungen übersät, sein von einem struppigen Bart bedecktes Antlitz war schmerzvoll verzogen. Leo kamen Leidensdarstellungen Christi in den Sinn, denen der Gemarterte glich, er schob den Gedanken aber schnell beiseite.

»Und?«, fragte er den bulligen, stiernackigen Mann, der mit blutbefleckter Schürze und einem Schürhaken in der Hand neben der Streckbank stand. »Hast du etwas aus ihm herausbekommen?« Leo unterdrückte seine Aufregung.

»Leider nein, Heiliger Vater.« Der Kerkermeister schüttelte den Kopf. Leo kannte ihn von früheren Torturen her, er stammte aus den Marken, wo er schon dem berüchtigten ­Cesare Borgia zu Diensten gewesen war. Der Mann galt als einer der Besten seines Fachs, noch dazu verschwiegen wie ein Grab, doch offensichtlich war auch er mit seinem Latein am Ende.

»Er brabbelt nur noch sinnloses Zeug«, erklärte der Kerkermeister schulterzuckend. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass er wirklich etwas gewusst hat. Er ist ein Betrüger, wie so viele vor ihm.«

»Ein Betrüger, hm? Nichts als ein verdammter, dreckiger Betrüger …«

Der Papst gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Er trat näher und musterte das von schwärenden Wunden und blauen Flecken entstellte Gesicht des Gefangenen. Sämtliche Zähne waren ihm gezogen worden, einer nach dem anderen, ebenso wie die Finger- und die Fußnägel. Er hatte nichts mehr gemein mit jenem hochfahrenden, lautsprecherischen Kerl, der noch vor Kurzem auf den römischen Plätzen sein Können angepriesen hatte. Zitternd öffnete er den Mund und lallte etwas, ein dünner Faden von Speichel und Blut rann aus seinem Mundwinkel.

»Ver … Vergebung, Herr …«, brachte er mühsam hervor. »Vergebung …«

Angeekelt wandte sich Leo ab. Am liebsten hätte er der jämmerlichen Kreatur einen Tritt verpasst, doch das gehörte sich nicht für den mächtigsten Mann der christlichen Welt. Dabei hätte er sich eigentlich denken können, dass sich auch dieser Versuch am Ende als Sackgasse herausstellen würde, so wie so viele zuvor! Aber die Quellen waren vielversprechend gewesen, und er hatte sichergehen wollen. Er musste jeder möglichen Spur folgen.

Leo atmete tief durch und versuchte dabei, den infernalischen Gestank zu ignorieren. Nun, glücklicherweise gab es immer noch Hoffnung. Erst vor ein paar Tagen hatte sich ein neuer Weg aufgetan, ein besonders verheißungsvoller. Trotz der eben erlittenen Niederlage spürte Leo tief im Herzen, dass er seinem Ziel ganz nahe war. Ihm war, als hätte Gott im Traum zu ihm gesprochen. Ja, schon bald würde er das Geheimnis erfahren, er hatte es sozusagen aus erster Hand. Und nun, nachdem dieser letzte Pfad sich als Irrtum erwiesen hatte, gab es ohnehin keine andere Möglichkeit mehr. Leo konnte nur hoffen, dass keiner den Mann, den er so sehnlichst suchte, vor ihm aufspürte.

Jenen Mann, der wohl als Einziger auf der Welt das so gut gehütete Geheimnis kannte.

Nur noch kurze Zeit, dachte der Papst wehmütig. Der Herr prüft meine Geduld …

»Schafft das hier weg«, befahl er dem Kerkermeister und deutete auf das zitternde Bündel auf der Streckbank. »Und sorgt dafür, dass ihn keiner findet.«

»Gnade!«, schrie der Gefangene und rüttelte an seinen Ketten. Er versuchte, sich aufzurichten, woraufhin er vor Schmerzen erneut laut aufschrie. »Gnade! Ich … ich weiß es! Bei Gott, ich schwöre, ich weiß es! Bitte …«

»Du hattest deine Chance«, murmelte Leo im Weggehen. Gleichzeitig dachte er daran, dass er kein Risiko eingehen durfte, nicht das geringste. Die Sache war zu wichtig – für ihn, für die heilige Mutter Kirche, für die ganze Welt. Als er die Wachen passierte, winkte er einen der Soldaten zu sich heran.

Mit einer leichten Handbewegung deutete Leo auf den stämmigen Kerkermeister, der eben den Schürhaken in die Glutpfanne tauchte.

»Sein Dienst ist beendet«, raunte er dem Soldaten zu. »Für immer. Kümmert euch darum, und es soll euer Schaden nicht sein. Seinen Leichnam versenkt mit dem anderen im Tiber, verstanden? Eingenäht in einen Sack mit Steinen. Es muss so sein, als hätte er nie gelebt.«

Der Wachmann nickte schweigend, und Leo drückte ihm ein glitzerndes Goldstück in die Hand. Dann stieg er schnaufend und schwitzend die vielen Treppen wieder nach oben, wo ihn Licht, betörender Veilchenduft und die Gnade Gottes erwarteten.

O ja, es gab noch viel zu tun.

Erster Akt:
Der Atem des Biests