12 Häuser der Magie

12 Häuser der Magie

Schicksalswächter

Andreas Suchanek

Dieses Buch ist

gewidmet …


… dem Schicksal,

das mich auf verschlungenen Pfaden

in Richtung Zukunft führt.

Eine Reise, die spannender und erfüllender ist,

als jedes Ziel es sein kann.


… meinen Freunden,

an deren Seite ich diesen Weg beschreite

und die mit mir Triumphe feiern

und mich bei Niederlagen trösten.


… meiner Familie,

ohne die ich heute nicht da wäre,

wo ich bin.


DANKE!

Inhalt

Prolog

I. Der Kreis des Schicksals

1. Blizzard gefällig?

2. Home Sweet Hell

3. Und so was nennt sich Geburtstag

4. Ein Kreis namens Schicksal

5. Ein wahrer Palast

6. Der Schatten des Dämons

7. Hölle, dein Name ist …

8. Ein Blick auf das Schicksal

9. Das Schicksal windet sich

10. Berliner Nächte

11. Schwarz wie die Nacht, rot wie Blut, blau wie das Schicksal

II. Der Atem des Schicksals

12. Alles in Scherben

13. Beste Freunde

14. Wir haben da ein Problem

15. Im Schatten der Maschine

16. Im Angesicht des Schicksals

17. Trink-Buddys

18. Lass den Welpen los!

19. Alles muss seine Ordnung haben

20. Die Ein-Mönch-Armee

21. Echo aus vergangener Zeit

22. Ein Blick zurück

23. Lust auf einen Kurzurlaub?

24. Du hast es kaputt gemacht

25. Der schwarze Spiegel

III. Das Feuer des Schicksals

26. Zwischen Staub und Schatten

27. Der nächtliche Besucher

28. All diese Schätze

29. Geflüster in der Nacht

30. Traumreise

31. Fluchtkurs

32. Fresko und Spiegel

33. Im Zentrum der Macht

34. Eine Lüge …

35. … in einer Lüge

36. Zwei Seiten einer Münze

37. Flucht

Epilog

Die Häuser

Zauber

Grüße aus dem 13. Haus aka das Nachwort

Danksagung

Prolog

Die Stille war absolut.

Gekleidet in bunte Stoffe stand der Unbekannte in der Mitte des Raumes, umgeben von Folianten und Papyri. Staub tanzte im hereinfallenden Sonnenlicht zu einer lautlosen Melodie. Wie von Geisterhand erschaffen zog sich eine Linie über die Kehle des Mannes, ein Tropfen rann über die alabasterfarbene Haut. Blaue Augen weiteten sich verblüfft, die klaffende Wunde schien auf grausame Art zu lächeln.

Die Bibliothek schrie auf.

Noch immer lautlos griff der Unbekannte sich an die Kehle, versuchte, den steten Strom aus rotem Leben aufzufangen. Die Bücher ringsum zerfielen, Papierflocken wirbelten durch den Raum, Papyri gingen in Flammen auf.

Nur der Spiegel stand weiter unbeeindruckt inmitten des Chaos. Er warf nicht das Antlitz des Sterbenden zurück, oh nein. Eine dunkle Silhouette waberte darin, vibrierte und entzog sich jeder klaren Wahrnehmung. Doch das war auch nicht notwendig. Ein Lachen hallte durch den Raum, kündete von endlosem Fall und ewigem Feuer.

Ein zweites Regnum.

Die Vision zerbarst.


»Was hast du gesehen?«, fragte Natalia.

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas gesehen habe?«

Der Boden fühlte sich kalt an unter den nackten Füßen, der Spiegel in der kleinen Kammer warf ein Abbild zurück, das gezeichnet war von dem soeben erlebten Schrecken. Müde Augen, von Schatten umrahmt.

Natalia zog die Decke enger um sich, das Einzige, was die Kälte in der kleinen Kammer abhielt. »Ich konnte es spüren«, flüsterte sie. »Mein Anima hat geglüht, während du träumtest.« Sie betastete den magischen Stein, der in einen silbernen Stirnreif eingelassen war. »Gib es zu, es hat funktioniert. Du hast etwas gesehen.«

Ein Schatten im Spiegel, der von Chaos kündete. Doch das durfte Natalia nicht erfahren. »Es war verschwommen, eher ein Gefühl als eine echte Vision.«

Damit gab Natalia sich zufrieden. »Dann sollten wir weiter­machen. Noch ein wenig mehr, und …«

»Nein.« Das eigene Bett vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit, die Decke wärmte. Schnell erfand sie einen passenden Grund, der weitere Fragen hoffentlich im Keim erstickte. »Es schmerzt und mein Anima wehrt sich.« Der magische Stein, der jeden Kundigen mit der umgebenden Magie verband, wodurch sie erst nutzbar gemacht werden konnte, schimmerte matt. »Ich möchte es nicht länger.«

»Aber stell dir doch vor, was wir damit bewerkstelligen könnten«, flüsterte Natalia. »Diese Macht würde uns von den Fesseln befreien.«

Sie liebte diese hohlen Phrasen, die jeder zweitklassige Prediger von der Kanzel zu schmettern vermochte. So war Natalia schon immer gewesen, einfach vom Geiste, doch hartnäckig, wenn es darum ging, ein Ziel zu verfolgen.

»Vielleicht hast du recht.«

Ein Lächeln erhellte das Antlitz Natalias. »Dann machen wir also weiter?«

»Das tun wir.«

»Dann schlaf jetzt.« Natalia löschte die Kerze und drehte sich zur Seite.

Stille zog herauf, nur unterbrochen von den gleichmäßigen Atemzügen der Gefährtin. Atemzüge, die zu einem Röcheln wurden, als die Klinge über ihre Kehle fuhr. Augen voller Entsetzen schimmerten in der Dunkelheit, sie strampelte.

»Ja, ich habe etwas gesehen. Und es verändert alles.«

Das Zucken endete, der Tod kam.

»Doch es wird noch viele Jahre dauern, Vorbereitungen müssen getroffen werden.«

Natalias Augen starrten gebrochen in die Dunkelheit.

Das Schicksal kannte kein Erbarmen.

Teil I

Der Kreis des Schicksals

Kapitel 1

Blizzard gefällig?

Er hasste es, wenn sie das tat.

»Juhuu, Nicholas, größter Magier aller Zeiten. Du brauchst heute aber ganz schön lange.« Janes Stimme hallte als Echo über das Trainingsgelände.

Sie wusste genau, wie sie ihn zur Weißglut treiben konnte.

Die Umgebung machte es nahezu unmöglich, einen Magier zu finden, der sich auf Trugbilder verstand. Eine weite Ebene ging in dicht bewaldetes Gebiet über. Dahinter lag ein See, auf dessen gegenüberliegender Seite das Sumpfgebiet begann.

»Sie will es uns noch mal zeigen.« Wie immer flüsterte Matt bei den Testkämpfen.

»Dir ist aber schon klar, dass sie sich versteckt und nicht wir«, stellte Nic klar. »Du darfst in normaler Lautstärke sprechen.«

»Sorry.« Matts Gesicht nahm einen zerknirschten Ausdruck an. Nics bester Freund ähnelte äußerlich einem Wikinger – blonder Hüne mit breiten Schultern und einem Dreitagebart. Innerlich war er eher ein Plüschteddy.

»Schaffst du noch einen Dunklen Schlund?«, wollte Nic wissen.

»Klar. Aber ohne Ziel …«

Ein Dunkler Schlund ließ die Erde beben und schuf, wenn er nicht abgebrochen wurde, tiefe Spalten und Risse. Zu Beginn ein häufiges Mittel in den Kämpfen, um gegnerische Mannschaften aus dem Versteck zu locken. Matt war ein Ass, wenn es um diesen Zauber ging.

Bedauerlicherweise wusste Jane das. Bisher hatte kein abrupter Erdrutsch sie aus der Versenkung holen können. Deshalb ließen die Lehrer sie so gern gegeneinander antreten, weil sie die Stärken und Schwächen des jeweils anderen kannten. Glücklicherweise war dies heute zum letzten Mal der Fall.

»Wie macht sie das?!« Nic fluchte innerlich. »Keine Spur von Wirbeln.« Er glitt wieder in den zweiten Blick.

In diesem konnte er die Magie ringsum sehen. Wie silbriger Staub war sie überall, durchdrang die Luft und lag auf Pflanzen, Gegenständen und sogar Menschen. Sein wasserblauer Anima-Stein, den er eingefasst in einem Ring an der rechten Hand trug, ermöglichte nicht nur die Wahrnehmung von Magie, dank ihm ließ sie sich auch benutzen. Doch wo sie abgesogen wurde, hinterließ sie Wirbel, manchmal sogar Löcher, bis hin zu toten Zonen. Letzteres regenerierte sich nicht mehr, weshalb jeder Magier dazu angehalten war, Magie nur in Maßen abzuschöpfen.

Hätte Jane ein Trugbild eingesetzt, um ihren Aufenthaltsort zu verschleiern, hätte das auf lange Sicht die Umgebung in Aufruhr versetzt. Leider war nichts davon zu sehen.

»Sieht so aus, als würde sie gewinnen.« Matthew deutete auf die Sanduhr, die über ihnen schwebte. Die Körner darin waren fast alle durchgelaufen. »Gönnen wir es ihr.«

»Nein, das tun wir nicht!« Beinahe hätte Nic aufgestampft, was natürlich total kindisch gewesen wäre. Beim Anblick der Sanduhr kam ihm ein Gedanke.

Er fixierte eine Stelle in der Luft und stellte sich vor, wie die Magie in den magischen Stein floss. Sein Anima glühte, als der flirrende Silberstaub in ihn hineingesogen wurde.

Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, benötigte er einen ganz bestimmten Zauber. Engelsflügel.

Nic vollführte die vorgeschriebenen Bewegungen, um die Magie zu weben. Für einen Nichtmagier sah es so aus, als fuchtele ein Bühnen­zauber mit den Fingern durch die Luft. In Wahrheit verwob er die Magie des Anima zu einem magischen Symbol, das die Wirklichkeit für kurze Zeit umformte.

Eine schimmernde Aura legte sich um seinen Körper, nur in der zweiten Sicht wahrnehmbar. Die wellenartigen Auswüchse zu beiden Seiten hatten dem Zauber die Bezeichnung Engelsflügel verliehen.

Elegant wie ein Adler stieg er in die Höhe. Matthew bezeichnete Nics Flugkünste immer als »die betrunkene Taube machen«, doch schließlich kam es auf das Ergebnis an. Von hier oben konnte er das gesamte Trainingsgelände überblicken. Und tatsächlich, da war etwas anders als bisher.

»Netter Versuch«, flüsterte Nic. »Aber so clever bist du eben doch nicht.«

Jane hatte kurzerhand auf Magie verzichtet und sich eingegraben. Er konnte die Stelle genau sehen, an der das Gras einen anderen Farbton trug. Sie hatte das Survivaltraining etwas zu ernst genommen.

Nic wechselte zurück in die normale Sicht.

Die letzten Körner der Sanduhr rieselten herab.

Um zu gewinnen, musste Nic Jane direkt gegenüberstehen und sie berühren. Er jagte in den Sturzflug, kam viel zu schnell auf und überschlug sich mehrfach. Mit Kratzern und Schrammen hechtete er auf jene Stelle zu, die sich von der Umgebung unterschied.

»Hab dich!«, brüllte er und durchstieß mit seinem Finger die Erde.

Im nächsten Augenblick wirbelte die Umgebung um ihn herum wie ein Brummkreisel. Oben wurde zu unten, Grün zu Blau. Sie hatte einen Fuggers Reise auf die Stelle geworfen. Ganz im Sinne des berühmten Kaufmanns, dessen Schiffe in Windeseile um die Welt gesegelt waren, wurde Nic auf einen von Jane bestimmten Zielpunkt gezogen. Er fand sich in der Luft wieder, direkt über dem See.

Schreiend fiel er in die Tiefe und versank im Wasser, nur um strampelnd an die Oberfläche zurückzukehren. Hustend spuckte er brackige Brühe und Flüche.

»Nicht schlecht«, erklang die Stimme von Jane.

Er konnte das Grinsen darin hören und hegte Mordgedanken.

Sie saß gemütlich auf dem Holzsteg, streifte sich soeben ihren Tarn­anzug ab und genoss die Sonne. Dass sie nur einen hauchdünnen Slip trug, war ihr egal.

»Sieht so aus, als gehöre der Finalsieg mir«, säuselte sie. »Bist du sehr wütend?«

»Nein!«, brüllte er und schluckte prompt wieder Wasser.

Mittlerweile hatte auch Matt den Anlegesteg erreicht. »Das war nicht nett.«

»Nic freut sich über die Abkühlung, stimmts?!«, rief sie herüber. »Das nächste Mal hänge ich einen Zauber an, der dich nackt ins Wasser katapultiert. Besser?«

Nein, das war es nicht! Denn es würde kein nächstes Mal geben. Nics Wut verrauchte und auch Janes Stimmung schlug um. Als er sich endlich bis ans Ufer vorgearbeitet hatte, wob sie einen schnellen Wärme­zauber, der ihn trocknete. Sie trug ihren jadegrünen Anima-Stein eingeflochten in eine Lederschnur um den Hals.

»Danke«, sagte er leise.

»Schon okay.« Jane schlüpfte wieder in ihre Kleidung.

Schweigend trotteten sie zurück zum Zentrum, nahmen die Glückwünsche entgegen und verließen das Areal. Die Abschluss­prüfungen waren längst erledigt, die Urkunden übergeben. Doch es war Tradition, dass die Schüler ein letztes Mal einen Kampf ausfochten, bevor der nächste Schritt auf ihrem Weg begann. Einer, der sie trennen würde.

»Noch jemand Lust …«, begann Matthew.

»Ja«, unterbrachen Nic und Jane gleichzeitig, worauf sie alle breit grinsten.

Das Skydive zu finden, war längst eine Fingerübung. Schülern im ersten Jahr gelang der Lokalisierungszauber nie, erst im zweiten fanden vereinzelte Grüppchen den verborgenen Treffpunkt. Alle paar Stunden sprang die Cafébar von einem Ort zum anderen und wirkte, als habe jemand ein absolut gewöhnliches, nichtmagisches Café aus einem Gebäude herausgeschnitten. Glücklicherweise sprang der Portal­spiegel stets mit.

Sie schlenderten über einen asphaltierten Weg am Rande des Geländes und erreichten die magische Barriere. Der Spiegel stand im Übergangsbereich.

Matthew hob seinen linken Arm, an dessen Handgelenk ein breites Lederarmband den Anima beherbergte. Er blickte konzentriert auf die gläserne Fläche und berührte dann mit dem blutroten Stein den Rahmen.

»Und, wo geht es hin?«, fragte Nic.

»Uh, nice. Ich sage nur: hoher Norden.« Matthew strahlte, was nie ein gutes Zeichen war, wenn es um Temperaturen ging. Er liebte Kälte.

»Ich bin begeistert.« Die Ironie in Janes Stimme war nicht zu überhören. »Wollen wir nicht zu irgendeinem Strand spiegeln?«

»Komm schon, ein letztes Mal Skydive.«

Ohne abzuwarten, trat Nic durch das Spiegelportal. Es fühlte sich an, als trete er durch eine stehende Wasserfläche, nur war er danach nicht nass, stattdessen stand er in einem Blizzard. Zumindest kam es ihm so vor.

Schnell sog er mit seinem Anima Magie aus der Umgebung und erschuf eine schützende Wärmeblase.

Hinter ihm schwappte es.

»Das ist nicht hoher Norden, das ist der Nordpol!« Der Blick, den Jane Matt zuwarf, nachdem sie ebenfalls für Wärme gesorgt hatte, hätte auch von einer Mutter an ihren Teenager-Spross gehen können.

Das Skydive schwebte in einigen Metern Entfernung unverrückbar zwischen den Gewalten. Sie legten die Distanz in einem kurzen Sprint zurück und als sie durch die Front traten, wechselte Jane bereits wieder erste Worte mit Matt.

Von außen klaffte ein gewaltiges Loch in der Front der Cafébar, von innen blickten sie durch deckenhohes Glas. Ein sauberes Trugbild. Leuchtende Nebelsphären glitten durch den Raum und spendeten den Anwesenden Licht, die auf Stühlen, Bänken, in Hängematten oder Schwebesesseln saßen.

Gemeinsam nahmen Jane, Matt und Nic in der üblichen Ecke Platz. Für die Schüler der unteren Jahrgänge standen noch Klausuren an, weshalb nur vereinzelte Grüppchen aus Absolventen herumsaßen. Einige lachten, andere blickten trübsinnig in ihre Gläser.

»Ich hole uns was.« Jane sprang auf.

Das Skydive war vor einigen Generationen von einem Schüler erschaffen worden. Seitdem wurde es stets von einem Rat aus Vertretern der einzelnen Jahrgänge geführt – die Frischlinge ausgenommen. Getränke standen bereit, doch es herrschte Selbstbedienung.

Nic kümmerte sich um ein zusätzliches warmes Licht, Matt ließ ein wenig Magie in die Kissen sickern, um sie fluffiger zu machen, und Minuten später saßen sie in gemütlicher Runde zusammen, als handele es sich um einen typischen Tag nach einem typischen Training.

»Ich habe keine Lust auf daheim.« Jane rieb sich die Augen. »Welcher Idiot denkt sich diese Regeln eigentlich aus? Achtundvierzig Stunden ohne Magie im Kreise der Familie.«

»Sie wollen uns etwas Gutes tun«, beantwortete Matt die rhetorische Frage. »Meine Eltern wollen mit mir in den irischen Bergen wandern gehen.«

»Boah, du bist so ein Naturbursche«, gab Jane zurück und nippte an ihrem Wizard of Oz. »Es gibt einfach niemanden, dessen Augen leuchten wie ein Anima, sobald das Wort ›zelten‹ fällt. Oder ›wandern‹.«

Nic grinste in sich hinein. Er würde die ständigen Wortgefechte zwischen seinen Freunden vermissen.

»Was hat deine Mum mit dir vor?«, fragte Nic. »Maniküre und Pediküre?«

Jane verdrehte die Augen. »Vermutlich. Damit ich bei der Zeremonie auch hübsch aussehe und ein Zauberer mit einem richtig großen …«

Nic grinste.

»… Anima – Nicholas Ashton, ich will nicht wissen, was du wieder gedacht hast – auf mich aufmerksam wird. Ich hasse es jetzt schon!«

Matts Wangen färbten sich rot. Obwohl er im letzten Jahr eine kurze Affäre mit einem anderen Magier aus ihrer Stufe gehabt hatte, war es übers Knutschen nicht hinausgegangen. Und obgleich Jane und Nic beständig schmutzige Witze auf ihn abfeuerten, härtete ihn das kaum ab.

»Wie steht es bei dir?«, fragte Matt. »Wird doch bestimmt toll, deinen Dad und deine Brüder mal wieder zu sehen.«

Nic stöhnte auf. »Ja klar. Die beiden sind so intelligent wie ein Vakuum und werden sich riesig darüber freuen, dass ich jetzt den Achtundvierzigstünder machen darf. Zwei Tage ohne Magie, wer hat sich diesen Mist nur ausgedacht? Das wird die Hölle. Und Dad wird sowieso nicht da sein. Als Ratsmitglied hat er wichtige Aufgaben. Immer.«

Sie nippten schweigend an ihren Getränken.

»Was denkt ihr, wo stecken sie uns hin?«, sprach Jane schließlich den Elefanten im Raum an. »Schattenläufer fände ich cool.« Sie starrte versonnen durch die Glasfront hinaus in das dichte Schnee­gestöber. »Dann bräuchte ich nicht mehr die blöden Spiegel und könnte einfach in einen Schatten eintauchen und aus einem anderen weit entfernt wieder heraus. Dazu gäbe es ständig Action.«

»Ein Taxi namens Jane«, frotzelte Matt. »Du darfst die hohen Ratsmitglieder zu ihrem Ziel bringen.«

Nic kicherte. »Mein Dad wird sich freuen.«

»Lacht nur. Ich wette, Matt landet bei den Achtern.«

Was niemanden gewundert hätte. Das 8. Haus gehörte den Seelen­heilern und Matt besaß nun einmal eine sehr emphatische Seite.

»Ich werde zu einem Zwölfer und dann passt ihr besser auf.« Matt grinste gespielt böse – was bei ihm nicht funktionieren wollte.

Das 12. Haus mit den Nichtsschaffern jagte jedem Magier einen Schauer über den Rücken. Mit ihrer speziellen Gabe konnten sie eine tote Zone erschaffen. Im dritten Jahr der Akademie hatten sie alle einen Ausflug zu einer solchen unternommen. Sie war entstanden, weil die Magier in der Umgebung alles maßlos aufgesaugt und mit ihrem Anima zu Zaubern verwoben hatten. Für eine Regeneration war es zu spät und so blieb die tote Zone permanent. Die Zwölfer konnten einen Magier mit einer Sphäre umhüllen, die eine solche Zone erschuf und ihn von jeder Magie abschnitt.

»Lass den Grübler stecken, Nic«, befahl Jane. »Wir haben doch sowieso keinen Einfluss. Das Talent wird enthüllt, wir landen im Haus und zack.« Sie winkte ab. »Egal, wo wir letztlich zugeteilt werden, solange wir in Kontakt bleiben, ist alles gut.«

So wie der Anima bereits einem Baby in die Wiege gelegt wurde, damit er sich ausformte und ein Band geschaffen wurde, so reifte auch das Talent. Angeblich wechselte es im Verlauf der Pubertät ständig und wurde deshalb erst nach dem Ende der Akademiezeit enthüllt. In einer feierlichen Zeremonie brachen die versammelten Vertreter der 12 Häuser das Siegel.

Am Nebentisch fiel einer ihrer Mitschüler heulend in die Arme seiner Freundin, der ebenfalls Tränen über die Wange liefen.

»Genau deshalb geht man hier keine Beziehung ein«, kommentierte Jane trocken. »Am Ende gibt das nur Rumgeheule.«

»Aber sie hatten eine schöne Zeit«, gab Matt zu bedenken.

»Und Spaß«, warf Nic ein.

Die Schulzeit in der magischen Akademie war eine Zeit der Höhen und Tiefen. Jane hatte vor einer Woche ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, Matt vor zwei Tagen. Nic war der Letzte aus ihrer Runde, sein Geburtstag war morgen. Vierundzwanzig Stunden später fand die Zeremonie statt.

Bei dem Gedanken, diesen Tag mit seinen Brüdern verbringen zu müssen, hätte Nic am liebsten einen Blizzard über North Bay geschickt. Wobei es dort gerade nicht viel wärmer war als hier.

»Wir könnten uns heimlich von den Häusern erzählen«, schlug Jane vor. »Es muss ja niemand merken.«

»Die sind zehnmal so gut darin, Flüche auszusprechen, wie wir«, gab Nic zurück. »Das merken die sofort. Oder warum sind die ganzen Geheimnisse bis heute nur innerhalb der Häuser bekannt?«

»Du könntest deinen Dad fragen, ob er uns eine Ausnahmegenehmigung erteilt«, schlug Matt vor und nippte an seinem Virgin Potter.

»Tolle Idee. Und du könntest nackt in den Blizzard rennen, das hätte genauso viel Aussicht auf Erfolg.«

Niemals würde sein Vater bei so etwas zustimmen. Er war ein regelversessener Bürokrat! Doch soweit Nic wusste, hatte die Geheimnis­krämerei in den Häusern primär mit Eifersucht zu tun. Niemand wollte seine Geheimnisse mit den anderen teilen. Nur Prunk, Erfolge und Erfindungen wurden hinausposaunt.

Ihr Gespräch plätscherte dahin und irgendwann wurde es still. Immer mehr Schüler verabschiedeten sich, um das Skydive mit einem letzten Blick zurück zu verlassen. Die Traurigkeit ließ sich nicht länger verdrängen und ihre Stimmung sackte ab.

»Wir sollten wohl«, sagte Jane irgendwann leise.

Sie trotteten zum Ausgang.

Nic zog sein Wärmeschild enger, denn der Blizzard hatte an Stärke zugenommen. Wohin die Cafébar wohl als Nächstes sprang? Die schwebende Sanduhr über der Theke war fast durchgelaufen. Sie hätten warten können, doch irgendwie fühlte es sich richtig an, jetzt zu gehen.

Er blickte ein letztes Mal in die Ecke, in der sie so viele Abende verbracht, gelacht, gelästert, gestritten und getratscht hatten.

»Jetzt nicht heulen, Nici«, frotzelte Jane, obwohl es in ihren Augen gefährlich glänzte.

»Du mich auch«, gab er zurück.

Dann lagen sie sich in den Armen. Matt stand mit hängenden Schultern und in die Tasche geschobenen Händen daneben, bis sie ihn in die Umarmung zogen.

»Wir sehen uns in zwei Tagen bei der Zeremonie. Außerdem gibt es ja Weihnachten und Feiertage.« Abrupt ließ Jane los und ging ohne einen Blick zurück zum Spiegel – und durch ihn hindurch.

Mit einer letzten, festen Umarmung tat Matt es ihr gleich, justierte das Portal neu und war mit einem Schritt daheim.

Innerlich wappnete sich Nic. Er ließ seinen Blick über das dichte Schneegestöber und die Silhouette des Skydive gleiten, von dem nichts mehr zu sehen war. Gleich würde es springen.

»Mach’s gut«, flüsterte er.

Sein Anima glühte wasserblau, als er damit den Rahmen berührte, Magie aus der Umgebung zog und mit der Essenz des Netzwerks verwob. In seinem Geist erschien die Zielstation. Ein Schritt und er wäre daheim in Kanada.

Er kehrte nach Hause zurück.

Kapitel 2

Home Sweet Hell

Der Regen prasselte gegen die Scheiben, vor denen sich dichtes Geäst im Wind bog.

Nic blieb gerade noch ausreichend Zeit, »Na super« zu sagen, da prallte bereits ein überdimensionales Fellknäuel gegen ihn. Polternd ging er zu Boden.

»Lila.« Freudig umarmte er die Labradorhündin, die herumsprang, sich kraulen ließ und dann doch nicht still sitzen konnte.

»Bilde dir nur nichts ein«, kommentierte Jason. »Sie hat nur Hunger. Wenn wir Glück haben, verspeist sie dich.«

Nics älterer Bruder lehnte mit verschränkten Armen im Tür­rahmen und blickte mit geschürzten Lippen auf ihn herab. Ihm verdankte Nic, dass Lila auf die Worte ›doofer Nic‹ bellend um ihn herumsprang. Sein Bruder hatte das total lustig gefunden, ihre Mum weniger, weshalb Jason jeden Putzzauber in- und auswendig beherrschte.

»Willst du nicht lieber schlafwandeln gehen?«, erwiderte Nic. »Darin hast du doch Übung.«

»Das werden lustige zwei Tage.« Jason lachte auf und schlurfte in die Küche.

Das Ritual hatte ihn dem 5. Haus der Traumwandler zugeteilt. Abgesehen von der Tatsache, dass sie Träume durchstreifen konnten, taten sie nicht viel. Auf entsprechende Nachfragen nach ihrem sonstigen Tun gab Jason keine Antwort.

Mit Lila, die Nic nicht von der Seite wich, betrat er ebenfalls die Küche. Noch heute war dies sein Lieblingsraum im Haus. Der Duft von Kaffee vermischte sich mit dem von Tee und Ahornsirup. Getrocknete Kräuter lagen in einer getöpferten Schale und auf dem Herd köchelte eine Kürbissuppe.

»Wo sind Mum und Dad?«

»Dad hat Wichtigeres zu tun, als hier rumzusitzen«, kommentierte Jason, während er abwechselnd seinen Tee schlürfte und in irgend­einem Magazin blätterte.

»Frag ihn doch das nächste Mal, ob er dich mitnimmt. Du tätest uns allen einen großen Gefallen.«

Jasons hob seinen Blick. »Seit wann kannst du kontern?«, fragte er verblüfft.

Die altbekannte Wut über seinen Bruder stieg in Nic empor.

»Ah, ein Zufallstreffer.« Jason grinste und wandte sich wieder dem Magazin zu.

Ohne lange nachzudenken, sog Nic mit seinem Anima Magie aus der Umgebung und wob einen kleinen, aber gemeinen Arktischen Wind, den er mit Bittere Distel verwob. In der Schule gehörte er zum Standardrepertoire des ersten Jahrgangs.

Während er lächelnd davonging, brüllte sein Bruder hinter ihm auf. Was ein simpler Geschmacksvariationszauber und eine ordentliche Portion eisige Kälte mit einem Tee machen konnten, war erstaunlich.

»Du elender …«

Nic verzichtete darauf, sich noch mehr anzuhören, und sprang die Treppenstufen hinauf. Natürlich hatte er bereits als Teenager gelernt, Schutzzauber über sein Zimmer zu werfen, genau wie seine Brüder. Dort war er sicher. Unter ihm polterte es, Jason kam angerannt.

Vorbei an lächelnden Familienfotos, einem Farn, der wirklich immer im Weg stand, und achtlos abgestreiften Schuhen, rannte Nic in sein Zimmer. Praktischerweise war die Tür schon geöffnet. Dass sein Gepäck aus der Schule hierhergebracht worden war – genau hinter die offene Tür –, verdankte er vermutlich Jason. Mit einem Aufschrei stürzte Nic über den Koffer und knallte frontal gegen den Schreibtisch.

Aus dem Gang erklang Lachen. »Ich wollte dir noch sagen, dass dein Gepäck angekommen ist.«

Jasons Schritte entfernen sich.

Murrend raffte Nic sich wieder auf. Der Spiegel neben seinem Schreibtisch enthüllte eine kleine Platzwunde. Da er sein dunkel­blondes Haar mittellang trug, waren einige Strähnen blutverklebt. Schnell heilte er die Wunde und trottete in das Bad im Nebenraum, um sich das Blut abzuwaschen.

Erst dann sank er auf das Bett und atmete durch.

Sein Zimmer sah so aus, wie er es vor wenigen Wochen verlassen hatte. An den Wänden hingen Poster von Feist und Arcade Fire, daneben eine Fotocollage seiner Freunde. Sogar das Bett roch noch nach ihm, tief unter dem Weichspüler.

Nic kickte seine Sneaker durch das Zimmer und trat vor das Fenster. So richtig konnte er es noch nicht glauben. Morgen würde er seinen einundzwanzigsten Geburtstag feiern und damit endgültig volljährig werden. Der Gedanke, dass nach all den Jahren des Lernens von Basismagie endlich sein Talent hervortreten würde, jagte einen Schauer durch seinen Körper.

Vor dem Fenster erfasste der Wind die Schaukel und ließ sie hin und her pendeln. Der Ast, an dem das Holzbrett mit zwei Tauen befestigt war, erzitterte.

Dass sein Elternhaus am Waldrand stand und in der Ferne der Lake Nipissing zu sehen war, hatte er erst zu schätzen gelernt, als man ihn in die Akademie brachte. Wie alle wichtigen Institutionen der magischen Welt, wusste auch von der Schule niemand, wo sie – örtlich gesprochen – zu finden war. Hätten die Lehrer die Spiegelverbindung abgeschaltet, wäre keiner der Eltern dazu in der Lage gewesen, die Schule hinter ihrem Schleier zu finden.

Aus genau diesem Grund waren alle Fluchtversuche Nics erfolglos geblieben. Nach der ersten Woche hatte er damit begonnen, sich einzuleben, und einzig Matt und Jane war es zu verdanken, dass er nicht als Außenseiter geendet hatte. Der kleine arrogante Sohn eines Ratsmitgliedes, das dachten sie alle und ließen es ihn spüren. Würde es in seinem neuen Haus auch so sein?

»Es gibt Essen!«, brüllte Jason und riss Nic damit aus den trüben Gedanken.

Seufzend erhob er sich. Die Treppenstufen knarzten vertraut, als er hinabstieg. Das warme Lächeln seiner Mutter begrüßte ihn. Ohne ein Wort zog sie ihn in ihre Arme. Er legte den Kopf auf ihre Schultern und in diesem Augenblick kam er wirklich zu Hause an.

»Peinlich«, flötete Dustin.

Nics ein Jahr jüngerer Bruder hatte seine Prüfungen für dieses Jahr ebenfalls abgeschlossen. Für ihn begann nächstes Semester das Abschlussjahr. Beinahe hätte er noch zwei Wochen länger bleiben müssen, weil er seine Klausur in Magisches verweben 4 verschlafen hatte. Ohne die Einsicht der Lehrer, dass ihm jemand einen Streich gespielt hatte, hätte sich Nic nur mit Jason herumschlagen müssen.

Hoffentlich erfuhren Nics Eltern nie, dass er für den Streich verantwortlich war, der Dustin beinahe ferngehalten hätte.

»Ich wusste gar nicht, dass hier ein Spiegel hängt«, patzte Nic zurück.

»Ich meinte deine Umarmung.«

Nics stöhnte innerlich auf. »Das ist mir klar. Du bist echt nicht der Hellste.« Er verzichtete darauf, seinem Bruder die Beleidigung zu erklären.

»Benehmt euch.«

Seine Mutter musste nicht einmal die Stimme heben. Sie war eine jung gebliebene Frau Ende vierzig mit glänzenden Locken und gütigen Augen. Ihre Stimme allerdings konnte schneidend wie ein Rasiermesser sein. Sofort setzte sich Jason kerzengerade an den Tisch, Dustin sank schweigend auf den Platz daneben.

»Irgendwann musst du mir den Zauber beibringen«, flüsterte Nic.

»Du kannst mir die Teller bringen«, gab sie freundlich zurück.

»Sollte ich nicht irgendwie der Ehrengast sein, oder so?«

Keine Antwort war auch eine Antwort.

Die Suppe roch nach Würze und Heimat, Kürbis und Liebe. Natürlich sprach er das nicht laut aus, doch sein Magen schlug einen freudigen Purzelbaum, als sie endlich saßen und er den ersten Löffel zum Mund führte.

»Wo ist Dad?«, fragte Nic.

»Ratsgeschäfte«, erwiderte seine Mutter knapp. »Du weißt, er …«

»Schon gut.«

Sie schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln, in dem eine Prise Traurigkeit mitschwang.

Das Abendessen verlief friedlich, sah man von den üblichen Wortgefechten ab, die seine Brüder sich lieferten oder mit ihm ausfochten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sein Geburtstag in vier Stunden begann. Nic ging jede Wette ein, dass die beiden Geschwistermonster sich etwas hatten einfallen lassen, um ihn zu ärgern.

Glücklicherweise gehörte es zum Brauch, dass sein Geburtstag erst im Morgengrauen begann. Sie würden also nicht hineinfeiern. Nach dem Essen verschwanden Jason und Dustin. Seine Mutter stellte ihm Fragen zur Akademie, Jane und Matt und wollte wissen, welches Haus er sich erhoffte.

»Für mich war es auch schwer«, sagte sie. »Du lässt dein gesamtes Leben für vier Jahre zurück, so lange verschreibst du dich dem Haus. Natürlich haben wir uns alle hoch und heilig versprochen, dass wir in Kontakt bleiben. Aber wenn du erst einmal in deinem Haus bist, lernst du neue Leute kennen, findest neue Themen, die dich interessieren. Dein Blick auf die magische Welt wird ein völlig anderer sein.« Sie seufzte. »Die Konkurrenz zwischen den Häusern sorgt automatisch dafür, dass man über gewisse Themen nicht spricht. Nur wenige Freundschaften überstehen das.« Sie berührte sanft Nics Arm. »Jane, Matt und du, ihr werdet es schaffen, da bin ich sicher.«

Nick fragte sich, wie sie das immer wieder tat. Sie wusste stets, was er dachte, sah es ihm irgendwie an. »Ist schon okay.« War es nicht, aber was sollte er sagen?

Sie lächelte und das genügte.

Während sein Vater sehr schnell Karriere in der magischen Welt gemacht hatte, hatte seine Mutter nur die Pflichtjahre im Haus der Pflanzensprecher abgeleistet. Danach hatte sie ihre Pflanzenmagie privat angewandt, um einen wunderschönen Garten zu schaffen, das Haus mit Leben zu erfüllen und sie drei aufzuziehen. Nebenbei schrieb und illustrierte sie Kinderbücher für einen kanadischen Verlag.

Die Zeiger der Uhr tickten leise und als sein Geburtstag nur noch zwei Stunden entfernt war, verabschiedete er sich mit einem Kuss von seiner Mutter und ging nach oben ins Zimmer. Die Müdigkeit kam so schnell, dass er nur noch Hose und Pullover abstreifte und unter die Bettdecke kroch.

Der Schlaf umfing ihn wie ein wärmender Schein, um den herum ein Blizzard tobte. Er ließ sich in seine Träume fallen, wo Jason und Dustin ihn verfolgten, aber Jane und Matt zur Rettung eilten. Doch das Haus, in das sie flüchteten, stürzte ein. Nic stand vor den Trümmern und wuchtete verzweifelt Steine beiseite, um seine beiden besten Freunde zu retten. Nie zuvor hatte er sich derart machtlos gefühlt.

Er öffnete abrupt die Augen. Sein gesamter Körper stand unter Spannung, doch er streifte die Angst ab und handelte nach tausendfach trainierten Reflexen. Während der letzte Schutzzauber seines Zimmers fiel, sprang er in die Höhe, riss die Arme empor und wob in Gedanken einen Mystischen Schild.

Vergeblich wartete er darauf, dass die Wirklichkeit sich umformte und die schillernde Fläche mit den Glyphen entstand. Er konnte die Magie nicht sehen, die zweite Sicht gelang nicht …

Entsetzt realisierte er, dass sein Anima nicht reagierte. Natürlich trug er den Ring aus ziseliertem Titan. Das Metall formte Ornamente aus, die den blauen Saphir umhüllten. Doch Letzterer blieb kalt und blass.

»Ausgezeichnete Reflexe, Nicholas«, begrüßte ihn sein Vater. »Heute wird die Magie sich dir jedoch widersetzen. Die Nichtsschaffer haben ein totes Feld um dein Anima gelegt, du kannst keine Magie verweben.«

»Hallo, Dad«, gab Nic nur zurück.

Was sollte er auch sagen? Abgesehen von Weihnachten und Geburtstag sah er seinen Vater lediglich in den Nachrichten und las über ihn in diversen Artikeln von Gegnern oder Unterstützern des Rates. Dass Politik schmutzig war, hatte Nic Zeile für Zeile gelernt.

»Ich beglückwünsche dich zu deiner Volljährigkeit«, erklärte sein Vater mit der ihm eigenen britischen Steifheit.

Wie immer sah er aus, als sei er frisch aus der Reinigung zurückgekehrt, wo jemand seine Weste gebügelt und gestärkt hatte, während er noch drinsteckte. Der Vollbart war perfekt gestutzt, das Haar akkurat geschnitten. Die Kette einer Taschenuhr lugte aus der Weste hervor.

»Danke.« Nicht die hellste Erwiderung, aber was sollte er auch sagen? Der Mann vor ihm war praktisch ein Fremder.

»Folge mir bitte.«

Ohne abzuwarten, verließ sein Vater das Zimmer, die Stufen knarzten. Nic schlüpfte in seine Jeans und rannte los, noch während er den Gürtel schloss, was beinahe zu einem peinlichen Treppensturz geführt hätte. Ein würdiger Start für einen einundzwanzigsten Geburtstag, wie Jason und Dustin zweifellos bestätigt hätten. Sein Vater schritt mit kerzengeradem Rücken aus, durch die Eingangshalle, vorbei am Spiegel in sein Büro.

Das verbotene Büro!

Auf diesem Raum lagen so viele Schutzzauber, dass nicht einmal der Dämon persönlich sie hätte durchdringen können. Natürlich hatten sie es als Kinder immer wieder erfolglos versucht. Dieses Mal stand die Tür offen und sein Vater wartete geduldig, bis Nic eingetreten war.

»Was tun wir hier?«, fragte er mit krächzender Stimme.

»Das werde ich dir offensichtlich gleich sagen«, kam es zurück und prompt fühlte sich Nic wieder wie ein Sechsjähriger, der eine ganz und gar dumme Frage gestellt hatte.

Der Raum bestand vollständig aus Regalen. Zumindest wirkte es so. Abgesehen von dem wuchtigen Schreibtisch, der die gesamte Raumbreite gegenüber der Tür einnahm, gab es nur deckenhohe Regale, die mit Wälzern vollgestopft waren. Nic erkannte das Standardwerk von Elias Manson über die Konsistenz und Regenerationsfähigkeit von Magie, aber auch Werke zu den magischen Talenten diverser Häuser und fortgeschrittene Theorien über vergessene Geschichte.

Sein Vater trat an den Schreibtisch, klappte den Kopf einer Büste zur Seite und betätigte einen darin verborgenen Knopf. Keine Magie wurde wirksam, stattdessen setzten sich simple Mechanismen in Gang. Eines der Regale teilte sich und gab eine dahinterliegende Kabine frei.

Fast hätte Nic erwartet, zwei Haltestangen vorzufinden, an denen sie in die Tiefe rutschen konnten. »Führt der in die Bathöhle?« Er bereute den Spruch sofort.

Schweigend bedeutete sein Vater ihm, die Kabine zu betreten. Anstelle eines Bedienungsfeldes mit Knöpfen war ein Hebel aus Messing in die Wand eingelassen. Die Wand dahinter war offen und gab den Blick auf allerlei Zahnräder frei. Sein Vater betrat die Kabine ebenfalls und drückte den Hebel klickend nach unten in die Aussparung, worauf die Räder sich drehten und die Kabine in die Tiefe sank.

»Weiß Mum hiervon?«, fragte Nic.

»Nein«, erklärte sein Vater. »Ja. Was ich meine: Ich habe es ihr nicht erzählt, doch deine Mutter ist zu schlau, als dass sie nicht wüsste, dass da etwas unter unserem Haus ist.«

Ja, das entsprach ganz der Art seiner Eltern. Manchmal fragte sich Nic, wie es möglich gewesen war, dass aus den beiden ein Paar wurde. Vermutlich hatte sein Dad sich geräuspert, worauf seine Mum das kurzerhand als ›Willst du mich für alle Zeit hegen und pflegen‹ miss­interpretiert hatte.

Die Kabine kam mit einem Quietschen zum Halt. Wieder ratterten die Zahnräder, beide Türhälften zogen sich in die Wand zurück. Dahinter kam ein Raum zum Vorschein, der einem Jules-Verne-­Roman hätte entsprungen sein können. In dem Fall wäre sein Vater der englische distinguierte Gentleman, der sich als wahnsinniger Wissenschaftler entpuppte.

Sicherheitshalber linste Nic zu ihm hinüber. Doch da war kein Wahnsinn in seinem Blick. Eher … Besorgnis. Aber das war unmöglich, sein Vater war niemals besorgt. Von starken Emotionen hielt er sich grundsätzlich fern.

»Du darfst die Kabine verlassen«, kam es prompt von links.

Zögerlich betrat Nic den Raum.

Auf einem Podest in der Mitte ragten drei seltsame Spulen empor, die aus Chrom und Zinn gegossen worden waren. Die Spitzen bildeten Steine verschiedenster Farbe, die von innen heraus glühten.

»Sind das Anima?!«

Und nicht nur das, die Steine leuchteten in den vertrauten Farben seiner Mum, Dustins und Jasons.

Sein Vater ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen stolzierte er zu dem Schaltpult, das seitlich des Podestes aus dem Boden emporwuchs. Touchscreens waren darauf keine zu finden, stattdessen altmodische Hebel und Stellräder. Im Zentrum war eine Kugel eingelassen, von der die Hälfte hervorragte, ein silbriger Glanz ging davon aus.

Um die Anordnung herum standen Regale an der Wand, die mit zerfledderten Schriften gefüllt waren. Auf einer Werkbank lagen Gegenstände, die Nic auch bereits in den Laboren an der magischen Akademie gesehen hatte.

»Bitte stell dich zwischen die Chavale-Spulen.«

»Chavale-Spulen«, echote Nic fassungslos.

»Du solltest wissen, dass Egmont Chavale ein bedeutender Magier des 18. Jahrhunderts w…«

»Ich weiß, wer das ist! Ich meine, war«, patzte Nic. »Aber wieso stehen diese Spulen hier, haben Anima an der Spitze und warum soll ich mich in die Mitte stellen?!«

»Ist das nicht offensichtlich?« Sein Vater beäugte ihn mit hochgezogenen Brauen.

»Nein«, gab er die noch offensichtlichere Antwort zurück.

»Weil ich dein Vater bin und dich darum bitte.«

»Also das …« Wie harsch sein Dad sein konnte. »Hat das etwas mit meinem Geburtstag zu tun?«

»Stelle dich bitte auf die Plattform.«

Seufzend kam Nic der Aufforderung nach. »Und jetzt?«

»Nicht bewegen.«

Wunderbar, als hätte es in der magischen Akademie nicht genug Experimente gegeben. Zugegeben, viele davon hatten die Schüler unter sich durchgeführt, insbesondere Jane, Matt und er. Die Folgen waren nicht immer harmlos gewesen, aber der Krankenflügel besaß gemütliche Betten.

Es klackte stakkatoartig, als Nics Vater zahlreiche Schalter umlegte, Rädchen drehte und sich irgendwelche verborgenen Mechanismen in Gang setzten. Vermutlich hatte er seinen Sohn längst vergessen, der mit verschränkten Armen im Zentrum der Plattform stand.

Das Schimmern an der Spitze der Anima wurde heller. Ein Leuchten waberte durch die Luft, als hätte sich die Aurora Borealis des Pols kurzerhand zu einem Tanz eingefunden, zu Ehren von Nics Geburtstag.

Das Leuchten glitt herab.

Er ging davon aus, dass die echte Aurora Borealis weder auf der Haut brannte noch das Innere nach außen kehrte. Genau so fühlte es sich jedoch an. Nic ging in die Knie, sein Körper zuckte, die Muskeln verkrampften. Er brüllte.

Sein Vater nahm davon keine Notiz, schien nichts anderes erwartet zu haben.

Irgendwann war es vorbei.

»Du Mistkerl«, krächzte Nic.

»Ich bitte dich, Nicholas, achte auf deinen Ton.« Sein Vater kam herbeigeeilt und hielt einen Abstand von zwei Schritten.

Vermutlich Sicherheitsdistanz, damit Nic ihm nicht die blank polierten Schuhe vollkotzte.

Als Nic seinen Magen endlich wieder unter Kontrolle hatte, erhob er sich zitternd. »Was war das?«

Sein Vater bückte sich und nahm einen Stein auf, der zuvor noch nicht dort gelegen hatte.

»Wo kommt der denn her?«, fragte Nic verdutzt. »Der sieht auch aus wie ein Anima.«

»Hör mir jetzt zu«, bat sein Vater mit einer so beschwörenden Stimme, dass Nic genau das tat. Er lauschte. »Du darfst mit niemandem über das hier sprechen. Du warst nie hier unten, diese Maschine existiert nicht. Verstehen wir uns?«

»Aber …«

»Mit niemandem! Schwöre es bei unserem Blut.«

Nic verdrehte die Augen. »Du weißt aber schon, dass das nichts Magisches ist, Dad?«

»Ich appelliere an deine Ehre.«

»Na dann. Von mir aus. Ich schwöre auf unser Blut, dass ich niemandem von dem Zeug hier erzähle. Habe ja sowieso keine Ahnung, was das ist.«

»Ausgezeichnet.«

»Ansichtssache. Jetzt sag, was ist all das hier?«

Verdutzt erwiderte sein Vater Nics Blick. »Natürlich werde ich dir das nicht sagen.«

»Was?!«

»Das heißt ›Wie bitte‹. Ich dachte wirklich, sie hätten dir auf der Akademie …«

»Das ist ja wohl das Letzte!«, brüllte Nic. »Ich nehme den Schwur zurück!«

»Einen Schwur kann man nicht zurücknehmen, Nicholas.«

»Ich tue es trotzdem!«

Kurzerhand ließ er seinen Vater stehen, trat in die Aufzugskabine und knallte den Hebel herab. Als die Türen sich endlich schlossen, atmete er auf. Alles, was er tun musste, war warten. Achtundvierzig Stunden, dann kehrte seine Magie zurück, das Talent war enthüllt und er konnte heimlich hierher zurückkehren.

Sobald sein Vater wieder auf wichtiger Mission für den Rat unterwegs war, würde er sich in Ruhe umsehen und selbst herausfinden, worum es dort unten ging.

»So leicht kommst du mir nicht davon.«

Wütend verließ er den Aufzug …

… und schlug der Länge nach hin.