Dramatische Rundschau 01

Herausgegeben von
Friederike Emmerling, Oliver Franke,
Stefanie von Lieven, Barbara Neu
und Bettina Walther

FISCHER E-Books

Inhalt

Impressum

 

 

 

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Covergestaltung: Sanaz HazeghNejad · sanaz.eu

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491138-0

Fußnoten

Bookpink = plattdeutsch für Buchfink

BJÖRN SC DEIGNER, geboren 1983 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und arbeitet als Autor für Theater und Hörspiel sowie Sounddesigner und Komponist an verschiedenen deutschen Stadttheatern (u.a. Deutsches Theater Berlin und Thalia Theater Hamburg). Mit seinem ersten Theatertext In Stanniolpapier wurde er 2018 zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater Berlin eingeladen, mit der Reichskanzler von Atlantis zum Heidelberger Stückemarkt 2019. Für das Theater Oldenburg entstand 2019 im Rahmen einer Autorenresidency das Stück Mission Mars.

Die Uraufführung von In Stanniolpapier am Deutschen Theater Berlin in der Regie von Sebastian Hartmann durfte schlussendlich nicht als Uraufführung bezeichnet werden, weil der größte Teil des Textes für die Inszenierung gestrichen wurde. An diesem Fall entspann sich im Feuilleton eine lebhafte Debatte über die Verantwortung einer Uraufführung und die Freiheit der Kunst.

Die tatsächliche Uraufführung fand ein gutes Jahr später, am 13. September 2019, in der Regie von Matthias Köhler am Theater Bonn statt.

In Stanniolpapier basiert auf realen Begebenheiten. Der Text verhandelt das Leben der Prostituierten Maria. Und wie sie aufbegehrt, indem sie ihren Job – aller Vorurteile und negativen Erlebnisse zum Trotz – zu mögen wagt.

BJÖRN SC DEIGNER

IN STANNIOLPAPIER

Nach einer wahren Begebenheit

Stückidee: Anna Berndt

 

 

 

1 – PROLOG

ich hab keine angst. von kindheit an nicht gehabt. hat der kinderarzt schon gewusst: ihr kind, das springt nochmal vom hochhaus und schüttelt sich danach nur kurz.

vier stunden schlaf, das hat mir gereicht. danach ins büro und acht stunden ackern. nach der arbeit ein nickerchen und dann auf die schicht bis drei uhr. so schnell hat mich nichts kleingekriegt. ich war immer hart im nehmen.

in meinem leben hab ich viel im dunklen rumgefischt. ich bin durch alles gegangen in meinem leben. nur eben ohne angst.

2 – DIE ERSTE AUF SCHICHT

FUNKER

ausweis, bitte.

MARIA

gerne. kann ich ihnen behilflich sein beim lesen? es ist ja nun nicht die morgenpost.

FUNKER

ruhe, wir überprüfen.

MARIA

okay. vielleicht können wir uns ein bisschen beeilen?

 

weil ich hatte in einer viertelstunde einen termin mit ’nem gast. und es macht sich ja schlecht, wenn da so ein funker steht.

 

FUNKER

gedulden sie sich mal. wir machen gerade eine abfrage.

MARIA

die abfrage hat der kollege schon vor drei monaten gemacht. weil ich bin nicht umgezogen, hab immer noch blaue augen, bin 165 zentimeter und die adresse ist auch immer noch die gleiche.

 

auf jeden fall lief es darauf hinaus, dass der funker mir ganz freundlich erklärte:

 

FUNKER

sie befinden sich hier in einem gefährdeten bereich.

MARIA

wie, ’n gefährdeter bereich? ich steh auf ’m bordstein.

FUNKER

ja, das ist ein gefährdeter bereich. und dies und das und jenes.

MARIA

sagen sie: was machen sie hier eigentlich für ’ne scheiße?

FUNKER

ja, wenn wir sie heute hier nochmal antreffen, kriegen sie einen platzverweis.

MARIA

und was ist das denn?

FUNKER

ja, platzverweis heißt: sie werden hier des platzes verwiesen.

MARIA

und denn?

FUNKER

dann bringen wir sie woanders hin.

MARIA

und woran dachten sie da?

FUNKER

na, zum beispiel: raus. in den forst.

MARIA

wieso? sind da mehr autos unterwegs?

FUNKER

auch noch frech werden.

MARIA

nein, ich werd nich frech. nur langsam, kollege, nerven sie. sie halten sich seit zehn minuten an meim ausweis fest. und mein gast dahinten trommelt auch schon.

FUNKER

was, wie jetzt? wollen sie jetzt auch noch bei einem freier einsteigen?

MARIA

na, soll ich ihn nach hause tragn?

FUNKER

na. wir treffen uns bestimmt nochmal.

3 – LEHRJAHRE

maria hat jetzt bürogehilfin gelernt.

dies die vorstufe zum kaufmann.

zwei jahre ausbildung in steno und schreibmaschine.

keine sekretärin, sondern tippse, wird sie sagen.

der eigentliche traum: friseurin zu sein, wird sie sagen.

damals wird der traum noch friseuse genannt, und die eltern werden ihm die erlaubnis entziehen.

mit dem kittel um den leib wird sie im salon stehen.

die zahnspange hinter den lippen versteckt, weil ein verdrahteter zahn sich nicht schickt.

verliebt in einen friseurmeister mit schmalen koteletten.

träumt maria von einem mann, der sie bei sich trägt wie ein kind.

so tritt sie zum ersten mal in den salon, ein schüchternes lächeln auf den lippen.

und eine der älteren kolleginnen wird sich umdrehen, die unsichtbare maria von oben bis unten mustern und sagen:

KOLLEGIN

wie, aber sie arbeiten hier doch gar nicht. die eltern sind dagegen.

die großeltern schwitzen in ihrer bäckerei, als maria im brotkorb groß wird.

die mutter immer auf arbeit, der vater liebäugelt mit der flasche und findet die liebe im suff.

maria, die während ihrer schulzeit unsichtbar ist.

maria, die während ihrer schulzeit keiner hört noch sieht.

maria, die während ihrer schulzeit grippebedingt drei wochen fehlt, wird von der lehrerin, den entschuldigungszettel in der hand, gefragt:

LEHRERIN

wie, du warst krank?

und das schüchterne mädchen maria wird sagen:

MARIA

die anschaffzeit, das war die beste lehrzeit. sonst hätten die jungs mich plattgemacht.

maria, die mit fünfzehn jeden morgen in die katholische privatschule geht, will von zuhause weg. und sagt:

MARIA

mit achtzehn muss die zahnspange raus. mir blutet das zahnfleisch zu sehr.

abends legt sie die kontaktlinsen in eiweißlösung.

die röcke zu kurz, die blusen zu durchsichtig, maria liest rotlichtromane.

als die eltern noch verliebt sind, rufen sie maria zu sich:

ELTERN

du bekommst jetzt einen bruder. freu dich mal. jetzt freu dich doch mal.

und maria schleicht sich nachts ans fenster und schüttet zucker auf die fensterbänke.

jemand hatte ihr erzählt, wenn es nur genug zucker ist, dann wird es schon ein schwesterchen.

4 – MIGRÄNE

sieben jahre migräne. schon als jugendliche: morgens mit migräne aufgewacht, abends mit migräne ins bett. ich bin alleine im zimmer und rufe.

mama? mama, komm bitte mal. bitte. bitte, mama, komm jetzt her. ich bin alleine und. mir ist so schlecht, ich seh fast nichts mehr. mama?

dreihundert tabletten im monat. mit dem kopf gegen die wand schlagen, eine stunde kotzen. und nur danach fühlt der kopf sich frei an. der neurologe sagt zu mir: dann eben stationär, es gibt eine schöne klinik am stadtrand, da schicken wir sie jetzt hin. da war ich schon mitte zwanzig. und der oberarzt sagt:

 

OBERARZT

sie bleiben nur auf probe.

MARIA

wie, auf probe?

OBERARZT

sie bleiben hier erstmal auf probe.

MARIA

ist doch alles schon eingeräumt. mein schrank ist voll wie beim camping-urlaub. hab alles dabei für die sechs wochen.

OBERARZT

sie bleiben hier erstmal auf probe.

 

und da hatten die anderen patienten schon längst ihren bauchklatscher gemacht. den einbruch ins jammervolle tal. mit krämpfen, die dich im bett wiegen, und rotz und wasser, das man heult. aber ich brauchte erst sechs wochen, in denen ich dachte, dass ich aufrecht stehen bleiben kann. vielleicht im bett sitzen, lesen und rauchen. ab und zu eine gesprächstherapie. stuhlkreis und ’ne schachtel kippen. bis auch ich den bauchklatscher machte. freier fall in meine eigenen untiefen.

was lernt man denn hier, frag ich. und die nachbarin auf zimmer sagt: das weinen. und das hab ich gemacht. geweint am tag, geweint in der nacht. das gesicht übersät mit akne, wie die anderen patienten auf dem zimmer. wenn das innere heruntergepellt wird, wie beim hartgekochten ei die schale, bleibt nur ein weicher mensch zurück. ich muss husten und krieg lungenentzündung. ich heul mir mein immunsystem aus den augen. mein gesicht ist ein streuselkuchen, und die beule auf dem arm ist eigentlich nur ein mückenstich.

und ich sehe die ausgebreiteten arme des oberarztes, der sagt:

 

OBERARZT

herzlich willkommen. sie sind jetzt aufgenommen. aber sie wissen schon: der ausgang führt durch den keller.

 

und dann hab ich angefangen zu erzählen. bei jeder gelegenheit ist mir alles nur so von der seele gerutscht. die ganze lawine hab ich mir vom herzen gequatscht.

über die mutter, die immer nur ein schatten war. über den vater, der in der flasche hockte und ersoff. und den freund der familie, der mich streichelte, bis es weh tat. hier und hier und da. nach der ersten gesprächstherapie rauch ich vier schachteln kippen, und die beine hab ich mir aufgekratzt, runter bis auf die knochen. und bemerkt hab ich es kein stück. und der oberarzt schaut mich an und sagt:

 

OBERARZT

sie haben glück: sie haben jemanden, der sie geboren hat.

aber sie haben pech: es ist leider keine mutter.

5 – FREITAG, DER DREIZEHNTE/AM BORDSTEIN

KOLLEGIN

heute is freitag, der dreizehnte.

MARIA

weiß ich doch. is mein geburtstag.

KOLLEGIN

na. das weiß ich ja gar nicht.

MARIA

weißt es eben jetzt.

KOLLEGIN

na dann, alles gute. is aber schon spät. is ja bald wieder vorbei.

MARIA

ich mach auch nur noch einen autogast. dann ist für mich feierabend.

KOLLEGIN

dann feier noch schön. gute nacht.

MARIA

danke. schlaf gut.

 

MARIA

na, du. süßer. soll ich ’n stück mitfahrn? komm. ich steig ein. dahinten is ein parkplatz, da könn wa hin. halbe stunde hundert mark, mit verkehr. aber ausziehn kostet extra.

 

das war eigentlich immer schön an der straße: da hattest du deine stammis und ab und an auch so ’nen neuen dabei. die warn alle selber so unsicher, fast schüchtern. und mit der zeit, das ging ganz schnell, da hab ich mich wohlgefühlt. im engen auto mit ’nem fremden, und der vertraut dir alles an. das intimste, was es gibt. jeder freier hat ein pochendes geheimnis. das schnürt ihm den hals und lässt ihn schwitzen. und sei es nur, dass er untreu is. aber meistens is es die suche nach ’nem moment, der ihm verloren gegangen is. ’ne ganz besondere nacht, die mal vor jahren war. sowas eben. is ’ne seltsame form von nähe zwischen zwei menschen.

 

MARIA

da biegste jetzt aber falsch ab. sag mal: wo fährst ’n du hin? das ist die falsche richtung. warum willste denn den parkplatz nicht? hm. hörst du mir überhaupt zu? schau mich mal an. guck mal her, du. du bist ja völlig zugedröhnt. wie kannst du denn noch autofahrn? und dann auch noch ’nen porsche. kriegst du noch was mit? hallo. wo du hinfährst, möcht ich wissen. hörst du mir zu? bleib mal stehen. du fährst viel zu schnell. jetzt bleib mal stehen. wir sind ja schon völlig woanders. hörst du? die ampel is auf rot. halt mal an. halt jetzt da an. hier ist jetzt schluss für mich.

 

und da rollte ich aus angst, oder weil ich es nicht anders wusste, aus dem auto. das war mir völlig neu. freier auf drogen, das macht keine. ich warf den einen fuß auf die straße, und der körper schwang sich hinterher. und da ließ er das auto zurückrollen, ganz langsam. vorsichtig, wie mit standgas. nur um nach dem rechten zu fragen. nur um zu schauen, ob denn alles in ordnung sei. und rollte dabei mit dem rechten hinteren reifen über beide meiner beine.

 

MARIA

was? nee, fahr mal weiter. lass mich hier. ich will da nicht wieder rein. lass mich liegen jetzt. mach die tür zu und hau ab.

 

und fuhr los und beim anfahren wieder über meine beiden beine hinweg. dieses mal schneller, aber das auto war genauso schwer wie beim ersten mal. nur die geschwindigkeit war verschieden.

da lag ich also. morgens um halb eins auf ’m bordstein. heulte rotz und wasser und weit und breit keine seele. war mir nur recht. ich hätte nicht um hilfe gerufen. gibt nichts, was ich nicht auch alleine geschafft hätte in meinem leben. lasst mich ruhig in frieden. ich heul hier noch ’n bisschen. dann brennt das make-up so sehr in den augen, dass ich die tränen wegreibe.

ich richte mich auf und fass die beine an. und wie durch ein wunder seh ich, dass nichts gebrochen ist. durch die vielen lagen nylon, strumpf über strumpf über strumpf, und durch die lederstiefel wohl auch, blieben die knochen vollständig heile. nur die haut an beiden beinen war ordentlich verbrannt. durch die reibung zwischen material und körper. so erkläre ich mir das zumindest. glück im unglück, würde ich mal sagen. muss daran gelegen haben, dass es mein geburtstag war.

6 – FAMILIENFREUND

maria wird sagen: und es gab da diesen freund der familie.

der hat mich nach der schule abgeholt, der war mein babysitter, wird maria sagen.

die mutter immer auf arbeit, und der vater verheiratet mit der flasche, seit der bruder geboren war.

steht der freund der familie nach schulschluss am tor zum pausenhof und winkt maria zu sich herüber.

legt ihr die hand um die hüfte und lässt sie gelegentlich tiefer rutschen.

und der hat sich dann um mich gekümmert, wird maria sagen, als freund der familie.

nur halt zu gut gekümmert, wird sie sagen.

er schiebt das kleid hoch, das kurze.

und die durchsichtige bluse, die muss auch weg.

streichelt maria so sehr, dass es ihr weh tut.

langt ordentlich zu, bedient sich an marias körper.

und geht mit ihr durch das milieu und sagt: da gehn wa was trinken.

da gehen wa rein und trinken jetzt was.

und wie sie am tisch sitzen, wird maria später sagen, schaut sie sich eben um im etablissement.

ich war schon ein naives kind, das hat mir nie geschadet, wird sie sagen.

sie sieht die damen, die leicht bekleidet am tresen stehen, und die trinken sekt.

natürlich ist mir da was aufgefallen, sagt maria.

und ich fand das schön, das sah gut aus, was die mädels so an sich trugen, sagt maria.

mit engen miedern und schwarzen strapsen.

mit langen lackstiefeln und kurzen röcken.

aber was ihr am meisten gefällt, sagt maria, das war der kodex.

dass es klare regeln gab, wie sich einer zu verhalten hat.

so und nicht anders, das geht und das nicht.

an einem ort, wo alles erlaubt schien, da brauchte der freund der familie nur einmal die hand zu heben oder nach ihr fassen, sagt maria.

und schon standen zwei herren am tisch und ließen den freund der familie wissen, dass er das ganz schnell bleiben lassen soll.

die hand gehört auf den tisch und nicht ins gesicht.

sonst gibt’s prügel, aber ordentlich.

is das verstandn?

du fasst das mädel nich mehr an.

und so hatte der freund der familie es bald eilig, das etablissement wieder zu verlassen.

ARZT

wie ist denn das passiert?

MUTTER

jetzt sag ma.

MARIA

ich.

ARZT

wie bitte?

MUTTER

sie is die treppe runtergefalln. so war das.

MARIA

ich bin die treppe runtergefalln.

ARZT

bitte?

MUTTER

treppe runtergefalln, so isses.

ARZT

sie ist die treppe runtergefallen?

MUTTER

ja. genau so is es passiert.

MARIA

ich bin die treppe runtergefalln.

MUTTER

sag ich doch. sagt sie doch.

ARZT

hören sie mal. das ist ja nett, dass sie die treppe runtergefallen ist. aber warum hat sie denn einen schuhabdruck im gesicht?

MUTTER

was hat se?

ARZT

ihre tochter hat einen schuhabdruck im gesicht. von einem herrenschuh.

MUTTER

wo denn? ich seh überhaupt nichts.

ARZT

wollen sie mir nicht sagen, was passiert ist? wir können das auch gerne alleine besprechen. ohne ihre mutter.

MUTTER

das wär ja noch schöner.

MARIA

ich. bin. nach der schule die treppe runtergefalln.

MUTTER

was weiß denn ich, wo die sich nach der schule rumtreibt. ich war auf arbeit.

und der vater sitzt im wohnzimmer, schaut auf, lenkt den blick weg von der flasche, so ganz ungefähr schaut er in den raum, schaut auf maria, schaut auf die mutter und schaut wieder auf die flasche und sagt:

VATER

der typ. der typ is ’n arschloch.

und meint den freund der familie, der maria also wieder krankenhausreif geprügelt hatte.

und meint das ehrlich und von herzen, und das war dann auch schon alles.

MARIA

papa, wach auf. papa? umarmste mich mal? so mit beiden händen um den rücken? ganz kurz nur? papa?

die welt is ’n komischer ort, sagt maria.

vollgestopft mit menschen, aber keiner davon is für dich da.

7 – REINHANGELN

und dann traf sie den einen.

für den hätte sie alles gemacht, alles, sagt maria, ohne zu zögern.

die zahnspange hinter den lippen versteckt, zeigt maria ihr schönstes lächeln.

stellt sich in positur, wie das eine sechzehnjährige eben so versucht.

auf wackligen beinen, aber mit durchsichtiger bluse und zu kurzem rock.

ein schönes, ein junges mädchen ist maria.

fast noch unsichtbar, aber eben nur fast.

und der eine sieht sie und erkennt sie.

der eine ist mächtig stark, nimmt sie in den arm und sagt:

hier bist du sicher, verstehst du, hier kommt nichts an dich ran.

und der eine hebt sie hoch und sagt:

du wiegst ja fast nichts, süße, bist du sicher, dass du nicht aus zucker bist?

und der eine lacht mit ihr und sagt:

dann darfst du ja nie in den regen kommen, sonst löst du dich ja auf.

und das will er nicht und sie auch nicht, sie will bei ihm sein.

was sie für ihn machen würde?

na, alles.

alles?

alles.

maria versucht, klimmzüge über barfrau zu machen.

der eine sagt: schon gut so, aber wenn du richtig willst, dann musst du auch richtig.

und barfrau war noch nicht richtig.

aber der eine lässt es ruhig angehen und wartet die zwei jahre bis zur volljährigkeit.

holt maria ab, führt sie aus.

und lässt sie sitzen und ruft sie nicht an.

fährt sie aus, auf eine landpartie im kabrio.

und lässt sie am tresen stehen, wie eine person, die er nicht kennt.

kauft ihr schuhe, kauft ihr kleider.

und sagt: aber wenn du richtig willst, dann musst du auch richtig.

kauft ihr schmuck, legt ihn ihr an.

und macht sie nieder und brüllt auf sie ein.

geht mit ihr ins kino, nimmt sie in den starken arm.

und lässt die hand ausrutschen und schüttelt sie durch.

hält sie besonders, hält sie warm.

aber wenn du richtig willst, dann musst du auch richtig.

und nach den zwei jahren macht maria auch richtig.

zug um zug, alle ebenen durch.

einen cognac und zwei gläschen sekt, und danach ist alles nur noch eine rosane wolke.

maria schafft an in bordellen.

maria schafft an in kinos.

maria schafft an in showläden.

zwanzig, dreißig, fünfzig mark pro gast, auf sperrmüll-sofas mit reichlich küchenrolle, auf der untersten schiene im pornokino.

na, komm doch ran, ich beiß dich nicht, sagt maria.

waren die ärmsten der armen, aber sind auch nur menschen, wird sie sagen.

zehn, fünfzehn freier am tag und bald kennt sie jeden beim vornamen, und bei der begrüßung kann man denken, da treffen sich zwei alte bekannte.

jeder hat ’ne geschichte, wird sie sagen, so was verbindet.

und danach der straßenstrich.

im winter von neunzehn uhr dreißig bis drei uhr am morgen.

im sommer von zwanzig uhr dreißig bis in der früh um vier.

die ganze nacht an der frischen luft und nüchtern dazu, sagt maria.

das hält so fit, dass man nach der schicht in pumps nach hause joggt, sagt sie.

ein gesundes frühstück und dann ganze vier stunden schlaf.

danach ins büro, ein ganz normaler arbeitstag:

sitzen am schreibtisch, schreiben von briefen.

und ablegen, abheften, abzählen.

alles nur eine frage der koordination für so ein junges ding, das maria noch ist.

am nachmittag die mütze schlaf nachgeholt, bevor der fummel über die haut gestreift wird, und der tanz auf der straße von neuem beginnt.

schönes geschnatter mit den kolleginnen auf dem breiten prachtboulevard, sagt maria.

das war eine schöne zeit, richtig schön, wird sie sagen.

da hielten die großen wagen, und wer bis zwölf nicht tausend mark gemacht hatte, war schon selber schuld.

porsche, mercedes: die halbe stunde liegt bei 700 mark.

mit verkehr, aber was heißt das schon genau.

bis geklärt ist, wer was macht und was dann noch extra kostet, ist die erste halbe stunde vorbei, und 700 mark wandern in marias handtasche, noch bevor was passiert.

die kolleginnen kaufen sich maßkonfektion und fahren mit dem taxi zur schicht, sagt maria.

nur maria steigt in die u-bahn und joggt in stilettos nach hause.

das geld war mir ganz gleich, wird sie sagen.

als bürogehilfin ist der lohn am vierten auf dem sparbuch.

die miete, das telefon und sämtliche rechnungen werden pünktlich bezahlt.

das geld von der straße, das gab sie immer nur dem einen, sagt sie später.

der sie manchmal abholt nach der schicht, die scheine einsteckt und noch mit nach oben kommt.

auf dem bett mit ihr liegt und den starken arm zu ihr streckt:

hier bist du sicher, hier kommt an dich aber auch gar nichts ran.

8 – OBDACHLOS

MARIA

na, was is denn hier los? habt ihr heute alle stütze bekommn? na, das kann ja munter werden. ich nehm euch alle mit, aber nicht auf einmal. so viel platz hab ich gar nicht in meinem zimmerchen. einer nach dem andern, oder wie habt ihr euch das vorgestellt? na, komm ma mit. mein zimmer liegt ganz günstig, und ’ne dusche hab ich auch noch im angebot. wir machn 30 minuten, und du machst dich als erstes frisch, dann schaun wa weiter. klingt das nicht verlockend? na, komm einfach mit, wir sind ja gleich da.

 

ich hab mich nie geekelt, nur weil einer stinkt. is doch jeder nur ’n mensch. mit geschichte und allem. ich hab die ganzen obdachlosen mit aufs zimmer genommen, wenn die zahltag hatten. auch die brauchen jemanden. auch die brauchen nähe. ’n bisschen haut auf haut oder mal ’n leukoplast.

 

MARIA

schau mal hier, das is mein heiliges kästchen: da hab ich jod drin und pflaster. wir nehmen uns deiner erstmal an. was hast ’n da? is das dein zehennagel? du, der is aber auch schon völlig eingewachsen. na, komm. dusch du mal weiter. ich mach das schon. die zehe kriegn wir auch wieder hin. da hab ich schon schlimmeres gesehn.

 

is doch schön so. besser als die ganzen rammler, das ist doch menschlich. is wie auf ’m jahrmarkt: da machst du auch die wundertüte auf. und weißt nich, was drinne is. wirst du richtig süchtig nach. du bist doch auch nicht als penner geboren, denk ich. in jedem steckt doch irgendwo was nettes versteckt. muss man nur gucken, dass es rauskommt. und das geht meistens schneller, als man so denkt.

 

MARIA

musst dich nich so beeilen. wir haben doch zeit. haste den streit mit deiner frau jetzt eigentlich geklärt? ja, ich weiß: das is schon ’ne weile her, du warst schon lange nicht mehr da. letztes mal war im märz, und jetzt habn wir auch schon september. aber ich merk mir das halt. ich hab mir alle geschichten gemerkt. muss ich doch wissen, ob mich einer bezahlt, nur um mir lügen auf ’n tisch zu haun. die geschichten find ich eh am schönsten. du weißt eben nie, was dir einer erzählt. wie is es denn jetzt mit deiner frau? is jetzt alles wieder gut? friede, freude, eierkuchen? na, dann ist doch gut. freu ich mich für dich. habt ihr die zweite chance. musste dieses mal aber nutzen. ich sage dir, eine dritte chance kriegste nämlich nicht. du: jetzt ham wir ganz das poppen vergessen. kein problem, das holn wir das nächste mal nach. ich verdien in 80 prozent der fälle mein geld mit reden. da is doch nichts bei. wie geht’s dem zeh? alles wieder fit?

9 – FREITAG, DER DREIZEHNTE/IN STANNIOLPAPIER

KOLLEGIN

heute weiß ich’s: freitag, der dreizehnte.

MARIA

und?

KOLLEGIN

is dein geburtstag.

MARIA

ja, haste dir gemerkt?

KOLLEGIN

na, sicher. schau mal hier: kleines törtchen mit ’ner kerze. puste mal, und dann wünsch dir was.

MARIA

das is aber nett.

KOLLEGIN

ich geh jetzt schnell und meld mich ab. gehen wir dann noch ein trinken? von wegen geburtstag?

MARIA

ich mach noch schnell ’nen kunden, dann können wir los.

und dann fuhr auch schon ein auto vor.

und maria steigt ein, und es sind noch zehn minuten bis zwölf.

wie heißte denn, wo kommste her, fragt maria.

was geht’s dich an, wo ich herkomm und wie ich heiß, sagt er da nur.

na, dann heißte eben hans-dieter, sagt maria, weil sie weiß, dass der unterleib sich nicht in bewegung setzt, wenn die blockade schon beim namen beginnt.

der parkplatz da gefällt mir nicht, können wir nicht woanders hin, fragt hans-dieter.

dahinten ist ein mietparkplatz, sagt maria, aber da biste abgelenkt, da gehen die fußgänger auf deiner seite an der scheibe lang.

ja, nein, kümmer dich da nicht drum, sagt hans-dieter.

na, dann park du mal ein, und ich spiel mit dem hund hier hinten.

lass den hund, sagt hans-dieter, der hund ist böse, sagt hans-dieter.

der sieht gar nicht böse aus, sagt maria, und legt die hand aufs weiße fell.

der hund ist böse, sagt hans-dieter und parkt ein.

und maria bekommt ein schlechtes gefühl, das sie sonst nicht hat.

sie will die preise aufzählen, was geht und was nicht, und mittlerweile sind es vielleicht noch sechs minuten bis zwölf.

und maria hört ein leises zischen vor dem gesicht.

sie dreht sich nach vorne und fragt sich, was ist denn das, und schon beginnen die schläge, richtig viele und richtig hart.

und wie es auf sie einprasselt, wird es langsam verschwommen vor marias augen.

das ist keine faust, das ist so hart, denkt maria, und mittlerweile sind es vielleicht fünf minuten bis zwölf.

das tränengas, das hans-dieter in marias gesicht gesprüht hat, kriecht hinter die kontaktlinsen, und maria wird die sicht völlig verschwommen.

er schlägt und schlägt weiter auf sie ein.

es braucht noch einige lidschläge, bis das reizgas völlig im augapfel verteilt ist.

aber maria wird nicht ohnmächtig davon.

maria ist wie ein stein, den kann man formen, aber zerstören kann man ihn nicht.

und hans-dieter drischt und wartet, dass sich endlich die ohnmacht einstellt bei maria, mit der unterseite der gasflasche schlägt er immer wieder.

das gesicht sieht schon nicht mehr aus wie von maria, das gesicht ist eine einzige unklare masse, und mittlerweile sind es vielleicht noch vier minuten bis zwölf.

und dann regt es sich plötzlich in maria, ganz kurz verlässt sie die schockstarre, und sie tritt aus.

tritt aus wie ein pferd, sie durchschlägt die windschutzscheibe mit ihrem absatzschuh.

einen schlag gibt das, wie eine mülltonne, die einer zuschmeißt.

und maria dreht den kopf und sieht wirklich, dass da einer steht, zwischen den mülltonnen, die hand auf dem deckel.

der schaut maria an und dreht sich ganz schnell weg.

und maria will was sagen oder rufen, aber der mund geht nicht auf.

warum wird die nicht ohnmächtig, denkt hans-dieter und schlägt weiter auf das gesicht.

mittlerweile ist es drei minuten vor zwölf.

und nochmal dreht maria den kopf zur scheibe, und plötzlich steht da der nachbar vom sechsten stock.

steht am auto und schaut ins fenster.

reißt die tür auf und schnappt sich maria.

drückt sie zu sich auf die straße.

und maria sieht, wie das auto startet, und ist schon auf und davon.

da wacht maria erst auf, wie nach einem tauchgang aus der tiefe hochgestiegen.

ruhen sie sich aus hier, der krankenwagen kommt schon, sagt der mann.

und gleich darauf liegt maria in stanniolpapier eingewickelt wie ein stück schokolade.

ich bin aus zucker, es darf nicht regnen, sagt maria.

es ist mitternacht, der geburtstag gerade vorüber.

nee, aus zucker sind sie nicht, sagt der sanitäter, aber wir finden ihre nase nicht.

und der eine wird kommen und maria halten im starken arm.

wird ihr die wunden versorgen und ihr tee ans bett bringen.

is ’n komischer ort, die welt, sagt maria, vollgestopft mit leuten, und mir reicht’s, wenn nur du da bist.

und maria wird schon bald wieder an der straße stehen.

aber lange nicht mehr in ein auto steigen.

10 – KLINIKALLTAG

und dann sitzte im stuhlkreis.

mit vielleicht zehn anderen erbärmlichen figuren.

wie geht das eigentlich: reden?

hab ich vorher nie gemacht.

über mich und alles in meinem leben.

mama, papa und so.

aber umso mehr du zuhörst, umso mehr lockert sich deine zunge.

und plötzlich erzählst du dir die seele vom leib.

heulst wasser und tränen, weil du keinem sagen würdest, was du denen anvertraust.

gehst in den töpferkurs, und da fabrizierst du an der drehbank töpfe und tassen, für die der liebe gott noch keinen passenden mund erschaffen hat.

und einmal im stuhlkreis kommt eine auf die idee und schmeißt eine vase nach mir.

und trifft nicht mal, das blinde huhn.

aber die vase natürlich nur noch tausend und eine scherbe.

und in dem moment merk ich, dass was komisch ist mit meiner stimme.

und gehe aus dem raum, weil der oberarzt mir zuwinkt.

und fragt und sagt und fragt, wie es mir denn gerade ginge.

und ich rede schön, von mir und den anderen und der vase, die nur noch splitter neben splitter ist.

und denke, da stimmt doch was nicht.

was stimmt denn da nicht?

aber rede weiter und weiter, wie ich’s gelernt habe.

und sehe diesen komischen blick im gesicht vom oberarzt.

da hör ich mir mal zu und merke, dass gar nichts hörbares rauskommt aus mir.

ich denke, ich beweg die lippen.

aber auch das is mir nicht wirklich klar.

und ich denke, was mach ich denn jetzt?

alles nur in meinem kopf, nichts kommt mehr heraus.

alles, was ich sagen will, eingesperrt in mir.

und ich versuch’s und versuch’s, aber zwei wochen bleib ich stumm.

und da fällt es mir plötzlich wieder ein.

sehe das glas auf mich zufliegen und im hintergrund der starke arm, der es geworfen hat.

und der eine, der sagt: halt die schnauze.

da hab ich den frosch in meinem hals gespürt.

so ein dicker kloß, zwischen brust und kehle.

ich hab heftig ausgehustet, einen ganzen tag.

und alles war wieder frei.

11 – PROZESSE

was, enterbt?

was, aus der familie ausgeschlossen?

ich will euer geld gar nicht, wird maria sagen.

und auf die familie, da kann ich drauf pfeifen, sagt sie.

aber das meint sie nicht so.

in wirklichkeit tut maria das weh.

in wirklichkeit will sie nicht alleine sein, alles, nur nicht das.

die welt is ’n komischer ort, vollgestopft mit leuten, aber ganz auf sich alleine gestellt, das bitte nicht.

aber sie sagt: wenn ihr weiter mit dem verkehren wollt, dann macht das eben.

freund der familie?

na, aber ohne mich, wird sie sagen.

viele machen dicht, sagt maria.

viele geben’s nie preis, sagt sie.

aber nicht ich, sagt sie.

ich nicht.

maria ist nach hause gekommen.

von der schicht mit der u-bahn, auf stilettos in kurzem rock.

und da ist plötzlich ein so großer briefschlitz in marias tür, durch den kann sie in die wohnung gehen.

und sie sieht sofort, dass alles auf den kopf gestellt ist.

schweißausbruch, gänsehaut, sie stürzt zum telefon und wählt die 110.

was fehlt denn, fragt die polizistin, schmuck oder unterwäsche oder geld?

da braucht maria nicht lange überlegen, ihre kleider liegen fein säuberlich aufgereiht auf dem boden der wohnung.

zwei paar pumps, sagt maria.

und die polizistin fragt, wollen sie mich verscheißern?

und maria sagt, zwei paar pumps.

da kommen wir aber mit diebstahl schwerlich durch, sagt die polizistin.

wieso, fragt maria.

na, was fehlt jetzt alles?

zwei paar pumps, sagt maria, und ihr wird schwindelig.

was haben sie denn für einen umgang?

maria kriegt wieder einen schweißausbruch, und vor den augen wird ihr schwarz.

na, ich hab ’nen zuhälter im angebot und ’nen psychopathen, sagt maria.

und da guckt sie die polizistin mit großen augen an.

und wie ist dieser psychopath für sie näher betitelt, fragt die beamtin.

und da erzählt maria vom freund der familie.

von all den jahren, in denen der rock hochgeschoben wurde.

mit fußtritten ins gesicht und streicheln, bis es weh tut.

und da kommt der kriminalpsychologe und sagt, gehen sie vor gericht.

was, enterbt?

was, aus der familie ausgeschlossen?

die mutter wedelt mit der vorladung.

und was soll das sein, fragt sie.

das hab ich auch, da musst du hin, sagt maria.

was sag ich denn da auf arbeit, fragt die mutter, wenn ich freinehmen muss?

dass meine tochter mich verklagt?

ich verklag dich gar nicht, sagt maria.

du bist zeuge, willst du mir nicht helfen?

was denn helfen, ruft die mutter.

ich will doch nur, dass du sagst, wie es ist, sagt maria.

du lässt das bleiben, schreit die mutter.

aber mama, sagt maria.

aber ganz schnell, schreit die mutter.

willst du mir nicht helfen, fragt maria.

und steht alleine in der anklagebank.

der richter schaut sie lange an und sagt: das ist ja jetzt auch schon zwanzig jahre her.

da greift die verjährung, das tut mir leid.

wirklich viel kann ich für sie nicht tun.

und abends sagt sie zu dem einen:

du, du bleibst aber bei mir.

natürlich, süße, sagt er da.

hier, der starke arm, da komm mal ran.

du, du hast mich schon gerne, was, fragt maria.

aber immer, mäuschen, sagt der eine da und hält sie richtig fest.

und hast du noch eine andere, fragt maria, oder sogar mehrere, fragt sie.

und da sagt er nichts, sondern schaut stumm in den raum.

du, für weihnachten, da hab ich was für dich, da wirst du dich freuen, sagt maria.

weihnachten musst du aber arbeiten, sagt der eine da.

und das weiß sie, und es macht ihr nichts aus, sie denkt an das geschenk und freut sich diebisch.

weißte was, sagt da der eine.

was denn, fragt maria.

irgendwann, sagt er, irgendwann lassen wir das alles bleiben und machen was ganz anderes.

was denn, fragt maria.

was weiß denn ich, sagt er da, was willst du denn machen?

na, vielleicht ein eigener laden, überlegt maria.

eigener laden, fragt er, na gut, was denn für einer?

weiß ich nicht, sagt maria, irgendwas verkaufen vielleicht.

irgendwas verkaufen, fragt er, ok, dann verkaufen wir was.

du stehst im laden, und ich bring die ware, so machen wir das.

und da weiß sie, dass es noch andere frauen neben ihr gibt.

aber es ist ihr egal, denn sie wird bei ihm bleiben und er bei ihr.

das weiß sie genau.

die welt is ’n komischer ort, vollgestopft mit leuten, aber auf die kann maria alle verzichten, solange es sie beide gibt.

12 – ZU ZAHLENDE PREISE

ich hab keine angst. von kindheit an nicht gehabt. hat der kinderarzt schon gewusst: ihr kind, das springt nochmal vom hochhaus und schüttelt sich danach nur kurz. ich hab in meinem leben viel im dunklen rumgefischt. ich bin durch alles gegangen in meinem leben. nur eben ohne angst.

 

achtzig prozent der zeit war einfach reden. oder lecken an den stiefeln. siebenhundert mark für ein bisschen quatschen oder den schuh hinhalten.

dieser moment, dem sie nachstellen. den sie immer wieder aufstöbern in ihrem leben. von dem die freier selber wissen, dass es nicht klappen wird. es wird nicht wieder so sein. aber sie wollen es trotzdem. und es ist ihnen peinlich. ein pochendes geheimnis. das sie mit niemandem teilen, außer mir. denn ohne das, können sie nicht sein.

 

kannst du das schwarze anziehen?

und du liegst da, und ich komm rein?

das war meine wirkliche liebe, die hab ich verpasst.

mit einundzwanzig am balaton.

die hab ich danach nie wieder gesehen.

 

sie denken einen monat daran, vielleicht zwei. und dann nehmen sie das geld doch in die hand. und kommen zu mir und vertrauen mir alles an. is ’ne seltsame form von nähe. die kommt ganz schnell. und bleibt, auch wenn der freier erst in ’nem halben jahr wieder vorbeikommt.

 

diese geschichten, die haben mich am meisten gereizt.

is wie auf ’m jahrmarkt.

da kriegst du auch ’ne wundertüte.

und weißt nicht, was drin ist.

es fehlt mir.

das alles.

vermisse ich.

AUS.

GRACIE GARDNER, geboren 1991 in New England, USA, zählt zu einer neuen, angriffslustigen Generation amerikanischer Dramatikerinnen. Sie ist Mitglied der mit dem Obie Award ausgezeichneten Gruppe Youngblood des Ensemble Studio Theatre, New York, und erhielt 2017 für Pussy Sludge den Relentless Award der American Playwriting Foundation. Mit ihren zahlreichen Theaterstücken ist sie u.a. Trägerin der Sloan Foundation Commission am Manhattan Theatre Club und Artist-in-Residence der SPACE on Ryder Farm. Darüber hinaus ist sie mitwirkende Künstlerin bei Less Than Rent und schreibt Theaterstücke für Kinder im Rahmen des 52nd Street Project. Mit ihren beiden Stücken Pussy Sludge und Athena wird diese eigenwillig humorvolle Autorin erstmals einem deutschsprachigen Publikum präsentiert.

Der Berliner Stückemarkt 2019 wurde mit einer szenischen Lesung von Pussy Sludge in der Regie von Elsa-Sophie Jach eröffnet.

Pussy Sludge erzählt von einer jungen Frau, die in einem Nationalpark am Rande ihres eigenen Sumpfes ausharrt. In allerlei absurden Begegnungen hinterfragt Pussy Sludge stereotype Genderkonstruktionen und stellt vorgefertigte Verhaltensmuster unprätentiös, komisch und wild masturbierend auf den Kopf.

GRACIE GARDNER

PUSSY SLUDGE

Deutsch von Maria Milisavljevic

 

 

 

PERSONAL

PUSSY SLUDGE

COURTNEY

RACHEL

RJ

SEBASTIAN

ADAM

BECCA

JOSEPHINE