Inhalt



Dirk van den Boom

Tentakelfürst

Tentakelfürst

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Juli 2015

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Allan J. Stark
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-238-8
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-272-2

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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Prolog

Der Erste Tentakelkrieg: Die Irdische Sphäre, das kleine Reich der Menschen in der Galaxis, wird von gigantischen Invasionsflotten angegriffen und kann sich der mörderischen Attacken am Ende nur im heimatlichen Sonnensystem erfolgreich erwehren. Alle Kolonien gehen verloren. Milliarden von Menschen werden getötet oder zu Tentakelfutter. Und die Menschheit weiß: Es mag noch ein Jahrhundert dauern, aber die Tentakel werden wiederkommen – und es werden viele sein.

Der Zweite Tentakelkrieg: Das Sonnensystem hat sich vorbereitet, so denkt man zumindest. Doch die zweite Invasion wird mit noch größerer Macht und Vehemenz durchgeführt. Als die mysteriöse Allianz ihr Dimensionstor in der Jupiteratmosphäre öffnet und einen Fluchtweg anbietet, schöpft man Hoffnung, die dann bitter enttäuscht wird. Man lernt die Sänger kennen, jene uralte Alienzivilisation, die hinter den Tentakeln und deren mörderischen Zügen durch die Galaxis steht. Die Erde fällt. Überlebende gibt es wenige: einige Tausend in kryogenem Tiefschlaf ruhende Flüchtlinge auf dem großen Raumfrachter Hopeful Vengeance und einige Hundert, die sich in eine unterirdische Bunkeranlage zurückgezogen haben. Die Erde gehört den Tentakeln.

Und es vergeht eine lange Zeit …

1

Das Erste, woran sich Drosera bewusst erinnerte, war die sanfte, massierende Bewegung durch seinen Gärtner. Es war eine Liebkosung besonderer Art, die seine Nerven stimulierte, die ihm Fürsorge signalisierte und Geborgenheit vermittelte. Immer wenn Drosera es schwer hatte, wenn er wieder und wieder gedemütigt wurde, seinen Makel vor Augen geführt bekam, rief er diese Erinnerung in sein Bewusstsein, badete in dem besonderen Gefühl, das er danach so nur noch sehr selten hatte empfinden dürfen. Er entsann sich, wie die sanften, doch festen Greifer des Gärtners ihn aus dem aufgeschnittenen Kopf seines Düngers hoben, die noch nicht vollständig ausgebildeten Laufwurzeln, noch feucht vom Saft seines Wirtes, ohne eigene Bewegungskraft. Wie Gehirnmasse an seinen Wurzelenden hinabtropfte, halb aufgelöst durch die Stoffe aus seinem kleinen Körper, die sie für die Nahrungsaufnahme verflüssigten. Bald danach schlossen sich die Nährporen und es bildete sich die Hornhaut, auf der er sich fortbewegen konnte. Damals hatte der Gärtner ihn, wie alle Entbundenen, in den Hort getragen, fürsorglich umklammert, und ihn in sein Bettchen gelegt, wo Diener ihm halfen, ein großer Tentakel zu werden.

Immer wenn Drosera daran zurückdachte, wurde ihm wehmütig ums Herz. Die beiden Jahre im Hort der Fürsten waren die schönsten seines bisher nicht sehr langen Lebens gewesen. Die anderen Entbundenen hatten nicht gewusst, welcher Makel auf ihm lag – es war ihm ja auch nicht anzusehen –, oder es hatte sie nicht gekümmert. Die Gärtner machten keine Unterschiede und verströmten Liebe und Fürsorge gleichermaßen auf alle ihre Schützlinge. Drosera hatte sich entwickelt wie sie alle, war nicht aufgefallen, höchstens durch seine Intelligenz und Lernbereitschaft, die immer leicht über dem Durchschnitt gelegen hatten. Damals aber, in der geborgenen Umgebung des Horts, wo sie alle Freunde waren, hatte dies nicht zu Neid oder Missgunst geführt und Drosera hatte sich über seine Zukunft keine Gedanken machen müssen.

Alles war gut gewesen in jener Zeit.

Alles war so wunderschön gewesen.

Wie sehr er sich dorthin zurücksehnte, konnte er mit den Worten, die ihm zu Gebote standen, nicht beschreiben.

»Drosera!«

Er zuckte hoch, beinahe instinktiv in Abwehrhaltung.

Die Stimme kannte er, er hasste sie und er fürchtete sie. Tentilla war keiner, der über irgendeinen Makel verfügte, er war jemand, der in allem perfekt war außer in seinen Umgangsformen. Das konnte er sich leisten. Der hochgewachsene Tentakelprinz, der bereits alle seine Altersgenossen überragte, konnte seine Linie auf eine der ältesten Familien seit der Erschaffung zurückverfolgen. Unter seinen Vorfahren waren die ersten Eroberer, die größten Feldherren und die erfolgreichsten Fürsten. Sein Weg in die Hallen des Tentakelrates war vorherbestimmt: durch seine Gene, seinen Clan und seinen Vater, der als stellvertretender Vorsitzender zu den mächtigsten Fürsten des ganzen, gigantischen Tentakelreiches gehörte. Wenn er sprach, so hieß es, erzitterte der Tentakeltraum in stiller Ehrfurcht und lauschte, bis seine Worte verklungen waren. Sogar das Tentakelherz, das jedem Tentakelfürsten den Imprint verlieh, der ihn zu einem Herrscher machte, erzitterte vor Tentilla und den Seinen.

Hieß es.

Wenn Tentilla sprach, war es ähnlich, zumindest hier auf dem Campus der Akademie. Dass er seine Worte meist schlagkräftig und brutal untermauerte, half sicher auch.

Drosera blieb ruhig stehen. Weglaufen war sinnlos. Kein Prinz durfte die Akademie verlassen und man konnte sich nirgends verstecken. Diese Auseinandersetzungen gehörten zur Ausbildung. Solange niemand getötet wurde, griffen die Tutoren nie ein. Wer hier bestand, hatte gute Chancen, die Konflikte zwischen den Clans zu überstehen oder zumindest zu lernen, dass die Welt da draußen ein einziger Krieg war – gegen den Dünger und ebenso gegen die eigenen Leute, die einem Position und Dominanz im Genpool streitig machen wollten.

Tentilla hatte es begriffen und handelte so.

Drosera hatte es begriffen und erduldete es.

Seine Nemesis baute sich vor ihm auf. Wie immer war er in Begleitung einer Reihe von anderen Tentakelprinzen geringerer Clans, die sich durch ihre Assoziation mit Tentilla Vorteile erhofften oder deren Clanhäupter ihnen entsprechende Anweisungen gegeben hatten. Drosera hatte keine solche Garde auf seiner Seite. Er hatte normalerweise niemanden, der jemals Partei für ihn ergriff. Ja, er würde wahrscheinlich eines Tages selbst ein Tentakelfürst werden, denn das war ein Erbe, das ihm niemand nehmen konnte, aber keiner würde irgendein Interesse daran haben, sich mit seinem Genpool zu vermischen, wenn es nicht absolut unumgänglich war. Der Makel wog schwer auf ihm. Drosera stand vielleicht das Kommando über eine Invasionsflotte offen, wenngleich auch das unwahrscheinlich war. Sie waren hier auf der Zentralwelt und im weiten Umkreis gab es kein bewohnbares System mehr, das nicht von seinesgleichen beherrscht wurde. Eine Reise zu den expandierenden Grenzen des Tentakelreiches würde endlos dauern und der Tiefschlaf würde ihn noch mehr von seiner Heimat und Herkunft entfremden, als es der Makel ohnehin schon tat.

Er wusste nicht, wo er enden würde. Seine ausgezeichneten Leistungen auf der Akademie und sein erlauchter Stammbaum sorgten dafür, dass man ihn nicht gleich nach der Keimung eingeäschert hatte. Doch das war auch der einzige Schutz, den er genoss. Man würde ihn nicht töten. Aber niemand würde ihn vermissen, wenn er starb. Tentilla und seine Gefolgsleute zuallerletzt.

»Und? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte der Spross der Höchsten.

»Was willst du von mir?«

»Du kleines Stück Dreck hast zwei Simulationsstunden gebucht für morgen Nachmittag. Überschreibe sie auf mich.«

»Ich brauche die Stunden. Das Examen ist in einer Woche.«

Tentilla kam einen Schritt näher und wirkte nun gleich noch ein wenig bedrohlicher. »Ich weiß selbst, wann die Examen sind. Ich will deswegen zusätzliche Simulationen machen. Du wirst mir die beiden Stunden überschreiben.«

Drosera fühlte den Trotz in sich aufkeimen. Es war so gut wie unmöglich, die taktischen Examen zu bestehen, wenn man nicht genug Zeit im Simulator verbracht hatte. Das wusste Tentilla so gut wie jeder andere auf der Akademie der Fürsten. Und ohne bestandenes taktisches Examen gab es absolut keine Chance, eine echte Machtstellung zu erreichen. Die Simulatoren waren heiß begehrt und ihre Anzahl wurde bewusst knapp gehalten, um Auseinandersetzungen wie diese zu provozieren. Möge der bessere Genpool sich durchsetzen!

»Ich habe mich ordnungsgemäß eingetragen!«, erwiderte er.

»Dann wirst du dich jetzt ordnungsgemäß austragen!«, sagte Tentilla und die glucksenden Geräusche seiner Kumpane konnte man nur als amüsierte Zustimmung werten. Mittlerweile hatte sich ein Kreis von Schaulustigen um die beiden Kontrahenten gebildet, eine Tatsache, die Drosera erkennbar stärker zu schaffen machte als dem Herausforderer. Es war bezeichnend, dass die Zuschauer einen weiten Kreis einhielten, um bloß nicht in die Nähe Tentillas zu kommen oder irgendwie seine spezielle Aufmerksamkeit zu wecken. Drosera mochte sein bevorzugtes Opfer sein, er war aber keinesfalls das einzige. Das hieß allerdings auch nicht, dass er von irgendwem Mitleid zu erwarten hatte. Die harmloseste Regung dürfte Schadenfreude sein – und Erleichterung darüber, dass der Kelch diesmal an einem selbst vorbeigegangen war.

»Ich werde es nicht!«, erklärte Drosera. Was eine kraftvolle, mit Selbstbewusstsein ausgesprochene Absage hätte werden sollen, klang eher wie kindlicher Trotz. Alle merkten das und der Level der Amüsiertheit in der Runde stieg gleich um ein paar Grad an. Tentilla selbst reagierte wie erwartet. Ohne zu zögern, rammte er seinen massigen Leib in Drosera hinein, umklammerte ihn mit seinen flexiblen, aber starken Armen und begann unter den anfeuernden Rufen seiner Gefolgsleute, ihm die Luft abzudrücken.

Man sagte, da wären Gene von Soldatententakeln in ihm. Er führte sich auf jeden Fall so auf, und ja, er war verdammt kräftig für einen Fürsten.

Drosera wand sich. Er war körperlich zu schwach, um sich selbst zu befreien, und schnell fing er an zu keuchen, da Tentilla immer fester zudrückte.

»Hör auf«, stieß der Gepeinigte hervor.

Tentilla lachte. »Was hast du gesagt? Ich verstehe dich so schlecht. Hol erst mal ordentlich Luft!«

Der Spruch traf auf zustimmendes Gejohle seiner Fans. Drosera ging die Luft aus. Ihm wurde mulmig zumute und er erschlaffte, als er endgültig die Gegenwehr einstellte. Kurz bevor er das Bewusstsein zu verlieren drohte – was möglicherweise ein Eingreifen der Tutoren nach sich gezogen hätte, an dem auch Tentilla kein Interesse hatte –, ließ der Stärkere los. Drosera schwankte wie ein Baum im Wind, kämpfte um Gleichgewicht und Würde, erlangte das Erstere und erkannte nach einem Blick in die Runde, dass er Letztere schon vor langer Zeit verloren hatte.

Tentilla beugte sich zu ihm nach vorne.

»Du … wirst … die … Stunden … überschreiben«, sagte er in einem gefährlichen Tonfall, eindringlich und mit so langen Abständen zwischen den Worten, dass ein jedes sein eigenes Gewicht bekam. Drosera blieb nichts übrig, als seine Zustimmung zu signalisieren und seine vollständige Niederlage einzuräumen.

Tentilla ging und der Kreis der Schaulustigen löste sich auf.

Drosera wusste, dass er seiner Ankündigung Taten folgen lassen würde. Gegen das, was ihm blühte, wenn er die beiden Stunden nicht übertrug, war das eben Erlebte die sanfte Liebkosung eines fürsorglichen Gärtners. Er würde das Examen eben anders bestehen müssen, irgendwie anders, und alle Simulationen mussten in seiner Vorstellungskraft ablaufen. Es würde schwer werden, wenn nicht unmöglich. Bestand er die Examen nicht, würde ihm seine Herkunft immer noch ein komfortables Leben als Administrator irgendeiner harmlosen und seit Jahrhunderten saturierten Tentakelwelt garantieren. Aber seine eigentliche Bestimmung – hier im Zentrum des Reiches die politischen und militärischen Fäden aller Tentakel in Händen zu halten – wäre für ihn auf immer verloren.

Er stand einige Momente einfach so da, in sich gekehrt. Dann spürte er, dass er nicht mehr allein war, und sein Körper straffte sich unwillkürlich. Tutor Cribrinopsis war nicht nur der wichtigste Lehrende im Fach Astrophysik, er war auch stellvertretender Leiter der Akademie und einer der herausragendsten Wissenschaftler des Tentakelreiches. Ein strenger Lehrer, aber das waren sie alle, und durch seinen Status geschützt vor den kleinen Racheakten der Clanoberhäupter, die nichts tun konnten, wenn er ihre Zöglinge unnachgiebig bestrafte oder ihnen einfach nur eine schlechte Bewertung gab, was für viele in etwa auf das Gleiche hinauskam. Sein eigener Clan ignorierte Droseras Existenz, der Makel allein war Grund genug dafür. Ob er gut war oder scheiterte, das interessierte in diesem Universum niemanden außer Drosera selbst, doch anstatt ihn härter zu machen, hatte es nur seine Verletzlichkeit erhöht.

Eine weitere Strafe aus der Hand von Cribrinopsis, eine Zurechtweisung, war exakt das, was er jetzt erwartete. Es würde einen bereits katastrophalen Tag zu einem gebührend katastrophalen Abschluss bringen.

»Drosera.«

»Tutor.«

»Was ist geschehen?«

Eine gefährliche Frage, wie Drosera wusste. Wenn man zu den Tutoren kroch und zu jammern begann, galt man als schwach und unselbstständig. Von einem künftigen Tentakelfürsten wurde erwartet, dass er Netzwerke von Macht und Einfluss um sich wob und sich somit gegen die Willkür anderer zu wehren wusste. Drosera war der einzige Schüler der Akademie, der darin völlig versagt hatte, und das alles nur, weil der Makel auf ihm lag. Jeder wusste das, das galt auch für Tutor Cribrinopsis. Das Wissen allein führte aber nicht dazu, dass ihm deswegen eine größere Milde entgegengebracht wurde, im Gegenteil. Wer den Makel hatte, von dem wurde erwartet, dass er besonders hart kämpfte, besonders einschüchternd oder geschickt im Umgang mit Konkurrenten war, herausragende Leistungen zeigte und sich der Herausforderung auf besonders intelligente oder brutale Art stellte. Es mangelte Drosera nicht an Intelligenz und er hatte so manches Problem auch lösen können, sonst hätte er die Zeit der Examen niemals erreicht. Aber alledem waren Grenzen auferlegt, wenn er keinerlei Verbündete hatte, niemand ihm Gefallen schuldete oder er schlicht nicht die Macht besaß, Gefallen einzufordern, egal, wo er in Vorleistung getreten war.

Trotz alledem durfte er nicht klagen. Das wäre ein Zeichen von Schwäche, ein Beweis des endgültigen Scheiterns. Es würde Eingang in seine Zeugnisse finden und den Makel, mit dem er geboren worden war, nur noch potenzieren.

Also berichtete er dem Tutor in knappen, sachlichen Worten den Vorfall, ohne jemandem Schuld zuzuweisen oder auch nur anzudeuten, ihm sei irgendein Unrecht widerfahren. Nur die Fakten, denn nach nichts anderem hatte der Lehrer gefragt.

Dementsprechend nahm die Schilderung auch nicht viel Zeit in Anspruch.

Cribrinopsis sagte nicht sofort etwas. Er sah Drosera abwartend an, als erwarte er doch noch ein Wort des Jammers, doch dieser entsprach seiner Erwartung nicht und bewahrte sich diesen letzten Rest Würde, den er noch besaß. Zumindest diesen Teil des Triumphs wollte er Tentilla nicht gönnen, es war alles, was ihm angesichts der Situation noch blieb.

»Du wehrst dich nicht genug, Drosera.«

»Ich verfüge nur über begrenzte Ressourcen.«

»Du suchst nach Ausreden.«

»Ich analysiere meine Potenziale.«

»Nein.« Der Tutor machte eine bestimmende Geste. »Du hast den Makel. Daraus machst du einen Fluch, Drosera. Er überdeckt jeden Gedanken an deine eigene Größe, schrumpft dich im Blick deiner eigenen Augen.«

»Es ist ein Fluch, oder nicht?«

»Nur, wenn du dich auf diesen Gedanken einlässt.«

»Tentilla scheint meine Ansicht zu teilen – und mit ihm alle anderen, die ich kenne.«

»Das ist sein Problem, nicht deines.«

»Mein Problem ist, dass ich keine Simulatorstunden für die Examensvorbereitung mehr habe.«

»Dabei kann ich dir helfen.«

Drosera meinte, sich verhört zu haben. Das Wort »helfen« kannte er nur mit einem sarkastischen oder ironischen Unterton. Tentilla benutzte es auch. »Dir werde ich helfen!«, sagte er gerne, bevor er sich mit Freude einem seiner Opfer widmete. Drosera hatte noch nie erlebt, dass seit dem Verlassen der Krippe und dem Ende des behutsamen Obdachs der Gärtner jemand ernsthaft angeboten hatte zu helfen, ohne dafür nicht mindestens eine Gegenleistung in doppelter Höhe zu erwarten.

»Wie wollen Sie mir helfen?«

»Ich kann dir zusätzliche Simulatorstunden besorgen. In der Nacht. Nicht sehr attraktiv, aber du wärst ungestört.«

Drosera schlief ohnehin nie viel, und wenn, dann meist unruhig. Oft genug waren es die nächtlichen Stunden, in denen Übelmeinende ihm Streiche spielten, die ihn am kommenden Tag völlig erniedrigt dastehen ließen. Seitdem das zur Routine geworden war, wachte Drosera beim kleinsten Geräusch auf und schlief schlecht ein, egal, wie fest er die Tür seines kleinen Raums auch verschloss. Nur in den freien Wochen, in denen andere Akademieschüler den Campus verließen, um die Ländereien ihrer Clans zu besuchen, und er meist in der Akademie verblieb, fand er etwas mehr Ruhe. Er verschlief den kurzen Semesterurlaub fast vollständig.

»Das … Was ist … was ist die Gegenleistung?«, fragte Drosera zögerlich. Er hatte im Grunde nichts, was er dem Tutor anbieten konnte – nicht einmal einen Gefallen seines Clans, der ihn nicht kannte und nicht kennen wollte.

»Ich möchte, dass du dich mir für einige Untersuchungen zur Verfügung stellst.«

»Untersuchungen?«

Cribrinopsis machte einen Schritt nach vorne, wirkte plötzlich nicht mehr so reserviert und streng, sondern von plötzlicher Leidenschaft erfüllt. Das machte Drosera Angst, wenngleich er über diese Reaktion nicht sehr erstaunt war. So ziemlich alles, was andere Tentakel mit ihm taten, machte ihm Angst. Das Gefühl war sein ständiger Begleiter.

»Du hast den Makel, Drosera.«

»Ich bin mir dessen bewusst.«

»Überdies verursacht es Zurücksetzung, Schmerz und Leid«, stellte der Tutor ohne jedes Mitgefühl in der Stimme fest. »Aber ebenso behindert es die Entwicklung unseres Volkes. Tentakel mit dem Makel haben größere Schwierigkeiten, ihre Gene in den Pool ihres Clans überzuführen, als jene ohne. Ich vertrete die Auffassung, dass wir damit einen Fehler begehen und uns wichtiger Entwicklungsschübe berauben. Der Makel ist von Tabus und Vorurteilen umgeben, die uns blind machen für die Erkenntnisse der Wissenschaft. Wir müssen uns von dieser Art von Aberglauben trennen und dafür bedarf es einer objektiven, auf Logik aufgebauten Analyse. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diesen Kampf zu führen. Du wirst davon profitieren, Drosera, genauso wie alle anderen, die dein Schicksal teilen.«

Drosera war sich über die Motive des Tutors nicht ganz im Klaren, fand aber, dass seine Argumente etwas für sich hatten. Es musste für ihn bisher weitgehend unmöglich gewesen sein, jemanden mit dem Makel zu finden, der sich einer Untersuchung zu unterziehen bereit war. Sie waren schließlich alle Tentakelfürsten oder würden es zumindest werden. Sie waren keine Versuchsobjekte, ob nun mit dem Makel behaftet oder auch nicht.

»Das muss geheim bleiben«, erklärte Drosera schließlich. »Es darf niemand erfahren.«

»Das ist selbstverständlich. Ich will dir den Makel nehmen, keinen zusätzlichen hinzufügen. Du bist also einverstanden? Ich kann dich nach deinem Examen für die praktische Phase der Ausbildung anfordern, es würde dein Prestige sogar erhöhen und dich aus der Schusslinie von Leuten wie Tentilla nehmen. Alle würden wissen, dass du unter meinem Schutz stehst. Es erleichtert dir das Leben.«

Drosera hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Satz jemals in Zusammenhang mit seiner Existenz fallen würde. Etwas würde ihm das Leben erleichtern? Er zögerte. Welchen Preis mochte er dafür bezahlen?

»Du hast Furcht. Das steht einem Tentakelfürsten nicht zu.«

Da war er wieder, der strenge Tutor.

»Wenn ich keine Furcht zeigen darf, gibt es auch keine Veranlassung, Ihr Angebot anzunehmen«, erwiderte Drosera.

Der Lehrer schaute ihn an. »Eine kluge Antwort. Ich habe dich mit Furcht ködern wollen und tadele dich nun deswegen. Es stimmt. Also bleibt mir nur der Versuch, eine der beiden Ängste in einem Maße zu verringern, dass du dich entscheiden kannst. Höre: Was auch immer ich für Experimente mit dir anstellen werde, diese werden dich nicht körperlich beeinträchtigen. Der Makel schlägt sich physisch nicht nieder, sonst hätte man jeden Tentakelfürsten, der mit ihm geboren wurde – und das waren mehr, als offiziell gerne zugegeben wird –, sogleich ausgelöscht. Alle aber lebten. Viele wurden sehr mächtig. Mein Versprechen gilt. Du wirst keine körperlichen Schmerzen empfinden.«

»Aber Schmerzen anderer Art.«

»Das glaube ich nicht, kann es aber nicht ausschließen. Der größte Schmerz ist immer der der Erkenntnis, wenn einem klar wird, wie sehr man sich geirrt hat. Unsere ganze Gesellschaft soll diesen Schmerz empfinden, nicht aber du, denn du weißt bereits, dass der Makel dich nicht zu einem schlechteren Fürsten macht.«

Es war dieser letzte Satz, der Drosera dazu veranlasste, das Angebot anzunehmen. Er willigte ein und bekam drei Simulatorstunden in der kommenden Nacht, direkt aus dem privaten Kontingent des Tutors überschrieben – und eine Einladung für den ersten Tag nach dem Examen in sein Privatlabor.

Es war natürlich keine echte Einladung.

Es war der Preis, den er zu zahlen hatte.

2

»So bist du nun Teil von uns.«

Julia Blau senkte ihren Kopf, als der Erste Blaue ihr das Abzeichen um den Hals legte. Der frisch gedruckte Overall juckte überall und passte nicht genau, aber sie widerstand dem Drang, sich zu kratzen. Von allen einhundert Blaulingen in der Halle wurde Disziplin erwartet, Körper- und Willensbeherrschung, wie sie in Blau üblich waren und die dazu beitrugen, dass Blau zu den effektivsten und effizientesten Farben der Welt gehörte, eine Leistung, an die sie permanent erinnert wurden und der sie sich alle verpflichtet fühlten.

Der Erste Blaue sah sie erst forschend, dann zufrieden an, nickte ihr zu und machte einen nächsten Schritt zu Jaskia Blau, die exakt den gleichen Overall trug, exakt das gleiche, braune und kurz geschnittene Haar hatte, die gleiche Augenfarbe, die gleiche Form der Nase, des Kinns und der Lippen, die gleiche Körpergröße. Julia fand, dass ihre Brüste einen Deut größer waren, aber sie würde derlei niemals äußern und damit die Arbeit der Genskulptoren kritisieren. Jaskia war eine exakte Kopie Julias und Julia war eine exakte Kopie Jankas und Janka war eine exakte Kopie von Jelena und sie alle, einhundert an der Zahl, waren exakt am gleichen Tag geboren, wurden exakt am gleichen Tag siebzehn und damit in die Gemeinschaft der Blauen aufgenommen. Die Sache mit den Brüsten hatten sie alle in der Gemeinschaftsdusche mehrmals untersucht und waren nicht zu einem einhelligen Ergebnis gekommen, sodass eine jede bei dem Glauben blieb, den sie schon immer gehegt hatte.

Allen überreichte der Erste Blaue das Abzeichen und es unterschied sich von dem jeweils anderen nur durch einen Individualcode, der den allgegenwärtigen Sensoren in Blau sagen würde, wer wo war und was tat, und das zu jeder Sekunde ihres Lebens. Julia wurde sich auch darüber im Klaren, dass sie alle in dreißig Jahren wieder in diese Kammer gehen und sich vor dem Ersten Blauen niederknien würden und mit dem Duft des Vergessens benebelt ihre Existenz ein Ende finden würde, von den ganz wenigen Auserwählten abgesehen, die zur Farblosen Führung gehörten und denen zusätzliche Lebensjahre geschenkt wurden.

Das war exakt das, was Julia sich vorgenommen hatte, und als der Erste Blaue nicht mehr hinsah, ballte sie zur Bestätigung ihrer Gedanken und als Ausdruck ihrer Entschlossenheit die rechte Hand zur Faust. Kurz nur. Es durfte niemand sehen und gegen sie verwenden. Blau mochten sie nun alle sein, aber wenn es um die Ernennung ging, war jede von ihnen allein.

Als der Erste Blaue mit ihnen allen fertig war, stellte er sich vor die Gruppe und erhob beide Hände. Als Herr von Blau gehörte er zwar zur Farblosen Führung, trug aber das Gewand mit der Farbe seiner Herkunft bei allen offiziellen Anlässen und wurde gemeinhin als einer der Hiesigen angesehen, auch wenn er formal die Farbe abgelegt hatte. Er war ein Mann im Zenit seines Lebens, der noch einige Jahre vor sich hatte. Dann würde die Führung einen neuen Repräsentanten wählen und Julia Blau würde das möglicherweise noch miterleben: eine spannende Sache, die man nur einmal in seinem Leben mitmachte, wenn nichts Außergewöhnliches geschah.

Es passierte selten etwas Außergewöhnliches. Das Leben entwickelte sich entsprechend der Regel. Die Opfer hatten ihr Leben hingelegt, um ihnen allen eine Zukunft zu sichern, und den Opfern schuldeten sie Respekt und Dank. Es war daher nur recht und billig, dass die abschließende Prozession die Blauen bis zur Wandplakette führte. Auf ihr, an einem Gang neben dem alten Führungsbunker angebracht, standen die Namen der Ewigen 500, die ständig ergänzt wurden und mittlerweile fast 10 000 waren, wenn nicht mehr. Dennoch sagte man nur »die 500« zu ihnen, weil es griffiger war, und ganz ungeachtet dessen gehörte es zur Ausbildung aller Initianten, die ersten Namen auf der Plakette auswendig zu lernen und beim persönlichen Ritual aufzusagen. Als Julias Blick über die in Metall eingravierten Namen fuhr, von den ganz alten, angelaufenen bis zu den neuen, noch frisch glänzenden, fielen sie ihr alle wieder ein. Sie suchte in ihrem Herzen nach der Andacht und der Ehrfurcht, aber fand beides nicht. Mit der Ernennung war die Initiantenzeit vorbei und sie alle wurden zu Erwachsenen; sie unterlagen nun voll den Gesetzen, den Strafen und den Pflichten zur Erhaltung der Welt.

Für Julia bestand die Welt aus dem blauen Stockwerk, und wenn nichts Außergewöhnliches geschah, würde sie es niemals verlassen außer zu besonderen Anlässen oder wenn sie in die Farblose Führung berufen wurde. Einmal im Jahr gab es die Große Versammlung und Abordnungen aller Farben trafen zusammen, um gemeinsam wichtige Entscheidungen zu treffen und die Stimme des Orakels zu hören. Auch hier wurde nur berufen, wer sich auszeichnete. Julia hatte jede Absicht, dazuzugehören, denn wenn sie schon nur eine kleine Chance hatte, farblos zu werden, so wollte sie doch zumindest einmal der Großen Versammlung angehören und die anderen Farben sehen. Nur zu diesem Zeitpunkt vermischten sich die Stockwerke, und die zwanzig Tage wurden genutzt, um das gemeinsame Band wie auch das gemeinsame Schicksal zu feiern. Ihr Erzieher hatte ihr davon berichtet, da er dereinst diese Ehre genossen hatte. Insgesamt eintausend Abgesandte von Blau, Grün, Gelb und Rot – es musste ein wunderbares Fest sein.

Manche sagten, es gäbe noch eine fünfte Farbe, Schwarz, eigentlich keine Farbe, sondern nur die Abwesenheit aller Farben, doch das war nur ein Gerücht und niemals hatte jemand einen aus Schwarz gesehen, auch nicht während der Großen Versammlung. Offenbar war es nötig, immer eine Schreckensgeschichte parat zu haben, wenn die kleinen Blauen nicht gehorchen wollten, und selbst der Erzieher hatte die furchtbaren Drohungen mit den blutrünstigen Brüdern und Schwestern aus Schwarz meist mit einem Lächeln dargeboten, was ihnen doch einiges von ihrer Schärfe genommen hatte.

»Was machst du?«

Jelena Blau stand neben ihr, als sie auf die Röhre warteten, die sie zurückbringen würde. Die Zeremonie war vorbei. Es wurde von ihnen erwartet, in die Anstalt zu gehen und sich von den Erziehern zu verabschieden, danach ihre Erwachsenenquartiere aufzusuchen und sich einzurichten. Der Rest der Schicht war für sie frei. Morgen früh aber würde eine jede von ihnen ihre Arbeit aufnehmen, für die sie ausgewählt und ausgebildet worden waren. Jelena Blaus Frage zeigte, dass sie bisher mit Julia wenig zu tun gehabt hatte. Eigentlich wussten sie alle ganz gut voneinander, wo sie enden würden. Julia sah ihre Zwillingsschwester prüfend an. Jelena wirkte etwas nervös. Das war angesichts des wichtigen Schrittes in ihrem Leben, den sie gerade absolviert hatten, wirklich nicht verwunderlich.

»Sektorprüfung«, erwiderte sie also und lächelte. Sektorprüfung war ein Traumjob. Man durfte überall hin, selbst in die Schächte, und musste Schäden und Probleme an die Farblose Führung melden. Man war viel unterwegs, traf viele Menschen und sah Bereiche, die anderen verborgen blieben. Julia hatte so sehr darauf gehofft und war überglücklich gewesen, als die Zuteilung gekommen war. Das einzig Erschreckende war, so ging das Gerücht, dass die Blaulinge auch nach oben mussten, in die Hölle, um dort Reparaturen durchzuführen. Sie wollte gar nicht daran denken und hoffte inständig, dass es nicht so sein würde. Die Hölle war ein schrecklicher Ort, der Ort, an dem die Dämonen herrschten und nur darauf warteten, ihnen allen den Tod zu bringen. Niemals wollte sie dort hinaufsteigen.

Sie wischte den Gedanken fort. Es würde alles gut werden. Sie sah Jelena an.

»Und du?«

Jelena zuckte mit den Achseln.

»Sicherheitsdienst.«

Julia verstummte sofort, wagte nur ein schwaches Lächeln. Der Erste Blaue gebot über den Sicherheitsdienst. Es waren ausgewählte Mitglieder eines jeden Jahrgangs, die die weiße Uniform mit dem blauen Helm tragen durften, der das gesamte Gesicht bedeckte und nur Augenschlitze frei ließ. Die Sicherheitsleute trugen einen langen Schlagstock, der leichte Elektroschläge produzierte und im Ernstfall, richtig eingesetzt, sehr schmerzhafte Strafen austeilen konnte. Es gab auch richtige Waffen, tödliche, und sie wurden manchmal zur Schau gestellt, um alle an ihre Existenz zu erinnern. Eingesetzt wurden sie glücklicherweise nie, vor allem nicht in Blau, denn hier galten noch Disziplin und Ordnung.

Auch Julia war einmal in den Genuss einer solchen Maßregelung gekommen, vor drei Jahren, als der SD eine illegale Party ausgehoben hatte. Diese fanden unter den Teenagern regelmäßig statt und oft genug wurde dabei ein Auge zugedrückt. Hin und wieder aber musste der Erste Blaue seine Autorität unter Beweis stellen und zumindest den Anschein wahren, dass dagegen durchgegriffen werde. Die Sicherheitsleute waren hineingeplatzt und hatten sie alle verprügelt und für drei Tage in Haft gesetzt. Sie hatte überall blaue Flecke gehabt und sich jämmerlich gefühlt wegen der Schmerzen und der Nachwirkungen des schwarz gebrannten Fusels, der das Getränk auf den wilden Partys war und irgendwo aus dem Labortrakt der Grünen in die ganze Welt geschmuggelt wurde.

Das war alles. Nach den drei Tagen hatte niemand mehr über die Sache geredet. Was vor dem siebzehnten Lebensjahr geschah, blieb dort. Es interessierte nachher niemanden mehr.

Jeder wusste, dass der SD notwendig war. Man hatte vor seinen Mitgliedern Respekt. Normalerweise gab es auch keine Probleme. In diesen Respekt mischte sich allerdings auch immer ein wenig Angst, und wer für diese Arbeit ausgesucht wurde, stand naturgemäß immer ein wenig abseits. Es war von daher kein Wunder, dass der Korpsgeist der Sicherheitsleute stark war, sie füreinander einstanden und sich keinem Befehl des Ersten Blauen widersetzten. Viele, die sich auszeichneten, bekamen zum Ende hin ein zusätzliches Jahr geschenkt, das sie ohne Arbeit im Ruhestand verbringen durften. Julia wollte so ein Geschenk nicht. Ein Jahr Nichtstun mit der sicheren Gewissheit des eigenen Todes, das würde sie absolut verrückt machen.

Sie verlor Jelena aus den Augen, als sie den Unterkunftsbereich betrat. Sie verfügte nur über wenige persönliche Habseligkeiten. Die Zimmer mit je zehn Jungblauen waren eng und es gab nur eine Schublade für private Dinge. Darin befand sich nur Selbstgebasteltes aus ihrer Jugend, Erinnerung an eine Zeit der Sorglosigkeit, die nunmehr ihr Ende gefunden hatte. Daneben besaß sie ihre Kleidung, die Standardoveralls, zwei komplette Sets, einige Toilettenartikel und das persönliche Lebenspad, mit dem kommuniziert wurde, das ihr Kredite speicherte und über das ihr Leben aufgezeichnet wurde. Es war ein extrem robustes Gerät, ein flaches Viereck, nicht größer als ihre Handfläche, das sie immer bei sich trug, als würde es zu ihrem Körper gehören.

Der Abschied von den Erziehern war herzlich und traurig, aber alle waren froh, dass ein neuer Lebensabschnitt beginnen würde, den die meisten von ihnen seit geraumer Zeit herbeigesehnt hatten. Sie verließen die Anstalt in der Gewissheit, dass sie jetzt die Chance erhalten würden, das Potenzial ihrer Existenz zu nutzen, solange Zeit dafür blieb. Als sie in die Erwachsenenquartiere kam, wurden sie dort von schichtfreien Blauen erwartet und mit Applaus bedacht. Ein warmes Willkommen. Julia schaute sich um und erkannte mit sehr gemischten Gefühlen, dass in dieser Sektion zahlreiche erwachsene Männer wohnten. In der Anstalt waren sexuelle Kontakte auf ihre Zimmergenossinnen beschränkt geblieben und über die Kopulation mit Männern besaßen sie alle nur theoretisches Wissen. Dass sich dies nunmehr ändern würde, gehörte zu den aufregendsten Aussichten ihres neuen Lebens, aber auch zu denen, die in ihr die größte Unsicherheit auslösten.

Sie bekam ein Zimmer zugeteilt, das sie mit einer älteren Blauen teilen würde. Hella Blau war eine hochgewachsene Blondine, die bereits seit zwei Jahren erwachsen war und ebenso wie Julia in der Sektorprüfung arbeitete. Sie würde die Neue in ihre Arbeit und in die Regeln des Zusammenlebens als Erwachsene einführen. Julia war nicht völlig ahnungslos. Neben den offiziellen Gesetzen, auf deren Einhaltung der Sicherheitsdienst sowie die Abteilungsleiter achteten, gab es inoffizielle Anweisungen zu beachten, Dinge, die sich unter der Schicht des öffentlichen Lebens entwickelt hatten: Rituale, Protokolle, Eigenheiten. Nichts, was jemals gegen das Gesetz verstoßen würde, aber gleichzeitig das, was die Blauen von den Grünen oder den Roten unterschied und aus ihnen eine spezielle Gruppe in der weiten Welt ihrer Heimat machte.

Auch hier würde Hella Blau ihr helfen müssen, alles richtig zu verstehen. In der ersten Zeit würde man ihr gegenüber Nachsicht zeigen. Aber sie musste sich schnell anpassen, schnell den Plan erfüllen, schnell ihre Arbeit und ihr Leben begreifen, sich schnell einfügen und gut funktionieren. Spätestens bei ihrer ersten Bewertung musste alles im blauen Bereich sein, sonst drohte ihr eine Abstufung.

Julia wollte nicht abgestuft werden. Ihr Ehrgeiz ging in die entgegengesetzte Richtung.

In ihrem neuen Quartier hatte sie richtig viel Platz, einen halben Raum, den sie zudem durch einen dünnen Sichtschutz abtrennen konnte. Ein Anflug von Privatsphäre, ein ganz neuer Luxus. Ein eigener Schrank, ein Tisch und ein Stuhl, ein breiteres Bett, sogar einen Spiegel. Die sanitären Anlagen teilten sich sechs Bewohner, was kein Vergleich war mit dem Gedrängel in der Anstalt. Der Schichtdienst führte dazu, dass sie oft genug ganz alleine mit sich selbst sein würde, eine völlig ungewohnte Erfahrung. Wenn sie etwas nie gelernt hatte, ja wovor sie sich sogar fürchtete, dann war es das Alleinsein. Aber gerade als Mitarbeiterin der Sektorprüfung kam es vor, dass sie ihre Runden in den äußeren Bereichen alleine drehte und trotzdem in der Lage sein musste, alles richtig zu tun, jedes Problem zu erkennen und darauf eine angemessene Antwort zu finden.

Allein sein.

Das war möglicherweise die größte Herausforderung. In den ersten Tagen beendete sie ihre Morgentoilette zu hastig, nur um wieder unter Leute zu kommen. Das war gegen die Regeln. Hygiene war oberstes Gebot. Wer morgens nicht den scharfen Geruch der Desinfektion trug, wurde gemaßregelt. Julia wollte nicht gemaßregelt werden, wollte keinen roten Strich auf ihrer Karte, keinen Eintrag in ihr Verzeichnis. Sie benötigte absolute Makellosigkeit in ihrem Auftreten und der Art, wie sie die Pflicht erfüllte, wenn sie mehr werden wollte, wenn sie aufsteigen wollte, um der Auslöschung in dreißig Jahren zu entkommen.

»Ich teile dich gleich zum Grenzdienst ein, Julia Blau«, erklärte der Gruppenleiter, als sie sich ihm vorstellte. Er sah sie streng, aber durchaus wohlwollend an. Die Skulptoren hatten gute Arbeit geleistet mit dieser Gruppe, das hatte sie in den ersten Tagen ihrer neuen Arbeit mehrfach zu hören bekommen. »Du musst lernen, so schnell wie möglich selbstständig zu arbeiten. Diesmal gehst du mit einem erfahrenen Kontrolleur zusammen, aber du musst bald alleine unterwegs sein können. Wir fangen mit dem schwierigsten Dienst an, damit du gleich weißt, was dich erwartet.«

Julias Herz klopfte bei dieser Ankündigung. Der Grenzdienst. Es gab ihn also wirklich. Sie verbarg ihre Angst, nickte tapfer und hoffte, dass man ihr die Furcht nicht ansah. Das war die Realität. Sie wurde nun mit Dingen konfrontiert …

Der Gruppenleiter sah sie prüfend an, lächelte dann verständnisvoll. »Es gibt die Hölle, aber sie ist nicht so schlimm, wie man sagt«, erklärte er mit sanfter Stimme. »Ihr Junglinge hört viele Gerüchte. Die Welt da draußen macht uns Angst, aber wir können in ihr überleben, zumindest für kurze Zeit. Der Mann, der sich deiner annehmen wird, war viele Male oben und es geht ihm gut. Vertraue ihm und vertraue deinen Fähigkeiten, dann wird alles gut.«

Sie würde möglicherweise eine dünne Metallwand haben, die sie von der Hölle trennte, und diesen ersten, wichtigsten Schutz zu kontrollieren, damit er niemals durchlässig würde, war die größte Verantwortung, die eine Blaue jenseits der Farblosen Führung tragen konnte. Wenn es aber darüber hinaus um andere technische Anlagen ging, war es notwendig, auch diese letzte Barriere hinter sich zu lassen. Das war eine wirklich erschreckende Vorstellung, trotz aller beruhigenden Worte des Gruppenleiters.

Aber Julia hatte ihren Ehrgeiz. Kein roter Strich. Kein Eintrag. Makellosigkeit.

Sie sah auf die Arbeitsausrüstung, die man ihr aushändigte: das Werkzeugkit, die Lampe, das Messgerät, der Helm, die Jacke – alles in Blau. Und dann sah sie den Mann, der sie begleiten würde, mit grauen Strähnen im Haar, Falten im Gesicht und einem seltsamen Gesichtsausdruck. Robert Blau hieß er und sein Overall wirkte verschlissen, die Jacke trug einen Flicken und der Helm hatte eine Delle.

Sie musste nicht fragen.

Es war seinen Augen, seiner ganzen Haltung anzusehen. Dies war das Ende von Roberts Leben, die abschließende Phase. Er war nicht mehr weit von der Auslöschung entfernt, vielleicht nächstes Jahr, vielleicht schon dieses, vielleicht kommende Woche. Julia kannte die Prozedur, sie gehörte zu den Dingen, die man in der Anstalt lernte. Einen Tag vor dem Termin wurde man aus der Arbeit geholt, gab die Ausrüstung ab, durfte persönliche Gegenstände verschenken. Es gab eine Feier, kurz nur, und dann wurde man zur Erlösungskammer beordert. Was darin geschah, wusste niemand so genau, aber keiner hatte sie jemals wieder verlassen und sie wussten nur, dass sie darin starben – hoffentlich ohne Schmerzen.

Robert ging möglicherweise auf seine letzte Kontrolltour, sollte noch einmal die über Jahre erworbene Erfahrung an eine Jüngere weitergeben, den Staffelstab weiterreichen. Und er wusste, was ihm bald bevorstand; es lag in seinem Gesichtsausdruck und in der Art, wie er Julia die Hand reichte, einer jungen Frau, der noch all das bevorstand, was hinter ihm lag. Er war nicht unfreundlich. Es war sicher Einbildung, wenn sie in seinem Auftreten einen unausgesprochenen Vorwurf an die Welt und an sie selbst hineininterpretierte, als sei jemand schuld daran, dass er schlicht alt geworden war und seine Zeit sich nun dem Ende zuneigte.

Julias Vorfreude bekam nun einen Dämpfer. Sie fürchtete sich ein wenig vor dem Kontrollgang. Drei Tage würden sie zusammen verbringen. Je nachdem, wie redselig Robert Blau war, konnten dies drei sehr deprimierende Tage werden. Menschen, die vor der Löschung standen, hatten die Neigung, viel unnützes Zeug zu reden, auf ihr Leben zurückzublicken, als ob das irgendwen außer sie selbst wirklich interessieren würde. Alle Blauen lebten die gleichen Leben. Die Variationen waren gering. Alle taten ihre Pflicht bis zur Auslöschung. Und so ging der Zyklus endlos weiter und es war diese Art der Existenz, die ihrer aller Fortbestand sicherte.

So hatte Julia es gelernt.

Robert machte nicht den Eindruck, als sei er davon noch sehr überzeugt.