Stefan Ruck

 

 

Im Bann der Träume

 


 

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NEPA Verlag

 

 

 

Impressum

 

Originalausgabe 2019
Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

© 2019 NEPA Verlag, Bad Salzungen
Umschlagbild:



ISBN: 978-3-946814-xx-x

 

Der Autor

 

ImageStefan Ruck, Jahrgang 1962, lebt und arbeitet in Thüringen. Der Dipl.-Ing. ist verheiratet und Vater eines Sohnes, der im Jahr 2004 das Licht der Welt erblickte.

Zum Schreiben ist er durch seinen Nachwuchs gekommen, dem er vor dem Einschlafen immer eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen oder erzählen musste. Irgendwann kam er dann auf die Idee, sich selbst Geschichten auszudenken und diese zu Papier zu bringen – aus der Idee ist Wirklichkeit geworden!

Mittlerweile ist das Schreiben von Kinder- und Jugendliteratur ein fester Bestandteil seines Lebens geworden. Sein Sohn war von Anfang an ein strenger Kritiker, wenn er ihm die Entwürfe zu neuen Ideen vortrug, und er ist es heute noch. So ist es für den Autor möglich, als Erwachsener einen guten Einblick in die kindliche Gedanken- und Vorstellungswelt zu bekommen und er kann sich dementsprechend gezielt bei der Umsetzung neuer Projekte darauf einstellen.

Ziel des Autors ist es, Spannendes, Humorvolles, Abenteuerliches, Unterhaltsames und auch ein wenig Lehrreiches altersgerecht in guten Büchern umzusetzen.

 

 

Die Geschichte vom Märchenerzähler

 

Im Reich des Vergessens

Der alte Mann blickte verstört hin und her. Sein silbergraues, langes, aber sehr kümmerliches Haar wehte in dünnen Strähnen ungeordnet im lauen Wind, den er durch seine zuckenden Kopfbewegungen in der ansonsten windstillen Umgebung heraufbeschwor. Völlig außer sich lag er auf dem Boden. »Ich kann mich einfach nicht erinnern …«, wispelte er unentwegt. »Wo bin ich? Wer bin ich? Wo gehöre ich hin?«

Fragend schaute er sich um. Alles kam ihm so fremd vor. Verärgert rieb er sich die dicke Beule, die ganz frisch aus seiner faltigen Stirn hervorgetreten war. Genau in der Mitte seiner Stirn, über der Nase zwischen dem linken und dem rechten Auge, schimmerte der hässliche Auswuchs rot und grün und blau. Und dazwischen glänzten die unterschiedlichsten Schattierungen, wenn die Farben ineinander liefen. Für einen Außenstehenden ein echtes Kunstwerk - für den Träger jedoch eine einzige Qual. Die Beule brummte wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm und pochte hämmernd vor Schmerz.

Seit der alte Mann neben der riesigen Baumwurzel, die dichtverästelt aus der Erde herauswuchs, aufgewacht war, fühlte er sich hilflos wie ein kleines Kind. Nicht einmal seinen Namen kannte er. Nachdenklich sah er sich um. Natürlich! Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die alte Baumwurzel war schuld an seinem jammervollen Zustand! Sie ragte mit ihren unzähligen Krakenarmen als unbarmherzige Stolperfalle aus dem Boden.

Er erinnerte sich ganz genau, wie er mit dem Fuß an dem Wurzelwerk hängenblieb, strauchelte, zu Fall kam und …? Und nichts! Alles weg! Was danach geschah, war aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Er sank, nachdem er zu Fall gekommen war, flach auf dem Boden liegend in eine tiefe Ohnmacht. Als er wieder aufwachte, waren ihm auch alle Erinnerungen aus seinem bisherigen Leben abhandengekommen. Sein Kopf war leer. Das Einzige, was er noch wusste, war, dass er übel gestürzt war.

Mühsam rappelte sich der verstörte Greis mithilfe seines Gehstocks, der neben ihm lag, auf. Er setzte seinen Hut auf, drehte den Kopf hin und her, kreiste erst mit dem linken, dann mit dem rechten Arm, bewegte die knochigen Finger und hob abwechselnd beide Beine. Alles schien in Ordnung zu sein. Keine schmerzenden Muskeln, keine ausgerenkten oder geschundenen Gelenke und auch die Knochen waren gottseidank heil geblieben. Außer der quälenden Beule hatte er sich wahrscheinlich keinerlei weitere Verletzungen zugezogen.

Er ordnete seine verknitterte Kleidung. Besonders der lange, weite Umhang war durch den Unfall etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Mit seinem breitkrempigen Hut auf dem Kopf, der seinen hageren Gesichtszügen ein schattenhaftes Aussehen verlieh, schaute er sich fragend um. Dann entschloss er sich schließlich, diesen Schicksal behafteten Ort zu verlassen. Da er sowieso keine Ahnung hatte, wo er sich befand, ging er einfach geradeaus ins Ungewisse. Der Waldweg war eben und angenehm weich, sodass das Laufen recht gut ging. Zumal ihm sein Stock eine große Hilfe beim Gehen war.

»Heda, Märchenerzähler!«, vernahm der ahnungslose Wanderer plötzlich eine aufdringliche Stimme. Wo kam dieses Gekrächze denn her?, wunderte er sich. Und wer war bitteschön der Märchenerzähler? Verstört blickte er sich um. Weit und breit war kein lebendes Wesen zu sehen. Schulterzuckend wollte er geradewegs weiterlaufen, da ertönte die unbekannte Stimme abermals: »Märchenerzähler! Märchenerzähler!«

Als der alte Mann neugierig den Kopf hob, sah er hoch oben auf dem krummen Ast eines hochgewachsenen Baumes einen pechschwarzen Raben sitzen, der aufgeregt mit den Flügeln auf und ab schlug. »Märchenerzähler! Märchenerzähler!«, krächzte der Vogel von Neuem. »Ach«, staunte der Mann, »du bist das.« Überrascht fragte er: »Meinst du etwa mich?« Aber statt einer Antwort breitete der gefiederte Geselle seine Flügel aus, schwang sich in die Luft, flatterte in Windeseile davon und verschwand auf Nimmerwiedersehen.

»Komisch«, dachte der Mann, der sich selbst nicht kannte. »Warum ruft mich dieser merkwürdige Vogel ‚Märchenerzähler‘?« fragte er sich ratlos. »Hat das vielleicht etwas mit meiner Herkunft zu tun?« Gedankenverloren ging er weiter. Wie lange und wie weit er bereits gelaufen war, wusste er nicht. Aber allmählich wurden seine Füße müde und schwer. Er beschloss, eine erholsame Rast einzulegen, sobald er einen geeigneten Platz dafür gefunden hatte.

Als er auf einer einladenden, sonnigen Waldlichtung angekommen war, beschloss der müde Wanderer zu rasten. Er legte sich nieder, schloss die Augen und lauschte in die anheimelnde Stille, die ihn umgab. Die Sonne streichelte angenehm wärmend seine Haut, und so versank er bald in einen tiefen Schlaf ….

»Märchenerzähler, Märchenerzähler«, drang es in seine Ohren. Immer und immer wieder bohrten sich die Worte mit der aufdringlich krächzenden Stimme in seine strapazierten Gehörgänge und krochen windigen Würmern gleich bis in das tiefste Innere seiner durcheinandergewühlten Gedanken.

»Nein! Lass mich in Ruhe! Was willst du von mir?«, versuchte er vergeblich, sich zu wehren. Die Beule am Kopf klopfte schmerzhaft und durchdrang pulsierend den ganzen Körper, der schwer atmend auf und ab bebte. Er wand sich im vom unbarmherzigen Albtraum beherrschten Schlaf heftig hin und her und schlug schließlich wie ein wildgewordener Handfeger um sich. Dann wachte er schweißgebadet und völlig erschöpft auf.

»Gottseidank«, dachte er leise murmelnd. Er seufzte erleichtert. »Ich habe nur geträumt«, stellte er beruhigt fest. Aber bereits nach kurzer Zeit besann er sich wieder auf seine leidigen Probleme, die ihn nur solange in Ruhe gelassen hatten, wie er schlief: Die Beule am Kopf hämmerte fast unerträglich und seine Erinnerung daran, wer er war und woher er kam, ließ ihn nach wie vor im Stich. In einem wogenden Meer aus Selbstmitleid badend, erhob er sich schwerfällig stöhnend auf die Beine. Er fühlte sich alleingelassen von Gott und der Welt. »Wenn ich doch nur wüsste, wo ich hingehöre«, murmelte er verzweifelt. Dann ging er einfach los, immer der Nase nach. Wohin ihn sein Weg führte, wusste er nicht.

 

Bei den sieben Zwergen

»Guten Tag, verehrter Herr Antonius Zuckelberger. Wieder auf der Suche nach neuen Märchen?«, vernahm der einsame Mann plötzlich eine dünne, kindliche Stimme. Sofort stoppte er seinen Lauf und hielt angestrengt Ausschau nach dem unbekannten Wesen, das ihn soeben vertrauensvoll angesprochen hatte. Aber sosehr er sich auch bemühte, er konnte weit und breit keine Seele ausfindig machen. Er suchte vor sich und hinter sich. Nichts. Er drehte sich nach links, dann nach rechts. Keine Menschenseele.

»Hier unten, verehrter Herr Zuckelberger!«, erschall die Stimme erneut. »Zu Ihren Füßen!« Der Mann blickte nichtsahnend nach unten. Und tatsächlich: Vor seinen Füßen wuselte eine Gruppe kleiner Männchen mit roten, spitzen Mützchen und langen, schlohweißen Bärten herum. Es waren sieben an der Zahl. Als er sie fassungslos mit großen Augen ansah, nahmen sie höflich ihre Mützen vom Kopf und grüßten wohlerzogen.

»Wer seid ihr?«, fragte er ehrlich überrascht. »Und warum nennt ihr mich ‚Herr Antonius Zuckelberger‘? Kennt ihr mich etwa? Wisst ihr, wer ich bin?« Nun keimte Hoffnung in ihm auf.

 

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Es folgte ein ungeordnetes Getuschel und Gesäusel, von dem der alte Mann kein einziges Wort verstehen konnte. Die kleinen Männchen berieten sich eifrig. Dann trat ihr Wortführer entschlossen aus der Gruppe heraus.

»Wir haben zwar keine Ahnung, warum Sie uns nicht erkennen. Obwohl Sie uns doch selbst als die sieben Zwerge geschaffen haben. Und noch weniger können wir verstehen, dass Sie nicht einmal sich selbst kennen«, erklärte der eifrige Redner. »Aber die ganze Sache ist doch seeehr merkwürdig«, stellte er überzeugt fest. Die anderen sechs nickten zustimmend. »Vielleicht«, bot er dann an, »könnten Sie uns ja verraten, wie es dazu kam, dass Sie alles vergessen haben!?«

Bereitwillig gab Herr Zuckelberger preis, was er über sein Missgeschick bezüglich des verunglückten Sturzes über die Baumwurzel zu sagen wusste, der ihn in diese verfängliche Situation gebracht hatte. Er war heilfroh, dass er endlich jemanden gefunden hatte, mit dem er über seine missliche Lage sprechen konnte. Und dass ihn die munteren Gesellen auch noch zu kennen schienen, gab ihm die Hoffnung, dass er sich bald wieder an alles erinnern und in sein altes Leben zurückkehren konnte.

»Nun«, sprach der Zwerg nachdenklich, nachdem Herr Zuckelberger seine Erklärung beendet hatte. »Wir können Ihnen leider nicht helfen.« Seufzend zuckte er mit den Schultern. Auch die anderen Zwerge murmelten bedauernd. »So gern wir das auch getan hätten«, fuhr er fort. »Wir können Ihnen nur versichern, dass Sie Antonius Zuckelberger heißen und für alle Märchen auf dieser Welt verantwortlich sind. Auch uns haben Sie geschaffen.« Er drehte sich dankbar um und zeigte auf seine Mitstreiter, die allesamt mitfühlend auf den Mann starrten, der völlig ratlos vor ihnen stand.

Herr Zuckelberger war herzlich gerührt von der ehrlichen Anteilnahme, die ihm diese kleinen Gesellen entgegenbrachten. Obgleich sie ihm nicht wirklich helfen konnten, in sein altes Leben zurückzukehren, wusste er doch durch ihre aufklärenden Hinweise, wie er hieß und was er einmal war. »Herr Antonius Zuckelberger«, murmelte er nachdenklich, »Märchenerzähler ...« Er schüttelte mit dem Kopf und nuschelte ärgerlich: »Wenn ich mich doch nur erinnern könnte …!«

»Es tut uns sehr leid, Herr Zuckelberger, aber wir müssen weiter!«, bedauerte der Zwerg im Namen aller und fügte erklärend hinzu: »Bei uns im Zwergenhaus wohnt gerade eine wunderschöne Prinzessin. Sie kocht für uns und führt uns den Haushalt. Sie mag es nicht, wenn wir uns verspäten. Und da wir bereits sehr spät dran sind, müssen wir uns sputen!«

Dankbar verabschiedete sich der Märchenerzähler von den sieben Zwergen. »Ihr habt mir sehr geholfen«, sprach er. »Zumindest weiß ich jetzt, wie ich heiße. Und vielleicht fällt mir auch irgendwann wieder ein, dass ich Märchenerzähler bin und was ich als solcher zu tun habe. Ich werde mich auf den Weg machen und meine Vergangenheit erforschen.«

Und so marschierte der Märchenerzähler Antonius Zuckelberger entschlossen los, in der innigen Hoffnung, irgendwo klärende Hinweise zu bekommen, die seine Erinnerung wieder in Schwung brachten: Ein großer, hagerer Mann, eingehüllt in einen langen, dunklen Umhang, einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf, mit hohen Stiefeln und einem langen Stock an seiner Seite, der ihm das Gehen erleichterte. Er machte sich beherzt auf, um sich selbst zu finden. Damit er endlich den Platz einnehmen konnte, der ihm zustand.

Unterwegs fiel ihm jedoch noch etwas ein: »Die Prinzessin, die bei den Zwergen wohnt«, murmelte er. »Hätte ich doch nur nach ihrem Namen gefragt.« Nun war es allerdings zu spät. Die Zwerge waren längst nach Hause gegangen. Und wo die winzigen Männchen wohnten, wusste er leider nicht.

 

Das Mädchen mit dem langen Zopf

Nach einiger Zeit kam er an einem schmalen, sehr hohen Haus vorbei. Aus dem einzigen Fenster gleich unter dem Dach schaute ein Mädchen von oben herab. »Guten Tag, Herr Märchenerzähler« rief es leutselig und winkte Herrn Zuckelberger freundlich zu. »Möchten Sie nicht einen Augenblick zu mir heraufkommen? Ich habe gerade Tee gekocht. Sie können gern eine Tasse mittrinken, wenn Sie möchten.« Der alte Mann hatte tatsächlich Lust, sich nach dem anstrengenden Fußmarsch etwas auszuruhen. Außerdem schien ihn dieses Mädchen auch zu kennen. Genau wie die sieben Zwerge, denen er erst kürzlich begegnet war. Das weckte seine Neugier.

»Warum nicht?«, antwortete er auf die großzügige Einladung.

Schnurstracks machte er sich daran, die Tür im Haus zu finden, damit er unbeschwert eintreten und zu seiner Gastgeberin hinauflaufen konnte. Er lief einmal rundherum und suchte nacheinander alle vier Hauswände ab. Aber die gründliche Suche nach einem empfänglichen Einlass blieb zu seiner Verwunderung erfolglos. Schließlich stand er wieder ratlos vor dem Haus an der Seite, an der das Mädchen aus dem Fenster blickte.

»Gibt es keine Tür in deinem Haus?«, fragte er verwundert. »Aber Herr Zuckelberger«, antwortete das Mädchen erstaunt. »Sie als Märchenerzähler müssten doch am besten wissen, dass es in meinem bescheidenen Heim keine Tür gibt. Und nur ein einziges Fenster hier oben.«

Dann warf es seinen langen, geflochtenen Zopf durch das offene Fenster nach draußen, wo dieser kerzengerade an der steilen Hauswand niedersank. Das goldblonde, seidene Haar war so unendlich lang, dass es bis hinunter auf den Boden reichte und wie ein armdickes, starkes Seil vor Herrn Zuckelbergers Antlitz herabhing. Der erstaunte Mann wusste nicht, was er sagen sollte - geschweige denn, was zu tun war. »Diese langen, kräftigen Haare?!«, dachte er entgeistert.

 

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»Was ist?«, fragte das Mädchen herausfordernd. »Wollen Sie nicht heraufkommen?« »Aber …, wie …?«, stotterte Herr Zuckelberger verwirrt. Dann begann er nach und nach zu verstehen. »Heißt das vielleicht …? Soll ich etwa …?«, stammelte er fassungslos. Das Mädchen nickte aufmunternd. Es strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Die Vorfreude auf den erwarteten Besuch stand ihm unverkennbar ins Gesicht geschrieben. Aber das war auch kein Wunder. Denn Besuch bekam es hier in der Einsamkeit nur recht selten.

Herrn Zuckelbergers angstvoller Blick schweifte dem mächtigen Zopf entlang von unten nach oben und dann noch einmal von oben nach unten. Er schluckte. »Nein«, winkte er schließlich ablehnend ab. »Vielen Dank für die freundliche Einladung. Aber ich bin ein alter Mann. Meine Kraft reicht für eine solch abenteuerliche Klettertour nicht aus.«

Das Gesicht des enttäuschten Mädchens verfinsterte sich. Es war sichtlich verärgert. »Dann eben nicht«, sprach es zutiefst gekränkt. Gleichzeitig hievte es ächzend seinen schweren Haarschopf nach oben und schob ihn Stück für Stück wieder hinein ins Haus. Es dauerte nicht lange, bis die Haarpracht vollständig im Haus verschwunden war. Nun knallte die eingeschnappte Bewohnerin das Fenster zu, dass die Scheiben klirrten.

Dann war Ruhe. Zurück blieb der Märchenerzähler Antonius Zuckelberger. Ratlos stand er allein in weiter Flur. Zwar wusste er inzwischen dank der redseligen Zwerge, wie er hieß und dass er ein Märchenerzähler war. Aber wirklich hilfreich war das dennoch nicht, solange ihn die Erinnerung an die Vergangenheit dermaßen im Stich ließ. »Ich muss mich erinnern!«, maßregelte er sich selbst.

Erschrocken fiel ihm ein, dass er nicht einmal den Namen des Mädchens mit dem endlos langen Zopf kannte. Er blickte noch einmal erwartungsvoll hinauf zum Fenster und rief: »Mädchen, sag mir bitte deinen Namen! Wie heißt du?« Aber die rätselhafte Bewohnerin des sonderbaren Hauses ohne Tür blieb ihm die Antwort schuldig.

»Märchenerzähler! Märchenerzähler!«, krächzte es ganz aus der Nähe. »Du schon wieder«, stellte Herr Zuckelberger enttäuscht fest, als er den vorlauten Raben erkannte, der ihm schon einmal begegnet und im Traum erschienen war. »Du kannst mir doch auch nicht helfen«, murmelte er.

 

Ein seltsames Männchen

Herrn Zuckelberger blieb nichts anderes übrig, als seinen ungewissen Weg in die namenlose Fremde fortzusetzen. Obwohl er eigentlich gar nicht wusste, ob er sich tatsächlich in der Fremde befand. Da er sich an sein vergangenes Leben nach wie vor nicht erinnern konnte, war es ihm auch nicht möglich zu sagen, ob er schon einmal an dem Ort war, an dem er sich im Augenblick aufhielt. Jedenfalls kam ihm weit und breit nichts bekannt vor, was ihn doch sehr grämte. Er lief geradewegs immer der Nase nach. Und schweifte sein Blick hin und wieder einmal nach links oder nach rechts ab, so folgte er der neuen Richtung ohne weiter darüber nachzudenken.

Nach einiger Zeit verdüsterte sich die Umgebung. Antonius Zuckelberger hatte gar nicht bemerkt, dass er immer tiefer in einen dichten Wald hineinlief, der den Himmel über ihn verdunkelte, als ob die Nacht hereinbrechen wollte. Dabei war es noch heller Tag.

»Verdammt«, fluchte der unermüdliche Wanderer. »Jetzt bin ich doch tatsächlich von meinem Weg abgekommen. Wie soll ich denn jemals wieder aus diesem unwegsamen Dickicht herausfinden?!«

Während er ärgerlich vor sich hin schimpfte, vernahm der betagte Herr plötzlich außer seiner eigenen noch eine zweite, ihm völlig unbekannte Stimme. Zuerst dachte er, seine Fantasie spiele ihm einen bösen Streich. Er blieb stehen und lauschte. Angestrengt versuchte er, etwas zu verstehen. Denn was er undeutlich vernahm, war eine menschliche Stimme, die in einem fort immer wieder das Gleiche in die Welt hinausposaunte.

Vorsichtig ging Herr Zuckelberger den rätselhaften Klängen nach. In der Ferne schoss aus dem dichten Gestrüpp vor seinen Augen eine helle Flamme empor, die unter lautem Knistern lichterloh flackerte.

Achtsam schlich er sich lautlos an. Je näher er der steil aufsteigenden Feuersäule kam, die sich gefräßig in alle Richtungen schlängelte, umso lauter wurde die geheimnisvolle Stimme. Der erstaunte Beobachter durchdrang eine wärmende Wand, die das prasselnde Feuer unerbittlich auswarf und in alle Richtungen verteilte. Die Luft war dünn und hitzig.

Plötzlich machte Herr Zuckelberger auf der Stelle Halt. Was er sah, ließ ihn augenblicklich vor Aufregung erstarren: Um das funkelnde Feuer herum tanzte ein kleines, unansehnliches Männchen und sagte mit unangenehmer Quiekstimme immer wieder den gleichen Spruch auf. »Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich ‚Rmmmplmmpln‘ heiß‘«, sprudelte es keifend aus dem kleinen Giftzwerg, der jedes Mal boshaft feixte, wenn er seinen Vers erfolgreich beendet hatte.

 

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Der ahnungslose Märchenerzähler beobachtete das merkwürdige Treiben dieses windigen Gesellen eine ganze Weile. Er hatte sich inzwischen so nah an den Ort des Geschehens herangeschlichen, dass er auch fast alles verstehen konnte, was der vorwitzige Unbekannte von sich gab. Aber eben nur fast alles! Ausgerechnet seinen Namen sprach das unbeherrscht hüpfende und wild umherspringende Männchen dermaßen undeutlich aus, dass er absolut nicht zu verstehen war.

Also versuchte Herr Zuckelberger, noch näher an das Feuer heranzurücken. Doch da geschah das Unheil: Antonius Zuckelberger trat beim Heranschleichen auf einen dürren Ast, der vor ihm lag. Das ausgedörrte Stück Holz antwortete mit einem lauten Knacken, bevor es unter der schweren Stiefelsohle zerbrach.

»Halt! Wer da?« Das Waldmännchen horchte auf. Es schien Ohren wie ein Luchs zu haben. »Komm heraus, fremder Eindringling!«, keifte es vor Wut schäumend. Antonius Zuckelberger erschrak. Das Herz rutschte ihm vor Angst in die Hose. »Verflixt«, wisperte er mit zittriger Stimme. Das Letzte, was er wollte, war entdeckt zu werden. Dass mit seinem boshaften Gegner nicht gut Kirschenessen war, daran hatte er von Anfang an keinen Zweifel gehabt. Der Schreck, der ihm in die Glieder gefahren war, ließ ihn zu einem Eisblock erstarren. So war es ihm unmöglich, zu fliehen.