Martin Bojowald
Zurück vor den Urknall
Die ganze Geschichte des Universums
Sachbuch
Fischer e-books
Martin Bojowald, geboren 1973, hat nach dem Studium am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam gearbeitet und ist nun Assistant Professor an der Pennsylvania State University in den Vereinigten Staaten. Über seine Forschungen auf dem Gebiet der Schleifen-Quantengravitation und der Kosmologie wurde in der internationalen Fachpresse wie »New Scientist«, »bild der wissenschaft« oder »Nature« berichtet. Die Oktoberausgabe 2008 von »Scientific American« brachte als Titelgeschichte einen Beitrag von Martin Bojowald: »Forget the Big Bang: Now it's the Big Bounce«.
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Martin Bojowald, Penn State
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400272-9
Übersetzt aus: Rudolf Carnap, Introduction to the Philosophy of Science, New York 1995.
Sie hat aber durchaus Konsequenzen für das alltägliche Leben, denn ohne sie wäre die natürliche Strahlenbelastung am Erdboden geringer: Die in der Folge auftretenden Myonen würden sonst hoch oben in der Atmosphäre zerfallen, anstatt am Boden einen Beitrag zur Höhenstrahlung zu leisten.
Der Ursprung insbesondere des hochenergetischen Anteils ist nicht komplett geklärt, er scheint aber teilweise aus aktiven, Strahlung aussendenden Galaxien außerhalb der Milchstraße zu kommen.
Solche Argumente sind vielleicht auch mit dem Hintergedanken verbunden, dass man sich dann die Mühe des Erlernens der komplizierten Theorie, die nur noch selten im Lehrplan der Universitäten auftaucht, ersparen kann.
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, München 2005. 5 Ein extremes Beispiel, das in abgeschwächter Form aber weit verbreitet ist, ist die Aussage des Physikers Frank Tipler in einem Programm des amerikanischen Fernsehsenders CBS11 am 9.Mai 2007: »Gott ist die kosmologische Singularität. Ich bin nicht blasphemisch; ich folge nur der alten Tradition und sage, dass die Wissenschaft die Lehren der Religion einer experimentellen Überprüfung unterzieht und wir herausfinden, dass Gott existiert.«
Dies ist ein schwerwiegendes Problem für die durch die Fernsehserie »Raumschiff Enterprise« populär gemachte Idee des Beam-Prozesses, in dem ein Objekt oder eine Person komplett ausgemessen, vernichtet und an anderer Stelle identisch wiederhergestellt werden soll. Schon der erste Schritt, die komplette Ausmessung, ist wegen der Unschärferelation unmöglich – der zweite Schritt der Vernichtung erscheint hingegen viel leichter. Dem soll den Erfindern der Serie zufolge durch einen sogenannten »Heisenberg-Kompensator« begegnet werden, der die Unschärferelation umgeht. Leider existiert hierzu nur wenig Information: Auf die Frage, wie der Heisenberg-Kompensator denn funktioniere, erhielt man von einem technischen Direktor nur die Antwort: »Danke der Nachfrage, er funktioniert sehr gut.«
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, München 2005.
In: 100 Years of Relativity – Space-Time Structure: Einstein and Beyond, zusammengestellt von Abhay Ashtekar, Singapore 2005.
Es gibt sogar eine »Theorie«, die so mysteriös ist, dass nicht einmal ihr Name, abgesehen von ihrem Anfangsbuchstaben, bekannt ist. Dieser Buchstabe wird in der Tat oft als Platzhalter für »magisch« oder »mysteriös« angesehen, aber manchmal auch für Worte wie »Membran« bis hin zu einem Spiegelbild des ersten Buchstabens des Nachnamens ihres Urhebers.
Nicht nur in der Physik treten Theorien in diesem Sinn auf, sondern auch in anderen Wissenschaften. Ein bekanntes Beispiel ist die Evolutionstheorie in der Biologie, die basierend auf Prinzipien wie Selektion und Mutation die Artenfülle des irdischen Lebens und viele spezifische Details erklären kann.
Dies ist zum Beispiel in »Verborgene Universen« von Lisa Randall beschrieben, Frankfurt am Main 2006.
Übersetzung des Autors.
An der Datenauswertung kann man sich mit Hilfe des Programms Einstein @Home (http://einstein.phys.uwm.edu/) beteiligen. Hierbei handelt es sich um einen Bildschirmschoner, der die Ruhezeiten des Computers für eine Analyse von Beobachtungsdaten nutzt. Zurzeit benutzen dies etwa 75 000 Computernutzer aus etlichen Ländern, was den Gravitationsforschern willkommene Rechenleistung einbringt.
Friedrich Schiller: Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Publiziert in Der Teutsche Merkur, 1789 (Seite 127/8).
Nicht alle Beschreibungen des Universums folgen der Sichtweise des Top-Down. Wie wir in einem späteren Kapitel über die Eindeutigkeit von Lösungen noch sehen werden (Seite 309), kann die Schleifen-Quantenkosmologie z.B. fundamentale Bedingungen für die Form ihrer Lösungen am Urknallpunkt liefern, ohne die heutige Weltverfassung zu bemühen. Somit zeigt sie eine höhere Erklärungskraft, doch auch ein größeres Wagnis: Über die jetzige Verfassung der Welt werden Vorhersagen getroffen, die sich erst noch an Beobachtungen bewähren müssen.
Das beobachtbare Universum hatte zu diesem Zeitpunkt nur etwa ein Milliardstel seines heutigen Volumens.
Penzias und Wilson hatten ihre Mikrowellenantennen nicht zum Zweck von kosmologischen Messungen entwickelt, und erst nachträglich wurde die Entdeckung mit der Kosmologie in Verbindung gebracht. Andere Forscher hatten unabhängig davon ähnliche Experimente geplant, denen Penzias und Wilson aber zuvorkamen. Unter diesen Forschern war auch David Wilkinson, dessen Name uns weiter unten im Zusammenhang mit dem Satelliten WMAP, der die zurzeit genauesten Daten zur kosmischen Hintergrundstrahlung liefert, wieder begegnen wird.
Reines und Cowan hatten für einige Zeit sogar mit dem Gedanken gespielt, den Detektor in der Nähe einer explodierenden Atombombe aufzubauen.
Genauso könnte man die jetzige Beschleunigung als Inflation statt Dunkler Energie bezeichnen. Da es sich aber anscheinend um unterschiedliche Phänomene handelt, sollte man sie begrifflich trennen. Und da beschleunigte Ausdehnung im frühen Universum historisch als Erstes untersucht wurde, wurde der Begriff »Inflation« schon hiervon besetzt.
Es ist ein offenes Problem, warum zurzeit nicht gleiche Teile von Materie und Antimaterie existieren. Diese beiden Bestandteile müssen also entweder voneinander getrennt worden sein oder durch eine Asymmetrie in unterschiedlichen Mengen entstanden sein. Keine dieser Möglichkeiten kann derzeit durch physikalische Prozesse vollständig untermauert werden, worauf wir weiter unten kurz zurückkommen werden.
Sie wurden erstmals vom Vela-Satelliten des amerikanischen Militärs entdeckt, der eigentlich mögliche sowjetische Atombombenexplosionen im Weltraum aufspüren sollte.
Die Bewegung findet allerdings nicht in einer festen Ebene statt. Einen Film dazu kann man auf http://www.mpe.mpg.de/ir/GC/index.php finden.
Übersetzung des Autors.
Kursive Passagen sind fiktiv und deuten illustrativ an, welche ansonsten vielleicht möglichen Spekulationen die Mathematisierung der modernen Physik verbietet.
Übersetzung des Autors aus dem Englischen.
Für rotierende Schwarze Löcher, die nicht rotationssymmetrisch, aber im All typisch sind, treten dennoch neue Phänomene auf. Zum Beispiel können nach dem Penrose-Prozess nahe an einem rotierenden Schwarzen Loch vorbeiflie-
gende Objekte auf Kosten der Rotation des Schwarzen Loches beschleunigt werden. Auf diese Weise kann man im Prinzip durch Stoppen der Rotation des Schwarzen Loches Energie gewinnen, die bis zu 30 % der Masse des Schwarzen Loches entsprechen kann. Dies ist eine gewaltige Menge, wenn man bedenkt, dass die Kernenergie auf der Umwandlung eines viel niedrigeren Prozentsatzes der weit geringeren Masse an Spalt-Substanz im Reaktor beruht.
Bzw. ertrinkt, nach weiteren Jahren globaler Erwärmung.
Was keineswegs bedeutet, dass die Untersuchung der thermischen Strahlung nicht zu bedeutenden Erkenntnissen geführt hätte. Hier sei nur an Plancks Untersuchungen der Hohlraumstrahlung oder an die Wärmestrahlung des kosmischen Mikrowellenhintergrundes erinnert.
Eine Anwendung dieses Prinzips ist realistischer, aber auch weit schwieriger als die der idealen mathematischen Zeit. In der Allgemeinen Relativitätstheorie wurden Anfänge dazu in den 1960er Jahren vor allem von Peter Bergmann gemacht; doch noch immer befindet sich die theoretische Beschreibung im Aufbau, wozu in letzter Zeit z.B. Carlo Rovelli und, darauf aufbauend, Bianca Dittrich beigetragen haben. Auch Julian Barbour setzt sich immer wieder mit diesen Fragen auseinander.
Interessant ist außerdem die übliche Darstellung mit einem gesunden und einem abgebrochenen Stoßzahn wie in Abb. 29, was die Kombination von Perfektion und Durcheinander in der realen Welt symbolisiert; siehe dazu auch das letzte Kapitel.
Fragmente der Vorsokratiker sind aus »Philosophie von Platon bis Nietzsche«, Digitale Bibliothek Band 2, 3. Ausgabe, Directmedia, Berlin 2002, bzw. »Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch« von Hermann Diels, Vierte Auflage, 1. und 2. Band, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1922, zitiert.
Besonders an dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich an die Fußnote auf Seite 150 erinnert.
»Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb mißtrauisch, halb spöttisch zu blicken, ist nicht, daß man wieder und wieder dahinterkommt, wie unschuldig sie sind – wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit –, sondern daß es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesamt einen großen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher als sie und tölpelhafter sind – diese reden von ›Inspiration‹ –): während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine ›Eingebung‹, zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen verteidigt wird – sie sind allesamt Advokaten, welche es nicht heißen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurteile, die sie ›Wahrheiten‹ taufen – und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen gibt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Übermut und um ihrer selbst zu spotten.« (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse). Glücklicherweise gibt es in der Physik das Gewissen der experimentellen Beobachtung, das dem Überschwang theoretischer Herzenswünsche Einhalt gebieten kann.
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a. a. O.
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a. a. O.
... and if he does not do it solely for his own pleasure,
he is not an artist at all.
Oscar Wilde: The Soul of Man under Socialism
Für einen Wissenschaftler gibt es viele Gründe, ein populärwissenschaftliches Buch zu schreiben, und es gibt etliche Gründe, dies nicht zu tun. Das Primat jeder wissenschaftlichen Betätigung ist immer noch die Forschung: Hier werden Karrieren geschmiedet und Auszeichnungen verdient. Alles andere verbraucht demgegenüber nur kostbare Zeit – zumindest in den Augen mancher Kollegen, die vielleicht einmal zu einer Bewertung in einer wichtigen Entscheidung befragt werden.
Doch was ist aller wissenschaftlicher Fortschritt wert, wenn man ihn nicht vermitteln kann? Verstehen wir die Welt wirklich, wenn wir sie nicht ohne die Voraussetzung eines langjährigen Studiums erklären können? Zu oft bedeutet das Erlernen einer komplexen Materie, dass man die entscheidenden Sachverhalte bloß akzeptiert und sich an eingespielte Rechenmethoden gewöhnt. Ein wahrer Test des Verständnisses wird erst erreicht, wenn dieses Wissen einem aufgeschlossenen, aber unvoreingenommenen Laien erklärt werden soll. In diesem Sinne ist z.B. die Quantenmechanik – trotz aller Erfolge und technologischer Anwendungen – keineswegs verstanden (wovon wohl das dritte Kapitel dieses Buches einen Eindruck gibt). Ein populärwissenschaftliches Buch zu schreiben ist für einen Wissenschaftler also eine Übung, die auch für die eigene Forschung äußerst relevant ist.
Zudem ist ein populärwissenschaftliches Buch das ideale Medium, die Einheit von Wissenschaft, Literatur und Kunst anzudeuten. In all diesen Bereichen macht man sich ein Bild von der Welt und versucht,
es zu vermitteln. Diese Einheit besteht natürlich nicht in Wirklichkeit, sondern nur als Ideal. Doch ein Buch, das die Ambition hat, allgemeinverständlich zu sein, hat auch ein Recht, dieses Idealbild zu bemühen. Ich bin deshalb allen in diesem Buch Zitierten zu Dank verpflichtet, die geholfen haben, diese Einheit zu erschließen. Vonseiten der Kunst gebührt Gianni Caravaggio Dank, von dem einige Kunstwerke im Folgenden abgebildet sind, und der in vielen Diskussionen zu manchen Einsichten beigetragen hat. Zu danken ist auch Rüdiger Vaas, der ebenfalls in Diskussionen über einige Jahre hinweg zu meinem Verständnis und dessen Vermittlung beigetragen hat. Er war einer der Ersten, die an meinen Forschungsresultaten Interesse gefunden haben und sie einer weiten Verbreitung für würdig empfanden. Viele Weitere, die hier unmöglich alle genannt werden können, haben mich ständig, und sei es auch nur durch eine kurze E-Mail, gezwungen, den Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verlassen. Besonders erwähnen möchte ich hier noch Hartmut Schneeweiß von der Astronomischen Vereinigung Weikersheim.
Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne den Vorschlag Jörg Bongs vom S. Fischer Verlag und die folgende Unterstützung auch von Alexander Roesler während des Schreibens. Zu danken habe ich außerdem dem Physik-Department der Pennsylvania State University, das es versteht, für seine Mitglieder eine überaus angenehme und stimulierende Atmosphäre bereitzustellen. Es hat mich auch unbewusst beim Schreiben dieses Buches durch das Angebot eines Freisemesters unterstützt, ohne überhaupt von meinen diesbezüglichen Plänen zu wissen!
Elisabeth und Stefan Bojowald danke ich für ein kritisches Lesen einer Vorversion dieses Buches und für so manchen Hinweis, z.B. zu zyklischen Bildern in der Ägyptologie. Eine Rolle im Entstehen mancher Passagen hat auch die Ruhe dieser Zuflucht am Rande der Eifel gespielt.
State College, Pennsylvania | April 2008 |
Je abstrakter die Wahrheit ist, die Du lehren willst,
desto mehr musst Du noch die Sinne zu ihr verführen.
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse
Im letzten Jahrhundert ist die physikalische Forschung weit fortgeschritten und hat ein überragendes Theoriengebäude entworfen: die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie. Dies erlaubt ein Verständnis der Natur im großen wie im kleinen Maßstab, vom ganzen Universum in der Kosmologie bis hin zu einzelnen Molekülen, Atomen oder gar Elementarteilchen mit Hilfe der Quantentheorie. Zusammengenommen ergibt sich so eine präzise Beschreibung und ein tiefgreifendes Verständnis von mannigfachen Phänomenen, die eine spektakuläre Bestätigung durch Beobachtungen erfahren haben. Gerade in den letzten Jahren ist dies vor allem in der Kosmologie des frühen Universums geglückt.
Neben der technologischen Relevanz in fast allen Bereichen des alltäglichen Lebens besteht ein unverkennbares Gütezeichen dieses wissenschaftlichen Fortschrittes darin, dass schon seit einiger Zeit Teile der Forschung an traditionell von der Philosophie beanspruchte Fragestellungen stoßen. (Mit dem Physiker und Philosophen Abner Shimony kann man hier zu Recht und mit absichtlichem inneren Widerspruch von »experimenteller Metaphysik« sprechen.) Seit Aristoteles ist das Ziel der Theoriebildung die Einsicht in allgemeine Sachverhalte und ein Verständnis von deren Gründen, im Gegensatz zum Sammeln von Einzelwissen. Philosophie hingegen fragt nach den tiefsten Gründen oder Prinzipien des Seienden. In diesem Sinne ist die Verschmelzung einiger physikalischer mit philosophischen Fragestellungen durchaus als Auszeichnung des wissenschaftlichen Fortschrittes zu verstehen. Wenn Physik zu diesen Fragen vordringt, gelangt sie auch in eine Position, mit der zu Diskussionen von weit allgemeinerem – und weiter reichendem – Interesse beigetragen werden kann. Für eine Kombination von Kosmologie und Quantentheorie ist die wichtigste Frage die nach der Entstehung und den ersten Stadien der Welt, was die Menschheit seit den Anfängen der Philosophie und auch schon davor bewegt hat.
Weitere Beispiele sind, sowohl in der Quantentheorie als auch in der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Rolle von Beobachtern in der Welt und die Frage nach dem, was man überhaupt beobachten kann und was möglicherweise nicht. In der Kosmologie bedeutet der Einzug von physikalischen Methoden die Entstehung empirisch überprüfbarer Weltbilder. Das Urknall-Modell des Universums beruht sowohl auf der Allgemeinen Relativitätstheorie in der Beschreibung von Raum, Zeit und der treibenden Gravitationskraft als auch auf der Quantentheorie, die für eine Kenntnis der Eigenschaften von Materie im frühen Universum wichtig ist. Insgesamt ergibt sich eine spektakuläre Erklärung für die sukzessive Entstehung von Atomkernen, Atomen und weiter zusammengesetzter Materie bis hin zu Galaxien aus einer extrem heißen Anfangsphase.
Gerade an dieser Stelle werden jedoch auch Grenzen des etablierten Weltbildes sichtbar. Trotz aller Erfolge ergibt die Allgemeine Relativitätstheorie zusammen mit der Quantentheorie, wie sie derzeit benutzt wird, keine vollständige Beschreibung des Universums. Löst man die mathematischen Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, um ein Modell des zeitlichen Verlaufes des Universums zu erhalten, so erhält man immer einen Zeitpunkt, die sogenannte Urknall-Singularität, zu dem die Temperatur des Universums unendlich groß war. Dass das Universum in der Urknall-Phase sehr heiß war, ist keine Überraschung; schließlich war das expandierende Universum damals viel kleiner und komprimierter als heute, was einen enormen Temperaturanstieg bedeutet. Aber Unendlich als Resultat einer physikalischen Theorie bedeutet schlicht, dass die Theorie überstrapaziert wurde. Ihre Gleichungen verlieren an solch einem Punkt sämtlichen Sinn. Im Falle des Urknall-Modells sollte dies nicht als eine Vorhersage eines Anfangs der Welt missverstanden werden, obwohl es oftmals so dargestellt wird. Ein Zeitpunkt, an dem eine mathematische Gleichung Unendlich liefert, ist nicht der Anfang (oder das Ende) der Zeit. Es ist einfach ein Punkt, an dem die Theorie ihre Begrenztheit zeigt. Trotz aller Erfolge in anderen Bereichen muss die Theorie, die durch die Allgemeine Relativitätstheorie in Kombination mit der Quantentheorie der Materie geliefert wird, erweitert werden.
Das Problem hat seine Ursache in der Unvollständigkeit der Revolution, die in der physikalischen Forschung des letzten Jahrhunderts stattfand. Die Quantentheorie wird zwar für eine Beschreibung der Materie im Universum benutzt, nicht aber für die Gravitationskraft oder gar für Raum und Zeit selbst. Letzteres ist die Domäne der Allgemeinen Relativitätstheorie, die aber weitgehend unabhängig von der Quantentheorie ist. Eine erfolgreiche Kombination von Quantentheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie auch in den Bereichen von Raum und Zeit würde die bisher bekannte Theorie signifikant erweitern. Eine solche Kombination, die Quantengravitation, ist insbesondere für eine Beschreibung der heißen Urknall-Phase des Universums wichtig und kann, so hofft man, erklären, was an dem Unendlichkeitspunkt der Urknall-Singularität passierte. War dies wirklich der Ursprung der Welt und der Zeit, oder gab es doch etwas davor? Und wenn es etwas vor dem Urknall gab, dann was?
Leider erweist sich die Quantengravitation als äußerst kompliziert. Für sich genommen sind Allgemeine Relativitätstheorie und Quantentheorie durch einen in der vorhergehenden Physik ungekannten mathematischen Aufwand ausgezeichnet. Außerdem sind die in diesen beiden Bereichen benutzten mathematischen Methoden voneinander sehr verschieden. Eine Kombination der physikalischen Theorien verlangt auch eine Vereinigung der zugrundeliegenden mathematischen Objekte, was zu einer Potenzierung des Schwierigkeitsgrades führt. Deshalb ist, trotz vieler Jahrzehnte Forschung und starker Anstrengungen zahlreicher Wissenschaftler, noch keine vollständig ausformulierte Quantengravitation verfügbar. Was wir aber vor allem in den letzten Jahren gesehen haben, sind zahlreiche vielversprechende Indizien für ihre Eigenschaften, die bereits analysiert werden können. Die Situation, wie so oft in der Forschung, gleicht dem Anfangsstadium eines Puzzle-Spiels, in dem man das endgültige Bild vielleicht teilweise erahnen kann, dennoch aber auch auf einem Irrweg sein könnte. Unser derzeitiges Bild deutet an, was eine Vervollständigung der physikalischen Theorie bewerkstelligen kann: Sie erlaubt uns zu sehen, was während und sogar vor dem Urknall geschehen sein könnte. Wir erhalten Einblick in die früheste Urzeit unseres Universums und können erstmals analysieren, wie es wohl entstand.
In diesem Buch werden sowohl jüngste Resultate der Theorie als auch für die nähere Zukunft geplante Beobachtungen im Weltraum erläutert, und es wird gezeigt, wie radikal sie unser Weltbild verändern können. Insbesondere mit der Schleifen-Quantengravitation, eine der Varianten, die derzeit für eine Kombination von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantentheorie gehandelt werden, sind Ansätze für eine nichtsinguläre Beschreibung des Urknalls erzielt worden. In diesem Rahmen existierte das Universum schon vor dem Urknall, und es lässt sich grob abschätzen, wie es sich damals in seinen Eigenschaften von den jetzigen unterschieden haben könnte. Durch den Einfluss auf spätere Phasen der kosmischen Expansion, die empfindlichen Beobachtungen offenstehen, kann man diese Urgeschichte des Universums untersuchen. Aus erster Hand der Forschung wird dies im weiteren Verlauf dargestellt werden, gefolgt von einer Behandlung Schwarzer Löcher, die ebenfalls faszinierende Effekte zeigen. Die abschließenden Kapitel berühren dann weitergehende, ein allgemeines Verständnis der Welt betreffende Fragestellungen, darunter die Kosmogonie, das Rätsel der Zeit und ihrer Richtung und den Gral der »Weltformel«. Wie das wissenschaftliche Weltbild wird der menschliche Weg der Erkenntnis selbst durch Beispiele aus der modernen Forschung beleuchtet. Hierin wird etwas Einblick von einer persönlichen Perspektive aus gewährt.
Obwohl die Theorie hochmathematisch ist, sind viele Rechnungen mittlerweile intuitiv verstanden. Intuition ist nicht nur hilfreich für die Forschung in einem unbekannten Territorium, sondern erlaubt auch eine breitangelegte Erklärung. Dies soll, unter Verzicht auf mathematischen Formalismus (abgesehen von einer Illustration auf Seite 123), in diesem Buch realisiert werden, getreu dem am Anfang dieses Kapitels zitierten Nietzsche-Motto. Während man zum Entdecken und Einsehen solcher Sachverhalte nicht auf die Mathematik verzichten kann, ist ein anschauliches Verständnis ohne allzu viel Aufwand möglich. Man wird zwar nicht immer verstehen, warum die Dinge so und nicht anders sein sollen, aber mit etwas Vertrauen in den Reiseführer erkennt man doch einige der Zusammenhänge.
Dennoch ist eine Warnung vonnöten: Viele Bereiche der Quantengravitations-Forschung sind noch als spekulativ zu betrachten. Anders als in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in der die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie entwickelt wurden, existieren (noch) keine Beobachtungen, die als Richtlinie für die theoretische Ausformulierung der Quantengravitation dienen könnten. Was derzeit die Forschung antreibt, sind konzeptionelle Erwägungen der bisher erkannten Unvollständigkeit der Allgemeinen Relativitätstheorie sowie mathematische Konsistenzbedingungen in der Formulierung von Gleichungen. Es ist zum Beispiel keineswegs garantiert, dass die Kombination gewisser mathematischer Methoden, wie sie in der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenphysik vorkommen, überhaupt Lösungen zur verlässlichen Beschreibung des Universums zulässt. In der Tat sind die mathematischen Methoden so restriktiv, dass eine Formulierung einer Theorie mit sinnvollen Lösungen schon einen riesigen Erfolg darstellen würde. Ob es noch weitere Theorien mit dieser Eigenschaft geben könnte, ist dann eine andere, bisher unvollständig untersuchte Frage. Dies zeigt, auf welch zarten Säulen die Quantengravitation zurzeit steht. Es herrscht aber Optimismus, denn viele unabhängige Indizien, wie die in diesem Buch, deuten in dieselbe Richtung. Außerdem, und weit wichtiger, erwartet man für die nähere Zukunft kosmologische Beobachtungen, die von der Quantengravitation vorhergesagte Phänomene zeigen könnten. Solche Beobachtungen, die auch in diesem Buch beschrieben sind, würden die Quantengravitation endgültig zu einer empirisch überprüften Theorie machen.
Noch gleicht der Stand der Quantengravitation dem Frühstadium der Erschließung eines neuen Gebietes. Als Pionier fungiert hier die Mathematik, die neue Bereiche hinter etablierten Grenzen eröffnet. In unserem Fall sind diese Grenzen buchstäblich die des Universums und der Zeit. Die Mathematik dient auch zur Erforschung dieses neugewonnenen Territoriums, eine endgültige Absicherung in einer empirischen Wissenschaft wie der Physik kann aber nur durch Beobachtungen kommen. Dies steht bisher für die Quantengravitation aus, die somit einem Land noch voller Gefahren gleicht. Nur zu leicht verirrt man sich hier oder versinkt in den Sümpfen der Spekulation.
Ein solches Land verlangt einige Ehrfurcht vor der Natur, die allerdings nicht immer dargebracht wird. Auch wenn die Sprache der Physiker über die Natur oft sehr bestimmt (und manchmal vielleicht überheblich) klingt, so gilt allgemein nach Rudolf Carnap: »Es [ein Naturgesetz] kann richtig, aber auch falsch sein. Wenn es nicht richtig ist, ist der Wissenschaftler, nicht die Natur, der Schuldige.« [1]Ein Physiker stellt Naturgesetze auf, hat es aber selbst zu verantworten, wenn sie verletzt werden. Niemand ist dem Physiker Untertan, schon gar nicht die Natur. Dies gilt insbesondere für theoretische Skizzen wie die Quantengravitation. In der Zwischenzeit, bevor Beobachtungen zeigen, dass die Natur den ihr auferlegten und hier beschriebenen Gesetzen zumindest einigen Respekt zollt, dient die Intuition als Reiseführer in dem unbekannten Land, auf einer abenteuerlichen Fahrt zurück vor den Urknall.
Der Stein der Weisen zerfließt: Was als gesicherte Erkenntnis gilt, kann sich bei näherer Untersuchung als korrekturbedürftig erweisen. Eine Auswertung von Resultaten oder Versprechungen der Wissenschaft muss immer auch deren Grenzen berücksichtigen. Oft sind solche Grenzen sogar wichtiger als etablierte Resultate, denn sie weisen den Weg zu neuen Erkenntnissen. (Skulptur von Gianni Caravaggio: Spreco di energia assoluta [Absolute Energieverschwendung], 2006, Schwarzer Maquiña-Marmor, Büstenmarmor, Creme, schwarze Linse, 50 × 70 × 80 cm, Foto: Roberto Marossi)
Wenn etwas mir vom Fenster fällt
(und wenn es auch das Kleinste wäre),
wie stürzt sich das Gesetz der Schwere
gewaltig wie ein Wind vom Meere
auf jeden Ball und jede Beere
und trägt sie in den Kern der Welt.
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch
Im Großen wird das Universum von der Gravitationskraft regiert. Die Wirkung einer Kraft ist in der Physik die Ursache von Bewegung oder jeglicher Form von Änderung. Vollkommene Ruhe existiert nur, wenn keine Kräfte wirken. Eine Möglichkeit dafür ist die Abwesenheit jeglicher Materie, ein als Vakuum bezeichneter Zustand. Materie existiert aber offensichtlich, und allein durch ihre Masse bewirkt sie Gravitationskräfte auf andere Massen. Um zumindest näherungsweise ruhende Zustände zu realisieren, müssen sich die herrschenden Kräfte gegenseitig kompensieren. Zusätzlich zur Gravitationskraft kommen hierfür die elektrische und magnetische Kraft in Frage sowie, im Prinzip, zwei Arten von Kräften, die als schwache und starke Wechselwirkung bezeichnet werden und im Reich der Elementarteilchen herrschen.
Während die elektrische Kraft durch die Existenz von positiven wie negativen Ladungen auf großen Distanzen abgeschirmt wird, sind die Kräfte, die im Inneren von Atomkernen wirken, nur von extrem kurzer Reichweite. Was damit auf großen Distanzen übrig bleibt, ist allein die Gravitationskraft. Sie beschreibt die allgemeine Anziehung zwischen Massen und Energieansammlungen im Raum und so auch das zeitliche Verhalten des Universums selbst. Anders als im elektrischen Fall gibt es keine negativen Massen: Die Gravitationsanziehung kann nicht kompensiert werden. Entstehen einmal an Masse reiche Objekte wie Sterne oder ganze Galaxien, so dominiert die dadurch hervorgerufene gravitative Wechselwirkung das Geschehen. Die Facetten dieser so alltäglichen und in der jüngeren Forschung oft vernachlässigten, aber doch – in der Kosmologie sowie in Schwarzen Löchern – zu vielerlei exotischen Phänomenen führenden Kraft sind das Thema dieses Buches.
Das erste allgemeine Gravitationsgesetz wurde von Isaac Newton aufgestellt. Wie so typisch für viele wichtige Schritte in der Gravitationsforschung waren hierfür alltägliche Naturbeobachtungen auf der Erde ausschlaggebend, aber auch eine lange Reihe beschwerlicher Beobachtungen von Objekten im Weltraum, nämlich des Mondes und von Planeten. Sie wurden durch für die damalige Zeit hochentwickelte Techniken ermöglicht und haben selbst die Entwicklung von neuen Instrumenten beeinflusst und befruchtet. Diese Erfolgsgeschichte einer Kombination von grundlegenden Fragen und technologischen Anwendungen dauert bis zum heutigen Tage in vielen Bereichen der naturwissenschaftlichen Forschung an, so auch in der Gravitationsforschung.
Schon vor Newton war die zunächst unübersichtliche Flut der Daten, die von Astronomen wie Tycho Brahe, Johannes Kepler und vielen anderen gewonnen worden war, in ein Modell des Sonnensystems geordnet worden. Seit Nikolaus Kopernikus und Kepler nahm dieses Modell eine Form weitgehend so an, wie wir es heute kennen: Planeten bewegen sich um die Sonne entlang von Bahnen, die zu guter Näherung als Ellipsen, also etwas abgeplattete Kreise, beschrieben werden können. Aber was war dafür verantwortlich, dass die Planeten den ihnen vorgeschriebenen gekrümmten Bahnen folgten? Aus der alltäglichen Erfahrung wissen wir, dass eine Kraft erforderlich ist, um einen Körper von der Bewegung entlang einer geraden Linie abzubringen. Wie kann man diese Kraft im Fall der Planeten beschreiben oder gar erklären?
Newtons bahnbrechende Einsicht, dass es eine einheitliche Kraft, die Gravitationskraft, gibt, die nicht nur die Bahnen aller Planeten um die Sonne und des Mondes um die Erde bewirkt, sondern auch alltägliche Erscheinungen des Fallens auf der Erde selbst, ist von beeindruckender Stärke. Sie ist ein exzellentes Beispiel für den Ursprung wissenschaftlicher Erklärung: Es wird keine Antwort auf eine »Warum«-Frage im Sinne einer anthropomorphen Motivation geliefert, sondern eine Vielfalt von komplizierten und anscheinend unzusammenhängenden Erscheinungen wird auf einen einzelnen Mechanismus – ein Naturgesetz – zurückgeführt. Zudem ist die von Newton gelieferte mathematische Beschreibung sehr kompakt und damit hocheffizient in der Vorhersage von durch das gleiche Gesetz beschriebenen Phänomenen. Im Falle des Newton’schen Gravitationsgesetzes ist dies wiederholt benutzt worden, z.B. zur Auffindung von neuen Planeten durch leichte Abweichungen, die sie bei Bahnen von bekannten Planeten hervorrufen, oder in der modernen Planung von Satellitenmissionen.
Solche Erfolgsgeschichten, in denen eine elegante mathematische Beschreibung viele Erscheinungen erklären kann, finden sich häufig in der Physik und markieren geradezu ihren Fortschritt. Diese Einsichten nachzuvollziehen ist oft so beeindruckend, dass Wissenschaftler hier den Begriff der Schönheit bemühen – eine pragmatische Art von Schönheit, deren Kern in der mathematischen Formulierung nur für Eingeweihte sichtbar, aber in den konkreten Erfolgen auch für Außenstehende erahnbar ist.
Konkret beschreibt Newtons Gravitationsgesetz die Anziehungskraft zwischen zwei Körpern aufgrund von deren Massen. Die Kraft nimmt proportional mit den beiden Massen zu, d. h. die Kraft zwischen sehr schweren Objekten ist größer als zwischen leichten. Außerdem ist sie vom Abstand zwischen den Körpern abhängig, allerdings durch umgekehrte Proportionalität des Quadrates des Abstandes. Sie wird also schwächer, wenn die Körper weiter voneinander entfernt sind. Zusätzlich zu diesen Proportionalitäten wird die genaue Größe der Kraft durch eine mathematische Konstante bestimmt, die Newton’sche Gravitationskonstante. Auch hier wird die Vereinheitlichung irdischer mit himmlischen Phänomenen deutlich: Man kann die Gravitationskonstante über die winzige Anziehung zweier Massen auf der Erde messen, wie dies erstmals 1797/98 Henry Cavendish in seinem Labor gelang. Benutzt man den gleichen Wert zur Berechnung der Kraft, die die Sonne auf die Planeten ausübt, so erhält man genau die beobachteten Bahnen der Planeten.
Im Gegensatz zu der klaren Abstandsabhängigkeit ist die Newton’sche Gravitationskraft von der Zeit vollkommen unabhängig. Dies klingt plausibel, soll ein grundlegendes Naturgesetz wie dieses doch zu allen Zeiten gleichermaßen gelten. Es stimmt auch mit den zu Newtons Zeiten und noch lange danach vorherrschenden Meinungen über Raum und Zeit überein, ganz zu schweigen von unseren alltäglichen Vorstellungen darüber. Obwohl man die Position und den Abstand von Objekten im Raum verändern kann, erscheint der Raum selbst unveränderbar. Auch die Zeit vergeht einfach und gleichmäßig, ohne von physikalischen Vorgängen beeindruckt zu werden. Da nach Newton die Gravitation ohne Zeitverzögerung wirkt – unabhängig davon, wie weit die Massen voneinander entfernt sind –, braucht man das Kraftgesetz nur für den Fall, in dem die beiden Massen zwar nicht am selben Ort, aber zur selben Zeit sind. Das Gesetz ist deshalb vollkommen zeitunabhängig, selbst der »zeitliche Abstand« zwischen den Massen ist, im Gegensatz zum räumlichen Abstand, irrelevant.
Trotz ihrer plausiblen Form und der eingangs erwähnten Erfolge hatte Newtons Theorie einen Schönheitsfehler. Wie die Schönheit der Theorie selbst kann auch dieser Makel nur bei ausreichender Kenntnis der Hintergründe vollkommen verstanden werden, aber schon oberflächlich betrachtet ist dies ein gutes Beispiel für den Fortschritt der theoretischen Physik. Newton selbst soll schon unglücklich über den Umstand gewesen sein, dass sein Gravitationsgesetz »animalistische« Tendenzen zeigte: Wie ein Tier von weit her durch die Aussicht auf Nahrung angezogen wird, so schien ein schwerer Körper sich von weitem auf einen anderen zuzubewegen. Diese Wirkung aus der Ferne, anstatt lokaler Wechselwirkungen wie durch sich direkt berührende Körper, wurde als konzeptionelle Schwäche trotz aller konkreten Erfolge angesehen.
Diese Schwachstelle durch eine Theorie nur lokaler Wechselwirkungen zu beheben, die natürlich ansonsten mit den astronomischen Erfolgen von Newtons Theorie kompatibel sein müsste, ist ein äußerst schwieriges Unterfangen. Zunächst einmal ist dann eine Berücksichtigung auch der zeitlichen Dimension nötig, da ja solch eine lokale Wechselwirkung sich erst einmal von einem Körper zum nächsten ausbreiten müsste. Wie sich herausgestellt hat, gelingt dies nur mit einem radikalen Umsturz der Newton’schen – und anschaulichen – Vorstellungen von Raum und Zeit. Man benötigt dafür einen weit höheren mathematischen Aufwand, der aber durch eine Theorie ungeahnter Schönheit, in dem eingangs diskutierten Sinn, belohnt wird. Dies alles verlangte eingehende physikalische Forschung und nicht zuletzt eine Weiterentwicklung der mathematischen Grundlagen. Der Makel der Newton’schen Theorie sollte deshalb erst lange nach Newton durch Albert Einstein behoben werden.
Dies alles dauerte eine lange Zeit, oder eine kurze Zeit: denn, recht gesprochen, gibt es für dergleichen Dinge auf Erden keine Zeit –.
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra
Erste Risse im Newton’schen Weltbild deuten sich mit der Speziellen Relativitätstheorie an. Raum und Zeit können hier nicht mehr als getrennt angesehen werden, sondern sind zusammengehörig. Sie beschreiben unterschiedliche Dimensionen eines einzigen physikalischen Objektes, der Raum-Zeit. Wie kann man dies mit physikalischen Methoden entscheiden? Um das zu beantworten und die Rolle von Dimensionen zu erklären, betrachten wir zunächst nur den Raum. Auch dieser hat unterschiedliche Dimensionen, nämlich drei: Wir können uns seitlich, vorwärts oder rückwärts und nach oben oder unten bewegen. Hier kann man fragen, warum dies als drei Dimensionen eines einzigen Raumes angesehen werden soll, anstatt als drei vollkommen unabhängige Richtungen: Breite, Tiefe und Höhe.
Die Antwort ist einfach: Breite, Tiefe und Höhe sind nicht absolut und voneinander unabhängig, sondern können ineinander »umgewandelt« werden. Wir brauchen uns nur im Raum zu drehen, um z.B. die Höhe eines Würfels als seine Breite erscheinen zu lassen; in diesem Sinne sind Höhe und Breite ineinander umwandelbar. Dies ist keine Umwandlung durch einen physikalischen Prozess, etwa eine chemische Reaktion, sondern eine viel einfachere durch Ändern des Beobachtungsstandpunktes. Was wir als Höhe, Breite oder Tiefe ansehen, hängt vom Standpunkt des Beobachters ab (oder von Konventionen wie der Benutzung der Erdoberfläche, entlang der Breite und Tiefe gemessen werden) und ist deshalb nicht als Eigenschaft des Raumes als physikalischen Objektes anzusehen. Deshalb spricht man von einem dreidimensionalen Raum, anstatt von der Existenz dreier eindimensionaler Richtungen.
Ähnlich verhält es sich mit der Zeit, obwohl hier die Umwandlung schwieriger ist. Durch einfaches Drehen wird nur die Sichtweise des Raumes beeinflusst: Die Änderung des Sichtwinkels (oder genauer des Tangens des Sichtwinkels als mathematische Funktion, die sich bei kleinen Winkeln aber nicht stark vom Winkel selbst unterscheidet) ist durch das Verhältnis einer räumlichen Ausdehnung wie z.B. der Höhe vor und nach der Änderung der Sichtposition gegeben. Durch Verändern des Winkels kann man deshalb nur räumliche Ausdehnungen ineinander umwandeln. Wenn wir Raum in Zeit umwandeln wollen, so müssen wir eine Größe variieren, die durch ein Verhältnis von räumlicher und zeitlicher Ausdehnung gegeben ist: die Geschwindigkeit. Legt man in einer gewissen Zeit eine bestimmte Länge zurück, so bewegt man sich mit einer Geschwindigkeit, die durch das Verhältnis der zurückgelegten Strecke zu der dafür benötigten Zeit gegeben ist.
Diese Überlegung führt in der Tat zu der grundlegenden Erscheinung der Speziellen Relativitätstheorie. Wenn wir uns beim Betrachten einer Situation schneller bewegen als ein zweiter Beobachter, so erscheinen uns räumliche und zeitliche Abstände in den beobachteten Ereignissen anders als diesem. Wie ein Wechsel des Sichtwinkels die räumlichen Ausdehnungen ineinander überführt, so wandelt ein Ändern der Geschwindigkeit beim Beobachten räumliche in zeitliche Abstände um und umgekehrt. Aus diesem Grunde ist die Unterscheidung zwischen räumlicher und zeitlicher Ausdehnung vom Standpunkt (oder genauer von der »Standbahn«, wenn wir uns wirklich bewegen) abhängig und hat keine physikalische Basis unabhängig von Beobachtern. Anstatt Raum und Zeit zu trennen, gibt es nur ein einziges, gemeinsames Objekt: die Raum-Zeit.
Diese Veranschaulichung ist natürlich noch kein Beweis, denn nicht jedes Verhältnis führt durch Ändern zu einer Umwandlung. Zum Beispiel ist die Geburtenrate in einem Land durch das Verhältnis von Neugeborenen zur Gesamtbevölkerung gegeben, bei einer Änderung der Geburtenrate werden aber keine Einwohner in Neugeborene umgewandelt. Ein wichtiger Unterschied zu den vorigen Beispielen ist die Rolle des Beobachters: Änderungen wurden durch Positions- oder Bewegungswechsel eines Beobachters hervorgerufen, und da physikalische Aussagen von speziellen Eigenschaften derjenigen, die Beobachtungen durchführen, unabhängig sein müssen, wird eine Trennung von nur durch den Beobachtungsstandpunkt unterscheidbaren Begriffen ausgeschlossen. In der Speziellen Relativitätstheorie kann diese Art von »Umwandelbarkeit« von Raum und Zeit aber nicht nur mathematisch untermauert werden, sondern sie ist sogar wiederholt experimentell überprüft worden. Während die Newton’schen Vorstellungen von einem festen Raum und einer davon unabhängigen Zeit mit vielen Messungen des letzten Jahrhunderts nicht übereinstimmen würden, treten bei einer speziell relativistischen Sichtweise keine Widersprüche auf.
Die Newton’sche Sichtweise war so lange von Erfolg gekrönt, weil für eine merkbare Umwandlung von Raum und Zeit sehr hohe Beobachtergeschwindigkeiten erforderlich sind, die merklich an die immense Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht (etwa dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde) heranreichen. Aus diesem Grunde ist die Umwandelbarkeit von Raum und Zeit auch nicht im Alltag bemerkbar. [2]Für eine experimentelle Überprüfung benötigt man entweder sehr hohe Geschwindigkeiten oder sehr genaue Zeitmessungen bei den winzigen Umwandlungen, die bei niedrigen Geschwindigkeiten auftreten. Beides ist im letzten Jahrhundert möglich geworden: Sehr genaue Zeitmessungen erreicht man mit Atomuhren, die die Umwandlung von Raum in Zeit sogar bei typischen Geschwindigkeiten von Verkehrsflugzeugen beobachtbar machen. (Dadurch, dass sich Flugzeuge aber in einer gewissen Höhe bewegen müssen, treten zusätzliche Effekte wegen einer Verringerung der Gravitation auf, die auf die Uhr wirkt. Darauf wird weiter unten eingegangen.)
Bei hoher Geschwindigkeit, nahe der des Lichtes, sind die Umwandlungen drastisch: Es findet eine fast komplette Transformation der Zeit in Raum statt, die damit immer langsamer vergeht. Wenn einmal Lichtgeschwindigkeit erreicht wird, was nur für masselose Objekte wie eben das Licht möglich ist, verschwinden sämtliche zeitliche Ausdehnungen in dem so schnell bewegten System. Über diese Geschwindigkeitsgrenze kann man nicht hinausgelangen, denn alle Zeit ist ja beim Erreichen der Lichtgeschwindigkeit schon aufgebraucht worden. Kein Signal kann sich also schneller als das Licht ausbreiten. Es kommt immer zu Verzögerungen, die zwar klein, aber bei großen Distanzen merkbar sein können. (Diese Höchstgeschwindigkeit ist die des Lichts im Vakuum. In durchlässigen Materialien wie Wasser breitet sich Licht üblicherweise langsamer als im Vakuum aus. In solchen Medien kann es also Signale geben, die sich schneller als das Licht im gleichen Medium, nicht aber schneller als das Licht im Vakuum ausbreiten.)
Auch hohe Geschwindigkeiten kann man untersuchen, allerdings nicht durch starkes Beschleunigen einer Uhr, sondern durch Benutzung von schnellen Uhren, die uns die Natur zur Verfügung stellt: Die Erde wird aus dem Weltall von hochenergetischen Teilchen bombardiert, die sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. [3]Die meisten davon erreichen nicht den Erdboden, sondern reagieren mit Atomkernen in der oberen Atmosphäre und bilden dabei neue Teilchen, unter anderem Myonen. Myonen sind eine schwerere Form von Elektronen und unterscheiden sich von ihnen wenig, abgesehen durch die Masse und die Tatsache, dass sie nicht stabil sind: Ein Myon in Ruhe zerfällt bereits nach etwa einem Millionstel einer Sekunde in ein Elektron und zwei weitere stabile Teilchen, die Neutrinos genannt werden. Die Zerfallszeit kann man nun als Zeiteinheit einer Uhr benutzen, die zwar im Vergleich mit Atomuhren nicht sehr genau ist. Allerdings kann man Myonen viel leichter auf hohe Geschwindigkeiten bringen als Atomuhren, was die Natur durch die kosmische Strahlung sogar kostenlos zur Verfügung stellt.
Dies führt zu einer beeindruckenden Bestätigung der Speziellen Relativitätstheorie und ihrer Umwandelbarkeit von Raum und Zeit. Selbst bei den hohen Geschwindigkeiten, mit denen Myonen in der oberen Atmosphäre entstehen, würde die Lebenszeit von einem Millionstel einer Sekunde nicht ausreichen, um von dort aus den Erdboden zu erreichen. Dennoch kann man zahlreiche dieser Myonen in Detektoren messen, obwohl sie eigentlich auf dem Weg schon längst hätten zerfallen sollen. Der Grund dafür ist, dass ein Millionstel einer Sekunde, in denen ein ruhendes Myon zerfallen würde, für ein schnell bewegtes Myon, das man vom ruhenden Erdboden aus betrachtet, viel länger erscheint. Durch die hohe Geschwindigkeit der Myonen wird für sie so viel Raum in Zeit umgewandelt, dass sie vor ihrem Zerfall den Erdboden erreichen können, auch wenn dies – selbst bei der hohen Geschwindigkeit – ohne eine solche Zeitausdehnung nicht möglich wäre.
Messungen, mit Atomuhren oder an Myonen, waren Einstein selbst bei seiner Entwicklung der Speziellen Relativitätstheorie noch nicht zugänglich. Stattdessen leitete er die Gleichungen, die die Umwandlung von Raum und Zeit beschreiben, aufgrund von tiefgreifenden Überlegungen über die Theorie des Lichtes her, wie sie 1861 von James Clerk Maxwell aufgestellt worden war. Die Anwendung solcher Prinzipien, unabhängig von Beobachtungen, ist mit Newtons Ansicht zur Unvollkommenheit seiner Theorie vergleichbar. Das Newton’sche Gravitationsgesetz war bei seiner Aufstellung und noch lange danach höchst erfolgreich in der Beschreibung von astronomischen Beobachtungen. Es dauerte Jahrhunderte, bis zweifelsfrei von dem Gesetz abweichende Beobachtungen gemacht wurden. Und dennoch war Newton nicht vollkommen glücklich, da, wie gesagt, sein Gesetz zu animalistisch aussah: Was bewegt zwei Massen dazu, einander anzuziehen, obwohl sie beliebig weit voneinander entfernt sein können?
Dieser schon von Newton erahnte Makel wird in der Speziellen Relativitätstheorie akut. In Newtons Vorstellung von getrenntem Raum und Zeit gibt es kein prinzipielles Problem mit dem Gravitationsgesetz; es gibt höchstens ein ästhetisches. In der Speziellen Relativitätstheorie wird das Gesetz aber schlichtweg inkonsistent: Die Newton’sche Gravitationskraft hängt vom räumlichen Abstand zwischen zwei Körpern ab, es tritt jedoch keine Zeitgröße auf. Versucht man nun, dies mit einer Umwandelbarkeit von Raum und Zeit zu kombinieren, so würde eine konsequente Anwendung des Gesetzes bedeuten, dass die Gravitationskraft vom Bewegungszustand wie der Geschwindigkeit des Messapparates abhängt. Denn eine Änderung der Geschwindigkeit müsste ja Raum in Zeit umwandeln und somit für eine Zeitabhängigkeit des Newton’schen Gesetzes sorgen. Der verringerte räumliche Abstand würde dann durch den vergrößerten zeitlichen kompensiert, sodass jeder Beobachter die richtige Kraft berechnet. Diese Möglichkeit wurde von Newton bei Aufstellung seines Gesetzes aber nicht berücksichtigt, und so ergibt sich die Notwendigkeit, die Newton’sche Theorie zu erweitern.
Eine vergleichbare Situation liegt in der Theorie des Elektromagnetismus vor. Das Coulomb-Gesetz für die elektrostatische Anziehung (oder Abstoßung) zweier elektrisch geladener Körper, das nach Charles Augustin de Coulomb benannt wurde, ist dem Newton’schen für die gravitative Anziehung zweier Massen sehr ähnlich. Man braucht nur die Massen durch die Ladungen und die Newton’sche Gravitationskonstante durch einen die elektrische Kraft quantifizierenden Parameter zu ersetzen. (Außerdem muss man das Vorzeichen der Kraft umkehren, da zwei Ladungen gleichen Vorzeichens sich abstoßen, während zwei – immer positive – Massen sich anziehen.) Das Abstandsverhalten ist aber das Gleiche, und auch hier tritt keine zeitliche Dimension auf. In diesem Fall wurde schon aus anderen Gründen, nämlich basierend auf der Beziehung zwischen elektrischen und magnetischen Erscheinungen, von Maxwell eine Formulierung gefunden, die mit der Umwandelbarkeit von Raum und Zeit vereinbar ist. Dies geschah schon vor Einstein und spielte, wie gesagt, eine große Rolle für dessen Überlegungen. Maxwell erkannte aber nicht den Zusammenhang seiner Erweiterung des Coulomb’schen Gesetzes mit der Umwandelbarkeit von Raum und Zeit.
Eine Umformulierung des Newton’schen Gravitationsgesetzes existierte im Jahre 1905 nicht, als Einstein die Spezielle Relativitätstheorie entwickelte. Diese Verallgemeinerung der Theorie, dann von Einstein selbst in Angriff genommen, sollte sich als weitaus schwieriger erweisen als die Maxwell’sche. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis Einstein 1915288