image1
Logo

Die Herausgeberin

Dr. phil. habil. Christiane Wempe (eh. Papastefanou)

Studium der Psychologie an der Freien Universität Berlin, dort 1987 Promotion zum Dr. phil.

2000 Habilitation an der Universität Mannheim für Entwicklungspsychologie.

Forschungsschwerpunkte: Familien- und Klinische Entwicklungspsychologie.

Lehrstuhlvertretungen an der Universität Siegen, Universität Kassel sowie an der PH Karlsruhe.

Psychotherapeutische Tätigkeit in eigener Praxis in Ludwigshafen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene; Ausbildung in Person-zentrierter Psychotherapie und Verhaltenstherapie.

Supervisorin und Dozentin am IFKV Bad Dürkheim.

Christiane Wempe (Hrsg.)

Krisen und Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2013: Christiane Papastefanou (Hrsg.), Krisen und Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen

2. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034174-6

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-034175-3

epub: ISBN 978-3-17-034176-0

mobi: ISBN 978-3-17-034177-7

Geleitwort

 

 

 

Kindheit und Krise? Da passt auf den ersten Blick etwas nicht zusammen, ja, man möchte hier sogar einen »Widerspruch in sich« – ein Oxymoron – erkennen: Kindheit setzen wir gleich mit der Unbeschwertheit, dem Behütetsein der frühen Jahre. Kinder erwarten voller Zuversicht den nächsten Tag, sie sind gefangen in ihren Träumen und ihrem Hoffen, in ihrem »unrealistischen Optimismus«, sie berühren uns mit ihrer Arglosigkeit und ihrem Erkundungsdrang. In einer so verstandenen Kindheit kommt »Krise« nicht vor.

Das gilt auch umgekehrt, wenn man die Forschung zu »Krisen und kritischen Lebensereignissen« beleuchtet: Auch diese Forschungsarbeiten haben die Kindheit nicht in den Blick genommen. Krise hat (scheinbar) etwas mit dem Erwachsenenalter zu tun: Die Rede ist beispielsweise von der »Krise in der Mitte des Lebens«, oder das hohe Alter wird als eine Phase dargestellt, in der sich gravierende (negative) Veränderungen im Leben vollziehen und viele von diesen eine krisenhafte Zuspitzung erfahren. Die Krise des (mittleren und höheren) Erwachsenenalters hat – ganz nach ihrer etymologischen Herleitung – immer etwas damit zu tun, dass zu einem definierten Zeitpunkt ein dramatischer Geschehensablauf kulminiert (vgl. etwa die »Fieberkrise« des Mittelalters) und sich dieses Geschehen (irreversibel) zum Guten oder zum Schlechten wendet: »Krisen als Wendepunkte« im Leben der Erwachsenen.

Wie die Kindheit, so verknüpfen wir auch das Jugendalter nicht spontan mit »Krise« in dem genannten Sinne. Zwar handelt es sich bekanntlich um eine Lebensphase, in der eine Vielzahl von Anforderungen bewältigt und Entwicklungsaufgaben der unterschiedlichsten Art abgearbeitet werden müssen – es müssen gleichsam die »Eintrittskarten« in das Erwachsenenalter erworben werden, und nicht selten zahlen Jugendliche dafür einen hohen Preis. Doch sind wir in aller Regel geneigt, die damit einhergehenden, oft dramatischen Veränderungen im Verhalten und Erleben der Jugendlichen als Ausdruck eines »normalen« Entwicklungsverlaufs zu sehen. Ja, wir stellen es letztlich als eine Besonderheit des Jugendalters heraus, dass das Leben in dieser Zeit durch so viele Umwälzungen, Transitionen und »first-time experiences« charakterisiert sei und dass es eben schon deshalb nie »glatt« verlaufen könne. Krise als (dramatischer) Wendepunkt ist damit zumeist nicht mitgedacht.

Und doch sind wir natürlich nicht blind dafür, dass sich auch über dem Leben von Kindern und Jugendlichen dunkle Wolken bilden – dass Kinder ihrer Geborgenheit beraubt werden, dass sie zu Opfern von Missbrauch oder Misshandlung werden, dass Kinder und Jugendliche im Strudel elterlicher Konflikte und Trennung unterzugehen drohen, dass sie sich nirgendwo mehr zugehörig fühlen können, dass sie durch Gleichaltrige gehänselt und abgelehnt oder – nicht minder schmerzlich – von ihnen ignoriert werden, dass sie in ihrem Vertrauen in andere wie auch in ihrem Selbstvertrauen tiefgreifend erschüttert werden, und dass dies alles ja so schmerzhafte Erfahrungen sind. Kurzum: Auch Kinder und Jugendliche müssen erfahren, dass ihre Welt – oft mit einem Schlag – nicht mehr jene »heile Welt« ist, die sie war und/oder die sie sich erträumt hatten. Kritische Lebensereignisse und krisenhafte Erfahrungen sind eben nicht auf die Jahre des Erwachsenenalters beschränkt – wir haben dies bislang nur nicht gebührend in empirische Forschungsprogramme umgesetzt, die unter diesem Etikett, d. h. der Erforschung kritischer Lebensereignisse oder Lebenskrisen in Kindheit und Jugend, firmieren.

Denn natürlich wissen wir auch (nicht erst seit Freuds Psychoanalyse), dass die Kindheit einen langen Arm besitzt. Wir wissen, wie frühe negative Erfahrungen und Erschütterungen des Selbst- und Weltverständnisses in der Kindheit und im Jugendalter nicht nur proximale, sondern auch distale Wirkungen bis in das Erwachsenenalter hinein zeitigen, wie sie Pfade in ein unglückliches Leben eröffnen und andere Pfade in ein glücklicheres Leben oft dauerhaft verschließen. Vermutlich hat der lange Arm der Kindheit (auch) damit zu tun, dass es häufig nicht (nur) die singulären kritischen Ereignisse im Leben von Kindern und Jugendlichen sind, die temporäre Zustände des Ungleichgewichts, der Orientierungslosigkeit und des Erlebens einer »Krise« erzeugen (weshalb wir eben Krise nicht spontan mit Kindheit und Jugend assoziieren). Vielmehr erweisen sich kritische Ereignisse in den frühen Jahren oft als eingebettet in und als Ausdruck von risikoreichen Entwicklungsumwelten und extrem belasteten Lebenslagen, die sich in einer Vielzahl einzelner negativer Ereignisse niederschlagen und die ihrerseits summative negative Effekte über die gesamte Lebensspanne erzeugen können. Zu denken ist dabei nicht nur an dauerhafte Beeinträchtigungen der körperlichen oder seelischen Gesundheit oder gar ein erhöhtes Mortalitätsrisiko. Beispiele dafür sind auch die »soziale Vererbung des Scheidungsrisikos« in der männlichen Teilpopulation oder die Beobachtung, dass erfahrene Misshandlung in der Kindheit transformiert wird in soziale Isolation und erhöhte Gewaltbereitschaft, die diese ehemals misshandelten Kinder nun als Erwachsene erkennen lassen.

Darüber hinaus wissen wir auch um die besonderen Verwundbarkeiten von Kindern und Jugendlichen: Sie haben noch kein gesichertes Wissen darüber, wer sie sind, was sie wollen, welche Optionen ihnen offenstehen, wohin sie gehen könnten – oft auch nicht, wem sie vertrauen und an wen sie sich in ihrem Kummer und Schmerz wenden dürfen oder könnten. Nicht selten stoßen sie bei ihrer Suche nach Nähe und Halt auf die falschen »Ratgeber«; denn sie sind – wie eigentlich Menschen jedweden Alters – in Zeiten großer Belastung und Verunsicherung so sehr empfänglich für Zuspruch und (scheinbare) Hilfe, doch nicht immer kann ihr soziales Netz dies leisten. Kinder und Jugendliche müssen erst noch jene psychischen und sozialen Ressourcen erwerben, die wir aus der Welt der Erwachsenen kennen: Selbstkomplexität, Selbstvertrauen, Fähigkeit zur Emotionsregulation, Flexibilität der Zielbindung, Selektivität in der Gestaltung sozialer Beziehungen – um nur einige zu nennen. Die Forschungslandschaft ist voll von eindrucksvollen Belegen, in welchem Ausmaß solche Ressourcen den Bewältigungsprozess im Erwachsenenalter erleichtern und Halt und Stütze bieten. Kinder und Jugendliche verfügen über diese Ressourcen noch nicht. Und auch in den Erziehungsplänen von Eltern und Schulen ist nicht vorgesehen, dass Kinder und Jugendliche auf die Schattenseiten des Lebens ausdrücklich vorzubereiten seien, wie ja auch Erwachsene sich nur ungern mit diesen Schattenseiten gedanklich beschäftigen (Stichwort »Verlustaversion«). Kinder und Jugendliche gelten in der Regel als diejenigen, die »naturgemäß« auf der Sonnenseite wachsen und gedeihen und die irgendwann und irgendwie schon noch den »Ernst des Lebens« erfahren werden. Vor diesem Hintergrund wiegt all das, was die meisten kritischen Ereignisse für die Betroffenen transportieren – Orientierungsverlust, Hilflosigkeit, Handlungsunsicherheit, tiefe Trauer, extreme Angst – auf den Schultern von Kindern und Jugendlichen ungleich schwerer als auf den Schultern von Erwachsenen. Die geläufige Rede von Krise als einem Wendepunkt, von dem aus eine Entwicklung auch hin zum »Besseren« verlaufen oder der womöglich sogar in einem (posttraumatischen) Wachstum münden könne, erhält mit Blick auf kritische Ereignisse im Leben von Kindern und Jugendlichen einen mehr als euphemistischen, ja einen zynischen Unterton.

Was folgt daraus? In der Summe all dieser Überlegungen erscheint es umso wichtiger, dass ein Buch wie das vorliegende sich der Frage widmet, wie professionelle Hilfe für Kinder und Jugendliche in schwierigen Zeiten ihres Lebens auszusehen habe und wie diese Hilfen zu gestalten seien. Diesem Buch sei eine aufgeschlossene, wissbegierige Leserschaft gewünscht, die mit ihrem praktischen psychologischen und pädagogischen Tun dazu wird beitragen können, dass Kinder und Jugendliche Widerstandskraft entwickeln und sich dem werden annähern können, von dem wir ja alle irgendwie träumen: einem guten, gar einem glücklichen Leben.

 

Trier, im Sommer 2019

Sigrun-Heide Filipp

Literaturhinweis

 

Filipp, S.-H. & Aymanns, P. (2018). Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. (2., aktualisierte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

Dank

 

 

 

Mein Dank gilt allen, die mit ihrem Engagement zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Dies sind meine beiden lang vertrauten Mitarbeiterinnen aus Mannheimer Zeiten, Rita Halder-Tasdemir und Stefanie Voultsios, die tatkräftig und kompetent an der Überarbeitung der Kapitel mitgewirkt haben. Ebenso möchte ich Annika Grupp vom Kohlhammer Verlag danken, die auch schwierige Phasen in der Überarbeitung dieses Buchs mit viel Geduld und Einsatz begleitet hat. Den alten und neuen Mitautorinnen und Mitautoren gilt mein Dank für ihr erneutes bzw. auch neues Engagement. Nicht zuletzt bin ich meiner Familie dankbar: meinem Mann, Gerold Wempe, dessen sprachliche Genauigkeit bei der Korrektur des Manuskripts sich immer wieder bewährt hat, und meinen Söhnen Phillip und Stefan, mit denen ich in den letzten 30 Jahren viele kleinere und auch größere Krisen gemeistert und daraus viel gelernt habe, was jungen Menschen in Belastungssituationen helfen kann.

 

Ludwigshafen, im Sommer 2019

Christiane Wempe (eh. Papastefanou)

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Geleitwort
  2. Dank
  3. Einleitung
  4. I Allgemeiner Überblick
  5. 1 Krisen und Belastungen, Krisenreaktionen bei Kindern und Jugendlichen
  6. Christiane Wempe
  7. 1.1 Einführende Erläuterungen
  8. 1.2 Belastungen und ihre Folgen im Kindes- und Jugendalter
  9. 1.3 Stress- und Krisenbewältigung im Kindes- und Jugendalter
  10. Zusammenfassung
  11. Weiterführende Literatur
  12. Literatur
  13. 2 Allgemeine Prinzipien der Krisenintervention
  14. Christiane Wempe
  15. 2.1 Begriffliche Erläuterungen und Standortbestimmung
  16. 2.2 Indikation und Diagnostik
  17. 2.3 Ziele, Prinzipien und Ablauf von Krisenintervention
  18. Zusammenfassung
  19. Weiterführende Literatur
  20. Literatur
  21. 3 Beziehungsgestaltung bei Krisen im Kindes- und Jugendalter
  22. Curd Michael Hockel
  23. 3.1 Erlebnisse, Erfahrungen, Notfälle, Trauerfälle, Traumata und Krisen?
  24. 3.2 Bedeutung und Herstellung einer Helferbeziehung zu Kindern und Jugendlichen in Krise: fünf Finger der helfenden Hand
  25. 3.3 Beispiel Ehescheidung – Scheitern als Herausforderung
  26. Zusammenfassung
  27. Weiterführende Literatur
  28. Literatur
  29. 4 Hypnosystemische Krisenintervention bei Krisen von Kindern und Jugendlichen
  30. Roland Kachler
  31. 4.1 Grundlagen eines systemischen, hypnotherapeutischen und hypnosystemischen Krisenverständnisses
  32. 4.2 Das hypnosystemische Verständnis von Krisen bei Kindern und Jugendlichen
  33. 4.3 Hypnosystemische Interventionsebenen und -prozesse bei Krisen von Kindern und Jugendlichen
  34. 4.4 Die Praxis einer hypnosystemischen Krisenbegleitung für Kinder und Jugendliche
  35. Zusammenfassung
  36. Weiterführende Literatur
  37. Literatur
  38. II Spezielle Krisensituationen und deren Bewältigung
  39. 5 Begleitung von Kindern und Jugendlichen bei einer Trennung bzw. Scheidung der Eltern
  40. Christiane Wempe
  41. 5.1 Einführende Erläuterungen
  42. 5.2 Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
  43. 5.3 Einflussfaktoren auf die Bewältigung
  44. 5.4 Begleitung von Scheidungskindern
  45. Zusammenfassung
  46. Weiterführende Literatur
  47. Literatur
  48. 6 Tod und Trauer
  49. Miriam Haagen
  50. 6.1 Einführung
  51. 6.2 Trauernde Kinder und Jugendliche
  52. 6.3 Verwitwete Eltern
  53. 6.4 Verwaiste Eltern
  54. 6.5 Beratende und psychotherapeutische Hilfen
  55. Zusammenfassung
  56. Weiterführende Literatur
  57. Literatur
  58. 7 Chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen unter krisentheoretischer Sicht
  59. Elisabeth Sticker
  60. 7.1 Einführende Erläuterung
  61. 7.2 Vorkommen chronischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen
  62. 7.3 Konzeptuelle Einordnung als »Entwicklungsaufgabe«
  63. 7.4 Chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen unter krisentheoretischer Sicht (allgemein)
  64. 7.5 Krisen als Erschwernisse und Chancen (speziell)
  65. 7.6 Krisenintervention bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien
  66. 8 Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen
  67. Sylvia Schaller & Armin Schmidtke
  68. 8.1 Definition suizidaler Handlungen
  69. 8.2 Epidemiologie
  70. 8.3 Entstehungsbedingungen suizidaler Handlungen
  71. 8.4 Differenzialdiagnose und Komorbidität
  72. 8.5 Diagnostisches Vorgehen
  73. 8.6 Therapeutische Ansätze
  74. Zusammenfassung
  75. Weiterführende Literatur
  76. Literatur
  77. 9 Schlusswort
  78. Christiane Wempe
  79. Literatur
  80. Internetangebote
  81. Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

Auf den ersten Blick mag die Thematik dieses Buches verwundern, gelten doch Kindheit und Jugend als unbeschwerte Zeit im Leben. Nichtsdestotrotz sind bereits Kinder und Jugendliche heutzutage vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt und reden auch selbst von ihrem Stress. Mangels ausgereifter Bewältigungskompetenzen sind Kinder Belastungen weniger gewachsen und fühlen sich schnell überfordert. Insbesondere aversive Ereignisse, die früh im Leben eintreten, erhöhen das Risiko eines negativen Entwicklungsverlaufs erheblich. Frühzeitige Interventionen bei Risikokindern (z. B. Resilienzförderung) können helfen, solchen ungünstigen Entwicklungsverläufen entgegenzuwirken.

Die Belastungsforschung ist ein bedeutsamer Forschungszweig der Psychologie und zieht sich durch mehrere Disziplinen, mit dem Fokus auf der Klinischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie. Belastungen gehören zum menschlichen Leben und lassen sich nicht vermeiden. Dabei reicht das Spektrum von kleinen alltäglichen Belastungen bis hin zu dramatischen Veränderungen, sowie von einmaligen Erlebnissen bis hin zu chronischen Belastungslagen. Insgesamt richtete sich die Forschungsaufmerksamkeit mehr auf negative Ereignisse, die das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit beeinträchtigen. Daneben gibt es auch eindeutig positiv konnotierte Ereignisse, wie z. B. eine bestandene Prüfung, die Freude und Stolz auslöst. Die erfolgreiche Bewältigung von Lebenskrisen kann auch Reifungsprozesse und Weiterentwicklungen in Gang setzen. Wie Menschen Belastungen erleben und verarbeiten, hängt von vielfältigen Einflussfaktoren ab, sowohl in der Person als auch in der Umwelt.

Der Stressbegriff – und in geringerem Maße auch der Krisenbegriff – ist zu einer Art Modewort avanciert und wird heute quasi inflationär gebraucht. In der Stressforschung bezeichnet Stress eine Diskrepanz »zwischen vorhandenen Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Einstellungen und Anforderungen, denen man mit dem gewohnten Handeln nicht begegnen kann« (Eppel, 2007, 12). Beide Begriffe sind umgangssprachlich negativ besetzt. Viele denken bei Krisen an bedrohliche Erlebnisse wie Verluste oder schwere Erkrankungen, die zu Stimmungseinbrüchen, Ohnmachtsgefühlen und Selbstzweifeln führen. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, vor allem aus entwicklungspsychologischer Perspektive, hat sich der neutrale Begriff »kritisches Lebensereignis« durchgesetzt, das positiver wie negativer Art sein kann. Mit kritischen Lebensereignissen hat sich im deutschsprachigen Raum am intensivsten die Arbeitsgruppe um Filipp beschäftigt – ihre Monographie hierzu ist bereits in der zweiten Auflage erschienen (Filipp & Aymanns, 2018). Kritische Lebensereignisse stellen Wendepunkte bzw. Einschnitte dar, die dem Leben eine neue Richtung geben können. Eine allgemein anerkannte Definition für »kritische Lebensereignisse« existiert nicht, laut Filipp und Aymanns hat sich jedoch als Minimalkonsens durchgesetzt, »… dass kritische Lebensereignisse weit außerhalb des normalen Erwartungs- und Erfahrungshorizonts und jenseits des Alltags von Menschen liegen und dass sie von heftigen Emotionen begleitet sind« (2018, S. 31).

Mit den Belastungen von Kindern und Jugendlichen haben sich im deutschsprachigen Raum vor allem die Arbeitsgruppen um Lohaus und Seiffge-Krenke beschäftigt. Die Ergebnisse von Lohaus (1990) belegen ein hohes Belastungspotential in der aktuellen Generation: 72% der 7- bis 11-Jährigen und 81% der 12- bis 18-Jährigen fühlen sich belastet. Laut Hurrelmann (1994) dominieren kindliche Belastungen in drei Lebensbereichen: Schule (z. B. Leistungsdruck, Aggression unter Schülern), Familie (z. B. Trennung der Eltern) sowie Freizeit (z. B. wenig Freiräume, viele Verpflichtungen). Auch gesundheitliche Probleme von Kindern und Jugendlichen nehmen in Deutschland zu, insbesondere chronische Erkrankungen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Außerdem leiden Kinder und Jugendliche genauso häufig an psychischen Erkrankungen wie Erwachsene, allen voran Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Depression und ADHS (Ihle & Esser, 2002).

Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig. Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen heute unter sehr unterschiedlichen Bedingungen auf. Einerseits steigt die Zahl derjenigen, die unter prekären Bedingungen leben, was ihre Lebensqualität und Bildungschancen einschränkt. Sozial benachteiligte Kinder haben ein erhöhtes Risiko für problematische Entwicklungsverläufe bis hin zur Entstehung psychischer Auffälligkeiten. Andererseits werden Kinder des höheren Bildungsmilieus von klein auf intensiv gefördert, um ihnen bestmögliche Chancen für ein erfolgreiches Leben im Erwachsenenalter zu bieten. Dies kann Kinder aber auch überfordern. Darüber hinaus sind Kinder heutzutage häufig mit der Trennung der Eltern und den damit einhergehenden Konflikten und Verlusten konfrontiert. Schließlich wird die Schule zunehmend als eine Quelle von Belastung wahrgenommen, sei es in Form von hohen Erwartungen und Leistungsdruck, aber auch durch die wachsende Verbreitung von Mobbing und Gewalterfahrungen. Nicht zuletzt verändert die starke Medienpräsenz den kindlichen Alltag massiv und birgt einige Gefahren: weniger Bewegung und direkte Sozialkontakte, Konsumieren nicht altersgerechter Inhalte. Lohaus und Mitarbeiter (2007) registrieren einen Wandel der Stressquellen in dieser Lebensphase, den sie auf die aktuell stark veränderte Medien- und Freizeitlandschaft (Organisation zusätzlicher Freizeitprogramme, Zunahme des medialen Angebots) und den steigenden Erwartungsdruck in der sozialen Umgebung (hoher Leistungsdruck, Konkurrenz unter Schülern) zurückführen. Da sich die Life-event-Forschung bis heute immer auf die Krisen im Erwachsenenalter konzentriert hat, wissen wir kaum etwas darüber, welche Lebensereignisse Kindern und Jugendlichen selbst zu schaffen machen. Hierzu liegen kaum gesicherte empirische Ergebnisse vor. Die einzige Ausnahme bildet die intensive Thematisierung von Suizidalität im Jugendalter. Einzelne Erlebnisse (z. B. Scheidung der Eltern) werden in der Literatur einfach als kritische Lebensereignisse postuliert, ohne dass empirische Belege hierzu angegeben werden. Aus diesem Grund finden Studien zu den speziellen Belastungen dieser Altersgruppe hier besondere Beachtung.

Stress äußert sich bei Kindern etwas anders als bei Erwachsenen und weist eine erhebliche Varianz auf: Das Spektrum reicht von leichten, passageren Irritationen bis hin zu ernsthaften, auch chronischen Stressreaktionen oder psychischen Erkrankungen. Typischerweise zeigen jüngere Kinder eher körperliche Symptome (Bauch- oder Kopfschmerzen, Schlafstörungen), da sie sich verbal nicht so mitteilen können. Jugendliche neigen stärker zu Grübeln, Gereiztheit und Stimmungsschwankungen. Über die Reaktionen von Kindern und Jugendlichen auf kritische Lebensereignisse ist wenig bekannt, so liegen beispielsweise für die Anpassungsstörung keine Prävalenzraten dieser Altersgruppe vor (Bengel & Hubert, 2010).

Angesichts der großen Bedeutung von Lebensereignissen erscheint es wichtig, Kinder und Jugendliche in Krisensituationen und Übergangsphasen zu unterstützen. Besonders zu Beginn der Entwicklung werden die Weichen für den weiteren Entwicklungsverlauf gestellt und ein frühzeitiges Intervenieren kann eventuelle Folgeschäden verhindern. Kleinere Belastungen können von den Kindern selbst oder mit Hilfe eines unterstützenden Umfelds bewältigt werden, während bei ernsthaften Lebenskrisen oft professionelle Hilfe erforderlich ist, besonders wenn die betroffenen Eltern emotional nicht verfügbar sind. Hilfe durch neutrale, aufmerksame, zugewandte und verständnisvolle Gesprächspartner kann so manche heftige emotionale Reaktion abfangen, bevor sie sich im Erleben des Kindes oder Jugendlichen verfestigt bzw. zu depressiven und Anpassungsstörungen führt. Einrichtungen der Krisenintervention, die in den USA eine lange Tradition haben, sind in Deutschland erst langsam im Kommen, und auch nur in Großstädten. Akutkliniken bieten die Möglichkeit einer kurzfristigen stationären Aufnahme, besonders im Fall von Suizidgefährdung. Im ambulanten Sektor gibt es Angebote von manchen Beratungsstellen, die kurzfristig in Anspruch genommen werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass behandlungsbedürftige Kinder und Jugendliche hierzulande psychotherapeutisch unterversorgt sind. Lange Wartezeiten sind in akuten Krisen, in denen sofortige Unterstützung notwendig ist, äußerst problematisch.

Diese Vernachlässigung im Praxisalltag spiegelt sich auch in der Fachliteratur. In den gängigen Lehrbüchern der Klinischen Psychologie finden sich selbst heute, fünf Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe dieses Buches, kaum Beiträge zum Thema Krisenintervention, weder für Erwachsene, geschweige denn für Kinder und Jugendliche. Dies erstaunt umso mehr, als es vor allem Krisensituationen sind, in denen Menschen psychotherapeutische Hilfe aufsuchen. Erst spät wuchs das Interesse, und die Zahl der Veröffentlichungen hierzu stieg (Dross, 2001; Müller & Scheuermann, 2004; Riecher-Rössler, Berger, Yilmaz & Stieglitz, 2004; Stein, 2009). Wie im psychotherapeutischen Bereich allgemein wurden Kinder und Jugendliche erst zeitlich verzögert mehr beachtet und entwicklungssensible Interventionsformen für jüngere Altersgruppen konzipiert. Nur im präventiven Bereich existieren bereits bewährte Stresspräventionsprogramme für Kinder und Jugendliche (Lohaus, Domsch & Fridrici, 2007; Seiffge-Krenke & Lohaus, 2007).

Insgesamt versucht das Buch, eine Brücke von den üblichen Stressbewältigungstrainings zur Traumatherapie bzw. Notfallintervention zu schlagen. Traumata und deren Behandlung werden hier außen vor gelassen, da hierzu bereits umfangreiche Literatur vorliegt. Zentrales Anliegen des Buches ist es, an der Schnittstelle zwischen Klinischer und Entwicklungspsychologie zu einem besseren Verständnis der Belastungen in dieser Lebensphase beizutragen sowie Möglichkeiten einer kind- bzw. jugendgerechten Krisenbegleitung aufzuzeigen. Das Buch füllt somit eine weiterhin bestehende Lücke in der Literatur und liefert eine Darstellung, die es so kein zweites Mal gibt. Eine Ausnahme bilden Ansätze für einzelne Belastungskonstellationen, wie z. B. Scheidung der Eltern, Verlusterfahrungen und chronische Erkrankungen, die hier auch aufgegriffen werden. Der Fokus liegt hier auf der psychologischen Krisenintervention, in Abgrenzung zur etwas breiter angelegten Krisenintervention im psychosozialen Bereich. Das Buch konzentriert sich auf die Altersgruppen der mittleren Kindheit und des Jugendalters, die das Hauptklientel von Beratern und Psychotherapeuten im Kinder- und Jugendbereich bilden. Weiterhin sind die Beiträge auf Kinder und Jugendliche aus unserem Kulturkreis beschränkt.

Aufbau des Buches

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: im ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen und Grundprinzipien der Krisenintervention erläutert; im zweiten Teil werden vier Krisensituationen (Scheidung, Verlusterlebnisse, chronische Erkrankung sowie Suizidalität) ausführlich behandelt, sowie die dazugehörigen Interventionskonzepte, die sich bei der Bewältigung der jeweiligen Krise als hilfreich erwiesen haben. Der erste Teil beginnt mit Kapitel 1 (image Kap. 1), in welchem Christiane Wempe erläutert, was genau typische Krisen und Belastungen für Kinder und Jugendliche sind und wie sie damit umgehen. Kapitel 2 (image Kap. 2), ebenfalls von Christiane Wempe, behandelt allgemeine Prinzipien, Ziel und Methoden der Krisenintervention, für die beiden Altersgruppen. Kapitel 3 (image Kap. 3) von Curd Hockel ist der Frage gewidmet, wie man – in Anlehnung an den personzentrierten Ansatz -– zu Kindern und Jugendlichen eine tragfähige Beziehung herstellt. Einen etwas anderen Blick, aus hypno-systemischer Perspektive, wirft Roland Kachler auf die Krisenintervention In Kapitel 4 (image Kap. 4). Der zweite Teil beginnt mit einem Beitrag von Christiane Wempe zum Thema Scheidung (image Kap. 5): Wie ergeht es Kindern und Jugendlichen angesichts der Trennung ihrer Eltern und was hilft ihnen in dieser Situation? In Kapitel 6 (image Kap. 6) geht Miriam Haagen der Frage nach, wie Kinder den Verlust eines Elternteils bewältigen und zeigt Möglichkeiten der Trauerbegleitung für die betroffenen Familien auf. Auf die Bedeutung und Folgen chronischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sowie deren Begleitung geht Elisabeth Sticker in Kapitel 7 (image Kap. 7) ein. Den klassischen Schwerpunkt der Krisenintervention, die Suizidalität, umreißen Sylvia Schaller und Armin Schmidtke in Kapitel 8 (image Kap. 8). Den Abschluss bildet ein zusammenfassender Beitrag, mit entsprechendem Ausblick (image Kap. 9).

Literatur

Bengel, J. & Hubert, S. (2010). Anpassungsstörung und akute Belastungsreaktion. Göttingen: Hogrefe.

Dross, M. (2001). Krisenintervention. Göttingen: Hogrefe.

Eppel, H. (2007). Stress als Risiko und Chance. Stuttgart: Kohlhammer.

Filipp, S. & Aymanns, P. (2018). Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. (2., aktualisierte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

Hurrelmann, K. (1994). Familienstress, Schulstress, Freizeitstress. Weinheim: Beltz.

Ihle, W. & Esser, G. (2002). Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter: Prävalenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede. Psychologische Rundschau, 53, 159–169.

Lohaus, A. (1990). Gesundheit und Krankheit aus der Sicht von Kindern. Göttingen: Hogrefe.

Lohaus, A., Domsch, H. & Fridrici, M. (2007). Stressbewältigung für Kinder und Jugendliche. Heidelberg: Springer.

Müller S. & Scheuermann, U. (2004). Praxis Krisenintervention. Stuttgart: Kohlhammer.

Riecher-Rössler, A., Berger, P., Yilmaz, A. T. & Stieglitz, R. D. (Hrsg.). (2004), Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention. Göttingen: Hogrefe.

Seiffge-Krenke, I. & Lohaus, A. (2007). Stress und Stressbewältigung von Kindern und Jugendlichen. Göttingen Hogrefe.

Stein, C. (2009). Spannungsfelder der Krisenintervention. Stuttgart: Kohlhammer.

 

 

 

I         Allgemeiner Überblick

1          Krisen und Belastungen, Krisenreaktionen bei Kindern und Jugendlichen

Christiane Wempe

1.1       Einführende Erläuterungen

Zunächst werden in diesem Kapitel die zentralen Begriffe »Stress«, »Krise« und »kritisches Lebensereignis« erläutert, sowie deren Folgen für die betroffenen Individuen aufgezeigt. Dabei werden diese Konzepte jeweils auch theoretisch eingeordnet (allgemeines Stressmodell und Life-event-Forschung). Im zweiten Teil werden typische Belastungen und kritische Ereignisse im Leben von Kindern und Jugendlichen näher beleuchtet. Der dritte Abschnitt befasst sich mit dem Konzept der Bewältigung im Kindes- und Jugendalter. Vor entwicklungspsychologischem Hintergrund werden jeweils die Besonderheiten beider Altersphasen herausgearbeitet.

Stressoren und Stressreaktion

Der allgemeine Stressbegriff ist sehr breit gefasst und wird häufig synonym mit »Belastung« oder »Anforderung« verwendet. Es existiert eine unübersichtliche Vielzahl an Definitionen, auch umgangssprachlich wird der Begriff fast inflationär gebraucht. Relativ übereinstimmend wird von Stress gesprochen, wenn die Ressourcen eines Individuums nicht zur Bewältigung der Anforderung ausreichen. Die Stressforschung differenziert zwischen situations- und reaktionsbezogenen Sichtweisen von Stress (Eppel, 2007). Situationsbezogene Ansätze konzentrieren sich auf die stressauslösenden Situationen, die als »Stressoren« oder »Stressquellen« bezeichnet werden. Darunter verstanden werden »Störgrößen, die unser Wohlbefinden beeinträchtigen und unsere Handlungsfähigkeit bedrohen« (Eppel, 2007, S. 22). Reaktionsbezogene Ansätze dagegen befassen sich mit der Art und Weise, wie die Betroffenen einer Belastung begegnen. Diese »Stressreaktionen« oder das »Stresserleben« werden definiert als »alle Prozesse, die bei betroffenen Personen als Antwort auf einen Stressor ausgelöst werden« (Eppel, 2007, S. 19).

Stressoren werden in der Forschung anhand verschiedener Kriterien klassifiziert, wie Valenz, Dauer oder Intensität. Bezüglich der Valenz lassen sich grob Distress und Eustress gegenüberstellen. Negative Stressoren (Distress, z. B. Verlusterfahrungen), die als bedrohlich erlebt werden, stehen aufgrund ihrer potentiell gesundheitsschädigenden Wirkung im Vordergrund des Forschungsinteresses. Aber auch positive Ereignisse (Eustress; z. B. Geburt eines Kindes), können aufgrund ihrer aktivierenden Wirkung als Stress wahrgenommen werden. Unter dem Aspekt der zeitlichen Dauer werden akute diskrete Ereignisse (z. B. ein Unfall), die zeitlich befristet sind, von chronischen Belastungslagen (z. B. eine schwere Erkrankung) unterschieden. Anhand der Intensität der potentiellen Belastungen werden üblicherweise drei Intensitätsstufen differenziert:

1.  daily hassles (Alltagswidrigkeiten, Mikrostressoren): längerfristig andauernde alltägliche Ärgernisse, Frustrationen und Irritationen, die als aufreibend und zermürbend erfahren werden, aber normalerweise bewältigbar sind (z. B. Zeitdruck).

2.  major events (Makrostressoren): schwerwiegende, aber zeitlich befristete Lebensereignisse, deren Bewältigung die Mobilisierung aller Ressourcen eines Individuums erfordert, aber irgendwann abgeschlossen ist (z. B. Trennung).

3.  Traumata: außergewöhnliche, extrem bedrohliche Ereignisse (z. B. Gewalterfahrung, sexueller Missbrauch, Flucht), die außerhalb der üblichen Erfahrung liegen und das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Individuums bedrohen. Da Traumata die normalen Anpassungsstrategien eines Menschen deutlich übersteigen und oft zu Sinnverlust und/oder Dekompensation führen, haben sie meist nachhaltige schädigende Folgen (posttraumatische Belastungsstörung).

Die Stressforschung wurzelt in der Biologie und versteht daher die Stressreaktion als ein natürliches menschliches Verhalten, das zum Überleben der Spezies beigetragen hat. Diese äußert sich in Fluchtverhalten oder Kampfbereitschaft (fight or fly). Die psychologische Stressforschung wird üblicherweise der Klinischen Psychologie oder der Gesundheitspsychologie zugeordnet. Hier hat sich das transaktionale Modell von Lazarus und Folkman (1984) durchgesetzt und dient heute üblicherweise als Grundlage für diesen Forschungszweig (image Abb. 1.1). Dieses Modell betont die Wechselwirkung zwischen Person und Anforderung. Die Kernaussage lautet, dass die subjektive Bewertung eines potentiellen Stressors wesentlich ihr Stresserleben bestimmt. Die kognitiven Bewertungsprozesse verlaufen dabei in mehreren Stufen: Zuerst erfolgt eine subjektive Bewertung der Situation, die entweder den Status einer »Herausforderung«, eines »Verlusts/Schadens« oder einer »Bedrohung« annehmen kann. In einem zweiten Schritt schätzt die betroffene Person die Ressourcen ein, die ihr zur Bewältigung dieser Belastung zur Verfügung stehen. Dies führt schließlich zu einer Neubewertung der Belastungssituation aus einer neuen Perspektive. Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, welche die Bewertung des Stressors als Ergebnis des Bewältigungsprozesses verstehen (Hobfoll, 1989; zit. n. Filipp & Aymanns, 2018). Dieses nicht entwicklungspsychologisch fundierte Modell wird auch zur Erklärung von Stress bei Kindern und Jugendlichen herangezogen (s. Beyer & Lohaus, 2007).

Die Folgen von Stress sind vielfältiger Art und ziehen sich durch alle Bereiche menschlichen Erlebens und Verhaltens. Biologie und Medizin konzentrieren sich auf die körperlichen Folgen von Stress, sowie die zugrundeliegenden neurobiologischen Prozesse. Eine anfängliche kurzfristige körperliche Aktivierung und Mobilisierung der Widerstandskräfte in Reaktion auf ein belastendes Ereignis ist sinnvoll, um sich der Herausforderung stellen zu können. Erst eine langfristige Aktivierung, wie sie bei chronischen Belastungslagen auftritt, führt zu Erschöpfung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei den Betroffenen (z. B. Schlafstörungen, Substanzmittelkonsum), die langfristig das Immunsystem schwächen (Filipp & Aymanns, 2018;

Images

Abb. 1.1: Stressmodell nach Klein-Heßling (1997) (aus: Lohaus, Domsch & Fridrici, 2007, S. 7; reproduced with permission of Springer-Verlag Berlin/Heidelberg)

Seiffge-Krenke, 1998). Als besonders ungünstig hat es sich erwiesen, wenn ein entsprechender Ausgleich durch »daily uplifts« (kleine Freuden) fehlt (s. Eschenbeck, Lohaus & Kohlmann, 2007). Die psychologische Stressforschung hat sich dagegen speziell den Indikatoren der individuellen psychischen Anpassung und der Entstehung psychischer Störungen zugewandt. Ein populäres Beispiel ist das sog. »burn-out Syndrom«, im Sinne eines Erschöpfungszustandes, für das bestimmte Berufsgruppen prädestiniert sind.

Krisen und kritische Lebensereignisse

In der Klinischen Psychologie ist der Begriff »Krise« zur Bezeichnung von einschneidenden Veränderungen stark verbreitet. Der aus dem Griechischen stammende Begriff »krisis« bedeutet »Entscheidungssituation, Wende-, Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung« (Duden, 2001). Allerdings wird der Krisenbegriff sehr uneinheitlich verwendet, eine allgemeinverbindliche Definition existiert nicht. So wurde bereits 1988 von Fiedler kritisiert, »… daß das Konstrukt »Krise« in der Psychologie bislang weder eine inhaltlich konvergente Bedeutung noch eine formal ausreichende theoretische Basis hat« (S. 115). Und noch heute bemängelt Stein (2009) die Verwendung des Krisenbegriffs als »schwammig«. Ebenso uneinheitlich und wenig trennscharf sind Systematisierungen des Krisenbegriffs, wie sie gern in der klinisch-psychologischen Literatur vorgenommen werden, wie beispielsweise in Veränderungskrise, Verlustkrise und traumatische Krise (s. Stein, 2009). Mit dem etwas anders konnotierten Begriff der »psychosozialen Krise« will Stein auf »… eine exaktere Indikationsstellung für psychosoziale Krisenintervention« (2009, S. 22) hinweisen. Davon abzugrenzen sind psychiatrische Notfälle, die im Zusammenhang mit schwerwiegenden psychischen Störungen stehen und in den Bereich der psychiatrischen Notfallintervention fallen (z. B. Lasogga & Gasch, 2011; Rupp, 1996).

Unstimmigkeiten herrschen ferner bezüglich des Verlaufs von Krisen, der gern in Phasenmodellen abgebildet wird, die allerdings hinsichtlich Anzahl und Inhalt variieren. Caplan (1964) benennt beispielsweise folgende Phasen: Konfrontation mit einem problematischen Ereignis, Versagen (nach misslungenen Bewältigungsversuchen), Mobilisierung aller Bewältigungskapazitäten, Vollbild der Krise (Rat- und Orientierungslosigkeit) sowie Bearbeitung und Neuorientierung. Insgesamt lassen sich einzelne Phasen nur schwer voneinander abgrenzen, da die Übergänge oft fließend sind. Außerdem erscheint es fragwürdig, individuelle Verarbeitungsmuster von Krisen durch ein universelles Modell abbilden zu können.

In der Entwicklungspsychologie hat sich seit den 1980er Jahren eine eigene Tradition der sog. Life-event-Forschung etabliert, die mittlerweile auf eine relativ breite empirische Basis zurückblicken kann. Aus dieser Perspektive hat sich der Begriff »kritisches Lebensereignis« durchgesetzt, der im Gegensatz zum negativ besetzten Krisenbegriff wertneutral ist. Kritische Lebensereignisse markieren Übergänge bzw. Wendepunkte im Lebenslauf, die »Stadien des relativen Ungleichgewichts« erzeugen und Anpassungsprozesse bzw. eine Neuorientierung bei den betroffenen Individuen in Gang setzen. Filipp und Aymanns (2018) definieren kritische Ereignisse als »zeitlich umgrenzte Situationen, in denen Menschen mehr oder minder plötzlich erkennen, dass das Passungsgefüge zwischen ihnen und der Umwelt nicht mehr gegeben ist, dass dieses Ungleichgewicht aber auch nicht durch einen einfachen korrigierenden Eingriff auf der einen oder anderen Seite rasch behoben werden könnte« (S. 28). Der Ausgang ist offen: denkbar sind sowohl positive (persönliche Reifung) als auch negative Folgen (Zusammenbruch des Organismus). Die Quelle kann dabei entweder in der Person (z. B. Erkrankung) oder in der Umwelt (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes) liegen. Dabei werden üblicherweise drei Arten von kritischen Ereignissen unterschieden:

1.  Normative kritische Lebensereignisse sind Meilensteine im Lebenslauf, die jeweils gehäuft in einer bestimmten Altersphase auftreten, wie z. B. der Schuleintritt zu Beginn der mittleren Kindheit. Da diese Ereignisse gut vorhersehbar sind, sind sie leichter zu bewältigen, indem rechtzeitig Ressourcen mobilisiert werden können. Normative Ereignisse strukturieren den individuellen Lebenslauf und werden als Bestandteil der normalen Entwicklung verstanden. Dieser Begriff überschneidet sich teilweise mit dem Konzept der »Entwicklungsaufgabe« von Havighurst (1972), die Menschen in jeder Phase ihres Lebens zu bewältigen haben. Auch der Begriff der »psychosozialen Krise« von Erikson (1973) geht in eine ähnliche Richtung.

2.  Non-normative kritische Lebensereignisse treten selten auf und betreffen nur einzelne Personen in einer Altersgruppe; sie sind in der Regel weder vorhersehbar noch kontrollierbar, wie z. B. Unfälle, und daher schwerer zu bewältigen. Zu den non-normativen zählen auch normative Ereignisse, die sich zur Unzeit (off-time) einstellen (z. B. jugendliche Schwangerschaft) sowie »Nicht-Ereignisse«, d. h. normative Ereignisse, die nicht in dem dafür vorgesehenen begrenzten Zeitfenster auftreten (z. B. Ausbleiben einer gewünschten Schwangerschaft).

3.  Historische kritische Lebensereignisse sind soziohistorische Lebenssituationen, die zeitgleich auf alle Menschen in einem politischen, kulturellen und/oder geographischen Lebensraum einwirken, wie z. B. die Wende in Deutschland.

Die Life-event-Forschung ist meist retrospektiver Natur, d. h. die Probanden werden über vorgegebene Ereignislisten danach gefragt, welche dieser Ereignisse innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (meist im letzten Jahr) in ihrem Leben aufgetreten sind, und wie sehr sie sich dadurch belastet fühlten (s. Filipp & Aymanns, 2018). In einer solchen Studie von Schmitz, Rothermund und Brandtstädter (1999) gaben Erwachsene im Alter von 28 bis 62 Jahren familiäre Konflikte am häufigsten an, gefolgt von eigenen Erkrankungen, beruflichen Konflikten und finanziellen Problemen. Der Fokus liegt auf den negativen Ereignissen, weil diese die seelische Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen. Als zentrale Merkmale haben sich dabei mangelnde Erwünschtheit und Kontrollierbarkeit der Ereignisse erwiesen. Insbesondere irreversible Verluste oder krisenhafte Entwicklungen in primären Beziehungen erhöhen das Risiko für eine depressive Entwicklung (s. Filipp & Aymanns, 2018).

Die erfolgreiche Bewältigung von kritischen Lebensereignissen führt zu Zufriedenheit und erhöhtem Selbstwirksamkeitserleben, die Menschen gehen gestärkt daraus hervor und können neue Bewältigungskompetenzen für den Umgang mit späteren Lebenskrisen erwerben. Krisen gelten aber auch als belebendes Element im Leben bzw. teilweise sogar als notwendig, um Entwicklungsprozesse zu initiieren: »Persönliche Veränderung braucht gewissermaßen die Intensität der Krise« (Keil, 2002, S. 354). Nur so seien wichtige Beziehungs- und Bindungserfahrungen möglich, die ohne Krise nicht erlebt werden können« (Keil, 2002, S. 372). Filipp und Aymanns (2018) äußern sich jedoch eher kritisch: »Und vielleicht überschätzen wir ja auch die Belastungskapazität des Menschen, wenn wir erwarten, dass diejenigen, die sich auf den Schattenseiten des Lebens befinden, in diesem Schatten auch noch ›wachsen‹ und ›reifen‹ sollen« (S. 140).

Das traditionelle Forschungsdesign sah vor, dass kritische Lebensereignisse (als unabhängige Variable) das Erleben (abhängige Variable) der Betroffenen beeinflussen. Da diese einseitige Sichtweise jedoch zu kurz greift, wird im aktuellen Forschungsgeschehen von einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt ausgegangen (z. B. Hammen, 2005). Vor dem Hintergrund eines interaktionistischen Entwicklungsmodells wird die aktive Rolle des Individuums und seines Lebenskontextes für seine Entwicklung betont. In der bereits erwähnten Studie von Schmitz et al. (1999) konnte nachgewiesen werden, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Neurotizismus, Risikobereitschaft) ihrerseits Einfluss auf die Auftretenshäufigkeit bestimmter kritischer Ereignisse (z. B. Unfälle, zwischenmenschliche Konflikte) im Leben eines Menschen nehmen. So kam beispielsweise Hammen (2005) zu dem Ergebnis, dass depressive Frauen mehr kritische Ereignisse, vor allem interpersonaler Art, berichten, an deren Entstehen sie selbst einen Anteil haben (»stress generation«).

Auch in der Entwicklungspsychopathologie richtet sich das Augenmerk auf Faktoren, die die Entwicklung allgemein, sowie die Pathogenese psychischer Störungen im Besonderen, und damit auch das Erleben und Verarbeiten von Belastungen beeinflussen (s. Ball & Peters, 2007). Diese werden unterteilt in Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eine Situation als belastend zu erleben, und Schutzfaktoren, die eine effektive Bewältigung von Belastung erleichtern und die schädigende Wirkung von Risikofaktoren abpuffern. Diese Faktoren sind sowohl in der Person als auch in ihrer Umwelt verortet.

Als individuelle