David Rousset

Das KZ-Universum

Mit einem Nachwort von Jeremy Adler

Aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel

Verlagslogo

Für Marcel HIC, Roland FILIÂTRE, Philippe FOURNIÉ, die über Jahre meine Kampfgefährten waren

Für Pierre MARTIN, meinen engsten Freund in der KZ-Gesellschaft

Ihre Freiheit, mein lieber Freund, ist so schlicht, dass sie nicht einmal eine gute Schneckengabel abgibt: Die hat nämlich zwei Zinken. Und ich bin an die Wand geschmiedet. Gute Nacht. Falls der Komet, den Sie schweifen lassen werden – als kundige Meteorologen wissen wir das –, nicht hell genug leuchtet, gehen auf unseren Befehl draußen Gaslaternen an. Von Kälte, Hunger und Leere umgeben, werden Sie sehr weit sehen. Für uns ist es jetzt Zeit zu ruhen. Unser Kerkermeister wird Sie hinausbegleiten.

Alfred Jarry (Ubu Enchaîné)

Es gibt eine Verordnung von Göring über Maßnahmen zum Schutz der Frösche.

I

Die Tore öffnen und schließen sich

Die große, abgeschiedene Stadt Buchenwald; der kleine Ferienort Porta Westfalica an der Weser, zwischen hohlen Hügeln, unter deren Wurzelreich und Bäumen allmählich Fabriken entstehen; Neuengamme, das zerstörte Hamburg in Sichtweite, eine Vielzahl von Betriebshöfen im weiten Raum um den Kanal und den Hafen (Klinker, Metallwerke, Industrie, Messap); Helmstedt, im Kreis hockende, zwischen eitrigem Abfall versteckte Industriebauten, offen sichtbar aufgestapelte Bomben- und Torpedokisten, Weizen- und Senffelder und über der Ebene die hohe, schwarze Silhouette des Förderturms; fünfhundert Meter unter der Erde der prächtige Aufmarsch der Drehbänke und Fräsmaschinen zwischen farbig funkelnden Salzblöcken; versprengte Waggons auf zerstörten Schienen jenseits des leblosen Gesteins, in den leeren Räumen des Hungers, durch die von Zeit zu Zeit der Ruf des nahen, aber nie ganz greifbaren Krieges dringt; wie ein Geschwür im Wald das Lager Wöbbelin bei Ludwigslust, ein Skelett aus nackten Mauern und dazwischen, auf dem Lehmboden, getrocknete Exkremente neben verstreut herumliegenden Leichen: ein langer Weg, Erfahrungsmaterial aus sechzehn Monaten.

Männer aller Nationen, Männer aller Überzeugungen, denen Wind und Schnee in den Nacken klatschten und die Eingeweide gefrieren ließen, im Takt einer gellenden Marschmusik, die wie heiseres, höhnisches Fluchen klang, unter den blinden Scheinwerfern auf dem Appellplatz, in den eisigen Nächten von Buchenwald; Männer ohne jede Überzeugung, hart und ausgemergelt; Männer, deren Glauben zerstört, deren Würde vernichtet war; ein ganzes Volk von nackten, innerlich nackten, jeder Kultur und Zivilisation entblößten Menschen, mit Spitz- und Kreuzhacken, Hämmern und Schaufeln bewaffnet, an rostige Loren gekettet, zum Salzbohren, Schneeräumen, Betonmischen verdammt; ein von Schlägen gepeinigtes, von einem Paradies vergessener Speisen delirierendes Volk, die innere Spur der Zerrüttung – all diese Menschen in all dieser Zeit.

Bizarre Figuren mit phantastisch vergrößerten Schatten, aus klaffendem Schlund dringt verrenktes Gelächter: grotesker, sturer Überlebensdrang.

Der Geist König Ubus schwebt über dem Lager. Buchenwald lebt im Zeichen eines monströsen Humors, einer tragischen Komik. Unwirkliche Bahnsteige im Morgengrauen, im ungefilterten, neutralen Flutlicht, großspurige SS-Leute in Stiefeln, den Gummi am Handgelenk; bellende Hunde an lockerer Leine; die Männer bücken sich, um aus dem Waggon zu springen, weichen von Schlägen überrumpelt und geblendet zurück, prallen zusammen, drängeln, stoßen sich ab, fallen, torkeln barfuß über den schmutzigen Schnee, gelähmt vor Angst, von Durst gepeinigt, mit steifen, irren Gesten, wie stockende Maschinen. Dann, ohne Übergang, die SS-Leute in der Falltür; große, helle Räume, klare Linien, korrekte, selbstsichere Häftlingsfunktionäre, mit Karteikarten, mit Nummern, in beruhigender Gleichgültigkeit; elektrische Rasierer in straffer, militärischer Formation legen überrumpelte Körper bloß, einen nach dem anderen, präzise und unerbittlich wie ein mathematisches Spiel; das obligatorische Tauchbad in zähem, schwarzem Lysol, das in den Augen brennt; die erhebende Dusche und die großspurige Zufriedenheit all der naiven Hampelmänner, die sich darüber glücklich schätzten; endlose Karawanen durch enge, gewundene Flure, und dann plötzlich riesige Räume: auf parallelen Theken stapelt sich ein Sortiment abgelegter Kleider, plumpe Kreationen einer betrunkenen, mörderischen Schneidertruppe, im Vorbeigehen aufgesammelt, schnell, immer schnell: ein Modehaus im Elendsviertel. Und wieder Büros, in denen sich noch mehr Funktionäre drängen, geschäftige, tadellose Gefangene mit grauen, ernsten Gesichtern, Ausgeburten einer kafkaesken Welt, die höflich nach Namen und Adresse der im Todesfall zu benachrichtigenden Person fragen und alles sehr bedächtig auf bereitgelegten kleinen Karteikarten notieren.

Vorwärts in den Schlamm drängt die Herde, zwischen hohen, blinden Fassaden, die schwer auf der Nacht lasten. Knöchel knicken um auf flachen Holzschuhen. Aus den Wänden sickert Licht, sie wachsen ins Unermessliche. Aufeinander gestützt tasten die Gruppen sich zu den Blocks vor. In einer lächerlichen Stunde hat der Mensch seine Haut eingebüßt. Gewissenhafte Funktionäre haben ihm, ohne Maß zu nehmen, seine KZ-Person zugeschnitten. Es bleibt die Quarantäne, um seine Reflexe zu konditionieren.

Abend für Abend im Graben zwischen zwei Blocks, die Männer stehen starr und stumm, ringsum Schnee, und von der Steintreppe herab tönt der immer gleiche, monotone Spruch: »Herhören, Franzosen …« Unermüdlich traktiert die schleppende, gleichmäßige Stimme die Gehirne und Nerven. »Ihr seid hier nicht im Sanatorium, sondern in einem Konzentrationslager.« Die Wiederholung verleiht den Sätzen Nachdruck, und hinter jeder Anweisung lauert das Schreckgespenst, das Gehorsam erzwingt, das Ungeheuer mit den Fangarmen: das Krematorium. Die kahl rasierten Köpfe taumeln seit Tagen, sie wissen nur, dass sie eine wohl einmalige Welt verloren haben, die irgendwo noch existieren muss, verborgen hinter dem Hochspannungszaun, hinter endlosen, leeren, von aufgerissenen Schienen durchzogenen Weiten.

Die Neuankömmlinge werden geimpft. Der Befehl kommt sehr früh am Morgen und schon zum dritten Mal. Die Häftlinge sind im Schlafraum zusammengepfercht und seit einer Stunde nackt, in ständiger Zugluft. Die zerbrochene Fensterscheibe gibt den Blick auf einen Eisplaneten frei: die in Schnee und Wirbelstürme gehüllte Welt von Buchenwald, und dahinter, jenseits der Wachtürme, verschneite Tannenhügel, die wie Weihnachtspostkarten aussehen. Die Gefangenen schlagen sich auf den Rücken, kämpfen gegen die Kälte. Mit einem Windstoß öffnet sich die Tür des Speisesaals, drei Sanitäter stürzen herein, komische, aufgeregte Figuren, die die leeren Tische beiseiteschieben. Der erste setzt nachlässig einen gelben Schnitt auf jeden Arm, der zweite sticht, sticht, sticht, wie eine Maschine. Sie arbeiten im Akkord und sind sehr schnell fertig. Die Nadel wurde kein einziges Mal sterilisiert.

Während der Quarantäne gibt es keine Arbeit, nur Fron: Die Muskeln müssen gebrochen werden, müssen lernen, auf Befehle zu reagieren. Am Rand des Steinbruchs zeichnen sich lange Reihen von Menschen ab. Wie ein offener Krater liegt er da; der Wind stürmt gegen seine Flanken und rast über die ferne, immer wieder neu erstehende Landschaft. Wie durch dickes Glas sieht man in unermesslicher Ferne, in einem anderen Sonnensystem, einen fahrenden Zug, vereinzelte Dörfer auf den Hügeln, Rauchfahnen vor dunstigem Himmel, Wälder und die hellen Tupfer der Felder, zitternd wie in tiefem Wasser. Die Leere ist erfüllt von Flüchen und Schreien. Die Männer rutschen aus und versinken in Löchern voll Schlamm. Einen guten, möglichst leichten Stein aussuchen und damit ins Lager zurückkehren, in Reih und Glied, während die langsamen Stunden vergehen.

Schmale, schwarze Silhouetten am Rand des Plateaus, gebeugt unter Schneeböen, von denen sie begraben und wieder freigelegt werden; die Männer tragen, schleppen, schieben Kisten, Fässer, Schubkarren voll Scheiße. Die Scheiße wird in große Becken gepumpt und vierhundert Meter weiter in den Gärten der SS verteilt. Der Weg ist ein holpriger, vereister Trampelpfad, auf dem die Füße keinen Halt finden. Die Muskeln verkrampfen sich vor Müdigkeit. Gesichter und Hände rot vor Kälte. Die Vorarbeiter brüllen und dreschen. Pausenlos kreuzen sich die Kolonnen, schwankend im Wind, zwölf Stunden ohne Unterbrechung.

II

Die Erstgeborenen des Todes

Seit zwei Wochen sind die Listen geschlossen, aber noch ist nichts geschehen. Plötzlich, abends um sechs, ist der Befehl da. Dreitausend Männer müssen sich ärztlich untersuchen lassen und die blau gestreifte Transportkluft anlegen. Endloses, regloses Warten. Der Schnee hinter den Mauern wird schwarz, in weiten Abständen blitzen Scheinwerfer auf, Leuchtfeuer an einem fernen Strand. Die Männer treten ins warme Zimmer, den Oberkörper entblößt. Der SS-Mann hat sich in einen Sessel fallen lassen. Seine Stiefel glänzen. Bequem zurückgelehnt, die Beine hoch auf dem Tisch, raucht er eine Zigarre. Neben ihm zwei zum Bürodienst eingeteilte Häftlinge, tief über ihre Papiere gebeugt, unterwürfig und ehrfurchtsvoll wie altägyptische Schreiber. Ein Sanitäter führt die KZ-Menschen vor, einen nach dem anderen. Seine Bewegungen sind knapp, bei jedem, der vortritt, taxiert er mit einem kurzen Blick das nötige Maß an Unterwerfung. Und stellt rasch die üblichen Fragen. Ebenso rasch knöpft er Hosen auf, prüft Bauchmuskeln. Er ist flink und ergeben, lässt seinen Meister nicht aus den Augen. Der SS-Mann hebt ein schweres Lid, wirft einen kurzen, ausdruckslosen Blick auf den Inhaftierten, lässt eine Rauchspirale aufsteigen und deutet ein Winken an: »Der Nächste.«

Draußen tritt eine dunkle Menschenmenge auf der Stelle. Bis spät in die Nacht hört man stumpfes, rhythmisches Klatschen auf Schenkel und Rücken – ein vergeblicher Kampf gegen die Kälte. Und es folgen noch lange, leere Tage bis zur Abfahrt.

In Neuengamme machen die Meister es besser. Die Männer sind im Hof zwischen dem Revier und den Duschen eingepfercht. An den Ausgängen halten Kapos und Vorarbeiter Wache. Die Menge bewegt sich in unruhigen Wellen. In regelmäßigen Abständen sausen Schlagstöcke auf die schlaffen Körper nieder. Funktionäre brüllen. Stiefel treten. Die Kleider in Haufen auf dem Gelände, die Männer nackt.

Brust an Brust, Rippen gegen Rippen gepresst, passen fünfzig Mann in den Duschraum. Schweiß rinnt über die Körper. Lippen verzerren sich. Schwerer Dampf, widerwärtiger Gestank. Die drei- oder vierhundert anderen ballen sich zu einer Kugel vor der Tür. Ein Insektenschwarm, der auf Wachs festklebt. Das Zucken und Treten dieser zähen Masse, die wortlosen Fausthiebe, das Schreien und Fluchen – auf Russisch, Deutsch, Polnisch und Französisch. Nackte Körper, kältegepeitscht, versinken zwischen anderen nackten Körpern. Man muss sich losreißen, sich hochrappeln, sich verzweifelt an eine Schulter klammern. Die dichte Masse wogt vor und zurück, taumelt und wimmert. Wehe dem, der als einer der Letzten herauskommt: Er wird sein Messer, seinen Löffel, seine Schuhe, seine Hose oder Jacke nicht wiederfinden. Und am Ende des Wegs erwarten ihn unausweichlich Schläge. Aber der Transport ist bereit.

Die Männer stehen am oberen Ende des Appellplatzes, in der Nähe des Haupteingangs, und warten auf die Waggons. Zum hundertsten Mal werden sie gezählt. Zu ihren Füßen die große, stille, geschlossene Stadt. Ein riesiges Gelände, umspannt von einer elektrischen Chinesischen Mauer mit Türmen und Maschinengewehren über dunklen Tannensilhouetten, die einander von Weitem antworten. Massive Steinquader, Zeugnis eines für die Ewigkeit gebauten Gehenna. Holzbaracken auf ansteigenden Terrassen. Ganz unten am Hang das Bordell und das Revier, und der steinerne Block 46 für die Versuchskaninchen. Steinhauer sitzen im Schnee: frostwunde Lider, starre Oberkörper, mechanische Bewegungen, leere Gesichter. Eine Prostituierte kommt am Arm eines Kapos lachend den Hang herauf. Der SS-Hund, ein Rassetier voll natürlicher Würde, beschnüffelt bissig-gleichgültig die zum Transport Eingeteilten. In der grauen Luft der Rauch des Krematoriums. Der Zirkusbär in seinem Zwinger am Waldrand, auf der anderen Seite der Straße, ist traurig. Die Männer warten. Morgen beginnt die Arbeit im Bergwerk, ein paar hundert Kilometer von hier.

III

Gott sagte, es wird ein Abend und ein Morgen sein

Jeden Morgen vor Tagesanbruch der Sklavenmarkt. Die Gummi prügeln auf Schädel und Schultern ein. Fäuste prallen gegen Gesichter. Endlos treten die Stiefel, schwarz, blau und gelb sind die Rücken. Donnernde Beschimpfungen. Männer rennen und verlieren sich im Getümmel. Manche weinen. Andere schreien. Die KZ-Menschen rempeln sich an, fluchen, bis sie heiser sind, sie scheuchen einander von einem Kommando zum nächsten. Langsam bricht der Tag an, kalt zu jeder Jahreszeit. Die Arbeitsmannschaften werden aufgestellt. Kapos und Vorarbeiter, Sklaventreiber. Ihr Morgenrausch: schlagen, schlagen, bis die Erschöpfung sie zur Ruhe bringt. Um vier Uhr durchsieben Pfiffe den Schlaf. Der Schlagstock rüttelt die Träumer wach. Die Luft im Schlafsaal ist klebrig. Beleidigungen läuten den Tag ein, auf Französisch, Russisch, Polnisch, Deutsch, Griechisch. Das lange zusammengepferchte Warten, unter Gebrüll und Gerempel, auf Brot und warmes Wasser. Und weiter, zu fünf. Kurz vor sechs kommt ein SS-Mann die Arbeitsmannschaften inspizieren. Breitbeinig steht er vor den grauen Männern, eine Faust in die Seite gestemmt, in der anderen Hand die Peitsche, ein langer geflochtener Lederriemen. Seine Stiefel glänzen, blank und sauber, kein einziger Schlammspritzer.

Der ganze langsame, schwere Tag besteht aus ängstlichem Warten und Hunger. Schaufeln, Hacken, Loren; dickes Salz in Mund und Augen; Blöcke, die wegzuschaffen, Schienen, die zu verlegen sind, Beton, der gemischt, transportiert und gegossen, Maschinen, die geschleppt werden müssen, und SS-Leute, Kapos, Vorarbeiter, Meister, Wachen, die schlagen, wie am Morgen, bis die Erschöpfung sie zur Ruhe bringt.

Als die Amerikaner vorrücken, wird man die Gefangenen zu einer sinnlosen Flucht ins Nirgendwo zwingen – hundertfünfzig, hundertsechzig Männer in einem Waggon, mit monströsem Hunger im Bauch und Angst in jeder Muskelfaser. Für zehn Gramm Brot, für ein bisschen Platz bringen die Häftlinge sich in den Nächten gegenseitig um. Am Morgen liegen Leichen in den Straßengräben, übersät mit Blutergüssen. In Wöbbelin müssen Wachen mit Knüppeln bei den Toten aufgestellt werden: Wer das kümmerliche, stinkende Fleisch der Leichen isst, wird erschlagen. Unglaubliche Gerippe mit leeren Augen tasten sich blind über stinkenden Unrat. Sie lehnen sich gegen einen Pfosten und bleiben mit gesenktem Kopf stehen, still und stumm, eine Stunde, zwei Stunden. Irgendwann sackt der Körper zusammen. Aus dem lebenden Leichnam ist ein toter geworden.

In der Dunkelheit bilden die Männer Fünfergruppen. Überall liegt Schnee. Die Scheinwerfer des Haupttors brüllen im Sturm wie die mächtigen Hörner der Barbaren. Fünfundvierzigtausend Gefangene strömen zum Appellplatz. Abend für Abend, unweigerlich. Die Lebenden, die Kranken und die Toten. Verwünschungen zerfressen die Lippen, sie verstummen vor den Göttern des Haupttors. Ein ironisches Narrenorchester spielt einen langsamen Marsch für ein verstörtes Volk. Es ist ein Universum für sich, abgeschottet von allem, ein seltsames Reich, in dem eine mit nichts zu vergleichende Notwendigkeit herrscht. Der Abgrund der Lager.