Sie hat wirklich behauptet, die eine zu sein? Unfassbar!«
»Sie hat versucht, den Kronprinzen anzugreifen.«
»Nicht auszudenken …«
»Ich war zum Glück zur Stelle«, erklang es dumpf durch die Tür aus dem Korridor, gefolgt von begeisterten Heucheleien und warmem Kerzenschein, der durch den Türschlitz des Kerkers glomm und die Dunkelheit brach. Schlüssel klirrten, dann schwang die eisenverstärkte Holztür auf und ein goldenes Rechteck fiel auf den verdreckten Boden.
Cinderella trat aus dem Schatten, den Kopf eingezogen. Sie verbarg ihre Beklemmung so gut sie konnte, ebenso die aufkeimende Hoffnung. Wie lange sie bereits in dem Verlies ausharrte, in das der Kronprinz sie hatte werfen lassen, entzog sich ihrer Kenntnis. Es mochte mitten in der Nacht oder bereits der nächste Morgen sein.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie mit rauer Stimme.
Der Wächter schielte zu der Frau an seiner Seite. Goldreife klimperten an ihren Armen, als sie ein spitzenbesetztes Taschentuch vor die Nase hob und darüber Cinderella warnend fixierte. »Was hast du dir nur gedacht? Wie das meinem Ansehen schaden könnte, käme heraus, dass meine Zofe mich derart beschämt hat.« An den Wächter gewandt fügte sie hinzu: »Ich kann doch auf Eure Verschwiegenheit zählen? Mein Dank ist Euch gewiss. Und natürlich auch Eurer Gattin, die – so habe ich gehört – delikate Törtchen backt?«
»Die besten des westlichen Viertels«, bestätigte er stolz.
»Welch Freude wäre es, könnte sie für eines meiner Feste backen! Nächste Woche gebe ich eine bescheidene Teegesellschaft. Wäre das zu übereilt?«
»Keineswegs«, versprach der Wächter übereifrig.
»Fabelhaft!« Die Adelige wedelte mit der Hand. »Nun, meine Zeit drängt.«
»Ihr wollt sie wirklich mitnehmen?«
»Colette ist meine beste Zofe.«
Der Wächter zögerte, die Schlüssel in seiner Hand klimperten nervös »Sosehr es mir danach strebt, Euch zu dienen, gnädigste Fürstin, sie hat den Kronprinzen angegriffen.«
»Kann man da wirklich von einem Angriff sprechen?«
»Nun, es war zumindest …«
»Seht sie Euch an«, unterbrach ihn die Fürstin und musterte Cinderella geringschätzig. »Sieht so eine Feindin des Königreiches aus? Sie ist eine Zofe, seit Jahren in meinem Dienst.«
»Das mag stimmen, dennoch …«
»Ich brauche sie«, jammerte die Fürstin. »Keine meiner Bediensteten reicht an ihre Künste heran. Ohne sie kann ich mich unmöglich zeigen – die Teegesellschaft! Ich wäre untröstlich.«
»Oh«, machte der Wächter und dann noch einmal, als er verstand: »Oh! Nein, nein, die Teegesellschaft muss stattfinden – und wenn Ihr dafür die Hilfe Eurer Zofe braucht …«
»Ich wusste, Ihr würdet verstehen.« Und tatsächlich, wenngleich sichtlich befangen, trat der Wächter beiseite. Er sah zu Boden, als die Fürstin mit spitzen Füßen in die Zelle stakste, die Brauen angewidert hochzog und Cinderella umkreiste. »Du siehst aus, als habe dich die Nacht in dieser Zelle gezähmt; das sollte Strafe genug sein – vorerst«, fügte sie mit einem honigsüßen Lächeln hinzu, ehe sie zur Tür wies.
Cinderella zögerte. Der Wächter räusperte sich.
Die Augen der Fürstin verengten sich zu Schlitzen: »Sagt, Hauptmann, vermag Eure Gattin auch Torten in Tierform zu backen? Der Fürst ist ein begeisterter Jäger; jedes Jahr verlässt er mich, um an der königlichen Hatz teilzunehmen.«
»Tierformen? Das lässt sich gewiss arrangieren.«
»Seid Ihr selbst ein leidenschaftlicher Jäger?«
»Ich?«, fragte der erschrocken. »Nun, bisher hatte ich niemals die … die Ehre, zu einer Jagdgesellschaft geladen zu werden.«
»Vielleicht sollte ich meinen Gatten bitten, Euch bei der nächsten Jagd als Beistand auszuwählen. Wäre das nicht wunderbar?«
»Wunderbar«, krächzte der Wächter.
Cinderella verstand sofort: Der Jäger, nur er konnte diese Frau geschickt haben. Wer sonst wusste von ihrer Not? Die Zofe Colette – eine weitere Rolle, die sie zu spielen hatte. Der Schlüssel zu ihrer Freiheit? Mit klopfendem Herz folgte sie der Fürstin aus der Zelle. Die Tür krachte ins Schloss, der Schlüssel klirrte. Der Wächter eilte samt Fackel voraus, vielleicht fürchtete er, sollte er noch länger mit ihnen sprechen, tatsächlich in den Blutwald zu müssen.
Es war keine Ehre – es war ein Todesurteil.
Wie oft hatten Cinderella die Schreie wach gehalten? Das Stöhnen derer, die Leib und Blut – vor allem Blut – dem Wald opferten. Halb verfault im Erdreich, die Körper umschlungen von Wurzeln und Geflecht, während das Leben aus ihnen wich. Manchmal dauerte es nur Stunden, manchmal Wochen oder gar Monate.
Magie hatte ihren Preis. Wie alles im Leben.
Während sie der Fürstin durch den feuchten Zellentrakt folgte, fragte sie sich, ob die Opfer, die sie hierhergebracht hatten, vergebens gewesen waren. Oder ob sie eine zweite Chance bekam, zu richten, was sie in einem Moment der Schwäche zerstört hatte. Der Anblick des Wüstenkönigs war zu viel gewesen. Sie hatte Duncan in ihm erkannt. Seine Gesichtszüge, sein weizenblondes Haar. Seine Zukunft – und ihre eigene.
Vor ihnen öffnete sich der Trakt zu einem kreisrunden Schacht, an dessen Wand kalkweiße Stufen gen Höhe führten wie das Rückgrat eines Skeletts, hinaus in die ewige Stadt Maywaters, die vom Zorn der Himmlischen verschont geblieben war.
Die Stadt, die zu beherrschen sie bestimmt war.
Auserkoren. Auserwählt.
»Für den Frieden«, flüsterte sie und bestieg die Knochentreppe, von der muffige Korridore in die Finsternis abzweigten, versperrt durch rostige Eisengitter. Hinter einem von ihnen kauerte ein Kind. Es hob die Hand, um sich vor dem Fackelschein abzuschirmen, die Haut so durchscheinend und bleich, als hätte es noch nie die Sonne erblickt.
»Beeil dich«, drängte die Fürstin.
Cinderella blieb vor dem Gitter stehen. »Woher kommt das Kind?«
Der Wächter sah nicht einmal zurück. »Sie graben sich von außen in die Klippen und besetzen unerlaubt die stillgelegten Gefängnistrakte. Daher die Gitter. Fehlt mir gerade noch, dass sie hier frei herumspazieren – wir sind kein Wohlfahrtsheim.«
»Die Kinder leben dort?«, fragte Cinderella entsetzt.
»Platz ist Mangelware.« Der Wächter zuckte mit den Schultern »Manche von ihnen hausen in den alten Verliesen, andere in verlassenen Piratenhöhlen. Was sich eben findet.«
Ungerührt eilte er weiter, die Fürstin folgte. Cinderella hingegen fiel es schwer, sich von dem Kind zu lösen – und während sie unschlüssig verharrte, schälten sich weitere Schemen aus dem übel riechenden Dunkel des Ganges. Noch mehr Kinder, ein Mädchen mit Säugling, verdreckte Frauen, erschöpfte Männer. Still und leise, als hätte ihnen das Schicksal nicht nur die Sonne, sondern auch die Stimme geraubt. Schmutzige Finger umfassten die Stäbe. Dürre Arme streckten sich ihr entgegen, lechzten nach Berührung und nach etwas anderem, das sie ihnen nicht geben konnte. Hoffnung?
»Bist du es?«, krächzte das Mädchen mit dem Säugling im Arm. »Wir haben die Wärter über dich reden hören. Bist du die eine, nach der er suchen lässt? Der Kronprinz?«
»Ja«, sagte Cinderella. »Die bin ich.«
»Colette«, rief die Fürstin.
Das Gesicht des Mädchens leuchtete auf, sie zitierte etwas, das wie ein Gebet klang:
Wenn sich ein Antlitz unter einem anderen verbirgt,
Herzen in Schwärze ertrinken
und Blut über Blut siegt;
wird sie kommen,
die eine, die der König sucht.
Zu bannen die Hitze.
Zu brechen den Fluch.
Die eine …
»COLETTE!«
»Du wurdest uns angekündigt«, flüsterte eine Frau. »Du wirst uns retten.«
»Retten? Wovor?«
»COLETTE!«
»Vor der Wüste«, flüsterte das Mädchen. »Sei gesegnet.«
»Sei gesegnet«, wisperten auch die anderen – und an jedem Verlies, an dem sie auf ihrem Weg die Treppe hinauf vorbeikam, streckten sich ihr Hände und Segenswünsche entgegen. Leises Murmeln, das unterirdisch wuchs und schon bald die ganze Stadt erfüllte.
Sei gesegnet … sei gesegnet …