Cover

Klaas Kroon, geboren 1960 in Düsseldorf, machte sich schon in jungen Jahren als Herausgeber einer Schülerzeitung bei den Mächtigen unbeliebt. Nach dem Germanistik- und Anglistik-Studium arbeitete er in verschiedenen Führungspositionen bei Zeitschriften, bevor er in die Unternehmenskommunikation wechselte. Heute ist er Geschäftsführer einer Agentur in Kassel und lebt in Hamburg.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: lookphotos/Wohner, Heinz

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-603-6

Originalausgabe

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Den Teufel spürt das Völkchen nie,
und wenn er sie beim Kragen hätte.

Aus Goethes »Faust«

Prolog

12. Juni 2011

Jeden Moment würde die Kripo aus Lüneburg eintreffen. Die hatte er gerufen, weil da oben im Dachgeschoss zwei Leichen lagen. Oberbrandmeister Reinhold Jörgens war vor einer halben Stunde über eine Drehleiter in den Raum gelangt, da die hölzerne Freitreppe in der Eingangshalle nicht mehr zu betreten war. Er hatte sich zaghaft der verkohlten Kiste, die wohl mal ein Bett gewesen war, genähert. Und in der Kiste, mitten in der Asche von Bettzeug und Matratzen, hatten diese zwei Körper gelegen. Bizarr verformt, schwarz, total verkohlt. Die Münder aufgesperrt.

Das restaurierte Bauernhaus in Riebrau in der Nähe von Hitzacker an der Elbe war vollständig ausgebrannt. Die alten Balken, das Stroh des Fachwerks und vor allem das Reetdach hatten dem Feuer in dieser trockenen Juninacht reichlich Nahrung gegeben.

Die beiden Menschen im Bett sind sicher gar nicht mehr wach geworden, bevor sie am Rauch erstickten, dachte Jörgens. Als die Flammen schließlich ihre Körper zerstörten, waren sie längst tot.

Jörgens war mit seinem Löschzug gegen drei Uhr nachts am Brandort eingetroffen. Da hatte das große Anwesen noch lichterloh in Flammen gestanden. Das Hauptgebäude, die direkt angeschlossenen Nebengebäude, alles brannte. Vom Holzfußboden im Erdgeschoss bis zum Gebälk des Daches. Die freiwilligen Wehren aus den umliegenden Orten hatten sich redlich bemüht. Doch ihre antiquierte Ausrüstung war eher als Attraktion auf Dorffesten geeignet denn als Waffe gegen einen Großbrand. Bald schon standen die ehrenamtlichen Kollegen nur noch mit hängenden Köpfen in sicherem Abstand zur Feuerhölle und mussten den Dingen ihren Lauf lassen.

Jörgens und seine Leute hatten übernommen, und als schließlich ein weiterer Zug aus Uelzen eingetroffen war, hatten sie die Flammen schnell unter Kontrolle gebracht. Doch zu diesem Zeitpunkt war längst nichts mehr zu retten gewesen. Ein Seitenschuppen brach unter dem Wasserdruck vollständig zusammen. Der Rest des alten Bauernhauses stand nun wie ein hohler schwarzer Zahn qualmend inmitten des gepflegten Grundstücks.

Wenige Stunden zuvor war das noch ein Traumhaus gewesen. Alte Substanz, groß und mit viel Liebe, Geld und Sachverstand saniert. Reinhold Jörgens kannte das Objekt. Vor ein paar Jahren hatte er hier ein Gutachten für die Feuerversicherung erstellt. Die Besitzer, eine wohlhabende, sympathische Familie aus Hamburg, hatten beim Umbau der Wohnräume und beim Ausbau des Heubodens eigentlich alles richtig gemacht. Es gab nichts zu beanstanden. Nur die alte Ölheizung im Keller hatte damals nicht Reinholds uneingeschränkte Begeisterung gefunden. Er hatte den Besitzern empfohlen, hier möglichst bald ein moderneres System zu installieren, vielleicht sogar Erdwärme oder Pellets. Das hatten sie nicht getan, und Jörgens war sich sicher, dass sie nach eingehender Untersuchung die Ursache für den Brand im Heizungskeller finden würden.

Es war inzwischen hell. Die freiwilligen Kollegen hatten einen Tisch aufgestellt und verteilten Kaffee und belegte Brötchen an die Feuerwehrmänner. Schläuche wurden eingerollt, Absperrungen aufgestellt. Feuerwehrroutine. Die beiden Rettungswagen, die sicherheitshalber mit den Löschzügen gekommen waren, fuhren vom Hof. Den Besitzern des Gutes war nicht mehr zu helfen, und eine Verletzungsgefahr für die Feuerwehrleute bestand nun auch nicht mehr.

»Sind Sie hier der Einsatzleiter?«, vernahm Jörgens eine Stimme direkt hinter sich.

Er drehte sich um. »Wer will das wissen?«

Ein Mann, Ende vierzig, dick, kurzatmig, verschwitzt, in Jeans und kariertem Flanellhemd, trat auf ihn zu. Er streckte die Hand aus. »Walter Sobchak, Kripo Lüneburg. Sie haben Tote hier?« Jörgens schüttelte die feuchte Pranke des Kripomannes. Hinter dem Mann stand ein junger Kerl, der unsicher den Blick schweifen ließ. Ein Praktikant, zweifellos. Ebenfalls dabei: die zwei Uniformierten, die schon seit Stunden vor Ort waren und sicher die komplette Nachtschicht des Polizeireviers Hitzacker bildeten.

»Ja, haben wir. Im Obergeschoss. Total verkohlt. Zwei Leichen.«

Der dicke Polizist zog ein paar zerknitterte Bögen aus einer Umhängetasche und las.

»Wenn wir mal davon ausgehen, dass es sich um die Bewohner handelt, die dort verbrannt sind, heißen sie Sabine und Wolfgang Therbach.«

Oberbrandmeister Jörgens sah den Polizisten an: »Ist das eine Frage? Ich weiß nicht, wer die Personen sind.«

»Nein, die Frage kommt jetzt«, sagte Sobchak. »Unter dieser Adresse ist noch eine Katharina Schlosser gemeldet. Jahrgang 1992. Vermutlich die Tochter.«

»Das ist immer noch keine Frage.«

Der Kripobeamte blinzelte verunsichert, drehte sich zu den Uniformierten um und räusperte sich.

»Die Frage ist: Haben Sie eine weitere Leiche gefunden?«

»Nein.«

»Kann es sein, dass die Leiche unter Schutt begraben ist oder so sehr verbrannt, dass sie gar nicht mehr als Leiche zu erkennen ist?«

»Unwahrscheinlich. Zum einen, weil ein Feuer dieser Art nicht so heiß ist und nicht so lange brennt, dass nichts mehr übrig bleibt. Zum anderen, weil wir sehr genau hinsehen und zuallererst nach Opfern suchen. Aber wenn es Sie beruhigt: Sobald meine Leute sich etwas gestärkt haben und die Brandstelle weiter abgekühlt ist, sehen wir noch mal sehr genau nach.«

»Vielleicht kann ich helfen!« Eine alte Frau trat auf die Gruppe zu. Sie war klein, hatte ein faltiges Gesicht und einen krummen Rücken. Ihre Kleidung war ordentlich und sah teuer aus.

»Wer sind Sie?«, fragte Sobchak.

»Heidelinde Mühlhaus, ich bin die Nachbarin.«

»Sie kennen die Bewohner?« Der Polizist zückte einen kleinen Notizblock.

»Ja. Ich habe ihnen den Hof vor sieben Jahren verkauft.«

»Und wie können Sie uns helfen?«

»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann suchen Sie nach Katharina, der Tochter von Frau Therbach.«

»Ja. – Wieso von Frau Therbach?«

»Herr Therbach war nicht ihr richtiger Vater, wissen Sie. Die Katharina war schon lange nicht mehr hier. Die lebt seit letztem Jahr in Berlin. Die ist sicher nicht in dem Haus gewesen. Ich glaube, die hat ihre Eltern vergessen.« Sie sagte das mit einem traurigen Unterton, der ahnen ließ, dass sie dieselbe Erfahrung gemacht hatte.

Der Lüneburger Kripomann lief eher planlos auf dem Hof herum, während sein Praktikant noch weitere Angaben der alten Nachbarin notierte.

»Ich möchte mich im Haus mal umsehen«, sagte Sobchak zu Jörgens.

»Das ist gefährlich. Da kann jederzeit ein Balken runterkrachen. Setzen Sie auf jeden Fall einen Helm auf, und ich komme mit.«

Jörgens ging zum Rüstwagen, nahm einen Feuerwehrhelm aus der Box und reichte ihn dem Polizisten.

Ebenso planlos, wie er auf dem Gelände herumgelaufen war, ging dieser Sobchak nun durch die Reste des Hauses. Er trat mit dem Fuß gegen verbrannte Möbel, hob Bretter an und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe auf verkohlte Gegenstände.

»Darf ich fragen, was Sie da suchen?«

»Etwas, das mich weiterbringt. – Haben Sie schon eine Ahnung, was die Brandursache sein könnte? Gibt es Hinweise auf Brandstiftung?«

»Mit Ahnungen sind wir lieber vorsichtig. Aber vielleicht hilft Ihnen auch Statistik.«

»Hä?«

»Oder besser Erfahrung: Wenn so ein altes Haus brennt, liegt es in neun von zehn Fällen an veralteter Elektrik oder Heiztechnik.«

»Und hier?«

»Die Ölheizung im Keller ist fast fünfzig Jahre alt, und bei ihrem Einbau wurden vermutlich die Vorschriften sehr großzügig ausgelegt. Muss ich mehr sagen?«

»Nein.«

Sobchak ging auf die Kellertreppe zu. Die ursprüngliche Holztreppe war im Zuge des Umbaus durch eine solide Stahltreppe ersetzt worden, und die war nicht verbrannt. Vorsichtig ging Sobchak dem Schein seiner Taschenlampe folgend die Treppe hinunter. Jörgens folgte ihm.

Sie gelangten in einen Keller, wie er für Bauernhäuser dieser Art typisch war. Niedrig, eng, dunkel. Ende des 18. Jahrhunderts, als dieser Hof gebaut worden war, brauchte man das Tiefgeschoss hauptsächlich zum Kühlen. Dafür musste man nicht das ganze große Gebäude mit viel Muskelkraft unterkellern, sondern nur einen kleinen Teil. Fenster gab es auch keine.

Der erste Raum war schätzungsweise zwanzig Quadratmeter groß und hatte den Bewohnern als Weinkeller gedient. Die Stahlregale an den Wänden reichten bis unter die niedrige Decke und waren voll mit Weinflaschen. Einige hundert. Die meisten Flaschen waren unter der Hitze geplatzt, ihr Inhalt im Feuer verdampft. Ein merkwürdiger, leicht alkoholischer Geruch lag in der Luft.

Zwei Stahltüren neuerer Bauart gingen von diesem Raum ab.

Eine der Türen war verschlossen, ließ sich aber leicht öffnen. Sie führte in einen kleinen Raum, der komplett mit Gartenmöbeln, Umzugskartons und anderem Gerümpel vollgestopft war. Das ganze Zeug war vom Feuer verschont geblieben. Jörgens meinte sogar, im Schein seiner Taschenlampe eine Ratte bemerkt zu haben.

Die zweite Tür stand offen und führte in den Heizungskeller. Die Lichtkegel der Taschenlampen wanderten über eine völlig verschmorte Anlage. Gut möglich, dass hier tatsächlich das Unheil seinen Anfang genommen hatte. Durch die Holzdecke hatten sich die Flammen dann augenscheinlich ins Erdgeschoss und von da aus in das gesamte Gebäude durchgefressen.

»Und wo ist der Heizöltank?«, fragte Sobchak.

»Der ist in einiger Entfernung vom Haus in der Erde versenkt. Zum Glück. Sonst wäre das hier noch schlimmer ausgegangen«, sagte Jörgens.

»Für die Bewohner hätte es sicher kaum schlimmer ausgehen können.« Der Kripomann schien tatsächlich zu grinsen.

Sie drückten sich an der Heizungsanlage vorbei. Jetzt, gut drei Stunden nachdem der Brand gelöscht war, strahlte sie immer noch eine unheilvolle Wärme ab.

Neben der Heizungsanlage waren Stromverteiler und Sicherungskästen montiert. Alles Dinge, die es noch nicht gab, als dieses Haus gebaut wurde. Jörgens erinnerte sich nicht mehr, wie es hier ausgesehen hatte, als er sein Gutachten erstellt hatte. Aber modernste Elektrikerkunst war das nicht gewesen. Auch hier würde man nach der Brandursache suchen müssen.

Am Ende des schmalen Heizungsraumes gab es noch eine Tür. Ebenfalls aus Stahl. Sie war nur angelehnt.

Jörgens schob die Tür auf und leuchtete in den Raum. Er war recht groß. Sie traten ein und standen vor einem merkwürdigen verkohlten Tisch. Alles hier war verbrannt. Viel mehr als das Gerümpel in dem anderen Raum. Jörgens und Sobchak suchten mit ihren Taschenlampen die Wände und den Boden ab. Gegenstände und Vorrichtungen, die man erst beim genauen Hinsehen erkennen konnte. Dieser Raum hatte eine ganz besondere Bestimmung. Jörgens sah Sobchak im spärlichen Licht der Taschenlampen an. Beide zuckten die Schultern. Dieser Raum warf Fragen auf, die jetzt und im Dunkeln kaum zu beantworten waren.

Acht Jahre später

1

Marie hatte schon die dicke Jacke an, den Helm in der Hand und wollte auf dem kürzesten Weg mit ihrer alten Yamaha XT 500 nach Hause. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, als sie am Morgen beschlossen hatte, mit dem Motorrad zur Arbeit zu fahren? Klar, es sollte ein trockener, sonniger Tag werden, aber eben auch nicht wärmer als fünf Grad. Und das am 29. März. Von Frühling keine Spur. Marie hasste den Winter. Vor allem, wenn er so lange dauerte.

In der Tür stieß sie fast mit ihrem Chef Stephan Weide zusammen. Bei diesem Zusammenprall hätte Weide verloren, denn Marie wog locker zehn Kilo mehr als er.

»Marie, schön, dass ich Sie noch treffe«, sagte Weide und lächelte verkrampft. »Wir haben da gerade eine Leiche reinbekommen, die mit Ihnen den Feierabend verbringen möchte.«

»Echt jetzt? Reicht es nicht, wenn Walter das macht? Ich –«

Weide unterbrach sie. »Nein, reicht nicht. Das ist nicht der übliche Suizid oder Unfall, das ist, wie soll ich sagen, bizarrer.«

»Sie machen mich neugierig, Herr Weide.«

Marie hängte den Helm zurück an die Garderobe und steuerte an Weides Seite die Fahrstühle an. Im Lüneburger Polizeipräsidium war nicht mehr viel los. Die Beamten mit Tagesdienst waren längst weg.

Weide sah wie immer gut aus. Die grau melierten Haare mit etwas Gel unordentlich gestylt, das Kinn glatt rasiert. Er duftete selbst nach einem langen Arbeitstag noch nach seinem sicher teuren Aftershave. Sein neuer Wintermantel aus Lammfell hatte bestimmt ein Monatsgehalt von Marie gekostet. Auch wenn der Oberkommissar nun schon ein Dreivierteljahr eine Art Ehepause durchlebte, schien er immer noch vom Reichtum der Düsseldorfer Unternehmertochter zu profitieren.

Im Aufzug fragte Marie ihren Chef: »Was meinen Sie mit bizarr?«

»Bizarr kommt vom französischen bizarre und bedeutet so viel wie merkwürdig, sonderbar.« Er grinste.

Der Klugscheißer, dachte Marie. »Ja, danke, Herr Weide, dass Sie meine Bildungslücken immer so galant auffüllen. Aber jetzt mal ehrlich.«

»Unser Opfer wurde wohl in einem Zustand aufgefunden, den man als absonderlich bezeichnen muss.«

»Wo?«

»In einer Autowerkstatt.«

»Daran ist erst mal nichts Absonderliches. Wir hatten schon häufiger Opfer in Werkstätten. Ich erinnere mich an einen Fall –«

»Dieser Fall ist absonderlicher, glauben Sie mir. Aber fahren wir erst mal hin.«

Er reichte ihr den Schlüssel des Dienst-Golfs und machte damit wortlos klar, dass Marie ihn chauffieren durfte.

»Wohin?«

Weide las von seinem Handy ab: »Goseburg-Zeltberg, ein Gewerbegebiet. Das ist wohl –«

»Ich weiß, wo das ist, Herr Weide, nicht weit«, sagte Marie, als sie am Auto angekommen waren.

Der Feierabendverkehr ließ sie nur langsam vorankommen. Natürlich hätte sie das Blaulicht aufs Dach setzen können. Aber Marie vermied Alarmfahrten, wenn es irgendwie ging. Anders als der Kollege Kriminalmeister Walter Sobchak, der sich freute wie ein kleiner Junge, wenn sich der Verkehr vor ihm in das teilte, was der Durchschnittsautofahrer in Lüneburg für eine Rettungsgasse hielt.

Eile war nicht geboten. Das Opfer war tot, und Mitwirkende an seinem Ableben, sofern es welche gab, waren längst über alle Berge oder von dem Polizeiaufgebot vor Ort festgesetzt.

Die Autowerkstatt lag in einer Seitenstraße in einer Reihe flacher Zweckbauten. Vor dem Gebäude standen mehrere Streifenwagen, ein Rettungswagen und ein Rüstwagen der Feuerwehr. Was wollen die hier alle, dachte Marie. Haben die Langeweile?

Das breite Rolltor war heruntergelassen. »Auto Ludwig – Gebrauchtwagen An- und Verkauf«, stand in großer, schmuckloser Schrift darauf. Dazu eine Telefonnummer.

Weide und Marie betraten die Werkstatt durch eine Tür im Rolltor, die ein uniformierter Beamter ihnen aufhielt. Das einfache Zylinderschloss in der Stahltür war aufgebrochen, das sah Marie auf den ersten Blick.

Der Beamte stellte sich als Mario Weischer vor. Marie bemerkte, wie Weide den Namen gleich auf einen Zettel notierte. Nur so konnte der Kriminaloberkommissar den Namen behalten. In seinem angeschlagenen Gedächtnis blieb nicht viel hängen.

Die Werkstatt war recht groß. Vier oder fünf Autos konnten hier gleichzeitig repariert werden. Es standen aber nur zwei darin. Es gab eine Hebebühne, eine Grube, an den Wänden Werkbänke und jede Menge Werkzeug. Es sah alles sauber und ordentlich aus. Es fehlten, soweit Marie das im spärlichen Licht sehen konnte, auch die üblichen Pin-up-Poster. Als Weischer ihnen ein paar Schritte vorausgegangen war, eröffnete sich ihnen die grausige Szenerie.

An der Rückwand der Halle, auf einer Werkbank, lag ein Körper. Ein männlicher. Bei genauerer Betrachtung erkannte Marie, dass der Körper nicht lag, sondern irgendwie aufgespannt war. Die Arme waren hinter dem Rücken mit Spannriemen an der Werkbank fixiert. Die Beine waren leicht gespreizt. Spannriemen in den Kniekehlen reichten zu einer Stahlstrebe unter der Decke und hoben sie so leicht an.

Der Kopf des Mannes war mit einem weiteren Riemen extrem nach hinten gespannt. Das Gesicht wies einige Hämatome auf, aber keine schwereren Verletzungen. Im halb geöffneten Mund steckte ein Schlauch, der mit einem Gerät an der Wand verbunden war. Marie konnte nicht erkennen, was es war.

Das wirkliche Grauen begann unterhalb der Brust des Mannes. Die Bauchdecke war geöffnet. Blut und Eingeweide hingen wie bei einem überfahrenen Tier heraus. Hemd und Hose des Opfers hingen in Fetzen. Ein fauliger Gestank lag in der Luft. Blut. Exkremente. Viel Blut und Teile von Innereien waren an der Werkbank hinuntergelaufen und hatten auf dem Boden eine schmierige dunkelrote Pfütze gebildet.

Marie war einiges gewöhnt, aber bei diesem Anblick drehte sich ihr der Magen um. Sie trat ein paar Schritte zurück und wandte den Blick ab. Weide ging nicht ganz so nah an die Leiche heran und wirkte fast unbeeindruckt.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Marie den Polizisten. Der deutete mit dem Kopf in eine Ecke, wo eine kleine Küchenzeile mit einem Waschbecken stand. Darüber beugte sich ein korpulenter Mann mit Halbglatze. Er würgte, wollte sich übergeben, aber er hatte den Magen offenbar bereits geleert.

»Wer ist das?«, fragte Weide.

»Heinz-Peter Schröter«, las Weischer von einem kleinen Notizblock ab. »Er arbeitet hier als Mechaniker.«

»Ist er ansprechbar?«

»Versuchen Sie es.«

Marie und Weide gingen zu dem Mann hinüber, der sich gerade das Gesicht wusch. Um ihn herum stank es nach Erbrochenem.

»Kriminalkommissarin Marie Gläser von der Kripo Lüneburg. Mein Chef, Herr Weide. Sie sind Herr Schröter?«

Der Mann trocknete sich mit einem fleckigen Handtuch das Gesicht ab und nickte.

»Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir können gern vor die Tür gehen, wenn Ihnen das lieber ist. Es ist aber sehr kalt.«

»Bleiben wir hier. Geht schon.«

Schröter drehte sich mit dem Rücken zur Leiche und sah die Polizisten erwartungsvoll an. Er trug einen Blaumann, der über seinem voluminösen Bauch spannte. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt und sah nicht sehr gesund aus.

»Erzählen Sie mal von vorne. Wie haben Sie den Toten gefunden?«

Schröter atmete tief durch und begann: »Ich bin vor einer Stunde hier angekommen. Habe einen Wagen gebracht, den ich morgen fertig machen wollte. Den da.« Er deutete mit dem Kinn auf einen älteren BMW.

»Sie haben also erst um siebzehn Uhr mit der Arbeit begonnen?«

»Ja. So ungefähr. Ich arbeite hier nicht immer. Nur wenn der Chef was zu tun hat.«

»Und hat sonst jemand heute hier in der Werkstatt gearbeitet?«

»Nein. Hier ist manchmal tagelang niemand.«

»Ist das nicht ungewöhnlich für eine Werkstatt? Bleiben dann nicht die Kunden irgendwann ganz weg?«, mischte sich nun Stephan Weide ein.

»Der Chef, also Herr Ludwig, ist Gebrauchtwagenhändler. Hier werden nur Autos repariert, die er anschließend verkaufen will. Andere Aufträge nehmen wir nicht an. Lohnt sich nicht, sagt der Chef.« Der Mechaniker schien sich etwas gefasst zu haben. Er sprach sachlich und konzentriert.

Marie sah zur Werkbank des Grauens hinüber. »Und als Sie reinkamen, haben Sie den da entdeckt?«

»Erst nicht. Ich bin mit dem BMW reingefahren und wollte dann noch ein paar Sachen zurechtlegen für den nächsten Tag. Der soll einen neuen Auspuff kriegen, und den Lack wollte ich polieren. Als ich dann an den Schrank dahinten ging, habe ich den gesehen. Mann, das ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Echt. Ich habe dann sofort die Polizei gerufen und draußen gewartet.«

»Das Rolltor haben Sie dann wieder zugemacht?«

»Ja. Ich wollte nicht, dass es hier drin zu kalt wird.«

»Haben Sie nicht bemerkt, dass die Türe im Tor aufgebrochen war?«

»Nein. Das Tor bediene ich mit einer Fernbedienung. Die Tür habe ich erst mit Ihren Kollegen geöffnet.«

»Kennen Sie den Mann?«, fragte Marie.

»Nein. Nie gesehen. Glaube ich jedenfalls. Kann man ja nicht so lange hingucken.«

»Haben Sie Ihren Chef schon informiert?«

»Ja. Der ist auf dem Weg hierher.«

»Was ist das für ein Schlauch, den das Opfer da im Hals stecken hat?«

»Das ist unser Kompressor.« Mit Blick auf Marie ergänzte er: »Luftdruck für Reifen, Schrauber und so.«

»Danke. Ich weiß, was ein Kompressor ist.« Marie versuchte, nicht beleidigt zu klingen.

Inzwischen war Rechtsmediziner Mohamed Mansour eingetroffen. Allein. Der junge Pathologe wurde vom Rechtsmedizinischen Institut in Hannover immer vorgeschickt, wenn es in Lüneburg etwas Forensisches zu begutachten gab. Marie ging auf ihn zu und lächelte ihn an.

Er lächelte vieldeutig zurück. »Hallo, Marie.«

»Hallo, Mohamed.«

Sie kannten sich. Gut. Sehr gut. Ein paar Wochen hatten sie sich getroffen, häufiger miteinander geschlafen. Der gut aussehende kleine Mann iranischer Abstammung war einunddreißig, ein paar Jahre jünger als Marie. Er war klug und witzig und ein guter Liebhaber. Marie und Mohamed waren ein ungleiches Paar. Marie war groß, schwer und blond. Die meisten Männer mochten ihr hübsches Gesicht, aber nur die wenigsten konnten mit ihrem Fünfundachtzig-Kilo-Körper etwas anfangen. Mohamed wirkte neben ihr noch schmaler, als er sowieso schon war. Marie wusste, dass das manche Leute amüsant fanden, aber das war ihr egal und Mohamed auch.

In seltenem Einvernehmen hatten sie vor sechs Wochen bei ihrer undefinierten Beziehung die Stopptaste gedrückt. Es wurde beiden zu eng und zu verbindlich. Das verunsicherte besonders Mohameds Eltern, hatten sie sich doch gerade damit angefreundet, dass ihr Sohn mit einer Christin zusammen war, und bereits von Hochzeit gesprochen. Mohamed selbst war in Lüneburg geboren und ein durch und durch norddeutscher Junge. Mit der Religion seiner Eltern hatte er nicht viel am Hut und mit ihren Wünschen an sein Leben auch nicht.

Marie bedauerte es ab und an, dass es mit Mohamed nicht mehr so richtig weiterging. Zum Beispiel jetzt, wo sie in seine warmen braunen Augen sah.

Dr. Mansour zog sich einen weißen Schutzanzug über und ging auf die Leiche zu. Die Leute von der Spurensicherung hatten Scheinwerfer aufgestellt, die sie nun einschalteten. Das grelle Licht nahm dem Anblick etwas von seinem Grauen. Jetzt, wo Haut, Fleisch, Magen und Gedärm rot glänzend in jedem Detail zu erkennen waren, wirkte alles fast wie eine anatomische Versuchsanordnung oder die Auslage in einer Fleischtheke.

Mansour beugte sich über den Bauch des Opfers und leuchtete mit einer kleinen Lampe die Wunden ab.

»Und, Mohamed, ist der aufgeschlitzt worden?«, fragte Marie, die mit einigem Abstand zusah.

»Du willst wie immer alles wissen, bevor ich überhaupt angefangen habe«, sagte Mansour ohne Schärfe. Er setzte eine Lupenbrille auf und ging ganz nah mit dem Gesicht an die blutige Masse, die mal ein Bauch gewesen war. Der Gestank, der von den Innereien ausging, schien ihm nichts auszumachen. Marie dachte nur: Gut, dass Winter ist, sonst wäre hier auch noch alles voller Fliegen.

Dann richtete sich Mansour auf und sah Marie und Weide an. »So wie die Wundränder und die inneren Verletzungen aussehen, war hier kein Messer im Spiel. Der ist, wie soll ich sagen …«

»Sag’s einfach«, drängte Marie.

»Geplatzt.«

»Was?«, kam von mehreren Umstehenden gleichzeitig.

»Ja.« Mansour drehte sich zu seinem Publikum um. »Mit dem Kompressorschlauch aufgepumpt, bis Magenwand und Bauchdecke dem Druck nicht mehr standhalten konnten.«

Er drehte sich wieder zum Opfer.

»Heißt das«, fragte Weide nun, »dass der Täter so lange neben dem Opfer stand und den Kompressor bediente, bis er geplatzt ist? Oder kann man den arretieren?«

»Kann man nicht. Man muss die ganze Zeit den Hebel drücken«, rief nun Schröter aus sicherer Entfernung.

»Das heißt dann auch«, sagte Weide an Mansour gewandt, »der Täter hat von der Schweinerei garantiert etwas abbekommen. Das spritzt doch wie Sau.« Er deutete mit dem Finger auf die rotbraunen Sprengsel an der Wand über der Werkbank.

»Vermutlich«, sagte Mansour.

Weide schüttelte fassungslos den Kopf.

»Dann rennt er mit reichlich Opfer-DNA durch die Gegend, wenn wir Glück haben. Und wir können schon mal ins Täterprofil schreiben: skrupellos und völlig frei von Ekelreflexen.«

»Und versiert in der Bedienung eines Kompressors«, ergänzte Marie.

Die Vernehmung des Werkstattbesitzers, der kurz nach Mansours schockierender Diagnose eintraf, brachte keine neuen Erkenntnisse. Auch ihm war der Tote unbekannt. Am Leichnam hatten sich keine Papiere oder sonstigen Hinweise auf die Identität des Toten gefunden.

Autohändler und Werkstattbesitzer Markus Ludwig hielt sich nicht lange mit Mitgefühl auf. Er verlangte umgehend einen Tatortreiniger, damit er seine Werkstatt schnell wieder benutzen könne. Marie erklärte ihm, dass es diesen Beruf eigentlich nur im Fernsehen gebe und dass er den Dreck notgedrungen selbst beseitigen müsse, aber auch erst dann, wenn der Tatort wieder freigegeben sei. Dann ließ sie ihn stehen.

2

Wie so oft nahm Marie, nachdem sie vom Leichenfundort nach Hause gekommen war, erst mal ein ausgiebiges Bad. Das Wasser so heiß wie möglich und irgendein ayurvedischer Badezusatz, den Mohamed ihr mal geschenkt hatte. Sie hatte vergessen, was der für besondere Superkräfte haben sollte. Das Bad entspannte und half ihr, den Schrecken der letzten Stunden für einen Moment zu vergessen. Da war es doch unerheblich, ob das nun an dem komischen Zeug aus Sri Lanka oder an dem Pils aus Flensburg lag, das sie in der Badewanne trank.

Es war inzwischen neun Uhr, und in der Küche neben dem Badezimmer rumorten ihre Mitbewohner. Marie wusste, dass es für eine fast achtunddreißigjährige Beamtin ungewöhnlich war, mit Studenten in einer WG zu wohnen. Aber das war ihr egal. Sie hatte vor zwei Jahren mit Olaf die Pärchenvariante des Zusammenlebens recht schnell durchgespielt. Das musste erst mal reichen. Da war ihr das Lotterleben mit Pauline, Andy und Juan lieber. Die Studenten waren deutlich jünger als sie und lebten etwas unverkrampfter. Für die drei war das alles noch ein Spiel. Das gefiel Marie und bildete einen wohltuenden Kontrast zum Beamtendasein und den oft niederschmetternden Fällen bei der Kripo.

Den Geräuschen nach zu urteilen, waren alle drei in der Küche und debattierten leidenschaftlich über irgendetwas. Das war nichts Besonderes. Die drei diskutierten ständig. Über Kleinigkeiten und über die großen Fragen des Lebens. Oft gleichzeitig. Da trafen Welten aufeinander: Andy, der rationale Informatikstudent, hatte für alles eine wissenschaftliche Erklärung. Juan, Chilene und seit drei Jahren in Deutschland, wollte eigentlich gar nicht diskutieren und nur Spaß. Seine einzige Sorge war, dass seine wohlhabenden Eltern in Santiago de Chile mitbekommen könnten, dass er im sechsten Semester Umwelttechnik auf der Stelle trat. Und Pauline, Feministin, leidenschaftliche Schützerin von Tieren und auch Menschen, wenn es sich um Minderheiten handelte, wollte nicht immer das letzte Wort haben, aber auf jeden Fall das klügste.

Charaktere wie diese drei hätten sich nie für ein Zusammenleben entschieden, wenn sie nicht durch hohe Mieten und Zufälle dazu gezwungen worden wären. Marie wunderte sich immer wieder, wie dieses Zusammenleben funktionierte. Und deshalb war es auch okay, dass sie als die Vierte ebenfalls nicht zu den anderen passte.

Das Bier war leer, das Wasser kühlte langsam ab. Sie verließ das Bad und ging nur mit einem Bademantel bekleidet in die Küche.

Pauline, Andy und Juan saßen am Küchentisch, die Männer rauchten und tranken Bier, Pauline nippte an einer Teetasse, schließlich war Donnerstag, und die disziplinierte Pauline trank nur am Wochenende. Dann aber auch mal gern mehr. Die große Küche war überraschend aufgeräumt. Irgendjemand schien den Boden gewischt zu haben. Und seit Marie vor ein paar Monaten eine Geschirrspülmaschine spendiert hatte, waren sie auch dieses leidige Thema los.

»Was geht denn hier wieder ab?«, fragte Marie in die Runde. »Rettet ihr mal wieder die Welt?«

»Hoffnungslos, Marie«, stöhnte Pauline. »Mit den beiden Holzköpfen hier geht die Welt sogar noch viel schneller zugrunde.«

»Hey, danke, dass du uns so viel Einfluss zutraust«, johlte Juan. An seinem etwas stärkeren Akzent war zu erkennen, dass es nicht sein erstes Bier an diesem Abend war.

»Diese beiden Hodensackträger hier –«, fuhr Pauline fort und wurde von Andy unterbrochen.

»Was? Das ist sexistisch. Also ehrlich, Pauline, und das von dir.« Er lachte.

»Ernsthaft, Marie, sag du mal: Ist es in Ordnung, wenn sich ein Mann in der Bahn breitbeinig einer Frau gegenübersetzt und sie angrinst? Muss man das tolerieren, oder darf ich dem was sagen?«

»Sagen?« Andy verschluckte sich fast an seinem Bier. »Eben hast du noch gesagt, du würdest ihm gern ohne Vorwarnung in die Eier treten.«

Marie nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich zu den dreien an den Tisch und ließ den Bügelverschluss ploppen. Sie hatte Lust auf eine dieser halb ernsten Debatten.

»Hm, fragst du mich das jetzt als Polizistin, als Frau oder was?«

»Als Mensch.«

»Schwer. Als Mensch bin ich ja das alles. Also die Polizistin in mir sagt, dass du ihn auf keinen Fall in die Eier treten darfst. Die Frau sagt: Schnauz den Kerl an, sodass es alle mitkriegen und es für ihn peinlich ist.«

Pauline richtete ein Siegerlächeln an Andy und Juan. Marie fuhr fort: »Die vernunftbegabte Erwachsene in mir sagt aber: Setz dich woandershin und kümmere dich nicht um den blöden Wichser. Lohnt sich nicht.«

Jetzt triumphierte Andy: »Sag ich doch.«

»Aber mal ohne Scheiß jetzt, Pauline«, fragte Marie leicht besorgt. »Ist das hier nur hypothetisch, oder hast du Ärger mit so einem Typen gehabt?«

»Ich nicht, aber meine Freundin Suse. Der Typ hat sich im Metronom von Winsen direkt ihr gegenübergesetzt, obwohl überall anders noch Platz gewesen wäre. Dann hat er die Beine gespreizt, so wie das die tollen Jungs mit den dicken Eiern immer machen, weil sie anders ja nicht sitzen können.« Sie sah Andy und Juan an. Die grinsten und schüttelten die Köpfe.

»Und dann hat der Typ sich so im Schritt gerieben. Das muss voll eklig gewesen sein und furchterregend. Da hat meine Freundin den angebrüllt, dass er das lassen soll. Der Typ ist richtig auf sie losgegangen, hat sie sogar angefasst. Keiner in der Bahn hat was gemacht. Suse hat dann ihr Handy genommen und versucht, die Polizei anzurufen. Aber da kam die nächste Station, und der Kerl ist rausgesprungen.«

»Und was hat deine Freundin dann gemacht?«

»Nix. Sie ist nach Hause gefahren und hat den Mist vergessen.«

»Hat sie ja offenbar nicht«, sagte Andy, »sonst würdest du uns ja nicht damit volllabern.«

»Jetzt ist mal gut, Andy!«, rief Pauline aufgebracht. »Ich labere euch nicht voll. Ich erzähle das und hätte von euch mehr Respekt erwartet. Aber ihr seid ja genau solche Typen. Das ist bitter.«

»Hey, Pauline!« Juan schien erschüttert über den Wutausbruch. »Ist doch nicht so gemeint. Ich verstehe ja, dass du sauer bist. Ist zum Kotzen so was.«

»Deine Freundin hätte auf jeden Fall die Polizei rufen müssen«, sagte Marie. »Kann sie auch jetzt noch machen. Spätestens als er sie angefasst hat, hat er sich strafbar gemacht. Da müssen wir ermitteln.«

»Ach, was wollt ihr da ermitteln. Der ist verschwunden.«

»Der fährt bestimmt öfter mit dieser Bahn, und vielleicht steigt er auch immer da aus, wo er jetzt ausgestiegen ist. Da gibt es sicher auch irgendwo Kameras. Es ist wichtig, dass so Typen merken, dass sie nicht mit allem durchkommen. Was mich viel mehr schockt als dieser Arsch«, sagte Marie, »ist, dass keiner geholfen hat. Da saßen brave Bürger in der Bahn und haben weggeguckt.«

Marie war über zehn Jahre älter als Pauline und hatte in ihrem Leben schon so oft rüpelhaftes Verhalten von Fremden und Kollegen erdulden müssen, dass sie fast schon abgestumpft war. Groß und füllig, wie sie war – oder sagte man heute curvy –, gehörte sie nicht zu den Frauen, denen an jeder Baustelle hinterhergepfiffen wurde. Aber dafür musste sie sich Sprüche wie »So schön und so fett, schade« anhören. Aufregen konnte sie sich darüber schon lange nicht mehr. Und sie konnte auch Paulines leidenschaftlichem Kampf für die Frauenrechte nicht viel abgewinnen. Nötig ja. Aber nicht ihr Ding.

Der Abend löste sich versöhnlich in Alkohol auf, und irgendwann war Ruhe in der Vierzimmeraltbauwohnung in der Feldstraße in der Lüneburger Altstadt.

3

Sie vermisst mich. Dieser Gedanke füllte Stephans Kopf vollständig aus, als er etwas später als sonst die Polizeidirektion in Lüneburg betrat. Da war kaum noch Platz für andere Gedanken. Dabei ging es für ihn als Leiter der Mordkommission heute darum, möglichst schnell einen bestialischen Mord aufzuklären. Aber das Telefonat mit seiner Frau Miriam am Morgen hatte Stephan in Hochstimmung versetzt. »Ich vermisse dich«, hatte die schöne Miriam aus dem fernen Düsseldorf ins Telefon gehaucht. Und: »Ich will nicht von dir getrennt sein, ich will, dass wir eine Familie sind.«

Das waren ganz neue Töne, seit sie vor einem Dreivierteljahr entschieden hatte, ihm mit der fünfjährigen Hedwig nicht nach Lüneburg zu folgen, sondern vorerst im Schoß der steinreichen Familie am Rhein zu bleiben. Vorausgegangen war dieser Entscheidung ein echtes Drama. Er selbst, seine Frau Miriam und die kleine Tochter Hedwig waren mehrere Stunden in der Gewalt eines Serienkillers gewesen und konnten nur mit Glück gerettet werden. In diese Situation waren sie nur geraten, weil Stephans desolates Gedächtnis wichtige Informationen einfach nicht gespeichert hatte.

Du kannst diesen Beruf nicht mehr ausüben, hatte Miriam damals konstatiert und ihn vor die Wahl gestellt, entweder eine Stelle als Sicherheitschef im Konzern ihres Vaters anzunehmen oder allein als Kripobeamter zu leben und sicher früh zu sterben.

Es war nicht unbedingt so, dass Stephan seinen Beruf mehr liebte als seine Frau und sein Kind, aber er war gern Polizist. Und er war gut darin. Die wirklich Guten müssen die wirklich Bösen jagen, das war sein Motto. Was er aber besonders liebte, war seine Unabhängigkeit. Er wollte sich nicht vollständig in die Hand des ebenso generösen wie arroganten Friedrich Münstermann begeben. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass das Haus, das sie sich hoffentlich irgendwann hier in Lüneburg kaufen würden, hauptsächlich vom Schwiegervater finanziert werden müsste. Und sein teurer Wagen, der 1962er Mercedes 280SL, war auch ein Geschenk von Miriam und damit von ihrem Vater. Für einen Rest Selbstachtung musste er Polizist bleiben.

Doch heute Morgen hatte Miriam zum ersten Mal durchblicken lassen, dass sie sich ein Leben in Lüneburg, mit einem Kommissar an ihrer Seite, nun wieder vorstellen konnte. Gingen ihr ihre Eltern auf die Nerven? Fehlte ihr der Mann im Leben und vor allem im Bett? Miriam konnte jeden haben, bildschön und reich, wie sie war. Aber sie stand auf Stephan Weide. Den gut aussehenden, aber mittellosen Bullen. Stephan war zwölf Jahre älter als sie, aber das hatte Miriam nie gestört. In vier Wochen feierte sie ihren fünfunddreißigsten Geburtstag. Sie hatte nicht ausdrücklich auf Stephans Anwesenheit bestanden, aber er hatte angedeutet, dass er sich freinehmen wollte. Das war für Miriam wie ein heiliges Versprechen, und er durfte es nicht versauen.

Nun saß er an seinem Schreibtisch und ließ sich von diesem Ossi, diesem Sobchak, auf den neuesten Stand bringen. Sobchak hatte die Angewohnheit, Menschen sehr nahe zu rücken, sogar hinter Stephans Schreibtisch zu treten und ihm über die Schulter zu schauen. Stephan hasste das grundsätzlich. Bei Sobchak umso mehr, weil dieser dicke, alte Kerl ab Mittag einen unangenehmen Körpergeruch verströmte. Sein Mundgeruch war schon am Morgen kaum auszuhalten. Einmal hatte er ihn dezent auf sein Distanzbedürfnis hingewiesen. Aber das war wohl zu dezent gewesen. Sobchak hatte es sich nicht gemerkt.

Nun stand er wieder hinter Stephan und wischte mit seinen dicken Fingern auf Stephans Bildschirm herum. Dann nahm er Stephans Maus und blätterte durch die Datenbank der Vermissten.

»Viel Auswahl haben wir nicht. Es sind nur wenige Männer vermisst. Mehr junge Mädchen. Der hier«, er zoomte ein Foto heran, das einen ungefähr vierzigjährigen Mann zeigte, »ist unser Opfer.« Das Foto des Mannes war offenbar ein Ausschnitt aus einem Urlaubsschnappschuss. Die Haare vom Wind zerzaust, Dreitagebart, Sonnenbräune.

»Und wer ist das?«

Sobchak richtete sich auf und wollte gerade seinen Bericht beginnen, da unterbrach Weide ihn: »Herr Sobchak, bitte, nehmen Sie doch Platz.« Er deutete auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch.

Walter Sobchak verstand und tat wie geheißen. »Wir haben Bilder der Vermisstenkartei und der Leiche verglichen. Bei dem Toten handelt es sich mit Sicherheit um Reinhold Kohl, fünfundvierzig Jahre alt, aus Lüneburg. Beruf: selbstständiger Finanzberater. Hat eine eigene Firma, die Kohl-Finanz AG. Verheiratet, zwei Kinder. Keine Vorstrafen.«

»Mit Sicherheit?«

»Ja.«

Sobchak kam wieder um den Schreibtisch herum, öffnete auf Stephans Bildschirm ein Foto des Gesichts der Leiche und schob es neben das Bild aus der Vermisstenkartei. Dann setzte er sich wieder auf den ihm zugewiesenen Platz.

Weide nickte zufrieden. »Und seit wann wird er vermisst?«

»Vor vier Tagen hat seine Frau ihn als vermisst gemeldet. Da war er über Nacht nicht nach Hause gekommen. Das hatte sie beunruhigt.«

»War das zum ersten Mal vorgekommen? Sonst warten die Ehefrauen doch gern auch zwei, drei Tage.«

»Nach dem, was Ulrike Kohl, die Ehefrau, bei der Vermisstenmeldung angegeben hat, war er ein sehr zuverlässiger und treu sorgender Familienvater und Ehemann.«

»Denken das nicht alle Frauen, Herr Sobchak?«

»Ich weiß es nicht, ich war nie verheiratet, und jetzt fange ich mit dem Quatsch bestimmt nicht mehr an.«

»Besser so.«

»Die Ehefrau des Opfers«, fuhr Walter fort, »wurde bereits gestern Abend informiert. Ein Psychoteam ist auch schon dort.«

»Gut, dann schnappen Sie sich mal die Kollegin Gläser und fahren zur Familie des Opfers«, kommandierte Stephan Weide.

Sobchak nickte und stand auf. Während er schon hinausging, rief Weide hinter ihm her: »Und kriegen Sie alles raus, was man über die Firma von dem Mann, diese Dingsbums AG, wissen muss.«

»Na klar«, brummte Walter und ging in sein Büro, wo Marie müde und offenbar leicht verkatert in eine Kaffeetasse starrte. Es war die Tasse, die Walter ihr mal geschenkt hatte mit der Aufschrift: »Alle Menschen sind gleich – mir jedenfalls.«

4

Marie musste allein zu Ulrike Kohl fahren. Walter hatte herumgedruckst, er müsse dringend alles über die Kohl-Finanz AG recherchieren. Es sei schließlich Freitag, und am Wochenende wäre da nicht viel herauszubekommen. Der Kriminalmeister war zwanzig Jahre älter als Marie. Der nach außen so raubeinige Walter war eigentlich ein ganz sensibler Kerl, dem das Leid anderer Menschen sehr naheging. Das hatte Marie in den vielen Jahren ihrer Zusammenarbeit mitbekommen. Sie selbst war auch nicht gerade unempfindlich, aber sie hatte sich einen professionellen Panzer zugelegt, um die Verzweiflung der Hinterbliebenen nicht an sich heranzulassen.

Die Familie Kohl wohnte knapp zehn Kilometer östlich von Lüneburg im Dorf Neetze. Vor dem schönen, top restaurierten Bauernhaus der Kohls standen zwei Streifenwagen. Beamte in Uniform sicherten das schmiedeeiserne Tor an der Zufahrt zum Grundstück. Mehrere Privat-Pkw parkten am Straßenrand der schmalen Seitenstraße. Männer und Frauen mit Kameras standen gelangweilt herum. Medienleute, die darauf warteten, dass etwas passierte.

Als Marie ankam, sprang direkt Ina Feldmann, die umtriebige Reporterin der »Lüneburger Stimme«, auf sie zu, gefolgt von ein paar Kollegen.

»Frau Feldmann«, sagte Marie spöttisch, »irgendwann schaffen Sie es, noch vor der Leiche am Tatort zu sein.«

»Wenn mir das gelingt, Frau Gläser, rufe ich Sie sofort an. Versprochen«, krächzte die kleine, dünne Frau mit den schwarz gefärbten Haaren. »Aber Scherz beiseite: Was können Sie mir schon sagen?«

»Nichts, Frau Feldmann, gar nichts«, sagte Marie und ging weiter auf das Tor zu.

»Handelt es sich bei dem Toten tatsächlich um Reinhold Kohl?«

»Ja. Aber das steht bereits in unserer Presseerklärung, die vermutlich ein Volontär gerade auf Ihren Schreibtisch legt.«

Marie war am Tor angekommen. Die Beamten nickten ihr freundlich zu, traten beiseite und hielten ihr die Pforte auf. Sie ging zügig über die mit Naturstein gepflasterte Auffahrt auf das Eingangstor des stattlichen Hauses zu. Es war ein alter Gutshof, wie es viele hier in der Gegend gab. Und wie viele andere auch war er aufwendig umgebaut worden. Seit die Landwirtschaft in der Nordheide keine große Rolle mehr spielte, fielen wohlhabende Leute aus Hamburg über diese Höfe her, entkernten sie vollständig und füllten sie mit modernem Innenleben. Authentizität spielte da oft keine Rolle, Geld auch nicht.

»Was können Sie noch über die Umstände des Todes sagen?«, rief die Feldmann ihr hinterher. »Wurde er erschossen, erwürgt? Bitte, Marie, ein kleiner Hinweis.«

Jetzt versucht sie es auf die vertrauliche Tour, dachte Marie und schmunzelte. Dann betrat sie die Eingangshalle des Hauses.

Reinhold Kohl war wohlhabend gewesen. Das war den Akten zu entnehmen. Er war im kleinen Lüneburg nicht unbekannt. Mit seiner Finanzberatung hatte er sich ziemlich breitgemacht und den traditionellen Sparkassen und Genossenschaftsbanken den ein oder anderen Kunden abgejagt. Er hatte erfolgreich den Eindruck vermittelt, dass seine Beratung über Geldanlagen, Kredite und Versicherungen wirklich unabhängig war. Inzwischen arbeitete ein unüberschaubares Heer freier Berater für die Kohl-Finanz AG.

Die Einrichtung der Halle war schlicht, dem Stil des alten Hauses angemessen. Terrakottaboden, große Tontöpfe mit Grünpflanzen. Ein paar bäuerliche Antiquitäten. Geschmackvolle Webteppiche. An einer Wand hing eine Mariendarstellung, eine Ikone, sicher wertvoll. Darüber ein kleines, schlichtes Holzkreuz.

Eine Frau in Maries Alter, offenbar die Haushälterin, nahm ihr die Jacke ab und führte sie in einen Wohnbereich. Das Herzstück des Hauses. Der Raum reichte bis zu den Balken des Reetdaches, eine Freitreppe führte auf eine Galerie und zu weiteren Zimmern. Auch der Wohnbereich war mit eher bäuerlichen Möbeln dezent und geschmackvoll möbliert. Teppiche, Vasen und kleine Tischdeckchen mit Blaudruckmotiven ergaben ein stimmiges Ganzes.

In einer kleinen Sitzgruppe neben den bodentiefen Fenstern an der gegenüberliegenden Giebelseite saß auf einem Sofa eine Frau. Etwas älter als Marie, schlank, attraktiv. Sie trug Jeans und einen hellen Wollpullover. Das schmale Gesicht war ungeschminkt, in den dunkelblonden Haaren schimmerten erste graue Strähnen. Frau Kohl, dachte Marie, mag es natürlich.

Ihr gegenüber saß eine ältere Frau, die Marie kannte. Christina Ritter vom Kriseninterventionsteam. Sie war ehrenamtlich tätig und verstand es, durch ihre pure Anwesenheit etwas Ruhe in die von Horrornachrichten aufgewühlten Menschen zu bringen. Sicher hatte auch der Notarzt, der etwas abseits seine Sachen zusammenpackte, seinen Anteil an der Ruhe, die den Raum erfüllte. Ohne Beruhigungsspritze würde hier eine andere Thermik herrschen.

Frau Ritter sah müde aus. Sie war sicher seit der Nacht im Haus, als Frau Kohl mit der Nachricht konfrontiert worden war. Sie stand auf, als sie Marie sah, und kam auf sie zu.

»Guten Morgen, Frau Gläser, ich denke, Sie können ihr ein paar Fragen stellen«, sagte sie, bevor Marie sie begrüßen konnte. »Aber ersparen Sie ihr Details. Das verkraftet sie jetzt noch nicht.«

»Wo sind die Kinder?«, fragte Marie.

»Bei der Tante, der Schwester von Frau Kohl. Sie wohnt im selben Dorf.«

»Wie alt sind sie?«

»Dreizehn das Mädchen und fünfzehn der Junge.«

»Danke, Frau Ritter«, sagte Marie und ging auf Ulrike Kohl zu. »Mein Name ist Marie Gläser von der Kriminalpolizei Lüneburg. Darf ich mich zu Ihnen setzen, Frau Kohl?«

Die Frau nickte und rückte etwas zur Seite. Sie starrte auf die Tischplatte.

»Es tut mir sehr leid, was passiert ist, Frau Kohl. Ich fühle mit Ihnen und Ihren Kindern. Und ich garantiere Ihnen, dass wir alles tun, um den oder die Täter zu finden.«

Das sagte Marie in solchen Situationen immer. Was sollte man auch sonst sagen? Frau Kohl nickte, ohne aufzublicken.

»Frau Kohl, hat Ihr Mann erzählt, dass er bedroht wurde? Hat er ungewöhnliche Briefe oder Anrufe erhalten?«

Jetzt sah Ulrike Kohl Marie zum ersten Mal an. »Nicht dass ich wüsste. Aber mein Mann hätte mich mit so etwas auch nicht belastet.«

»Also, Sie meinen, es gab schon, wie soll ich sagen, Herausforderungen für Ihren Mann?«

Frau Kohl lehnte sich etwas zurück und lächelte sanft. »Wissen Sie, mein Mann ist im Finanzgeschäft tätig.« Ulrike Kohl sprach leise, ohne besondere Betonung. »Die Menschen kommen zu ihm, weil sie Träume haben. Und er soll ihnen helfen, sie zu verwirklichen. Ein schönes Haus, eine Weltreise, eine gute Altersversorgung. Viele Träume gehen in Erfüllung. Und manche eben auch nicht. Dann sind die Leute enttäuscht, verärgert und machen meinen Mann dafür verantwortlich. Dann beschimpfen sie ihn am Telefon oder kommen sogar hier zu unserem Haus. Viele verklagen meinen Mann auch. Verloren hat mein Mann solche Prozesse noch nie.«

Frau Kohl sprach konsequent im Präsens von ihrem Mann. Es war anscheinend noch nicht wirklich zu ihr durchgedrungen, dass er niemals zurückkehren würde.

»Erinnern Sie sich an einen besonders problematischen Fall in der letzten Zeit?«

»Nein. Wie gesagt, mein Mann hält mich aus diesen Sachen raus. Und er beschäftigt ja auch viele Leute. Vierhundert Berater arbeiten für Kohl-Finanz. Wenn einer von denen einen Fehler macht, zieht man sofort meinen Mann zur Rechenschaft.«

»Und Sie erinnern sich nicht an ein paar Namen? An Kunden oder Mitarbeiter, von denen Ihr Mann gesprochen hat, die uns weiterbringen könnten?«

»Nein. Wir hatten andere Gesprächsthemen. Und ich habe ja auch viel zu tun in der Gemeinde und bei den Landfrauen.«

Christina Ritter gab Marie ein Zeichen, die sich daraufhin erhob und ihre Visitenkarte auf den Tisch legte. »Danke, Frau Kohl. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was uns helfen könnte, rufen Sie mich bitte an, jederzeit.«

Ulrike Kohl nahm die Visitenkarte in die Hand. »Frau Gläser, wie ist mein Mann gestorben? Ihre Kollegen haben nur etwas von einer schweren Bauchverletzung erzählt, an der er verblutet ist. In einer Autowerkstatt. Was hat man ihm angetan?«

»Das wissen wir auch noch nicht so genau. Das müssen unsere Experten noch herausfinden.«

Marie wollte nicht diejenige sein, die der Frau mitteilte, dass ihr Mann wie ein Luftballon aufgeblasen worden war, bis er platzte.

In der Halle, Marie nahm gerade ihre Jacke in Empfang, kam ihr ein junger Geistlicher entgegen. Er trug einen schwarzen Anzug und diesen auffälligen runden Pfaffenkragen. Er wirkte sehr aufgeregt.

»Sie sind doch sicher von der Polizei. Ist Ulrike, ist Frau Kohl im Wohnzimmer?«, rief er aus, als er Marie sah.

»Ja und ja«, sagte Marie, und der Mann sah sie ratlos an.

»Ja, ich bin von der Polizei, und ja, Frau Kohl ist im Wohnzimmer. Und wer sind Sie?«

»Pater Paul Gässner. Der geistliche Beistand der Familie Kohl. Sagen Sie, was wissen Sie schon? Wer tut dem armen Reinhold so was an? Das ist so schrecklich.« Der Pfarrer hatte einen nervigen Singsang in der Stimme.

»Wir ermitteln noch. Wir stehen ganz am Anfang.«

»Gut. Ich werde mich dann mal um die Familie kümmern.«

»Tun Sie das.«

Marie war schon fast aus der Tür, da rief ihr der Pfarrer hinterher: »Ich werde für Sie beten, dafür, dass Sie schnell den Übeltäter finden.«

»Ja, das wird sicher helfen«, sagte Marie leise und versuchte sich zu erinnern, ob sie je zuvor einen Menschen diesseits des Rentenalters das Wort Übeltäter hatte sagen hören.

***

»Und, Walter, wie geht’s den Leuten bei Kohl-Finanz?«, fragte Marie.

Nach dem Gespräch mit Frau Kohl war sie sofort wieder ins Präsidium gefahren. Walter klemmte mit der ganzen Masse seines schweren Leibes zwischen Bürostuhl und seinem ziemlich vermüllten Schreibtisch und glotzte durch die randlose Brille auf den Bildschirm seines PC.

Bei der großen Hansa-Rostock-Flagge an der Wand hinter ihm hatte sich eine der Ecken gelöst, und so hing das Banner seines Herzvereins irgendwie auf Halbmast. Er hatte das anscheinend noch nicht bemerkt, und Marie wollte ihn nicht ablenken.